Kein Anlass zur Entwarnung

„Verlorene Mitte“ oder schleichendes Gift?

„In der Mitte der Gesellschaft wurden und werden Ansichten und Themen artikuliert und zur Diskussion gestellt, die dem Selbstverständnis der bundesrepublikanischen Demokratie fundamental widersprechen (…) Die gesellschaftliche Mitte ist kein Ort des Maßes und der Mäßigung, so wünschenswert dies wäre.“

„Mitte“ ist ein in der politischen Debatte immer wieder beschworener Begriff. Parteien bezeichnen sich gerne als „Mitte“, als „links von der Mitte“, seltener als „rechts von der Mitte“ – da verwenden sie lieber den Begriff „konservativ“ oder grenzen sich einfach nur von allem ab, das sie für „links“ halten, weil der Begriff „rechts“ inzwischen fast nur noch auf extrem rechte oder mit der extremen Rechten liebäugelnde Parteien bezogen wird. „Wahlen werden in der Mitte gewonnen“, heißt es in den Parteien, die sich für Volksparteien halten. Was aber, wenn es diese Mitte gar nicht gibt, sie lediglich Fiktion in einer sich polarisierenden Welt ist?

Mit der Frage nach den Einstellungen von Menschen dieser sogenannten „Mitte“ in Deutschland zu rechtsextremistisch oder rechtspopulistisch konnotierten Aussagen befassen sich in in der Regel zweijährigen Intervallen zwei Studien aus Bielefeld und Leipzig. Die Bielefelder Studie wird von der Friedrich-Ebert-Stiftung, die Leipziger von der Heinrich Böll Stiftung und der Otto-Brenner-Stiftung unterstützt. Die eingangszitierten Sätze stammen aus der Leipziger Studie, die seit 2018 nicht mehr als „Mitte-Studie“, sondern als „Autoritarismus-Studie“ firmiert.

Beide Studien vermelden zunächst Beruhigendes. Die Bielefelder Studie: Die Zahl der Menschen mit eindeutig rechtsextremistischem Weltbild geht zurück. Nur 2,4 % sind rechtsradikal eingestellt, nur 13 % sehen Vorteile für Deutschland ohne die EU. Und aus Leipzig: 94 % der Befragten begrüßen die „Idee der Demokratie“.

Das ist die eine Seite der Medaille, auf der anderen Seite stellen beide Studien einen Anstieg von Menschen mit „geschlossener Ausländerfeindlichkeit“ sowie mehrheitsfähige Einstellungen gegen Asylbewerber*innen, Sinti und Roma und Muslime fest, laut Leipziger Studie in dieser Reihenfolge. Leipzig notiert in der „Mitte der Gesellschaft“ etwas mehr als 50 % Zustimmung dafür, Sinti und Roma aus den „Innenstädten zu verbannen“ und fast 50 % erreichende Werte dafür, Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland zu verwehren.

Beunruhigend ist die hohe Zahl derjenigen, die sich mit einzelnen als „rechtsextremistisch“ oder „rechtspopulistisch“ gekennzeichneten Aussagen „teils-teils“ einverstanden erklären. Selbst in Milieus, die sich „links“ oder „sozialdemokratisch“ verstehen, gibt es Zustimmung zu solchen Aussagen. Fakt sind – so Bielefeld – die relativ hohen Zustimmungswerte bei Gewerkschaftsmitgliedern. Die Zahl der Menschen die sich fremdenfeindlich positionieren, bleibt stabil, bei etwa 20 %.

Bielefeld erfährt von 46 % der Befragten, dass sie an eine geheime Agenda hinter der offiziellen Politik glauben. Beide Studien stellen einen Zusammenhang zwischen rechtsextremen, rechtspopulistischen oder autoritären Einstellungen und dem Glauben an bestimmte Verschwörungstheorien (das Großkapital, die Juden) fest.

