Kirchen in der Diktatur
Unterdrückt, angepasst und im Widerstand – ein weites Feld
„Nicht ihr Leben und Erleiden hatte die Heiligen zu Heiligen gemacht, sondern die Heiligsprechung durch die Kirche.“ (aus: Manès Sperber, Wie eine Träne im Ozean)
Wenn Vertreter*innen einer Religion dafür gesorgt haben, dass eine Diktatur zusammenbrach und verschwand, werden sie gerne von denen, die diesen Zusammenbruch herbeisehnten oder sogar aktiv unterstützten, mehr oder weniger heiliggesprochen. Wenn eine Diktatur durch eine andere Diktatur abgelöst wird, wie dies beispielsweise 1979 im Iran geschah, erhalten die in den revolutionären Wirren auf der Seite der Rebellion Gefallenen den Status von Martyrern. Wenn eine Demokratie entsteht, wie beispielsweise in Portugal, Spanien oder Griechenland in den 1970er Jahren, verläuft die Selig- und Heiligsprechung weniger spektakulär.
In den säkularen Diktaturen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts genossen die Gründergestalten Heiligenverehrung, Hitler, Lenin, Stalin, Mao. Kim Il-Sung wurde auch nach seinem Tod so sehr verehrt, dass sein Geburtsjahr 1997 zum Jahr 1 der neuen nordkoreanischen Zeitrechnung erklärt wurde. Diktatoren lassen sich in Ritualen und Massenveranstaltungen feiern, die an religiöse Prozessionen und Feste erinnern. Grabstätten und Orte ihres Wirkens werden zu Wallfahrtsorten.
Mitunter entstehen nach dem Zusammenbruch von Diktaturen auch hybride Formen mit einer Mischung demokratischer, zumindest schein-demokratischer und autoritär-diktatorischer Staatsformen. Dies trifft beispielsweise auf Russland unter Vladimir Putin oder Venezuela unter Hugo Chávez sowie andere lateinamerikanische Staaten mit ihren jeweiligen Staatsführern zu. Es gibt zwar auch hier Heldenverehrung und Personenkult, doch in Grenzen. In all diesen Staaten haben Kirchen einen hohen Einfluss. In Russland vermag die orthodoxe Kirche die offizielle Gesellschaftspolitik maßgeblich zu beeinflussen. In den lateinamerikanischen Staaten formulieren katholische und evangelikale Kirchen gleichermaßen, mitunter auch in Konkurrenz zueinander, diesen Anspruch, mit unterschiedlichen Erfolgen.
Mit der Berufung auf eine die Welt rettende Mission orientiert sich die Selbstinszenierung der genannten Staatsführer an dem bei den jeweiligen Staatsbürger*innen gängigem Bild eines Propheten oder sogar eines Messias. Die Staatsbürger*innen werden zu Gläubigen. Friedrich Wilhelm Graf schreibt in seinem Buch „Missbrauchte Götter – Zum Menschenbilderstreit in der Moderne“ (München, C.H. Beck, 2009): „Man könnte diesen konstruktiven Vorgang Projektionsjesulogie nennen: sich sein Jesusbild machen. Aber religionsanalytisch plausibler ist es, den in sich reflexiven projektiven Mechanismus im Konzept der Milieuchristologien zu erfassen: der deus incarnatus als Garant der kollektiven Identität eines spezifischen Milieus, einer bestimmten Gruppe.“
Folgen wir dieser Analyse, wird verständlich, was der Tod Stalins und seine Entdeïfizierung durch Nikita Chruschtschow in der gar nicht so geheimen „Geheimrede“ vor dem XX. Parteitag der KPdSU bedeutete. Der religiöse Effekt wird bei manchen Bewunderern nach dem Sturz der gottgleichen Leitfigur möglicherweise sogar noch verstärkt. Sie pflegen das Gedenken an den geliebten Herrscher im Privaten, beispielsweise Neonazis, die ein Hitlerbild in einer Art Herrgottswinkel drapieren. In Demokratien spielen diese Bewunderer gestürzter Despoten glücklicherweise eine eher randständige Rolle, doch wie sieht es mit dem Umgang mit der Vergangenheit und ihren Göttern in einer Demokratie aus?
