Kinderrecht Ganztagsbildung
Wie Kinder ihre OGS gestalten – neue Chancen mit dem Rechtsanspruch?
„Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ (Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention)
Am 31. Mai 2022 fand im Demokratischen Salon nach dem 2. November 2021 der zweite Fachabend zur Ganztagsbildung statt. Am 2. November 2021 ging es um Grundsatzfragen des Rechtsanspruchs. Am 31. Mai 2022 war ein spezifischer Inhalt Thema: die Kinderrechte. Dieser Abend war eine gemeinsame Initiative von UNICEF Deutschland, Education Y, dem NRW-Landesprogramm Kinderrechtebildung und dem Demokratischen Salon.
Der Abend begann mit einer Einführung auf der Grundlage der Forschungsarbeiten von Ulrich Deinet. Elisabeth Stroetmann, pädagogische Leiterin des NRW-Landesprogramms ordnete das Thema in den Kontext der UN-Kinderrechtskonvention ein und berichtete aus der Praxis in deutschen und in schottischen Schulen. Bürgermeister Erik Lierenfeld stellte die umfangreichen Aktivitäten der Stadt Dormagen, der Schulleiter der Köllerholz-Schule in Bochum Stephan Vielhaber, gemeinsam mit Rana und Stella, zwei Schülerinnen der zweiten beziehungsweise vierten Klasse, die Aktivitäten seiner Schule vor.
Mit dem Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes Gerd Landsberg, der Vorsitzenden des Vereins Kinderfreundliche Kommune Anne Lütkes und dem Direktor der Schulabteilung der Bezirksregierung Köln diskutierte der Moderator Norbert Reichel die Frage, was Kommunen, Land und Bund tun könnten, um möglichst vielen Kommunen und Schulen die Gelegenheit zu geben, sich zu einer kinderfreundlichen Kommune beziehungsweise Ganztagsschule weiterzuentwickeln.
Kinder- und jugendorientierte Ganztagsbildung
Den Begriff der Ganztagsbildung haben Hans Uwe Otto sel.A. und Thomas Coelen eingeführt, der 15. Kinder und Jugendbericht fordert eine kinder- und jugendorientierte Ganztagsbildung. Der ab dem Jahr 2026 einzuführende Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz für Kinder der ersten vier Klassen in Grund- und auch an Förderschulen dürfte die Spielräume für eine kindgerechte Bildung sicherlich erheblich erweitern.
In der Tat: niemand kann besser über die Qualität des Ganztags urteilen als die Kinder. Eine gute OGS zeichnet sich dadurch aus, dass die Kinder gerne in ihre OGS kommen und weil sie dort gemeinsam mit ihren Freund*innen lernen sowie mit ihnen und den dort arbeitenden Erwachsenen den Tag gestalten können, im Unterricht, bei Ausflügen, bei Projekten mit viel Bewegung, Spiel und Sport, in einer Theater-, Literatur- oder Mal-AG und so weiter. So wird der Ganztag ein Erfolg und verdient auch wirklich den Namen Ganztagsbildung. Gemeinsam aufwachsen – gemeinsam lernen, das ist das Motto einer Ganztagsbildung, in der Kinder und Erwachsene gemeinsam Demokratie leben und lernen.
Die Fragen des Abends: Was können Kommune und Land zu einer solchen kinderfreundlichen Ganztagsschule beitragen, und was sollten wir tun, damit Kommunen und Schulen die Spielräume haben, die sie brauchen?
Wir wollten nicht verschweigen, dass in den letzten beiden Jahren die Spielräume für Schulen für außerschulische Aktivitäten für Kooperation mehr als schwierig waren. Es gibt genügend Berichte über die Belastung von Kindern, die kaum beteiligt wurden, über die einfach entschieden wurde. Das war bereits in der ersten Phase der Pandemie Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen am bekanntesten sind vielleicht die COPSY-Studie und die DJI Studie „Kindsein in Zeiten von Corona“. Aber es gibt auch weitere zahlreiche Erfahrungsberichte.
UN-Kinderrechtskonvention und Landesprogramm
Elisabeth Stroetmann: Ich war Lehrerin für Deutsch und Philosophie und habe mehrere Jahre als pädagogische Mitarbeiterin im Schulministerium gearbeitet. Seit etwa zwölf Jahren bin ich die Koordinatorin des Landesprogramms Kinderrechteschulen, ein Fortbildungsprogramm, das derzeit Grundschulen angeboten wird.
Zentrale Themenschwerpunkte des Landesprogramms Kinderrechte sind das Recht auf Nicht-Diskriminierung (Artikel 2 – UN-Kinderrechtskonvention) und das Recht auf vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls (Artikel 3), letztlich das Recht auf bestmögliche Entwicklung, grundlegend ist daher Bildung (Artikel 28 und 29). Es geht um das Recht auf angemessene Berücksichtigung der Meinung des Kindes und das Recht auf Beteiligung (Artikel 12). Das ist Auftrag für alle schulischen Vorhaben, für alle Vorhaben, die Kinder betreffen, im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention sind das alle jungen Menschen zwischen 0 und 18 Jahren. Es ist eine Entwicklungsaufgabe für Erwachsene und Kinder. In diesem Sinne ist Partizipation eine Herstellungsaufgabe, Erwachsene haben eine Bringschuld. Sie sind verpflichtet, Kinder zur Inanspruchnahme ihres Rechts auf Beteiligung ausdrücklich zu ermutigen und zu befähigen. Das ist das eine, das andere, dass dieses Recht auf Beteiligung nicht zur Durchsetzung bestimmter Interessen der Erwachsenen instrumentalisiert werden darf und kann.
Man mag sagen, es gibt doch viele Schulen, in denen die Kinder mitbestimmen „dürfen“. Zumindest wird das so gesagt, aber das war es dann oft auch schon. Diese Aussage allein ist oft recht paternalistisch, da sie zeigt, dass Erwachsene Kindern großzügig eine Erlaubnis zur Mitbestimmung erteilen. Wenn ich die Kinderrechte ernst nehme, ist dies jedoch eine Inanspruchnahme des Menschenrechts auf Teilhabe und unterscheidet sich maßgeblich von einer großzügig gewährten Erlaubnis zur Teilnahme. Kinderrechtsbildung muss zunächst in den Köpfen der Erwachsenen stattfinden muss. Dies heißt: Aneignung und Respekt vor den Rechten der Kinder ist eine intellektuelle und emotionale Aneignung. Ich muss somit meinen ganzen Professionshabitus, mein Professionsverständnis neu definieren, all dies vor dem Hintergrund der Menschenrechte von Kindern und Jugendlichen.
Was heißt dies in der Praxis? Der Prozess erfolgt in den Schulen sehr überzeugt, aber auch langsam und sukzessive, Schritt für Schritt, durchaus unter Regeln, die aber nicht allein von Erwachsenen gesetzt werden, sondern auf an den Kinderrechten orientierte Vereinbarungen zwischen Kindern und Erwachsenen beruhen, die das gesamte schulische Leben steuern. Für die erwachsenen Akteure in den Schulen bedeutet dies Selbstverpflichtung im Sinne der Frage, welchen Beitrag sie leisten können, denn Inhaber*innen der Rechte sind die Kinder. Sie sind Akteure ihres eigenen Handelns Beim Recht auf Bildung muss ich mir als Erwachsene*r, als Lehrer*in immer die Frage stellen, wie ich dieses Recht verwirklichen und stützen kann.
Aus der UN-Kinderrechtskonvention ergibt sich, dass Erwachsene Pflichtenträger sind. Ich nenne ein einfaches Beispiel aus Schottland. Das Recht auf Privatsphäre ist in Artikel 16 der UN-Kinderrechtskonvention enthalten. In Schottland fand ich vor den Toiletten ein großes Plakat, gut sichtbar platziert, mit der Frage: was kann ich dafür tun, um dieses Recht zu schützen? Was tun die Erwachsenen dafür? Und was ist mit dem Recht auf Spiel und Freizeit (Artikel 31)? Was kann ich tun? Sowohl die Schüler*innen als auch die Erwachsenen haben dann klare Maßnahmen benannt, was sie tun, um dieses Recht zu schützen. Solch explizit rechtebasierte Vereinbarungen ersetzen in den Schulen vielfach appellative Regelwerke, sowie Ge-und Verbote.
Von Seiten der Kinder lautet die Frage: Welche Unterstützung brauche ich von Erwachsenen? Ein weiteres Beispiel aus Glasgow. Dort stand in der Mitte des Schulhofs eine große Bank. Auf Nachfrage erfuhr ich, dass sie nicht nur einfach da herumstand, sondern einen Zweck hatte. Wenn ein Kind mit jemandem spielen wollte, aber noch niemanden gefunden hatte, setzte es sich dort hin. So wurde – das sagten die Lehrer*innen der Schule – das Bewusstsein geschärft, dass dieses Kind sein Recht auf Spiel wahrnehmen wollte. Es dauerte in der Regel nicht lange und es kam jemand und fragte: Willst du bei uns mitmachen?
Norbert Reichel: Wie sieht es denn im Unterricht aus? Unterricht verstehen die meisten Menschen ja wie folgt: da ist jemand, der weiß was, und andere sind da, die wissen nichts, und der, der was weiß, muss denen, die nichts wissen, dieses Wissen beibringen, damit diese es nachher reproduzieren. Ich habe das natürlich jetzt sehr extrem zugespitzt, denn so sind unsere heutigen Schulen nicht mehr. Zumindest hoffe ich das.
Wie kann ich die Partizipation, das Recht auf Mitgestaltung, auch in den harten Anteilen, die Schule, ja nun mal hat, im Unterricht, den viele immer wieder das Kerngeschäft von Schule nennen, verwirklichen?
Elisabeth Stroetmann: Das ist sicher nicht einfach. Zunächst müssen die vorgegebenen Arbeitsinhalte immer transparent gemacht werden. Worum geht es und warum? Was interessiert an dieser Thematik besonders? Und es gibt eine Rangfolge, die veränderbar ist, je nach dem was die Kinder, die Schüler*innen sagen. Welche Anschlüsse gibt es, wie kann ein Thema vertieft werden? Was bedeutet das für euch? Man kann Themen durchaus so kommunizieren, dass die Schüler*innen hinreichend Gelegenheit haben, die Themen auch individuell zu variieren.
Freidays for Future, Dalton-Modell und die Pandemie
Norbert Reichel: Ich kenne eine Schule, die hat einen Freiday for Future eingeführt, nicht Friday wie Freitag in der Klimabewegung, sondern mit „ei“ geschrieben, einen ganzen Tag, den die Kinder selbst gestalten. Gibt es das auch an anderen Schulen?
Elisabeth Stroetmann: Nein, das haben wir nicht öfter. Das hat die genannte Schule, hier die Gottfried-Kinkel-Grundschule in Bonn-Oberkassel, singulär eingeführt. Allerdings gibt es zunehmend Schulen, die das Dalton-Modell einführen. Das ist ein Zeitband durch den Unterrichtstag, durch die Woche, mit viel selbstbestimmtem Arbeiten. Die Schüler*innen wissen, dass sie sich im Unterricht bestimmte Themen, bestimmtes Wissen aneignen müssen, können sich dann aber auch die Lehrerin, den Lehrer aussuchen, bei dem beziehungsweise bei der sie gerne arbeiten möchten. Die Lehrer*innen befinden sich in den Klassenräumen und werden von den Schüler*innen aufgesucht. Die Schüler*innen haben das Recht, sich die Person, bei der sie glauben, gut lernen zu können, und bei der sie die Erfahrung gemacht haben, dass sie dort gut lernen, aussuchen.
Norbert Reichel: In Alsdorf gibt es ein Gymnasium, das nach diesem Dalton-Modell verfährt. Es nennt sich sogar ausdrücklich Dalton-Gymnasium. Das geht nicht also nur in der Grundschule.
Elisabeth Stroetmann: In Bonn gibt es auch eine solche Schule, die Marie-Kahle-Gesamtschule. UNICEF hat parallel zu unserem Kinderrechtsprogramm ein Programm ausgearbeitet, mit Blended Learning auch digital zum Selbstlernen mit Präsenzphasen. Entscheidend ist, dass Schüler*innen das Recht wahrnehmen können und damit die Möglichkeit haben, den Lehrer*innen zu sagen, was sie brauchen, um gut lernen zu können. So entsteht ein Indikatoren-Katalog für gutes Lernen. Der ist dann auch relevant für die Einstellung neuer Kolleg*innen an den Schulen und auch die Schüler*innen beteiligen sich an den Gesprächen zu deren Auswahl. Wer weiß denn am besten, was jemand braucht, um gut zu lernen? Die Lernenden. Das ist nicht nur Einweg-Kommunikation. Es gibt Schulen, in denen die Schüler*innen Indikatoren erarbeiten, nach denen sie dann Zeugnisse für die Lehrer*innen vergeben.