Die positiven Ergebnisse der Bielefelder Studie veranlassten Sigmar Gabriel, den Wissenschaftler*innen in einem Gastbeitrag für den Berliner Tagesspiegel „Alarmismus“ vorzuwerfen. Er sieht einen Widerspruch zwischen den positiven Befunden und der aus seiner Sicht „alarmistischen Überschrift“. Alarmierend sei zwar die Zahl von 54 % derjenigen, die „Vorurteile gegenüber Asylbewerbern tragen, doch müsse man sich eher die Frage stellen, ob diese Zahl nicht auch durch die Wortwahl in den öffentlichen Debatten erzeugt wäre.“

Nicht die Einstellungen sind aus Gabriels Sicht das Problem, sondern die Art und Weise, wie sie präsentiert, kommentiert und verbreitet werden. Die Präsentation der Ergebnisse wecke – so Gabriel – Zweifel, ob Politiker*innen „Herausforderungen und Probleme in einem angemessenen Zeitrahmen nachvollziehbar lösen können oder das wenigstens glaubwürdig versuchen.“

Doch sind die Fragen nach der Anerkennung des täglichen Bemühens von Politiker*innen und nach der Redlichkeit der Medien die richtige Fragen? Meines Erachtens nicht. Die eigentlich bedeutsame Frage lautet: Erweisen sich alle, die sich ausdrücklich zur Demokratie bekennen, im Zweifel auch alle wirklich stets als Demokrat*innen, auch dann, wenn sie ihre Positionen nicht durchsetzen können? Das Fazit der Leipziger Studie: „Demokratische Grundsätze werden (…) umso mehr begrüßt, je abstrakter sie sind.“ Oder anders gesagt: Demokratie wird geschätzt, wenn man die eigenen Inhalte durchsetzen kann. Gelingt dies nicht, sinkt die Zustimmung, zumindest zu den Institutionen der Demokratie und damit auch die Wertschätzung der Arbeit von Politiker*innen. Die Zustimmung zu autoritären Lösungen hingegen steigt.

Einer der intellektuellen Köpfe der rechten Szene formulierte die These, es reiche ein Prozent, um die gesamte Bevölkerung zu verunsichern und sich langfristig durchzusetzen. Manche Debatten der letzten Jahre, nicht nur die zum Thema Zuwanderung, scheinen das zu bestätigen. Daraus ließe sich schließen, dass wir es vielleicht mit einer Art schleichender Vergiftung zu tun haben, Langzeitwirkung nicht ausgeschlossen. Wenn immer mehr Menschen zunächst einzelnen, mit der Zeit auch weiteren Positionierungen der extremen Rechten zustimmen, brauchen rechtspopulistische Parteien weder absolute Mehrheiten noch Regierungsbeteiligung. Es reicht, die „Mitte“ zu infizieren und vor sich her zu treiben.

„Ein Prozent“ – eine durchaus erfolgsträchtige Strategie, wenn von „verlorener Mitte“ die Rede ist. Die konstatierten Sympathien für rechtsextreme, rechtspopulistische oder autoritäre Positionen sind gefährlich. Wie bei vielen Dingen: bei der Beschreibung dieser Gefahr geht es um Maß und Ziel, auch in der „Wortwahl“.

Norbert Reichel, Bonn

Zum Weiterlesen:

  • Oliver Decker, Elmar Brähler (Hrsg.): Flucht ins Autoritäre – Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft, in Zusammenarbeit mit der Heinrich Böll Stiftung und der Otto Brenner Stiftung, Gießen (Psychosozial-Verlag) 2018.
  • Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände – Folge 10, Frankfurt am Main (Edition Suhrkamp) 2018.
  • Andreas Zick, Beate Küpper, Wilhelm Berghan: Verlorene Mitte – Feindselige Zuständige – Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/2019, hrsg. Für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Franziska Schröter, Bonn (Dietz) 2019 (die offizielle Vorstellung erfolgte am 25.4.2019 in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin).

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2019.)