Das „Opium des Volkes“
Das Beispiel der DDR wird gerade deshalb interessant, weil hier keine Religion ihre Renaissance erlebte. Die Kirchen waren in der Umbruchphase vor und nach 1989 sehr präsent, die evangelischen Kirchen stellten längere Zeit das Führungspersonal demokratischer Parteien, ihre Bedeutung rückte jedoch mit der Zeit in den Hintergrund. Das änderte sich nach und nach mit der seit 2000 virulenten Leitkulturdebatte in Deutschland. Auf einmal erhielt das Christentum wieder öffentliches Interesse als politischer Faktor und manch konservativer Politiker (in der Regel alles Männer) inszenierte sein Christentum, indem er in öffentlichen Gebäuden Kreuze forderte oder sie sogar aufhängte. Ob die Kirchen davon profitierten, ist eine andere Frage. Meines Erachtens entstand ein diffuser Begriff von Christentum, der mit der Organisationsform Kirche wenig zu tun hatte.
Der Beitrag der Kirchen zur „Friedlichen Revolution“ in der DDR gehört – daran besteht kein Zweifel – zur „Geschichte der Freiheit in der DDR“. Peter Maser beschreibt sie in seinem Buch „Niemals voll in das Regime integriert – Kirchen in der DDR“ als „Teil der DDR-Kirchengeschichte“ (Erstveröffentlichung bei der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, auch über die Bundesstiftung Aufarbeitung erhältlich). Das Buch dokumentiert die wesentlichen Eckdaten und Positionen der Kirchen in der DDR bis zum Fall der Mauer, mit all ihren Widersprüchen.
Diese Widersprüche sind im Grunde bereits in der Staatsideologie der DDR und ihres großen ideologischen Vorbilds, der Sowjetunion, angelegt. Berühmt ist die Formel, die Karl Marx 1844 in „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ veröffentlichte (MEW Band 1): „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“
Zitiert wird diese Formel auch in einer anderen Variante: „Opium für das Volk“. Reißt man oder frau die Formel aus dem Zusammenhang heraus, wie dies in popularisierter Rezeption der Marxschen Philosophie oft geschieht, verweisen Präpositional- und Genetivformel auf zwei deutlich voneinander zu unterscheidende Interpretationen. Während die Präpositionalformel die Religion als Konstrukt Herrschender erfasst, schließt die Genitivformel die Herrschenden selbst mit ein.
„Volk“ bezeichnet bei Karl Marx in diesem Zusammenhang ausschließlich die Masse der Beherrschten. Die Herrschenden gehören nicht zum „Volk“. Sie nutzen die Religion als Instrument der Unterdrückung. Diese Interpretation lässt sich mit den Quellen, auf die Karl Marx wahrscheinlich zurückgriff, stützen (zum Einstieg für Interessierte empfehlenswert der Wikipedia Eintrag zu „Opium des Volkes“).
Wie gläubig, wie religiös sind die Beherrschten, und wie gläubig und wie religiös sind die Herrschenden? Es gibt genügend Bilder von sich gläubig, religiös verstehenden oder zumindest inszenierenden Oppositionsbewegungen, es gibt aber ebenso genügend Bilder von Diktatoren und ihren Anhänger*innen, die ihren Status und ihr Handeln tief versunken in ihr Gebet gerade aus ihrem religiösen Glauben legitimieren.
Katholische Diktatoren bieten ein nicht nur für das gläubige Publikum, sondern auch für ihr eigenes Selbstbewusstsein attraktives Bild, wenn sie sich dabei fotografieren lassen, wie sie an einer Messe teilnehmen und die Oblate, den „Leib Christi“ empfangen. Evangelikale Diktatoren oder solche, die es gerne wären, stehen dem nicht nach und inszenieren sich in tiefem Gebet mit geschlossenen Augen und einander gereichten Händen. Es gibt zahlreiche Bilder dieser Art auch von Donald Trump mit seinen evangelikalen Anhänger*innen.
Friedrich Wilhelm Graf diagnostiziert eine „hohe religionssemantische Anfälligkeit für alle möglichen Ideologien.“ Christentum und Diktaturen schließen sich nicht gegenseitig aus. Sie können sich verstärken, vorausgesetzt, die Gläubigen erkennen an, wer in dem jeweiligen Staat das Sagen hat. Kommunismus und Faschismus übernehmen dabei die Funktion der Religion gleich selbst. Friedrich-Wilhelm Graf: „Nun hat der tridentinische Katholizismus, die Augenreligion par excellence, gerne die Sakralmagie religiöser Bilder beschworen und der Macht der Bilder mehr vertraut als der Wirkkraft des Wortes. Dass man vor Bildern niederkniet, ist im römisch-katholischen Symbolsystem nur selbstverständlich. Aber seit wann sind Menschenbilder der idealen Gesellschaft Konfessionsobjekte? Muss man vor dem ‚solidaristischen Menschenbild‘ die Knie beugen?“ Vielleicht nicht, aber mit Bildern der Parteiführer im Marschschritt an Tribünen vorbeimarschieren – das schon.