Norbert Reichel: Es gibt ja auch Preise für gute Lehrer*innen. Also warum nicht in jeder Schule ausprobieren?
Elisabeth Stroetmann: Das ist natürlich nicht einfach. Und da gehört bei den Erwachsenen viel Mut dazu. Wie ich schon sagte: die Einstellung der Erwachsenen hat einen entscheidenden Anteil am Gelingen einer kinder- und jugendgerechten Schule.
Norbert Reichel: Vielleicht sprechen wir auch das Thema Pandemie an, das ist leider notwendig. Eine Expertin aus dem Kreis der Träger der freien Jugendhilfe, die den Ganztagsbetrieb in den Schulen in Nordrhein-Westfalen maßgeblich gestalten, hat mir gesagt, dass sie in vielen offenen Ganztagsschulen völlig von vorne anfangen müssen. Es wurden Kinder vor drei Jahren eingeschult, die nie die Erfahrung gemacht haben, wie es ist, gemeinsam zu Mittag zu essen, gemeinsame Dinge zu tun, Kinder aus anderen Klassen kennenzulernen, sie zu besuchen. All die außerunterrichtlichen Dinge litten unter den Einschränkungen, Ausflüge fanden nicht mehr statt. Das ist eine ganze Grundschulgeneration, die die offene Arbeit einer OGS nicht kennengelernt hat. Und diejenigen, die das in der ersten Klasse vielleicht noch kennengelernt haben, haben es inzwischen längst vergessen.
Im Grunde müssen die Erwachsenen, die Lehrer*innen, die Erzieher*innen, alle Kräfte, die sich im Ganztag engagieren, aber lange Zeit nur sogenannte „Notbetreuung“ anbieten durften, wieder von vorne anfangen. Im Chat lese ich jetzt von die Pat*innen, die es in den Schulen gab, um neu ankommende Kinder zu begleiten. Drittklässler*innen begleiteten Erstklässler*innen. Das ist in der Pandemie vollständig entfallen. Die Erstklässler*innen mussten jetzt selbst schauen, wie sie den Schuleinstieg hinbekommen.
Elisabeth Stroetmann: Bedauerlicherweise habe ich auch solche Erfahrungen gemacht, ich habe von Kolleg*innen gehört, ach Frau Stroetmann, Corona hat uns komplett ausgebremst. Aber es gibt auch einige Schulen, die die Aufgabe gelöst haben. Beispielsweise eine Grundschule aus Emsdetten. Die Schulleiterin sagte, Corona habe sie erst richtig aktiv werden lassen. Aktiv insofern, dass es eben nicht heißt, Kinder und Jugendliche werden weggeschlossen. Nun gab es die Öffnung für Kinder der sogenannten „systemrelevanten Berufe“. Schulen haben sich durchaus gegen diese Einschränkung gewehrt und gesagt, wir haben nicht nur Kinder von Ärzt*innen, wir haben auch Kinder von Alleinerziehenden in Etagenwohnungen. Wir müssen für alle da sein. Kinder dürfen eben nicht nur als Objekt von Bildung gesehen werden.
Schon in der ersten Phase der Pandemie gab es die COPSY-Studie, die zeigte, was geschah. Es gab kein Votum von Kindern, sie wurden nicht gehört, sie konnten nicht votieren, sie wurden nicht gefragt. Das war die Herausforderung und die Aufgabe, die sich die Schule, die ich eben nannte, stellte. Dort wurde digital gelernt, die Kinder hatten eine Tagesstruktur, jeder Geburtstag wurde digital gefeiert. Für die Lernzeiten wurde vereinbart, dass alle diese vor ihren Bildschirmen erledigen, sodass sie alle sahen, dass und was sie arbeiteten. Sie haben sich dabei nicht unterhalten, aber sie haben sich gesehen und wussten, dass die anderen auch arbeiteten. Es gab auch individuelle Lösungen, wenn ein Kind den Tag alleine strukturieren wollten.
Norbert Reichel: Das hätte ich mir auch gerne angeschaut. Es gibt in der Tat fantasievolle Schulen, vielleicht darf ich sagen, dass es einen von der Serviceagentur Ganztägig lernen beim Institut für soziale Arbeit (ISA) geförderten Film über eine Bonner Schule gibt, die das auch hinbekommen hat.
Elisabeth Stroetmann: Die Lehrer*innen und Erzieher*innen solcher Schulen haben versucht, alles maximal aufrechtzuerhalten, sie haben Hausbesuche gemacht, den Eltern Postkarten geschrieben, sich bedankt, für die großartige Übernahme oder Teilübernahme ihrer Arbeit. Die Schule war immer geöffnet. Immer hatten Kinder die Möglichkeit, in die Schule zu kommen, wenn die häuslichen Voraussetzungen ein konzentriertes Lernen nicht zuließen. Die Kinder haben auch Sport vor ihrem Endgerät gemacht. Ball together hieß das, und sie haben Spiele gemacht.
Die Wahrnehmungen der Kinder – ein Forschungsprojekt
Norbert Reichel: Ulrich Deinet, Sie haben in Ihren Forschungen die Wahrnehmungen der Kinder untersucht, die oft ganz anders sind als die Wahrnehmungen der Erwachsenen. Bei Ihrer Forschungsarbeit konnten Sie aber auch auf Ihre Zeit als Fachberater im Landschaftsverband Westfalen-Lippe zurückgreifen. Wir haben damals – inzwischen etwa zwanzig Jahre her – auch die ein oder andere gemeinsame Aktivität zur Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule auf den Weg gebracht.
Ulrich Deinet: Heute habe ich Opa-Dienst und hatte in der letzten halben Stunde eine Sechsjährige neben mir sitzen. Sie ist immer sehr interessiert an Video-Konferenzen und als sie eben hörte, dass hier gleich zwei Kinder auftreten, wurde sie noch neugieriger. Ich habe sie aber gefragt, was es an ihrem Tag heute Besonderes gab. Und da hat sie gesagt, und das ist sozusagen jetzt für mich ein Intro in unser Gespräch: besonderes war heute mit den Jungs raufen, dann an den Viertklässlern vorbei in den Haupteingang gehen, die standen davor und sie musste da durchgehen, dann war es auch etwas Besonderes, heute die große Schultoilette zu benutzen und nicht nur die kleine der OGS, ein Mädchen hätte ihr das gezeigt.
Norbert Reichel: Sie ist in der ersten Klasse.
Ulrich Deinet: Sie ist in der ersten Klasse, das ist jetzt keine empirische Grundlage, aber es ist trotzdem typisch für den Blick der Kinder auf die Schule, die Schule ganz anders wahrnehmen als die Erwachsenen. In den letzten Jahren habe ich mich sehr intensiv mit diesem anderen Blick der Kinder auf ihre Welt befasst und dazu mehrere Studien gemacht. Das ist ein Thema, das mir auch jetzt – nach meiner Emeritierung – Spaß macht. Ich bin froh, dass wir in der letzten Woche endlich nach zwei Jahren mal wieder in einer Schule waren, in einer Düsseldorfer Grundschule, in der wir mit unseren Methoden weiterarbeiten konnten. Meine Mitarbeiter*innen und ich sind jetzt jeden Tag dabei, mit Kindern nicht nur zu sprechen, sondern mit Hilfe von unterschiedlichen Methoden ihren Alltag sichtbar zu machen, zum Beispiel, wo sie sich gerne auf dem Schulhof aufhalten. Pausen sind ja ganz wichtig und machen die Verhältnisse dieser sich dort aufhaltenden gleichaltrigen Gesellschaft deutlich. Das zeigt das, was meine Enkelin eben gesagt hat, dass ein Mädchen ihr die große Schultoilette gezeigt hat. Das ist so etwas wie die Pat*innen für die Kinder der ersten Klassen, die eben jemand im Chat ansprach.
Viele Schulen arbeiten erfolgreich mit Peer-Systemen. In den Sozialwissenschaften spricht man manchmal von Peer Education, von dem, was Kinder untereinander lernen und wie man das auch nutzbar machen kann. Dies ist jetzt leider in zwei Jahren Pandemie deutlich zurückgegangen, aber das ist eine ganz wichtige Funktion. Wir haben zum Beispiel Kinder in unserer Studie gefragt, was ihnen am meisten fehlen würde, wenn sie vier Wochen nicht in der Schule wären.
An erster Stelle kommen die Gleichaltrigen. Das ist natürlich von Alter zu Alter unterschiedlich. Bei den Erst und Zweitklässlern ist das noch nicht so stark ausgeprägt. Wir kennen das alle auch als Väter und Mütter, dass Kinder sagen, da spreche ich erstmal mit meinen Freundinnen und Freunden. Zu vielen fachlichen Dingen habe ich inzwischen aufgrund der Perspektive der Kinder eine etwas andere Meinung. Ich bin fest davon überzeugt, dass 99% der hier Anwesenden mit Sicherheit für die Rhythmisierung sind, die sinnvolle Verbindung von Schulvormittag und Nachmittag, dafür, dass sich das ergänzt und so weiter. Das muss ich Ihnen nicht erklären. Wenn ich Kinder aus den dritten und vierten Klassen frage, bekomme ich ein etwas anderes Bild. Die haben uns vielfach erklärt, wie gut sie es finden, dass nachmittags die Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr so stark dabei sind, das am Nachmittag auch andere Leute in die Schule kommen, mit denen man etwas ganz anderes machen kann und dass sozusagen nachmittags manchmal sozusagen so etwas wie eine Kinderwelt entsteht.
Das heißt nicht, dass ich jetzt von der Rhythmisierung abgekommen wäre, ich bin jetzt auch nicht wieder Anhänger des Additiven, das fände ich ganz schrecklich, aber ich habe einfach in den letzten Jahren gelernt, dass die Sicht der Kinder auf die Dinge eine ganz eigene ist und die ist manchmal auch schwer zu verstehen.
Kinder denken anders als Erwachsene
Norbert Reichel: Rhythmisieren – das heißt meines Erachtens erst einmal, dass die Lehrkräfte und die Erzieherinnen und wer da sonst alles ist, miteinander reden. Das ist eine Rhythmisierung des Tages durch für die Erwachsenen. Das heißt nicht, dass zu jeder Vormittags- und Nachmittagszeit Mathematikunterricht stattfinden oder eben vormittags und nachmittags Fußball gespielt werden muss.
Ulrich Deinet: Die Kinder finden das schon gut, wenn auch die Lehrerinnen und Lehrer mit Fußball spielen, aber es gibt eben andere Themen, die kennen sie ja alle, die aus Sicht der Kinder schwierig sind, zum Beispiel der weitgehend fehlende Anteil von männlichen Erziehern im Nachmittag oder auch von Lehrern am Vormittag. Meine Enkelin muss jetzt von einem jungen Mann Abschied nehmen, den sie nachmittags die ganze Zeit in der OGS erlebt hatte.
Wir sind sehr froh, dass wir eine Studie machen konnten vor einigen Jahren für die Stadt Düsseldorf. Die musste dem Schulausschuss einen Bericht vorlegen. Es ging wohl um 15 Jahre OGS und relativ spät ist ihnen eingefallen, dass man auch die Sicht der Kinder erheben sollte, die ja doch die Hauptnutzergruppe sind und diese Gruppe – das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – ist am längsten in der Schule! Jeden Tag von 8 bis 16 Uhr und manchmal sogar länger. Manche sind schon in der Frühbetreuung da, etwa ab 7.15 Uhr, manche bleiben länger als 16 Uhr. Viele sind über 45 Stunden da! Das ist mehr als die durchschnittliche Arbeitswoche von Erwachsenen.
Norbert Reichel: Und in der Schule gibt es viele Teilzeitkräfte, Lehrer*innen wie Erzieher*innen, die arbeiten eben 20 oder 30 Stunden, bereiten sich gegebenenfalls zu Hause vor und eben nicht in der Schule, weil dort auch gar kein Platz wäre. Teilzeitschule für Kinder gibt es nicht.
Ulrich Deinet: Schule ist ein entscheidender Lebensort, Sozialraum. Und der muss gestaltet werden. Ich sehe die weitere Entwicklung durchaus skeptisch. Ich arbeite vor allen Dingen in Düsseldorf, und bei der hohen Auslastung rechnet jetzt das Schulverwaltungsamt, dass der Rechtsanspruch dazu führt, dass weitere 80 Gruppen verteilt auf die 60 Grundschulen eingerichtet werden müssen. Ich bin skeptisch gerade bezogen auf die Raumproblematik, wenn ich sehe, wie viel Raum im wahrsten Sinne des Wortes durch den hohen Bedarf aufgefressen wird. Das wird schwierig, beispielsweise mit Rückzugsräumen, gerade die Mehrfachnutzung von Räumen ist ein Thema.
Norbert Reichel: Vielleicht sprechen wir über die Methoden, die Sie in den Schulen angewandt haben. Es ist ja nicht so einfach, mit Kindern den üblichen Multiple Choice Fragebogen abzuarbeiten. Ich habe mir mal notiert, was es neben dem Kinderfrageboten gab, die Nadelmethode, eine subjektive Schulkarte, Gruppeninterviews, Autofotografie. Vielleicht fangen wir mit der subjektiven Schulkarte an, das hat ja auch etwas was mit der Wahrnehmung des Raumes durch Kinder beziehungsweise durch Erwachsene zu tun.
Ulrich Deinet: Wissenschaftlich ist das eine Herausforderung, da will ich mich jetzt nicht in langweiligen Details ergehen, aber in der Kindheitsforschung und auch in der Forschung mit Kindern ist man schon manchmal ein bisschen ratlos. Wie kann man Methoden einerseits so anwenden, dass sie die Kinder mitnehmen, dass sie Freude machen? Und wie kann man gleichzeitig Ergebnisse erzielen, die sozialwissenschaftlichen Kriterien entsprechen? Wir haben damals bei der Befragung auch nur an sechs Standorten gearbeitet, das war schon ein riesiger Aufwand. Aber Kinder in Grundschulen sind in Deutschland sehr gewohnt, mit Arbeitsblättern zu arbeiten. Da ging das ruckzuck. Das war kein Problem, aber dann haben wir versucht, kreativ zu arbeiten. Dazu gehörte die subjektive Schulkarte. Die üblichen Pläne von Schulen, mit denen die Verwaltung arbeitet, sind für Kinder nicht nutzbar. Die Katastrophen- und Fluchtwege spielen eine wichtige Rolle, das kann man nicht verwenden. Wir haben daher eine Architekturstudentin durch die Schulstandorte geschickt. Sie hat schöne Skizzen von den Schulen, von den Schulhöfen gefertigt und dann haben die Kinder die Aufgabe bekommen, mit verschiedenen bunten Stiften genau einzuzeichnen, wo sie sich gerne aufhalten, wo nicht, wo sie sich gut auskennen, wo sie sich weniger gut auskennen.
Anschließend haben wir so eine Art Interview mit den Kindern geführt und sie haben uns das dann genau erklärt. Das Ergebnis waren für Erwachsene manchmal nicht so sichtbare Umwidmungen. Bänke wurden Pferdeställe oder was auch immer. Wir erfuhren etwas über Angsträume, die wir Erwachsenen nicht sehen. Kinder erzählen, was ihnen da und dort passiert. Das ist qualitative Sozialforschung, nicht quantitative, die ein bisschen einfacher ist, aber das ist sozusagen unser Geschäft. Und jetzt sind wir wieder dabei, mit Gruppendiskussionen, Gruppeninterviews mit Kindern. Da versuchen wir zum Beispiel auch Mädchen und Jungen zu trennen. Das ist wegen der Fußballfrage ganz wichtig, da muss man mit ganz unterschiedlichen Settings arbeiten.
Das ist ein sehr schönes Methodensetting, bei dem die Kinder die Expert*innen sind, die Kinder gehen mit uns durch die Schule, auch durch den Stadtteil, denn wir verstehen Schule als Teil des Sozialraums. Wir gehen immer mit den Kindern, das geht ja gerade im Grundschulalter besonders gut, wir lassen uns nicht nur die Schulwege zeigen, sondern auch die Orte, die sie manchmal ihren Lehrerinnen und Lehrern schon gezeigt haben und die sie als Schule nutzen. Wir versuchen, immer die Kinder als Expert*innen ihrer Lebenswelt wahrzunehmen. Das ist dann auch Gegenstand der Fortbildungen, die wir zur OGS machen, mit Lehrkräften und mit Fachkräften.
Ich nenne ein weiteres Beispiel für unsere Fragestellung. Die Frage war, was brauchen die Kinder nach der OGS? Es ging darum zu schauen, wohin die Kinder gehen, ob sie dann noch Vereine besuchen, Fußball spielen oder in Musikunterricht gehen. Was tun sie eigentlich am späten Nachmittag und am Abend? Das ist nicht ganz einfach, da man dann in die Privatsphäre hineinkommt. Das ist auch ein rechtliches Problem. Wir können nicht mehr einfach wie früher Einwegkameras verteilen und haben dann die Fotos. Wir hatten Ergebnisse dazu, wie offen die OGS wirklich ist. Wir dürfen die Kinder nicht überfordern. Wir müssen den Druck rausnehmen, nicht mehr als zwei AG’s.
Norbert Reichel: Ich habe an Veranstaltungen teilgenommen, in denen die Lehrer*innen, Erzieher*innen und Eltern von OGS-Stress der Kinder berichteten. Grund waren immer Vorgaben von Schule und Träger, in einem Fall sogar von der Kommune, dass alle Kinder drei und mehr AG’s besuchen mussten. Zu enge Taktung, zu viele Angebote.
Ulrich Deinet: Lass die Kinder lieber spielen, und da ist man auch schnell bei den ganz harten Faktoren. Das sind die Räume, das ist die Nutzung von Räumen.
Norbert Reichel: Eben hatten wir auch schon das Thema Privatsphäre als Kinderrecht, bei 40 bis 45 Stunden Ganztagsschule.
Ulrich Deinet: Wir präsentieren unsere Ergebnisse natürlich nicht nur den Lehrerinnen und Lehrern, sondern versuchen auch, das mit den Kindern zu diskutieren. Aber Sie wissen ja alle, wie nach einem Schulhalbjahr oder erst recht nach einem Schuljahr auf einmal in der Schule wieder alles neu anfängt und man Schwierigkeiten hat, solche Ergebnisse weiter zu transportieren. Deshalb arbeiten wir auch immer mit außerschulischen Partnern. Heute ist die Schulsozialarbeit immer dabei, die es an vielen Schulen gibt. Das ist ein innerschulischer Faktor, aber außerschulische Partner sind auch total wichtig, Vereine und Jugendeinrichtungen und so weiter. Für die Kinder ist wichtig: Schule und Sozialraum gehören uns.
Entwicklungspsychologische Aspekte
Norbert Reichel: Ich kann mir gut vorstellen, dass manche Erwachsene bei einer Präsentation ihrer Studie Aha-Erlebnisse haben.
Ulrich Deinet: Ja, wir haben zum Beispiel den Leuten bei den Schulverwaltungs- und bei den Bauämtern gezeigt, was Kinder aus „Gehwegschrägen“ – die Ämter haben ja so eine ganz eigene Terminologie – machen, welche Spiele sie da spielen. Das war total interessant, aber es kommt leider nur hin und wieder vor, dass Ämter sehen, was sie anrichten, was sie aus baulichen und anderen Gegebenheiten nach DIN 13750 machen müssen. Es war gut für diese Leute, mal zu sehen, dass man das auch anders sehen kann.
Manches erschreckt auch. Wenn Jungs, die Fußball spielen oder skaten und nachmittags die Schulhöfe benutzen, erklären, dass sie am liebsten Betonflächen haben, Betonflächen finden die super, weil die nach dem Regen so schnell trocknen. An vielen Stellen kommt man zu solchen Ergebnissen, bei denen man sagen muss, naja, das ist jetzt sicher interessant, aber wie geht man mit den Meinungen der Kinder um. Das sind auch entwicklungspsychologische Aspekte, mit denen wir sehr stark zu tun haben. Lawrence Kohlberg, ein berühmter amerikanischer Psychologe hat bei Kindern die Law-and-Order-Phase beschreiben. Psychologisch kommt das sozusagen in der späteren Kindheit, das ist die Law-and-Order-Phase, das kennen sie alle. In Kinderparlamenten rufen die oft nach mehr Mülleimern, nach mehr Ordnung und so weiter. Kinder sind in dieser Phase durchaus sehr hart. Ich kann mich erinnern, dass Kinder bei Kinderfreizeiten zum Beispiel auch gefordert haben, dass jemand nach Hause geschickt werden sollte, wo wir als Erwachsene gesagt haben, das machen wir nicht.
Das ist jetzt sozusagen eine Frage, die jetzt aus meiner Studie nicht zu beantworten ist. Es ist aber trotzdem eine Frage, die ich sehr interessant finde. Es ist die Frage, wie geht man vor dem Hintergrund der Kinderrechtskonvention mit solchen harten Vorschlägen um. Kinder kommen tatsächlich mit Bestrafung, es gab zum Beispiel eine Kinderstadt – so etwas gibt es als Angebot in vielen Städten – da haben die Kinder ein Kindergefängnis gefordert.
Norbert Reichel. So wie bei Monopoly: Gehen Sie sofort dorthin, gehen Sie nicht über Los, ziehen Sie keine 4.000 Mark ein.
Ulrich Deinet: Ja ganz genau. Das dürfen Sie jetzt nicht falsch verstehen, das kann ich so schnell nicht gut rüberbringen, aber man hat sozusagen auch mit entwicklungspsychologischen Phasen zu tun, mit moralischer Entwicklung, die eben bestimmte Dinge zulassen, und das muss man – so denke ich – auch in diese Partizipationsdebatte einbringen. Das sind – siehe Kohlberg – die Stufen, die Leitern der Partizipation. Was ist angemessen, was ist nicht angemessen? Und dann kommt man schnell wieder in das Dilemma rein, das Frau Stroetmann schon angesprochen hat. Es ist die Diskussion um Paternalismus, was wird von den Erwachsenen bestimmt oder was kann man den Kindern auch zumuten? Das ist eine ganz schwierige Frage, die jetzt nicht nur im schulischen Bereich auftritt. Waldemar Stange aus Niedersachsen hat das untersucht. Was kann man Kindern und Jugendlichen zumuten und wo gibt es vielleicht auch Grenzen?
Norbert Reichel: Noch mal zur Pandemie. Sie haben eben die Frage genannt, was Kinder denken, wenn sie sich vorstellen, dass sie mehrere Wochen nicht in der Schule sind – mal abgesehen von den Ferien. Haben Sie da Erfahrungen gemacht in ihren Forschungen in der letzten Zeit?
Ulrich Deinet: Nein, wir haben auch zwei Jahre nicht forschen können, weil wir natürlich nicht in die Schule und keine Schule reinkommen konnten. Wir sind froh, dass wir im letzten Jahr durch gute Beziehungen zu der dortigen Schulsozialarbeiterin in einer Hauptschule Kontakt haben konnten. Aber ich bin da hin und her gerissen, ich kenne die Ergebnisse der Studien und auch die großen psychosozialen Belastungen natürlich, aber ich bin denke auch, und deshalb arbeite ich, obwohl ich schon wirklich ziemlich alt bin, nach wie vor sehr gerne mit Kindern und Jugendlichen, denn die sind einfach wahnsinnig stark. Wir haben eine unglaubliche Resilienz. Wir wissen auch, was sie an Stärken entwickelt haben und wie sie sich auch an Dinge gewöhnen können. Das ist schon enorm und das macht auch Kindheit und Jugend aus, und das finde ich auch immer sehr stark und jetzt sind sie dabei, sich auch wieder relativ schnell ihre gleichaltrige Gesellschaft zu entwickeln. Aber es braucht eben Zeit und das kann man natürlich auch nur bedingt durch Programme fördern. Wenn ich den Titel „Aufholprogramme“ höre, denke ich, das ist gut gemeint, aber was dann?
Norbert Reichel: Ein typischer Erwachsenenbegriff, offenbar von Menschen gemacht, die noch nie mit Kindern geredet haben.
Ulrich Deinet: Ich darf vielleicht noch eine Geschichte erzählen, eine ganz kurze aus meinem Feld der offenen Kinder und Jugendarbeit. Da sagen die Einrichtungen, es kommt eine ganz neue Generation von Kindern ins Haus. Eine junge Mitarbeiterin sagte jetzt bei einer Videokonferenz vor ein paar Wochen, ganz beliebt sind jetzt wieder Übernachtungen in der Jugend Einrichtung. Das ist nun wirklich kein großer Renner, aber man sieht, wie Kinder jetzt danach dürsten und das ist vielleicht eine ganz wichtige Entwicklungsaufgabe in der Altersstufe der älteren Kindheit, zur Erweiterung des Handlungsraums. Das ist auch sozusagen klassische Entwicklungspsychologie, die Erweiterung des Handlungsraumes auch durch Fahrten, durch Ausflüge. Das hat jetzt zwei Jahre nur sporadisch stattgefunden und das ist immer mein Aufruf an alle Pädagog*innen, dass jetzt endlich zu tun und das gehört auch in eine gute OGS und darf nicht nur Ausnahme sein.