Nationalsozialismus und Kommunismus distanzieren sich von den jeweiligen Religionen ihres Machtbereichs. Nationalsozialist*innen bezeichneten ihre Religion, auch in den Ausweisen, nicht als christlich, sondern als „gottgläubig“. Wie auch immer sie sich diesen Gott vorgestellt haben mögen, war diese Konzession an die Religiosität der von ihnen beherrschten Menschen offenbar notwendig, um ihre Herrschaft zu sichern. Kommunist*innen waren grundsätzlich atheistisch, belegen in ihrer Inszenierung jedoch nach Übernahme der Herrschaft den Stil, den Friedrich Wilhelm Graf als „religionssemantische Anfälligkeit“ bezeichnet. Das, was propagiert wird, durfte nicht mehr hinterfragt werden. Es war Glaubenswahrheit. Und jeder öffentliche Auftritt, jede öffentliche Feier diente dem Ziel der Verewigung der eigenen Herrschaft.
Karl Marx schreibt der „Philosophie“ die Aufgabe zu, diese Verquickung von Religion und Staat, die Symbiose von Heiligem und Profanem, sichtbar zu machen, um sie dann zu zerschlagen: „Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.“ (aus der Einleitung von „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“). Im Grunde geht es darum, die Avatare der Anbetung durch das „Volk“ als das zu erkennen, was sie sind, als den Phänotyp eines Diktators in religiöser Verkleidung.
Die Kirchen unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft
Während der Herrschaft des Nationalsozialismus gab es in den evangelischen Kirchen mit den „Deutschen Christen“ eine Gruppe, die die Nazis unterstützte, und mit der „Bekennenden Kirche“ eine Oppositionsbewegung, deren Mitglieder verfolgt, inhaftiert und ermordet wurden.
Aus den Reihen der „Bekennenden Kirche“ stammten dann auch die Verfasser des Stuttgarter Schuldbekenntnisses vom 18./19. Oktober 1945 (Original im Bonner Haus der Geschichte), Hans-Christian Asmussen, Otto Dibelius und Martin Niemöller. Sieben weitere Männer unterzeichneten die Erklärung, darunter zwei Landesbischöfe und der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann. Das Stuttgarter Schuldbekenntnis war umstritten, und es ist nach wie vor nicht leicht, die verschiedenen Ausprägungen von Widerstand und Anpassung, die selbst das Leben engagierter Mitglieder der „Bekennenden Kirche“ in der NS-Zeit bestimmten, angemessen zu bewerten.
Für die katholische Kirche maßgebend war die Enzyklika des damaligen Papstes Pius XI. „Mit brennender Sorge“ vom 14. März 1937. Auch für die katholische Kirche gilt, dass eine angemessene Bewertung weder in ihrer Gesamtheit noch im Einzelfall einfach ist. Es wird wohl offenbleiben, ob das Zentrum als Partei dem sogenannten „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933 (Originaltitel: „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“) zustimmte, weil sich der Abschluss eines Reichskonkordats abzeichnete, oder ob es hier keinen Zusammenhang gab.
Die „Barmer Theologische Erklärung“ vom 31. Mai 1934 kritisierte die Anpassung der „Deutschen Christen“ an den Nationalsozialismus scharf: „Wir erklären vor der Öffentlichkeit aller evangelischen Kirchen Deutschlands, dass die Gemeinsamkeit dieses Bekenntnisses und damit auch die Einheit der Deutschen Evangelischen Kirche aufs schwerste gefährdet ist. (…) Diese Bedrohung besteht darin, dass die theologische Voraussetzung, in der die Deutsche Evangelische Kirche vereinigt ist, sowohl seitens der Führer und Sprecher der Deutschen Christen als auch seitens des Kirchenregimentes dauernd und grundsätzlich durch fremde Voraussetzungen durchkreuzt und unwirksam gemacht wird.“
Der Antisemitismus der Nazis spielte in der Barmer Erklärung keine Rolle, zumindest wurde er nicht explizit benannt. Auch die Haltung der katholischen Kirche zum Antisemitismus war – vorsichtig gesprochen – ambivalent. Abzuwarten bleiben die Analysen und Erkenntnisse, die sich aus der zu Beginn des Jahres 2020 erfolgten Freigabe der Akten aus der Zeit von Papst Pius XII. ergeben.