Norbert Reichel: Wir werden vielleicht in zwanzig Jahren sehen, welches Buch dann von den heutigen Kindern und Jugendlichen geschrieben wird, aus der Sicht der sogenannten Generation Z. Für die Millennials gibt es jetzt das Buch von Nora Bossong mit dem Titel „Die Geschmeidigen“. Wer weiß, was in zwanzig Jahren kommt, aber Resilienz ist das eine und das andere ist natürlich, dass es auch Kinder gibt, die eben wohl offenbar unter großen Problemen leiden und mehr Unterstützung brauchen als andere. Ihnen, Herr Deinet, ganz herzlichen Dank für diese Einführung aus Sicht eines Experten der Kindheitsforschung.
Kinderfreundliche Stadt Dormagen
Norbert Reichel: Wir werden gleich zwei Beispiele kennenlernen, aus einer Kommune und aus einer Schule. Herr Lierenfeld, Sie sind Bürgermeister der Stadt Dormagen, bei der letzten Kommunalwahl mit einem sehr guten Ergebnis wiedergewählt worden. Kinderrechte, Kindeswohl, das hat in Dormagen Tradition.
Erik Lierenfeld: Ich bin jetzt 35 Jahre alt und Bürgermeister in Dormagen. Schon vor 25 Jahren habe ich Kinderrechte wahrgenommen, in positiver Form, als Klassensprecher und dann habe ich im Kinderparlament erlebt, dass man etwas gestalten kann. Das ist sicherlich mit ein Grund, weshalb mir heute als Bürgermeister das Thema auch persönlich am Herzen liegt. Vielleicht kurz zur Stadt. Dormagen: sie hat 65.000 Einwohner*innen, 16 Stadtteile 11 Grundschulen an 13 Standorten, das heißt zwei Verbundschulen.
Wir sind am 1. März 2018 in den Verein kinderfreundliche Kommunen e.V. eingetreten. Wir haben einen Aktionsplan entwickelt, da will ich an meine Vorredner anschließen, mit den Kindern gemeinsam, das war ganz wichtig. Es ging immer um die Fragen: Was wollen Kinder, was ist eine kinderfreundliche Kommune? Wie wollen Kinder beteiligt werden? Und es ging insbesondere um die Schwerpunkte Partizipation und politische Beteiligung. Das kommt uns auch im Offenen Ganztag entgegen.
Wir haben an jeder dieser Grundschulen einen Offenen Ganztag, der ist seit 2012 sukzessive ausgebaut worden. Uns ist Trägervielfalt wichtig, wir haben zehn verschiedene Träger, das sind teilweise Sportvereine, das kann eine Elterninitiative sein, und wir haben in Dormagen eine Teilnahmequote von 75% im Offenen Ganztag erreicht. Damit gehören wir landesweit zur Spitzengruppe. Es gibt sogar einzelne Standorte mit 98% der Kinder in der OGS, teilweise ganze Jahrgänge. Wir haben an allen Standorten gemeinsame Kooperationsvereinbarungen geschlossen, auch das ist etwas, das uns wichtig war, zunächst mal, um ein gemeinschaftliches Verständnis zu gewinnen, und da zählen eben ganz, ganz viele Beteiligte dazu.
Demnächst wollen wir ein Grundschulfamilienzentrum bilden, Familienzentren an den Kitas kennt man bereits, es ist unser Ziel, das auch auf die Grundschule zu übertragen. Es geht um ein ganzheitliches System, auch hier wiederum um Partizipation, die Beteiligung aller Beteiligten – da zählen in erster Linie die Kinder. Das soll als Qualitätsmerkmal vorangebracht werden.
Wie kann man Kinder beteiligen? In der OGS kann ich Kinder an ganz vielen Stellen beteiligen. Es fängt bei einfachen Dingen an wie dem Mittagessen. Es ist nicht die Frage, was die Erwachsenen für richtig halten oder was vielleicht an finanziellem Spielraum da ist, sondern wichtig ist, was wollen die Kinder auch selber erleben? Was wollen Sie essen, wo und wie, in der Gruppe, alle gemeinsam? Aber natürlich auch, wie sieht die OGS aus?
Es ist eben bereits deutlich gesagt worden, ab wann wir von echter Beteiligung sprechen können. Es reicht nicht aus, einem Kind zu sagen, du darfst mal etwas dazu sagen. Was ist eine Anhörung, wann ist es eine echte Beteiligung? Bei uns in Dormagen haben wir bereits seit 2019 einen OGS-Rat. Wir wollen Versammlungen, Schülerversammlungen, Schülerparlamente. Im Dormagener Modell geht es immer um das Thema Netzwerk, Vernetzung und das gemeinschaftliche Zusammenarbeiten. Es geht darum, miteinander ins Gespräch zu kommen, um eine gemeinsame qualitative Weiterentwicklung, um kollegiale Beratung. Das hilft natürlich auch bei der Entwicklung und Begleitung der Professionalität der Mitarbeitenden.
Ein großes Thema ist die Schulsozialarbeit, die wir inzwischen in allen Grundschulen und in allen weiterführenden Schulen organisiert haben. Ich spreche von echter Schulsozialarbeit, wenn ich das an dieser Stelle einfach mal so sagen darf. Das ist so ein kleiner Seitenhieb, ich bin ein riesiger Gegner dieses BuT-Systems. Das halte ich immer noch für den größten bürokratischen Unsinn, den wir haben, dass Kinder und Eltern immer wieder darauf getrimmt werden, irgendwelche Anträge zu stellen. Damit beschäftigen wir uns an so vielen Stellen, das ist einfach, mit Verlaub, nicht sinnvoll. Ich kann dies sagen, denn ich bin selber im Jobcenter sozialisiert worden, ich habe selbst mal solche Erfahrungen gesammelt und weiß, was ein solches System anrichtet.
Norbert Reichel: Sie sprechen mir aus der Seele. Bedürftige werden auf diese Weise zu Bittsteller*innen degradiert und diejenigen, die sich ein solches System ausdenken, scheinen von vornherein davon auszugehen, dass die Anträge unberechtigt sind. Deshalb plädiere ich für ein umfassendes System der Grundsicherung, gerade auch der Kindergrundsicherung. Die neue Bundesregierung hat sich das in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben.
Erik Lierenfeld: Jobcenter arbeiten in verschiedenen Funktionen. Ich kann einfach sagen, wir könnten unsere Kräfte sicherlich ganz anders einsetzen, viel besser einbringen. Doch man hat schon immer mehr Geld ausgegeben in dem Bereich, weil wir immer gesagt haben, das ist sicherlich wichtig, wir brauchen das Geld jedoch für die Qualität der OGS. Deswegen haben wir in Dormagen auch den freiwilligen Beitrag, den wir pro Kind in die OGS geben, jetzt gerade noch einmal erhöht. Das heißt: nicht nur die Landesseite erhöht ihren Beitrag, sondern auch wir als Kommune, natürlich unter der Voraussetzung, dass der finanzielle Rahmen da ist. Herr Landsberg weiß sehr gut, dass das manchmal sehr schwierig ist.
Und es gibt immer so viele Versprechungen von Bund und Land und am Ende steht die Kommune dann doch wieder ziemlich alleine da. Ich möchte einen kleinen Ausblick wagen, was sicherlich eine große Herausforderung bei diesem Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz ist. Das ist das Thema Räume. Dieses Thema liegt mir im Magen. Wir bewegen uns bei einer Bedarfsdeckung von 75 % und haben in den letzten Jahren viele Raum-Module aufgesetzt. Das war nicht einfach. Das hat viel Geld gekostet.
Als Kommunen suchen wir letztlich immer nach Alternativen, insbesondere die alternative Nutzung von Klassenräumen. Es ist sehr schwer erklärbar, dass ein Klassenraum vormittags ein Klassenraum ist und nachmittags kein OGS-Raum sein kann. Da sind wir jetzt an einer Schule bereits dabei, die das eigenständig organisiert, auch gut organisiert, um entsprechende Erfahrungen zu machen, aber ich kann hier sagen, es braucht noch sehr große Überzeugungsarbeit in Richtung des Personals, aber auch vor allem in Richtung der Eltern. Spannenderweise nicht in Richtung der Kinder, für die Kinder ist das in den meisten Fällen gar kein Problem. Klar wollen wir auch Ausweichräume bauen, denn sich den ganzen Tag im Klassenraum aufzuhalten, ist auch nicht schön, aber man könnte das über rollierende Systeme mit weniger Raumbedarf schaffen.
Norbert Reichel: Sie sprachen auch den Personalbedarf an.
Erik Lierenfeld: Personal ist ein Thema, wenn wir eine echte OGS haben wollen, eine qualitativ gute OGS, die können wir nicht nur mit Ergänzungskräften machen. Es geht auch nicht nur um Personalgewinnung, die ist schon schwierig genug, Thema ist auch die qualitative Fortbildung, sind Inhouse-Schulungen für das Personal. Auch der große Bereich der Reinigung, der Hausmeisterei. Wir sind dankbar für jeden Bufti, gar keine Frage, und das sind dann auch oft die jungen Männer, über die sich die Kinder freuen. Aber die allein schaffen es nicht und deshalb müssen wir qualitativ nachsteuern. Hier gilt eigentlich dasselbe wie in der Kita. Mehr Qualität! Und die wird auch Geld kosten.
Norbert Reichel: Wie sieht es mit der Beteiligung der Kinder bei der Raumgestaltung aus?
Erik Lierenfeld: Genau das ist der Plan von Pilotprojekten. Das ist auch ein Streit mit Elternvertretungen. Wir haben Standorte, bei denen wir de facto keinen Raum mehr schaffen können, alles ist bebaut. Ich kann jetzt nicht einfach in die Höhe bauen, also ist man hier jetzt gezwungen, sich Alternativen zu überlegen und hier wird es wichtig, in der Tat die Kinder einzubinden, zu überlegen welche Qualitäten braucht so ein Raum? Ja, muss es eine Sitzecke sein? Welches Mobiliar brauche ich, damit Kinder sich auch wohlfühlen, im Nachmittagsbereich, damit alle einen Unterschied zwischen Vormittag und Nachmittag merken. Ich finde es wichtig, dass Kinder unterscheiden können, wozu ein Raum genutzt wird, gerade dann, wenn er mehrfach genutzt wird. Oder es entsteht Raum, indem man vielleicht etwas umklappt und plötzlich wird aus einer Tafel eine Schlafecke oder Ähnliches, oder eine Chill-Out-Area. Die Möglichkeiten sind da, und das kann und muss man organisieren, weil ich glaube, dass wir den Rechtsanspruch sonst nicht schaffen werden. Ich bin immer wieder erstaunt, welche Optimisten in Berlin arbeiten.
Norbert Reichel: Die ehemalige Oberoptimistin ist jetzt in Berlin Regierende Bürgermeister und hat erst einmal den Schuletat zusammengestrichen. Ob ihr der Ganztag wirklich wichtig war, möchte ich nicht beurteilen. Aber es stand im Koalitionsvertrag der damaligen sogenannten GroKo.
Erik Lierenfeld: Ja, und wir Kommunen müssen das leider umsetzen. Darf ich auf Corona zu sprechen kommen?
Norbert Reichel: Unbedingt.
Erik Lierenfeld: Ein großes Problem der letzten zwei Jahre war insbesondere das Thema Kooperation. Uns ist es wichtig – das habe ich eben schon gesagt – die Vereine in die OGS zu bekommen. Zu Beginn wurde von den Vereinen die OGS als Konkurrenz wahrgenommen. Das Kind wäre in der OGS und könne deswegen nicht mehr nachmittags zum Sportunterricht, zum Musikunterricht oder Ähnlichem hinkommen. Diese Kritik wollten wir auflösen. Und dann haben wir aber festgestellt, dass wir durch Corona ins Stocken geraten sind. Jetzt gibt es das Corona-Aufholprogramm. Über die nächsten drei Jahre verteilt stehen 300.000 EUR zur Verfügung, damit wir zusätzliche Angebote schaffen, in der OGS, in der KiTa. Wir haben bereits Angebote der Bewegungsförderung, beispielsweise eine Bewegungstherapeutin, die mit den OGS-Kräften ganz konkret zusammenarbeitet, damit Kinder Bewegung erlernen, ohne das Gefühl zu haben, dass es Sport ist. Das ist vor allem für die Kinder wichtig, die eigentlich keine Lust auf Sport haben, für die es aber genauso wichtig ist, dass sie sich bewegen und zu erfahren, wie toll man sich damit fühlen kann. Das ist einer unsere Pläne. Geld für Ausflüge kommt hinzu.
Hochspannend ist aus meiner Sicht die musikalische Sprachförderung, das heißt, dass Kinder durch Musik eben auch Sprache besser lernen oder gut lernen. Wir kennen das: viele Kinder können schon in der Kita englische Texte zitieren, das ist immer wieder erstaunlich. Auch hier wollen wir ganzheitlich fördern und diese Qualitäten nach vorne bringen. Den Begriff Corona-Aufholprogramm finde ich schwierig. Man wird es nicht aufhören, das ist eine Daueraufgabe. Aber man muss es so deutlich sagen: es gab viele verlorene Zeiten für die Kinder, es ist schlimm gewesen, wie es gewesen ist.
Umso wichtiger ist es aber, dass wir gemeinschaftlich mit den Kooperationspartnern, mit den OGS‘en daran arbeiten, dass wir für die Kinder jetzt gute Möglichkeiten, gute Alternativen schaffen, damit die Kinder sich frei entfalten können und Möglichkeit haben zu sagen, was sie möchten und wie sie beteiligt werden wollen und wie sie sich selber beteiligen können.
Kinderfreundliche Köllerholzschule in Bochum
Norbert Reichel: Herr Lierenfeld, herzlichen Dank für dieses Feature der Stadt Dormagen. Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg und hoffe, dass viele Kommunen sich Ihnen anschließen. Ich bin da auch ganz zuversichtlich. Ich hoffe aber auch mit Ihnen, dass manches, was Sie sagten, in der Landes- und in der Bundespolitik Gehör findet. Doch jetzt kommen wir zu einem zweiten Beispiel, ein Beispiel aus einer Schule mit langer Tradition, der Bochumer Köllerholzschule. Vorstellen wird sie der Schulleiter Stephan Vielhaber gemeinsam mit zwei Schülerinnen der Schule, mit Rena und Stella, die uns jetzt erzählen werden, wie das in ihrer Schule läuft.
Stephan Vielhaber: Die Köllerholzschule ist eine Offene Ganztagsgrundschule im Bochumer Südwesten, im Stadtteil Dahlhausen. Wir haben in der Schule eine umfassende Unterrichtskonzeption auf der Grundlage der Bildungsgrundsätze 0 – 10 für Kindertagesstätten und Primarschulen in Nordrhein-Westfalen.
Norbert Reichel: Ich darf vielleicht einwerfen, dass diese Bildungsgrundsätze curricular so ziemlich das Beste sind, was wir für diese Altersgruppe in Deutschland haben, auch besser als manche Lehrpläne.
Stephan Vielhaber: Alle nordrhein-westfälischen Grundschulen haben ein Exemplar und ich hoffe, dass es dort nicht nur in der Schublade liegt. Diese Grundsätze sind bestens geeignet für die Schulen, für die Kooperationspartner in Ganztagsschulen, für Kinder- und Jugendhilfe. Ich will nicht übertreiben, aber so eine kleine pädagogische Bibel ist es dann doch.
Das ist das eine, das andere ist eine Ganztagskonzeption mit Profilorientierung und verbindlicher Fortschreibung, die stete Entwicklung des Schulprofils „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ und deren Zusammenführung in der Konzeption „Rhythmisierte Ganztagsschule“ mit Beschluss des Rates der Stadt Bochum, verbunden mit der Frage „Was braucht ein sechsjähriges Schulkind in Klasse 1 von montagmorgens um 7.15 Uhr beginnend mit der Frühbetreuung bis freitagnachmittags um 16 Uhr am Ende der Musicalprobe, immerhin 45 Zeitwochenstunden, um ein möglichst glückliches Schulkind zu sein, ein Zeitrahmen, der länger ist als die Arbeitszeit von Vollzeit-Arbeitnehmer*innen.
Seit 2004 bekommt an unserer Schule jedes Kind einen Ganztags- und Betreuungsplatz nach Wunsch. Für die einen ist das eine Betreuung über die ganze Zeit, für andere eine Übermittagbetreuung, es gibt auch die Möglichkeit, einen Platz mit Ferienbetreuung oder ohne Ferienbetreuung in Anspruch zu nehmen. Wir versuchen, jeden Wunsch zu erfüllen, je nachdem, was die Familien präferieren und was für die Kinder am besten ist. Wir bieten das bis heute an, auch gegen anfängliche innere und äußere Widerstände.
Ein weiterer Gelingensfaktor ist die gute Kooperation mit unserem Ganztagsträger, der Arbeiterwohlfahrt Ruhr Mitte. Das möchte ich an dieser Stelle einmal ganz deutlich betonen: Ohne diese gute Kooperation wäre die Entwicklung der Schule zu einer Ganztagsschule so nicht möglich gewesen. Wir bieten das bis heute, ein Segen für die Kinder und Familien und wesentlich für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, modellhaft auch ohne Rechtsanspruch, noch ohne Rechtsanspruch. In Anspruch nehmen das zurzeit 250 von 325 Kindern und es gelingt aus meiner Sicht – ich bin schon 30 Jahre an der Schule – alles gut. Besser werden kann es immer, man darf nicht ruhen. Ein Glück für uns alle, da kommen wir in die Schulpraxis, ist unser 3.000 Quadratmeter großer, naturnaher Schulgarten. Ein weiteres Glück sind meine beiden Mit-Moderator*innen. Ich übergebe jetzt an Rena und Stella.
Rena: Guten Abend, ich bin Rena aus der 2 a. Ich bin 8 Jahre alt.
Stella: Auch von mir einen guten Abend, ich bin Stella aus der Klasse 4 c. Ich bin 10 Jahre alt. Wir möchten Ihnen tolle Sachen erzählen, die wir an unserer Schule machen.
Rena: Wir besuchen den Ganztag der Köllerholzschule. Neben den vielen Angeboten gibt es bei uns auch viele tolle Projekte, in denen wir mithelfen und mitbestimmen dürfen. Meistens hat das dann was mit BNE zu tun, also Bildung für nachhaltige Entwicklung.
Stella: Im Moment haben wir ein ganz besonders wichtiges Projekt. Wir backen für die Ukraine und sammeln Geld, ein paar Kinder aus der vierten Klasse haben sich dieses Projekt ausgedacht und Herrn Vielhaber um Erlaubnis gefragt. Wir wollen das Geld nämlich spenden, er hat zugestimmt und so haben wir zuhause angefangen, Amerikaner und Muffins zu backen. Mittlerweile haben wir sogar eine Köllerholzer Backstube und backen auch am Freitagmorgen in der Schule und nicht nur zu Hause. Wir haben schon über 500 EUR eingenommen.
Rena: In unserer Waldgruppe haben wir gemerkt, wieviel Müll in unserem Köllerholz-Wald herumliegt. Deshalb kam uns die Idee, den Müll einzusammeln und wieder mit zur Schule zu nehmen. Wir hatten leider keine Mülltüten mit. Deshalb haben wir alles auf Stöcke gespießt und wieder mit zur Schule genommen und dort wieder in die Müllcontainer einsortiert. Damit der Wald nicht so schmutzig ist und schön sauber bleibt, wollen wir eine Patenschaft für ihn übernehmen und uns um ihn kümmern.
Stella: Wir haben an unserer Schule ein Musiktheater-Projekt. da proben wir gerade ein Musicalstück, das heißt Felicitas Kunterbunt. Es geht um ein Mädchen, das nicht weiß, wer sie ist, woher sie kommt und wohin sie gehen kann. Es spielen ungefähr 70 Kinder insgesamt mit. Ein Lied heißt „Ich möchte kein Eisbär mehr sein“ und davon möchten wir Ihnen jetzt eine kleine Kostprobe geben.
Stella und Rena singen: Wenn wer deinen Spielplatz immer kleiner macht, dein Essen immer knapper wird und du bei Nacht schon nicht mehr richtig schlafen kannst und deine Zukunft macht dir Angst, glaubst du, das wäre fein? Ich möchte kein Eisbär mehr sein. Die Erde wird wärmer und wärmer. Meine Scholle ist längst schon viel zu klein, wann begreift ihr das, wann? Wann begreift ihr das, wann?
Rena: Bald ziehen unsere Hühner in den Schulgarten ein. Die Klasse 4 b kümmert sich im Moment am meisten um die Hühner. Sie sind Hühner-Experten und wissen alles rund ums Huhn. Sie sind wichtig für unseren Schulgarten, aber auch für unsere Kinder, so wissen wir, wie man richtig mit Tieren umgeht und was sie brauchen.
Stella: Wir haben seit einigen Jahren als erste Bochumer Schule eine Schülerfirma, die „Fair + Fröhlich“ heißt. Diese hat einen eigenen Laden, er heißt „Rosalies FAIRKAUF“ und ist in unserem Schulgarten im Hexenhaus, einem selbst gebauten großen Gartenhaus. Der Ladendienst macht besonders große Freude, wenn man weiß, dass man Gutes tut. Wir verkaufen Kaffee, Tee, Schokolade und vieles mehr. Wir verkaufen aber auch T-Shirts und Hoodies aus fairer Baumwolle mit unseren selbst entworfenen Logos.
Rena: Wir bekommen oft Besuch, vorletzten Freitag gab es einen BNE-Fachtag in Nordrhein-Westfalen mit vielen Gästen. Wir haben dort eine Führung mit verschiedenen Stationen in unserem Schulgarten gemacht. Es gab selbst zubereitetes Essen und großen Applaus.
Stella: Es gab vor den Landtagswahlen auch eine eigene Köllerholz-Kinder-Landtagswahl. Leider hatte keine Partei ihr Programm als Kinder Ausgabe. Einige waren gar nicht auf die Idee gekommen, dass sich Grundschulkinder auch für Wahlen interessieren. Deshalb mussten wir Wichtigstes aus den Wahlprogrammen heraussuchen und in den dritten und vierten Klassen vorstellen, die Wahl war spannend. Wir hatten echte Wahlkabinen und Wahlurnen, und wer hat gewonnen? Die Grünen mit 47%.
Rena: Sie können sich alles in unserem Schüler-Magazin „Hexenpost“ ansehen, denn es gibt noch viel mehr, den Schulbauernhof mit den Ponys, die Köllerholz-Imkerei „Flink + Fröhlich“ mit tausenden Bienen, unsere Klassen-Werkstätten und hundert weitere tolle Sachen.
Beide: Tschü-üss!
Eine Perspektive der Schulaufsicht – Ganztagsschule als Ort der Demokratie
Norbert Reichel: Ganz herzlichen Dank euch allen. Jetzt haben wir natürlich ein großes Problem nach den beiden tollen Beispielen aus der Köllerholzschule und aus der Stadt Dormagen. Im Internet kann man nicht laut klatschen, aber man kann eine Hand zeigen. Aber ihr dürft ganz sicher sein, wenn wir uns jetzt live getroffen hätten, hätten alle einen entsprechenden Beifall gekriegt, denn diese beiden Beispiele haben uns doch gezeigt, was alles geht. Euer Engagement ist toll und wir haben auch noch ein bisschen Musik dazu gekriegt. Herzlichen Dank. Wir kommen jetzt zum dritten Teil der Debatte, in dem ich mit Gerd Landsberg, Anne Lütkes und Boris Preuss aus drei unterschiedlichen Perspektiven darüber sprechen werde, wie wir einen kinderorientierten Ganztag für die Zukunft aufstellen könnten und sollten.
Ich beginne mit Boris Preuß, Direktor der Schulabteilung in der Bezirksregierung Köln. Wir kennen uns schon aus Ihren früheren Zuständigkeiten, als Generalist der Bezirksregierung für die OGS und für die Schulpsychologie. Wie würden Sie all das, was wir eben gehört haben, bewerten, sozusagen als Chef der Schulaufsicht im Regierungsbezirk Köln.
Boris Preuß: Erstmal bewerte ich das positiv, ich möchte aber auch etwas zu meiner Rolle sagen, ich bin Chef der Schulabteilung der Bezirksregierung und ich bin gelernter Grundschullehrer. Ich komme jetzt wirklich aus der Praxis und für mich war das toll, jetzt die Schülerinnen zu sehen. Da lief bei mir so ein bisschen ein Film ab, Ich bin ja schon lange der OGS-Szene verbunden und habe damals als Schulleiter eine der ersten OGS‘en gegründet, auch gegen Widrigkeiten.
Später in der Schulaufsicht war die OGS immer mein Thema und ich habe festgestellt, dass wir jetzt unter der Überschrift Rechtsanspruch und Kinderrechte immer noch über dieselben Fragen diskutieren. Es geht um Räume, es geht um Personal, es geht um Kooperation. Ich glaube, ich bin jemand, der guckt immer auf die Dinge, die schon gut sind, überall da, wo wir diese Fragen gut geklärt haben, wo wir Persönlichkeiten mit einer Haltung haben, da sind wir – so glaube ich – schon auf einem ganz guten Wege, in dieser Richtung zu arbeiten.