Die Theologie der Befreiung und die zwei Reiche
Ein Lehrstück für das durchweg zwiespältige Verhältnis von Kirche und Diktatur bietet die Geschichte der lateinamerikanischen Militärdiktaturen der 1960er und 1970er Jahre. Populär war seit Beginn der 1960er Jahre die „Theologie der Befreiung“ („teología de la liberación“). Als Namensgeber gilt der peruanische Priester und Hochschullehrer Gustavo Gutierrez, einer der bekanntesten Vertreter war der Erzbischof von San Salvador, Oscar Romero, der 1980 von Armeekräften ermordet wurde, ein weiterer der brasilianische Erzbischof von Olinda und Recife, Hélder Camara. Heute tragen, auch in Deutschland, Bildungsstätten ihre Namen.
Der Vatikan tat sich schwer mit der „Theologie der Befreiung“. Leonardo Boff erhielt 1985 von der vatikanischen Glaubenskongregation unter Leitung des damaligen Kardinals Josef Ratzinger Lehr- und Predigtverbot. Eindrucksvoll war die Standpauke, die der am 1. März 2020 im Alter von 95 Jahren verstorbene katholische Priester, Lyriker und nicaraguanische Kulturminister Ernesto Cardenal im März 1983 durch den damaligen Papst Johannes Paul II. bei dessen Ankunft am Flughafen von Managua über sich ergehen lassen musste. Zwei Jahre später suspendierte Papst Johannes Paul II. Ernesto Cardenal vom Priesteramt.
Man mag die ambivalente Geschichte der Kirchen in Diktaturen als theologischen Streit über einen Jesus zugeschriebenen Lehrsatz interpretieren, „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist“ (Matthäus 22,21). Wie politisch Jesus nun tatsächlich war oder nicht war oder ob dieser Satz auch die Akzeptanz politischer Unterdrückung und von Unrechtsregimen umfasst, ist eine müßige Debatte. Eine vergleichbare Debatte wird im Übrigen nach wie vor um die Martin Luther zugeschriebene sogenannte „Zwei-Reiche-Lehre“ geführt.
Möglicherweise verhält es sich aber viel banaler: Kirchen und Religionsgemeinschaften spielen in fast allen Gesellschaften – selbst dort, wo sie von staatlicher Seite verfolgt oder unterdrückt werden – eine so wichtige Rolle, dass es unter den ihnen folgenden Menschen ebenso unterschiedliche Meinungen und Positionen gibt wie unter allen anderen Menschen auch. Innerhalb der Kirchen ergibt sich dabei oft genug eine Art horizontaler Kirchenspaltung, in der die Eliten die jeweiligen Herrscher unterstützen, während an der Basis viele Gläubige zumindest die Ansichten der Opposition teilen und auch gelegentlich den ein oder anderen Vertreter der kirchlichen Eliten finden, die diese Ansichten teilen. Besonders kritisch ist in diesem Zusammenhang die Rolle von Vertreter*innen der mittleren Hierarchie. Die Debatten um das Verhalten das amtierenden Papstes Franziskus unter der argentinischen Militärherrschaft bieten ein anschauliches Bild der Zerrissenheit dieser Gruppe (eindrucksvoll dazu die Szenen des Films „Die zwei Päpste“ von Fernando Meirelles, auf Netflix verfügbar).
Theologische Begründungen lassen sich – je nach Standpunkt – im Nachhinein für jede Variante konstruieren. Aussagen über die dahinter liegenden Wirklichkeiten lassen sich unbeschadet der jeweils verwendeten Zitate aus den heiligen Schriften jedoch nicht ableiten.
Das Bekenntnis von Akkra
Das „Bekenntnis von Akkra“ wurde 2004 in der Hauptstadt Ghanas von der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen beschlossen. Der Text bezieht sich nicht auf Zustände in einem bestimmten Land, sondern auf weltweite Miss- und Zustände, denen die Kirchen entgegentreten sollten. Wer will, kann das Dokument gerne globalisierungskritisch und antikapitalistisch lesen, auch wenn diese Begriffe dort nicht vorkommen. Missachtung und Verletzung von Menschenrechten werden mit der Struktur des herrschenden „Weltwirtschaftssystem(s)“ begründet.
In der Einleitung berichtet die Erklärung von der Besichtigung der Sklavenverliese von Elmina und Cape Coast in Ghana: „Der Aufschrei ‚Nie wieder‘ wird durch die Tatsache heutigen Menschenhandels und fortwährender Unterdrückung durch das Weltwirtschaftssystem Lügen gestraft.“ Die Schlussfolgerung: „Darum sagen wir Nein zu jeder Ideologie und jedem wirtschaftlichen Regime, das nicht um die ganze Schöpfung besorgt ist und jene Gaben Gottes, die für alle bestimmt sind, zum Privateigentum erklärt. Wir weisen jede Lehre zurück, die zur Rechtfertigung jener dient, die einer solchen Ideologie im Namen des Evangeliums das Wort reden oder ihr nicht widerstehen.“
Die Parallelen zu den Inhalten der “Theologie der Befreiung“ sind offensichtlich. Das Bekenntnis enthält eine Fülle von Textstellen der heiligen Schriften des Christentums, die den Satz, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers sei, relativieren. Geradezu martialisch liest sich Abschnitt 36 mit Bezug auf Lukas 1,52f: „Wir schließen uns zusammen zum Lobe Gottes, Schöpfer, Erlöser und Geist, ‚der die Gewaltigen vom Thron stößt und die Niedrigen erhebt, die Hungrigen mit Gütern füllt, und die Reichen leer ausgehen lässt‘“. Wie weit sich diese antikapitalistische Grundhaltung dann in konkreten Programmen und Aktionen der einzelnen Kirchen und der Gemeinden widerspiegelt, ist eine andere Frage.
Polen und die DDR
In den 1970er-Jahren gab es einen politischen Witz über Polen und Italien. Die Frage lautete, welches Land katholischer und welches kommunistischer wäre. Die Antwort: Polen ist etwas katholischer, Italien etwas kommunistischer. In der Tat spielte die katholische Kirche in der polnischen Geschichte nach 1945 eine zentrale Rolle. Władislaw Gomułka sorgte nach seiner Rehabilitierung unter anderem auch dafür, dass der inhaftierte Stefan Kardinal Wysziński nach 1956 „anders als seine Amtskollegen in Budapest und Prag (…) triumphal auf seinen Posten zurückkehren“ durfte (Gerhard Gnauck: Polen verstehen – Geschichte, Politik, Gesellschaft, Stuttgart, Cotta’sche Buchhandlung, 2018, 2019 als Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen). Insofern verwundert es niemanden, der die polnische Geschichte ein wenig verfolgt hat, dass die Wahl des Polen Karol Kardinal Woytiła zum Papst im Jahr 1978 sowie seine neun Besuche in Polen maßgeblich zu Erosion und Implosion der kommunistischen Herrschaft in Polen und auch anderen Ortes beitrugen. Die Erosion dauerte etwa zehn Jahre, während es im Jahr 1979 in einer anderen Weltregion religiösen Führern innerhalb kurzer Zeit gelang, eine theokratische Diktatur zu etablieren, die Islamische Republik Iran.
Die Rolle, die die katholische Kirche in der polnischen Oppositionsbewegung spielen konnte, spielten in der Oppositionsbewegung der DDR die evangelischen Kirchen. Peter Maser zitiert allerdings auch den katholischen Bischof von Meißen, Otto Spülbeck, der am 1. September 1956 beim 77. Katholikentag in Köln die Situation in der DDR unter anderem wie folgt kennzeichnete: „Wir tragen gerne dazu bei, dass wir selbst in diesem Haus noch menschenwürdig und als Christen leben können, aber wir können kein neues Stockwerk draufsetzen, da wir das Fundament für fehlerhaft halten. Das Menschenbild des Marxismus und seine Gesellschafts- und Wirtschafsauffassung stimmt mit dem Bild, das wir haben, nicht überein.“
Heute ist Polen ein eindeutig katholisch geprägtes Land, vor allem in den ländlichen Räumen, aber nicht nur da, während sich die Verbreitung der Religion in den aus der DDR entstandenen Bundesländern einschließlich Ost-Berlins nicht verändert hat. Anti-islamische Positionierungen im Namen des Christentums ändern daran nichts. Das Christentum ist hier nicht mehr und nicht weniger als ein Kampfbegriff.