Für mich persönlich war es heut Abend wirklich toll, Sie, Herr Lierenfeld, ich spreche sie mal als jungen und engagierten Bürgermeister an, zu erleben. Ich habe selbst in jungen Jahren diese Erfahrung gemacht: es braucht an Schlüsselstellen Persönlichkeiten, die das Thema, zum Beispiel ein Thema wie Partizipation und Kinderrechte, mit ihrer ganz persönlichen Haltung voranbringen. Ich glaube, da kann man ganz viel erreichen. Ich habe jetzt viel zugehört in meiner Rolle als Abteilungsleiter und mich gefragt, welche Einflussmöglichkeiten ich eigentlich habe, um diese pädagogische Vision umzusetzen, die ich teile, die ich gut finde, um sie in meiner Rolle ein bisschen nach vorne zu bringen. Ich nenne ein Beispiel aus dem Regierungsbezirk Köln, wir haben im Bereich OGS mit dieser Regionalkonferenz, die wir machen, eigentlich einen ganz guten Weg beschritten.
Norbert Reichel: Vielleicht erklären Sie, was diese Regionalkonferenz genau ist?
Boris Preuß: Ich versuche es. Es fing an als Gremium für Schulaufsicht, Schulrätinnen und Schulräte, die die Fachaufsicht hatten und deren Aufgabe es ist, die OGS voranzubringen. Das war ein kleiner Zirkel. Im Regierungsbezirk Köln gibt es elf Schulamtsbezirke. Also haben sich da elf Leute getroffen.
Dann kamen die ersten Pädagog*innen, die Fachberater*innen dazu und irgendwann haben wir festgestellt, das ist ein Gremium, das dreht sich immer im Kreis, das ist ja nur die eine Hälfte vom Offenen Ganztag, was ist mit der Jugendhilfe? Die Jugendhilfe war einsam und allein durch eine tolle Frau Karin Kleinen vom Landschaftsverband Rheinland (LVR), bei dem in Nordrhein-Westfalen eines der beiden Landesjugendämter liegt, vertreten, aber irgendwie fehlte etwas. Der erste Schritt war dann, dass wir die Kolleg*innen in den Jugendämtern und in der Schulaufsicht zusammenbrachten. Das ist nicht ganz einfach, weil das dann doch recht viele Leute sind. Also haben wir uns etwas einfallen lassen, mit einer Mandatierung, wir hatten dabei auch tolle Unterstützung durch den LVR. Vor zwei Wochen habe ich sie wieder alle eingeladen, zur ersten Regionalkonferenz zum Ganztag, die wieder in Präsenz stattfinden konnte. Thema war natürlich auch der Rechtsanspruch und was mich wahnsinnig gefreut hat: es waren aus allen Schulamtsbezirken Schulträger und Jugendamtsvertreter*innen da.
Ich glaube, es hängt mit der Thematik zusammen, auch mit dem Thema Rechtsanspruch. Herr Lierenfeld hat die Chancen benannt. Er hat aber auch sehr deutlich gemacht, wo die Herausforderungen sind, im Bereich Raum zum Beispiel. Dieses Gremium der Regionalkonferenz, in dem Schulaufsicht, also das Land, aber auch die Kommunen mit ihren Vertreter*innen aus Jugendhilfe und Schulträgern miteinander diskutieren, das kann natürlich nicht alle Probleme lösen. Aber man kann sich einen pädagogischen Qualitätsanspruch verschreiben. Gerade dies hat mir so gut an dem Beispiel aus Dormagen gefallen. Natürlich ist das eine Herausforderung, eine Herausforderung, die mit Ressource und Geld zu tun hat und trotzdem muss man gucken, dass man jetzt nicht irgendwie eine lästige Pflicht erfüllt und einen Rechtsanspruch irgendwie umsetzt. Es ist eine Gemeinschaftsaufgabe, das wirklich pädagogisch das Beste draus zu machen, um Schule zukunftssicher zu machen, als sozialen Ort der Demokratie-Erziehung.
Ein Satz von mir zur Pandemie: das war eine Herausforderung eigener Art und ich hoffe, wir haben alle etwas gelernt, gerade weil es gehakt hat. Umso wichtiger ist es, dass man sich alles einmal aus der Perspektive der Schülerinnen anguckt, die haben einen ganz anderen Blick darauf. Was haben sie vermisst? Lernen kann ich manches auch alleine, aber was fehlt? Was fehlte, das war die Schule als sozialer Ort, als Ort der Begegnung und auch als Ort der Demokratie. Das zeigt, wie ungeheuer wichtig es gerade für die Kinder ist, die jetzt während der Pandemie eingeschult worden sind, sie haben eine ganze Menge gelernt, aber ihnen hat ungeheuer viel gefehlt, auf das sie sich gefreut haben.
Das mache ich jetzt nochmal rund: das ist der pädagogische Anspruch des Rechtsanspruchs für Schulentwicklung, für Kinderrechte. Es geht um die Player, das steuert nämlich keine Seite alleine. Die verschiedenen Seiten wirklich zusammen zu bringen, das ist die große Aufgabe. Ich tue das gemeinsam mit den Leuten, die bei uns jetzt maßgeblich diese Aufgabe wahrnehmen. Das ist immer noch Frau Kleinen im LVR, die ja wirklich ein Urgestein der Szene ist, und das ist jetzt mein Nachfolger Christoph Lützenkirchen, der in Dezernat 41 der Bezirksregierung den Bereich Offener Ganztag mit steuert. Das sind die Ansprechpersonen. Denen werde ich natürlich vom heutigen Abend berichten und vielleicht ergeben sich daraus auch weitere ganz konkrete Dinge und neue Kontakte.
Wir haben als Grundmodell für diese Regionalkonferenzen eigentlich drei Punkte. Zunächst gibt es einen interessanten fachlichen Input oder die Informationen über die neuesten Neuigkeiten. Es folgen immer Best-Practice-Beispiele, möglichst in der gemeinsamen Darstellung durch Jugendhilfe und Schule. Danach gibt es einen Erfahrungsaustausch nach Regionen, in dem die Player beziehungsweise Akteure versuchen, sich nächste konkrete Schritte vorzunehmen und sich über Strategien zu verständigen, beispielsweise wie es in den einzelnen Kommunen und Kreisen gelingen kann, gute, kompetente Mitspieler*innen zu gewinnen.
Die Rahmenbedingungen für eine gute qualitativ OGS sind sehr unterschiedlich. Wir haben eben von Dormagen gehört, elf Grundschulen mit 13 Standorten. Das ist schon eine ganze Menge, aber auf der anderen Seite gut steuerbar. Wir haben bei uns im Bezirk natürlich auch eine große Stadt wie Köln oder auch große Städte wie Aachen, Bonn und Leverkusen oder im Nachbarregierungsbezirk Städte wie Düsseldorf, Duisburg, Oberhausen oder Mönchengladbach. ob es sind einfach vor Ort überall sehr unterschiedlich. Die Größe einer Stadt bringt schon andere Herausforderungen der Vernetzung mit sich.
Norbert Reichel: Die von Ihnen beschriebenen Regionalkonferenzen gibt es in Nordrhein-Westfalen in allen fünf Bezirksregierungen. Im Regierungsbezirk Köln haben Sie 38 Schulrät*innen aus elf Kreisen beziehungsweise kreisfreien Städten. Elf Personen sind für die OGS zuständig. Was ist mit den anderen 27?
Boris Preuß: Wir holen sie alle an einen Tisch. Es geht immer um Persönlichkeiten und Haltungen, die kann ich entwickeln, die kann ich nicht verordnen, das funktioniert nicht, das muss man ganz ehrlich sagen. Ich glaube, der Weg muss sein, eine Querschnittsaufgabe aus dem Ganztag und aus den Kinderrechten zu machen. Das alte Steuerungsmodell, dass ich eine Person vor Ort habe, die mit ihrer Zuständigkeit alles alleine regelt, funktioniert nicht mehr, es muss weitergehen. Der erste Schritt, ist das Denken als Schulamts-Team denkt, dann kommen Schulleitungskonferenzen, Qualitätszirkel. In denen geht es eben nicht nur um Informationen, sondern um Konzepte, um Kooperation, um Konflikte, die fachlich und im Team mit allen Beteiligten aufgearbeitet werden müssen.
Ich habe immer versucht, dies so in die fachliche Diskussion hineinzubringen und ich glaube, den Weg bestreiten die Akteure, die wir jetzt haben. Es gibt viele neue junge Kolleg*innen, die das mit Herzblut weiterbetreiben.
44 Kinderfreundliche Kommunen
Norbert Reichel: Ich darf jetzt Anne Lütkes begrüßen. Es gibt nur wenige Menschen, die kommunale Erfahrungen haben, Landeserfahrung und dann auch noch als Vorstandsmitglied in Nichtregierungsorganisationen. Sie waren Ministerin für Justiz, Familie, Frauen und Jugend in Schleswig-Holstein, Regierungspräsidentin in Düsseldorf. Sie sind heute hier als Vorsitzende des Vereins Kinderfreundliche Kommune, sind aber auch im Deutschen Kinderschutzbund und bei UNICEF aktiv. Der Verein Kinderfreundliche Kommune hat 44 Mitglieds-Kommunen, es gibt einen Zertifizierungsprozess, mit dem die Qualität gewahrt und weiterentwickelt werden soll.
Anne Lütkes: International agiert der Verein nach deutschem Recht, so wie es sich in Deutschland so gehört, getragen von Unicef und dem Deutschen Kinderhilfswerk. Wir sind im Moment, wie Sie schon sagten, 44 Kommunen, das klingt vielleicht bezogen auf die Zahl aller Kommunen in Deutschland nach wenig, aber wir haben auch einen sehr hohen Qualitätsanspruch. Hinter der Zahl steht eine ganz hohe Qualität, nämlich der kinderrechtsbasierte Anspruch, die Kinderrechte im Alltag einer jeden Kommune zum Leben zu bringen, nicht nur in dem Bereich, über den wir heute diskutierten, sondern ganzheitlich im allgemeinen Verwaltungshandeln, gleichviel in welchem Fachbereich. Das ist unser Ziel.
Getragen von den jeweiligen Stadträten und insbesondere von den Hauptverwaltungsbeamten. Sie haben eben Herrn Lierenfeld kennengelernt, der ein großer Verfechter und Mitstreiter ist. Es sind meistens die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die die Initialzündung für das Vorhaben geben. Unser Anspruch an den schon erwähnten Aktionsplan ist sehr hoch, wie etwa die Stadt Dormagen belegt. Es geht darum, wie die Kinderrechte in der großen Facette des Alltags zum Tragen kommen. Ein Teilbereich ist natürlich in dem Zusammenhang das Leben in der Schule, ein großer Teilbereich, obwohl Kommunen ja nicht unbedingt über die Inhalte der Schule bestimmen, denn die Lehrpläne ist Landessache, aber die Kommunen sind Schulträger und Träger der Jugendhilfe.
Wie die Stadt Dormagen haben auch andere Kommunen den Rechtsanspruch diskutiert und sich dem Thema Ganztag sehr gut und sehr intensiv genähert. Ich will die Beispiele Stuttgart oder Hanau nennen, die gehören zu den ersten, die diese Verknüpfung der Kinderrechte als etwas gestalteten, das Verwaltung und Politik nicht nur zu akzeptieren, sondern zu leben haben, und dies in den konkreten, schulischen und generellen Alltag einbrachten, und das bedeutet das Recht auf Bildung ebenso wie das Recht auf Spiel.
Es ist heute Abend immer mal wieder angeklungen: das Recht auf Beteiligung, das ist mehr als den Blick des Kindes zu akzeptieren oder die Meinung des Kindes zu hören. Was geschieht denn dann? Das heißt, dass Kinder wirklich die Verantwortung für ihren Alltag, ihren Ganztagsschultag übernehmen können. Es wurde klar gesagt, was es heißt, eine echte Kinderrechteschule zu sein. Das ist ein Anspruch, den wir gerne in unsere kinderfreundlichen Kommunen gestalten wollten, aber wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele der kinderfreundlichen Kommunen, die unterwegs sind, diesen Bogen noch nicht gemacht haben, den Blick auch auf die Kinderrechteschulen zu werfen.
Norbert Reichel: Die Beteiligung der Kinder, eine echte Partizipation, das ist vielleicht sogar die schwierigste Aufgabe. Oder sehe ich falsch?