Exkurs – Kirchen und Politik im „Westen“ vor 1989
Auch in der Bundesrepublik Deutschland der Zeit vor 1989 gab es evangelische Pfarrer*innen, auch in der Spitze der evangelischen Kirchen, die sich politisch engagierten, maßgeblich in der Friedensbewegung. Von katholischer Seite gab es das Engagement von Laienbewegungen wie „Pax Christi“. Die Zeit der Hirtenbriefe, in denen mehr oder weniger offene Wahlempfehlungen für CDU oder CSU ausgesprochen wurden, war vorbei. Kritik der Spitzen der katholischen Kirche an einzelnen Positionen der Friedensbewegung gab es gleichwohl, vor allem dann, wenn ihnen etwas allzu marxistisch erschien und damit unter Atheismus-Verdacht geriet. In Gesprächen, die ich damals führte, hörte ich mehrfach den Hinweis auf eine Art „horizontale Kirchenspaltung“. Die „Theologie der Befreiung“ wurde gerne zitiert, eine Linie, die sich bis zu den heutigen Positionen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Christ*innen bei den Grünen nachverfolgen lässt.
Explizit politische Äußerungen der Spitzen der katholischen Kirche gab es abgesehen von den üblichen Einlassungen zur Abtreibung nicht. Papst Johannes Paul II. wurde innerhalb und außerhalb der Kirchen mehr oder weniger mit der polnischen Gewerkschafts- und Oppositionsbewegung Solidarność identifiziert, und Menschen, die sich sonst eher skeptisch über Gewerkschaften äußerten, inszenierten sich auf einmal als überzeugte Gewerkschaftler*innen. In gewisser Weise Beifall von der falschen Seite.
Aus der Not geboren: „Kirche im Sozialismus“
Wie schwierig die Position und die Positionierung der Kirchen, intern sowie extern gegenüber Staat und Partei in der DDR war, signalisiert der Titel des achten Kapitels im Buch von Peter Maser „Die Kirchen der DDR auf doppelten Gleisen“. Auf der einen Seite gab es die für Kirchen übliche theologische und seelsorgerische Arbeit, auf der anderen Seite boten die Kirchen „einen selbstverständlichen, schützenden und aktivierenden Lebensraum“. Beide Ausprägungen kirchlicher Aktivität in der Diktatur näherten sich mit zunehmender Nähe zum 9. November 1989 einander an.
Die Dokumentation von Peter Maser nennt einzelne Stationen der Debatten in den Kirchen der DDR. Dazu gehören auch „Differenzen zwischen den Kirchenleitungen und der Friedensbewegung“: „Die Friedensbewegung musste fortan trotz aller weiterer Zusammenarbeit und zahlreicher persönlicher Querverbindungen in das kirchliche Milieu hinein damit rechnen, sich in Zukunft nicht nur mit SED und MfS auseinanderzusetzen, sondern auch mit den Kirchenleitungen.“
Dieser Satz bezieht sich auf das Verbot des Aufnähers „Schwerter zu Pflugscharen“ im Gefolge der 3. ZK-Tagung im März 1982. Der Druck der SED war erheblich, in diesem Fall personifiziert durch Kirchenstaatssekretär Klaus Gysi (Vater von Gregor Gysi), der am 7. April 1982 „den Mitgliedern der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR definitiv (erklärte), dass sich die Einwände des Staates zwar nicht gegen den Aufnäher selbst richteten, wohl aber gegen dessen missbräuchliche Benutzung, die ‚zur Schwächung der Wehrbereitschaft in der DDR‘ führen könne. Dieser Standpunkt der Staatsorgane wurde in weiteren Gesprächen mit einzelnen Landeskirchen so eindeutig klar gemacht, dass z.B. die Synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche Sachsens im April 1982 in einem Brief an die Jugendlichen erklären musste: ‘Wir müssen euch sagen, dass wir nicht mehr in der Lage sind, Euch vor Konsequenzen, die das Tragen des Aufnähers jetzt mit sich bringen kann, zu schützen. Deshalb bitten wir Euch, mögliche Folgen ernsthaft zu bedenken.‘“
Psychologisch war es nicht ungeschickt, sich als ohnmächtige Schutzmacht zu inszenieren und damit die eigenen Hände wie Pontius Pilatus in Unschuld zu waschen. Es ist wohlfeil, Gespräche der Kirchen mit den Spitzen einer Diktatur als Anbiederung, Opportunismus oder gar als Einverständnis zu verdammen. Mitunter mag dies so gewesen sein, aber nicht als Prinzip.