Anne Lütkes: Das würde ich gar nicht sagen. Das Schwierige ist es, die Bereitschaft der Akteure zu wecken, dass sie begreifen, welche Chance im Artikel 12 für jeden einzelnen Menschen liegt. Es geht darum, Beteiligung zu leben, und das können Kinder sehr gut. Mein Lieblingsbeispiel ist seit ganz vielen, vielen Jahren aus meiner Kieler Zeit die „Kinderstube der Demokratie“. Wir haben mal eben in einer umziehenden Kindertagesstätte Kinder gefragt, wie wir das alles machen sollten, nicht einfach gefragt, sondern einen echten Beteiligungsprozess aufgelegt. Das Ergebnis war unter anderem, die Kinder wollten im Garten eine Achterbahn und sie wollten eine andere Gestaltung des Essens, sie wollten gemeinsam essen und nicht getrennt in den Gruppen.
Die Kinder mussten natürlich erleben, dass die Achterbahn nicht machbar war – ich denke heutzutage auch immer noch nicht –, aber die Umgestaltung des Essens war schon etwas Machbares, da wurden die Kinder nicht nur freundlich gehört, das ursprüngliche Konzept wurde geändert, die Kinder aßen nicht in den Gruppen, sondern gemeinsam. Die Gruppen konnten sich mischen. Es gab neue und mehr Kontakte zwischen den Kindern. Das Essen ist in der Tat auch ein ganz zentraler Punkt, es geht nicht nur darum, ob es schmeckt. Kinder wissen sehr genau, wie sie die Kommunikation gestalten, gerade anlässlich des gemeinsamen Essens. Das Leben und alle Erfahrungen zeigen, dass es, wenn sich Erwachsene auf diese Beteiligung einlassen, anstrengend ist. Das ist nun mal so, aber es ist dann auch ausgesprochen freudvoll und bewirkt positive Veränderungen in Bereichen. Das betrifft auch den Bereich der Stadtentwicklung. Da gibt es die berühmte Frage, wo soll der Fußgängerüberweg vor der Schule hin, das ist eine der banalen Fragen, an denen man das immer sehr schön zeigen kann. Es ist auch die Höhe des Bordsteins und viele scheinbar banal banale Einzelfragen, die für Kinder in ihrem Alltag, in ihrem Leben wichtig sind und die sinnvoll mitgestalten können.
Norbert Reichel: Vielleicht können wir noch einen Aspekt kurz ansprechen, der gar nichts mit der Schule zu tun hat, aber mit dem manche Kinder, die in der Schule sind, durchaus mal was zu tun haben können, das sind kinderfreundliche Jugendhilfe und kinderfreundliche Justiz. Diese beiden Bereiche zeigen meines Erachtens sehr deutlich, was Beteiligung wirklich heißt.
Anne Lütkes: Die kinderfreundliche Justiz ist ein sehr großes Projekt, das mein eigener Träger, das Deutsche Kinderhilfswerk gemeinsam mit dem Deutschen Institut für Menschenrechte bearbeitet. Da kann ich ein bisschen Werbung machen, wir haben im Juni eine große digitale Veranstaltung, in der wir die Ergebnisse einer Pilotstudie vorstellen. In sechs Amtsgerichten wurden familienrechtliche Kriterien erprobt.
Hier haben sich Richter und Richterinnen völlig freiwillig, auch ohne Unterstützung ihrer jeweiligen Justizministerien, leider nur aus Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, mitgearbeitet haben. Ein Beispiel ist das Amtsgericht Lübeck, in dem daran gearbeitet wird, Kinder im Verfahren als rechtstragende Persönlichkeiten zu akzeptieren, Kinder nicht nur als Objekt des Verfahrens, sondern als Beteiligte im Verfahren zu sehen. Das geht einher mit einer anderen Gestaltung der Umgebung, beispielsweise findet dann ein Gespräch in einer Art Café statt und nicht in einem der üblichen Vernehmungsräume. Aber es ist ja viel mehr. Es geht darum, dass die Richter und Richterinnen die Fähigkeit entwickeln, Kinder in Verfahren mitzunehmen, war sehr schwierig ist, gerade bei der Komplexität von sehr vielen familiengerichtlichen Verfahren, aber auch bei Asylverfahren oder Inobhutnahmen. Da sind ja überall Dinge, zu denen die Meinung der Kinder zu hören ist. Artikel 3 und Artikel 12 Kinderrechtskonvention müssen im Gleichklang wirklich umgesetzt werden müssen. Aber da werde ich jetzt aufhören, wenn ich anfange, können wir auch bis morgen früh darüber reden.
Gemeinschaftsaufgabe Kinderrechte – auch und gerade mit dem Rechtsanspruch
Norbert Reichel: Gerd Landsberg, wir beide reden nicht das erste Mal gemeinsam in einer Veranstaltung über das Thema der Kinderrechte. Das haben wir vor kurzer Zeit noch getan. Es war im Oktober 2021 in einer Live-Veranstaltung zwischen zwei Corona-Wellen in Bonn im GOP. Vorgeführt wurde ein Film, der auf der Seite der Serviceagentur Ganztägig lernen zu finden ist. Auf der Seite der Serviceagentur finden wir auch einige sehr gute Beispiele für kreative Raumkonzepte wie sie bereits heute mehrfach angesprochen wurden. In der Veranstaltung ging es um das gelungene Beispiel der Gottfried-Kinkel-Grundschule in Bonn-Oberkassel, das Schulleben und den Unterricht auch während der Pandemie so interaktiv wie möglich zu gestalten. Welche Schlussfolgerungen ziehst du aus den heute vorgestellten und vorgetragenen Inhalten und Positionen für deinen Arbeitsbereich als Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte und Gemeindebundes?
Gerd Landsberg: Zunächst vielen Dank für alles, was ich hier heute gehört habe, das waren alles tolle Beispiele und was die Kinder vorgetragen haben, da kann man eigentlich nur begeistert sein. Vielleicht sollten wir mal eine Veranstaltung machen, wo sich alle die melden, bei denen es nicht funktioniert, die gibt es natürlich auch, nur die sind meistens nicht so sprachfit. Ich will einen Aspekt, den wir bisher noch nicht beleuchtet haben, ansprechen, unter dem Aspekt Recht auf Beteiligung. Du hast das Beispiel genannt, das ist die Gottfried Kinkel Grundschule in Oberkassel in Bonn. Die haben in Oberkassel ein sogenanntes Kinder Parlament eingeführt, in dem die Kinder eben auch tatsächlich entscheiden können, mitwirken können, wie wir den Schulhof gestalten oder Ähnliches, und das ist aus meiner Sicht deshalb wichtig, weil Kinder, die so etwas erfahren, sich später im Leben anders verhalten werden.
Wir haben ja in weiten Teilen eine Spaltung der Gesellschaft. Ich darf noch einmal daran erinnern. Die Corona Krise ist ja nicht lange vorbei. Mit den Querdenkern konnte man nicht mehr diskutieren, ich habe das zwei- oder dreimal versucht, aussichtslos. Oder ein anderes Beispiel: wir haben als Deutscher Städte und Gemeindebund mit der Bundeszentrale für politische Bildung den Versuch gewagt, in den Regionen, in denen stark rechtsextreme Personen agieren und auch entsprechend wählen, ins Gespräch zu kommen. Schwerpunkt war natürlich und leider Ostdeutschland. Ich kann nur berichten, dass das fast aussichtslos war, man hatte noch gar nichts gesagt, da wurde man schon niedergeschrien und niedergepfiffen. Und das ist eine wahnsinnige Gefahr für diese Gesellschaft.
Wenn Kinder schon in der Schule die Erfahrung machen, das, was ich sage, wird ernst genommen, ich kann mich ernsthaft einbringen, beteiligen, ich muss aber auch dem anderen zuhören und ich muss auch akzeptieren, dass ich vielleicht keine Mehrheit habe. Und ich muss auch akzeptieren, dass es natürlich für Beteiligung einen Rechtsrahmen gibt, es wird ja keiner der hier Anwesenden sagen, wenn die Kinder keine Lust haben, hier zur Schule zu gehen, ja, dann kommen sie eben nicht, die nehmen ihre Kinderrechte wahr. Ich glaube, dass wir uns eigentlich nur wünschen können, dass, das, was wir heute hier diskutieren, flächendeckend umgesetzt werden kann.
Ich will aber auch ein bisschen Wasser in den Wein gießen, alle Beteiligten – und das verstehe ich – sagen, wir haben ja den Rechtsanspruch als in Stein gemeißelt akzeptiert, aber so ganz genau habe ich jetzt auch nicht gehört, dass das eigentlich richtig ist. Nur damit mich niemand falsch versteht: selbstverständlich bin ich für die Ganztagsbetreuung in der Schule, auch in der Grundschule, die brauchen wir und was Herr Lierenfeld als Zahlen genannt hat, aus Dormagen mit 75%, belegt das. Ich wage eine Prognose: in spätestens fünf oder sechs 6 Jahren sind es nicht 75%, dann sind es 95% oder noch mehr. Wir haben Arbeitskräftemangel, die Frauen wollen zu Recht in den Beruf zurück, das wird nicht anders funktionieren.
Und das ist genau die Crux an der Geschichte, dass nämlich alle finanziellen Berechnungen sowohl des Bundes wie der Länder auf zwei falschen Prämissen beruhen, dass nämlich ein Teil der Leute das gar nicht in Anspruch nehmen wird, und zwar ein nennenswerter Teil, und natürlich der falsche Ansatz der Schülerzahlen. Wenn die Entwicklung so weitergeht, das können wir nicht ausschließen, werden wir am Ende des Jahres 2022 400.000 Schülerinnen und Schüler mehr haben, die durch den Ukrainekonflikt als Vertriebene in Deutschland in die Schule gehen werden. Und dann brauchen wir alle keinen Rechenschieber, wir werden Tausende von Leuten brauchen, wir werden Räume brauchen.
Diese Räume gibt es nicht, und die Leute gibt es auch nicht, das heißt, wir werden da ganz andere, vielleicht sehr pragmatische Lösungen entwickeln müssen, und das treibt mich um, weil ich in der Diskussion – nicht heute in dieser Veranstaltung, aber an vielen anderen Orten – immer wieder gehört habe, ja, das ist ganz furchtbar, aber es darf sich nichts ändern. Das bezieht sich jetzt nicht nur auf den Rechtsanspruch auf die Ganztagsbetreuung, das gilt in allen Bereichen. Und die Masse, die zu verteilen ist, die auch für diese Aufgaben zu verteilen ist, wird ja nicht grösser, weil jede Gruppe für ihren Bereich mit Recht sagt, da muss mehr Geld hinein.
Ich sage schlagwortartig, das sage ich immer, nenne mir mal ein Problem in Deutschland, das nicht folgende Antworten erfordert: mehr Personal, mehr Geld, mehr Qualifikation. Ja, ob das die Schule ist? Das ist der Kindergarten, das ist das Altenheim, das sind das Krankenhaus und die Polizei, die Bundeswehr, die Feuerwehr, überall, und wir alle wissen, das kann nicht funktionieren, weil wir eben nicht nur jünger, sondern alle älter werden. Das gilt für die Rente und alle Dinge, es ist diese Mentalität, immer mehr und besser von allem, mit guten Begründungen, und deswegen glaube ich, dass wir da noch einen riesigen Lernprozess haben werden.
Es kommt ein Weiteres hinzu. Ich bin ja Jurist. Der Bund, der eigentlich mit Schule überhaupt nichts zu tun hat, schreibt in einem Gesetz einen Rechtsanspruch fest. Und die Länder, die das sogar zu Protokoll gegeben haben, sagen, wir machen das, weil das die Bundesvorgabe ist, aber sie machen es nicht als eigene Vorgabe, damit am Ende der schwarze Peter bei den Kommunen ist und nicht bei ihnen. Der Rechtsanspruch, der richtet sich nicht gegen das Land, er richtet sich auch nicht gegen den Bund, er richtet sich an die Kommunen. Das finden wir jetzt nicht so ganz sportlich, um es mal vorsichtig zu formulieren.
Norbert Reichel: Das ist nicht nur nicht ganz sportlich, sondern eigentlich etwas ziemlich Dummes. Immerhin steht in dem Sondierungspapier, dass CDU und Grüne für die Koalitionsverhandlungen in Nordrhein-Westfalen vorgelegt haben, dass es eben wohl ein Ausführungsgesetz geben wird. Wie das dann finanziell unterlegt ist, das wissen wir noch nicht. Ich denke, um die Konnexität kommen die nicht rum. Wie sich das in anderen Ländern entwickelt, wage ich nicht zu beurteilen.
Die Rahmenbedingungen, in denen der Rechtsanspruch umgesetzt wird, sind ein ganz wesentlicher Punkt. Und das wurde auch deutlich in dem, was Herr Lierenfeld gesagt hat. Wir haben alle ein pädagogisches Ethos, wir haben alle viele Ideen, wie Schule zum Wohle der Kinder gestaltet werden kann, mit ihnen, von ihnen, aber wir brauchen auch Erwachsene, die es machen, und wir brauchen Platz, und da wäre natürlich die Frage, was kann man, was braucht man konkret? Müssen wir mehr zusammenrücken, müssen wir mehr Phantasie haben, die Schulräume multifunktionaler zu nutzen, müssen wir mehr Personal ausbilden oder fortbilden, qualifizieren? Wie wird das im Städte -und Gemeindebund diskutiert?
Gerd Landsberg: Genau genommen alle Punkte, die du genannt hast, sind Bausteine. Natürlich müssen wir mehr Leute ausbilden, wir müssen auch mehr Möglichkeiten geben für Quereinsteiger, wir müssen vielleicht auch Möglichkeiten – das wird ja auch diskutiert – für Erzieherinnen und Erzieher oder auch Lehrer und Lehrerinnen aus der Ukraine eröffnen. Das ist ein ausgesprochen komplizierter Prozess, obwohl die qualifiziert ausgebildet sind. Die haben zum Beispiel in der Ukraine keine zweite Staatsprüfung als Lehrer, sondern nur eine, also können die nicht so ohne weiteres als Lehrer hier arbeiten, obwohl sie es fachlich könnten. Das Land Sachsen hat sie jetzt fürs Erste als sogenannte Lehrerinnen- und Lehrerassistenten eingestellt. Natürlich weniger bezahlt, versteht sich auch.
Da müssen wir kreativer sein, auch bei der Frage der Flächen, das ist natürlich von Kommune zu Kommune unterschiedlich, wenn man Fläche hat, kann man Gebiet ausweisen und dann eben auch eine Schule bauen, die diese Anforderungen erfüllt. Aber gerade im stark verdichteten Großstadtbereich wird das immer schwieriger und dann muss man auch ehrlich sein, alle, die wir hier jetzt uns unterhalten, auch die, die im Chat sind, wir finden das alles toll, aber wenn Sie als Kommune einen Kindergarten im Wohngebiet bauen, der nötig ist, da haben Sie ganz viele, die als Erstes sagen, das wollen wir nicht haben. Ja, diesen Krach, und das gilt für die Schule genauso, also das kommt immer darauf an, wie weit man betroffen ist. Wenn man selber Kinder hat, sieht das natürlich anders aus. Aber es gibt natürlich auch viele Menschen, die keine Kinder haben.
Norbert Reichel: Das erleben wir ja auch bei anderen Themen wie den Erneuerbaren Energien, die NIMBY-Bewegung: not in my backyard. Und so sind dann auch die Zustimmungswerte: alles wichtig, aber bitte nicht in meiner Nähe, egal ob Kindertagesstätten oder Windräder.
Gerd Landsberg: Wir müssen eigentlich noch mal eine Grundsatzdiskussion führen, welche große Rolle eigentlich die Kommune spielt. Es hat sich ja auch hier in der Diskussion gezeigt, dass ich in der Art, wie ich eine Schule gestalte, genau genommen schon auch über Lerninhalte entscheide. Formal haben wir, und das gilt für alle Bundesländer, die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Schulangelegenheiten, das heißt, wir Kommunen sind eigentlich nur vereinfacht gesprochen für das Gebäude und den Hausmeister zuständig und vielleicht für die Kreide, nicht aber das Lehrpersonal. Und wie werden die Personen ausgesucht? In welche Richtung soll das gehen? Da haben wir gar nichts mehr zu tun, das macht eben das Land und das ist auch in anderen Ländern so.
Ob das so schlau ist? Da habe ich meine Zweifel. Ich weiß, dass es früher anders war, und ich weiß auch, dass viele Kommunen froh waren, als diese Aufgabe beim Land war, denn Lehrer gelten nicht immer als so als ganz unkompliziertes Personal, aber schlau ist das nicht, wir müssen da anders drüber nachdenken, das ist ja auch der Konflikt. Wir haben es bei dem Thema der Digitalisierung gehört, ob das jetzt eigentlich zur äußeren Schulangelegenheit gehört, also Kommune, oder zur inneren, also Land, weil ja auf der Plattform die Inhalte vermittelt werden und die Art der Plattform ja schon über die Inhalte mitentscheidet. Da gehen die Länder nicht ran, jedenfalls kaum, was ich schade finde, ich finde die Kultusministerkonferenz, die ich ja sehr schätze, sollte mal den Mut haben und sagen, wir entwickeln mal ein Modell oder wir probieren es mal aus.
Ich glaube an den Grundsatz der Subsidiarität. Ich glaube, dass viele Kommunen manches besser machen könnten, wenn ein Teil der Vorgaben der sogenannten Schulbehörde auf Bezirks- oder Landesebene vielleicht etwas schlanker ausfallen würde.
Norbert Reichel: Das hört sich auch so ein bisschen an, als wenn KMK und andere Institutionen eher Teil des Problems als Teil der Lösung sind?
Gerd Landsberg: Für die KMK würde ich das schon fast zu sehen. Das sind eben 16 verschiedene Länder mit 16 verschiedenen Meinungen, die aus meiner Sicht jedenfalls immer sehr lange brauchen, auch um sich zu korrigieren. Ich erinnere an die Schülerzahlen, wir haben reihenweise Schulen geschlossen, weil die Prognose hieß, die Schülerzahlen gehen zurück, und die gleichen Schulen, die wir geschlossen haben, müssen wir jetzt wieder öffnen, aber dann gibt es wieder manche bürokratische Vorgabe. Da passt der Brandschutz nicht mehr zur Fläche, das heißt ,manche Schulen können wir gar nicht wieder öffnen. Ob das im Einzelfall immer alles so richtig ist? Da habe ich große Zweifel, aber das ist Föderalismus, das gehört dazu und ich bin ein großer Verfechter des Föderalismus, aber mancher Zopf müsste da vielleicht anders frisiert oder vielleicht auch abgeschnitten werden, im Sinne unserer Kinder.
Norbert Reichel: Vielleicht ist es das Thema Bürokratie, das da auch angegangen werden muss, wobei ich als ehemaliger Bürokrat sage, wenn die Bürokraten Spielräume haben, arbeiten die auch ganz gut und können auch Spielräume ausnutzen. Daher meine Frage: welche Spielräume sollte das Land oder der Bund den Kommunen geben, damit die Aufgaben, über die wir heute gesprochen haben, überhaupt ordentlich erledigt werden können?
Gerd Landsberg: Ich glaube, dass wir mehr Spielräume brauchen. Dazu gehört Mut, denn Bürokratie wird ja nicht aus Boshaftigkeit gemacht, Bürokratie wird gemacht, weil man auf der sicheren Seite sein will. Das heißt, wenn ein Fehler geschieht, dann kann man sagen, ich habe die bürokratischen Regeln eingehalten und dann ist der Fall eigentlich jedenfalls für mich erledigt.
Das ist ein bisschen eine Frage der Persönlichkeit und auch des politischen Klimas. Wenn wir auf der Straße fragen, sagen ja fast alle, sie sind gegen Bürokratie, aber wenn die Bürokratie mehr nützt, dann finden sie das als Bürger ganz toll. Ein Beispiel: einzelne Gemeinden sagen jetzt beispielsweise, nicht nur im Regierungsbezirk Köln, lass doch mal eine Zeitlang die Gruppenstärke im Kindergarten anwachsen, weil sowieso nie alle da sind. Die ersten, die sich dagegen wenden, sind die Eltern von den Kindern, die bereits in der Gruppe sind, denn die sagen: bitte, es gibt die Vorgabe, es darf da kein Kind mehr rein und das tut uns leid für die ukrainischen Kinder, aber das geht nicht. Da kann man auch mal drüber nachdenken.
Anne Lütkes: Ja, ich denke, da hat Herr Landsberg völlig recht, ob das jetzt die Klassengröße ist oder die Gruppengröße bei Kindertagesstätten. Einen vertretbaren Spielraum zuzulassen, das haben wir ja früher, als ich noch in Amt und Würden war, schon diskutiert, und es wird offenkundig immer noch schwer, eine flexible Lösung zu finden. Natürlich ist nicht jedes grundlegende Regelwerk des Teufels. Das muss man vielleicht noch festhalten. Ein Regelwerk, eine bürokratische Grundregel ist ja notwendig, um ein demokratisches Gemeinwesen sozusagen am Laufen zu halten.
Aus unserer Sicht der kinderfreundlichen Kommune wäre es schon ein sehr großer Schritt, nicht unbedingt ein Spielraum, sondern eine andere Grundlage, wenn nicht nur von den Kommunalaufsichten, sondern ganz grundsätzlich anerkannt würde, dass die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention eine Pflichtaufgabe der Kommunen ist, dass es heißt, das ist geltendes Recht. Die UN-Kinderrechtskonvention hat den Charakter eines einfachen Bundesgesetzes – die Verankerung in der Verfassung haben wir noch nicht – aber es wäre möglich, sie als Pflichtaufgabe zu sehen. Gerade gemeindehaushaltsrechtlich wäre das eine sehr große Möglichkeit für die Kämmereien und auch für das Denken im kommunalen Alltag, anders damit umzugehen.
Wir haben eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die unter meiner Mitwirkung und der Mitwirkung der Regierungspräsidentin von Köln Richtlinien erarbeitet hat, die wir demnächst veröffentlichen. Richtlinie war jetzt ein großes Wort. Natürlich können wir keine verbindliche Richtlinie erlassen, aber Gedanken schon, wie man formulieren könnte. Das haben wir sehr ausführlich entwickelt, weil die Kämmerer, wenn sie andere finanzielle Spielräume hätten, damit auch verpflichtet wären, und wir dann auch eine andere Verpflichtung des Landes und des Bundes hätten, diese Pflichtaufgabe zu unterstützen. Dann hätten wir natürlich auch bei dem heutigen Thema andere Möglichkeiten, beispielsweise personelle Unterstützungen zu organisieren. Auch die Räume zu entwickeln, im Sinne dessen, was Herr Lierenfeld vorhin gesagt hat, dass man die Räume am Vormittag so und am Nachmittag anders nutzt, das ist ja nicht profan, dahinter stehen dann der Brandschutz und andere Regelungen, die man nicht ausbooten, aber flexibel und dann kindgerecht umsetzen müsste, vielleicht auch einfacher.
Boris Preuß: Ich spreche jetzt aus der pädagogischen Sicht. Auf der Seite der Vorgaben haben wir alle Spielräume, die wir brauchen, schon seit Jahren, da brauchen wir keine Lockerung. Wenn die Ressourcenfrage gelöst ist, können wir eigentlich direkt loslegen. Das ist von Landesseite klar, wir brauchen auch Ressourcen und wir haben das gemeinsame Problem. Wir haben von Seiten des Landes Stellenanteile, wir haben Geld, wir müssen die Personen finden, wir müssen – so denke ich – jetzt wirklich noch einmal über gemeinsame Qualifizierungsprogramme nachdenken, auch über so alte Geschichten wie gemeinsame Fortbildungen für die Lehrkräfte und die pädagogischen Fachkräfte der Jugendhilfe und so weiter. Das ist ein altes Thema, aber die pädagogische Gestaltungsfreiheit für die Inhalte haben wir, die müssen wir nur mit Leben füllen.
Norbert Reichel: Das ist vielleicht ein schöner Schlusssatz: Spielräume nutzen und mit Leben füllen ist das eine, das andere sind die Ressourcen, auf die heute mehrfach hingewiesen wurde. Dann ist die Frage neuer Spielräume nicht das Abschaffen von Bürokratie, sondern deren flexible Gestaltung. Manche Spielräume müssen wir nur erkennen, andere sollten wir sicherlich auch noch gesetzlich schaffen. Beispiele haben wir heute einige gehört.
Ich möchte nun allen Akteuren des heutigen Abends ganz herzlich danken und ich würde mich sehr freuen, wenn wir uns demnächst in anderer Runde, vielleicht auch in einer Präsenzveranstaltung weiter mit diesem Thema befassen. Der Demokratische Salon wird mit verschiedenen Partnern weitere Veranstaltungen rund um das Thema Kinderrechte, Ganztagsschule, Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule anbieten und auch den ein oder anderen Text zum Thema als Essay oder als Interview mit profilierten Akteuren veröffentlichen. Marcel Schlinker und Lisa Stroetmann danke ich für die technische sowie die inhaltliche Unterstützung und Vorbereitung, auch UNICEF und EDUCATION Y für ihre Mitwirkung. Ich danke allen, die heute dabei waren und wünsche noch einen schönen Abend.
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Juni 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 5. Juni 2022.)