Peter Maser zitiert die Eisenacher BEK-Synode vom 2. bis 6. Juli 1971: „Die daraus abgeleitete Kurzformulierung ‚Kirche im Sozialismus‘ konnte seitens der SED als Konzeption einer theologischen Anpassung an die sozialistischen Gesellschaftsverhältnisse in Anspruch genommen werden. Innerhalb der Kirchen wurde sie jedoch weitgehend lediglich als eine Ortsbestimmung verstanden, die zudem auf der Ebene der Gemeinden kaum eine Rolle spielte. Als ‚allgemein anerkannte Koexistenzformel‘ sicherte das Konzept der ‚Kirche im Sozialismus‘ den evangelischen Kirchen in der DDR aber einen öffentlichen Einfluss, wie er sonst nirgends im Ostblock den Kirchen zugestanden wurde.“
Diese Einschätzung passt nur bedingt, auch nicht zur Rolle der katholischen Kirche in Polen, aber sie zeigt, dass die Frage, ob sich Kirchen in irgendeiner Form mit dem Sozialismus als Grundidee oder mit seiner konkreten Ausprägung in der DDR oder in anderen sozialistischen Staaten identifiziert oder gar identifizieren konnten, nicht ohne Belang ist. Man sollte nicht unterschätzen, dass die Grundidee des Sozialismus für engagierte Christ*innen attraktiv sein kann. Ähnlich wie in der „Theologie der Befreiung“ gab es im evangelischen Christentum in der DDR antikapitalistische Ansätze. Daher ist die Formel der „Kirche im Sozialismus“ auch inhaltlich nachvollziehbar.
Die DDR-Führung wusste, dass die Unterstützung ihrer Politik durch die Kirchen fragil war, sie aber gleichwohl die Bedeutung der Kirchen für den Alltag einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Menschen in ihrem Herrschaftsbereich nicht ignorieren konnte. Die antikirchliche Politik der 1950er Jahre war im Grunde gescheitert. Insofern war es nur konsequent, dass die SED versuchte, populäre Vertreter der „bürgerlichen“ Vergangenheiten für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.
Eine taktische Motivation für Erich Honecker und die DDR-Führung, das Lutherjahr für sich zu nutzen, war sicherlich auch das Bestreben, Skandale zu vermeiden. Beispielhaft für solche Skandale steht das Jahr 1976, in dem die Ausbürgerung Wolf Biermanns nach seinem Kölner Konzert und die Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz vor der Michaelskirche in Zeitz internationale Aufmerksamkeit fanden. Auch die SED stand unter Druck.
Peter Maser berichtet von Gesprächen des berlin-brandenburgischen Konsistorialpräsidenten, Manfred Stolpe, seit Mitte 1977 mit der SED-Führung. Erich Honecker erklärte dann allerdings, Vereinbarungen des Spitzengesprächs vom 6 März 1978 ignorierend: „Die DDR versteht sich als Erbin alles Progressiven und Humanistischen in der Geschichte unseres Volkes. Sie wird rechtzeitig durch eine staatliche Kommission des Lutherjubiläum 1983 vorbereiten.“ Einer solchen Umdeutung lässt sich schwer widersprechen, denn auch die Kirchen konnten kaum ein Interesse haben, die historisch belegte Position Luthers in den Bauernkriegen oder gar seine eindeutig antisemitischen Äußerungen dagegenzustellen, wollten sie nicht ihren eigenen Gründer und damit sich selbst delegitimieren. Sie saßen in der Falle.
Honeckers Instrumentalisierung Luthers war – wie sich zwischen 1978 und 1989 erwies – geschickt gedacht, aber praktisch erfolglos. So wurde das Lutherjahr 1983 mit Luthers 500. Geburtstag „zu einem Katalysator für Entwicklungen, die dieses Jubiläumsjahr im Rückblick als einen Markstein auf dem Weg zum Untergang der SED-Diktatur erkennen lassen.“ Luther wurde zur Galionsfigur nicht des DDR-Sozialismus, sondern der Opposition, an deren Spitze sich die Evangelischen Kirchen in der DDR zu stellen vermochten, sodass die Formel der „Kirche im Sozialismus“ reine Ortsbestimmung blieb. Man hätte auch sagen können „Kirche in der DDR“, aber „Kirche im Sozialismus“ klingt natürlich nach einer denkbaren gegenseitigen Durchdringung.
Diese Linie der Luther-Rezeption wirkt nach wie vor, bis hin zur Schmalkalder Erklärung vom 10. Juli 2019 mit dem Titel „Die Mauer muss weg“. Schmalkalden wurde von den Initator*innen bewusst auch wegen seiner Bezüge zur Biographie Martin Luthers als Ort der Erklärung gewählt.
Unbeschadet der Versuche der SED, die Kirchen zu instrumentalisieren, wurden Absprachen zum „Management“ des „Häftlingsfreikaufs“ und beantragter Ausreisen eingehalten. Peter Maser: „Die geheime Abwicklung des für alle beteiligten Seiten brisanten Menschenhandels lief weitgehend über Konten des Diakonischen Werks in Stuttgart. Mit dieser Vermittlerfunktion zwischen Ost und West und vor allem durch die zahlreichen Gesprächskontakte führender DDR-Kirchenvertreter in der Bundesrepublik wuchs die deutschlandpolitische Kompetenz der Kirchen.“
Etwa zehn Jahre später: vom 26. bis zum 30. April 1989 fand in Dresden die dritte Sitzungsperiode der Ökumenischen Versammlung in der DDR statt. Peter Maser zitiert aus der Erklärung: „Der grundsätzliche Anspruch der Staats- und Parteiführung, in Politik und Wirtschaft zu wissen, was für den einzelnen und die Gesellschaft als Ganzes notwendig und gut ist, führt dazu, dass der Bürger sich als Objekt von Maßnahmen als ‚umsorgt‘ erfährt, aber viel zu wenig eigenständige, kritische und schöpferische Mitarbeit entfalten kann.“ Der offiziellen Bildung und Erziehung in der DDR wird die Erziehung zu „Konformismus und Opportunismus“ bescheinigt.
Widerstand braucht Papier und Versammlungsräume: „1989 haben immer mehr kirchliche Dienststellen ihre Kopiergeräte der Opposition zur Verfügung gestellt, auch wenn das innerkirchlich umstritten blieb. Die Kirchen besaßen aber auch – bis in fast jedes Dorf hinein – geeignete Räumlichkeiten, in die sie Menschen einladen konnten. Was eine Veranstaltung eigentlich zur kirchlichen Veranstaltung machte, war niemals präzise geklärt worden.“ Evangelische Pfarrer*innen stellten nicht nur Kirchenräume für Versammlungen oppositioneller Gruppen in der DDR zur Verfügung, sie organisierten Gebete für den Frieden und beherbergten verschiedene Institutionen wie beispielsweise die Umweltbibliothek im Keller des Gemeindehauses der Zionskirche am Prenzlauer Berg in Berlin.
Dabei ging es nicht nur um die SED. Die Debatte um eine neue Ausrichtung der Blockpartei CDU wurde – so Peter Maser – maßgeblich von Pastorin Christine Lieberknecht getragen, die 2009 bis 2014 Ministerpräsidentin des Landes Thüringen war. Sie und andere dokumentierten im „‘Brief aus Weimar‘, der am 10. September 1989 an die Parteileitung der Ost-CDU ging (…) das breite Reformverlangen an der Basis der Partei, um die CDU für ‚die Reform der Gesellschaft tauglich’ zu machen.“
Wie kirchlich war der Widerstand in der DDR?
Der Beitrag, der den Kirchen im Vorfeld der sogenannten „Friedlichen Revolution“ zugeschrieben wird, steht in keinem Verhältnis zu den verbrieften Mitgliedschaften in einer der Kirchen. Auch heute noch liegen die Mitgliedszahlen – von einzelnen Regionen wie dem Eichsfeld abgesehen – in der Regel unter 30 %, zum Teil sogar deutlich unter 20 %. Und aus Mitgliedschaften lässt sich nicht ableiten, ob und wie weit die einzelnen Mitglieder am Leben der Kirchen teilnehmen oder gar deren Glaubenssätze verinnerlicht hätten. In diesem Zusammenhang wirkt es absurd und anmaßend, wenn sich eine Partei im Osten zur Verteidigerin christlicher Werte ernennt und PEGIDA-Demonstrant*innen auf ihren Kundgebungen Weihnachtslieder absingen und schwarz-rot-gold gefärbte Kreuze mit sich führen.
Peter Maser referiert die verschiedenen oppositionellen Netzwerke und Initiativen, die sich in den 1980er Jahren in den Kirchen bildeten. Nicht alle, die an diesen Initiativen beteiligt waren, begründeten ihre Haltung zur DDR-Obrigkeit theologisch. Er zitiert Bärbel Bohley, die beim Seminar „Konkret für den Frieden“, das vom 27. Februar bis zum 1. März 1986 in Stendal stattfand: „Spielt es für die Friedensbewegung eine Rolle, ob mein Engagement aus christlichen, pazifistischen, humanistischen, sozialistischen, feministischen oder sozialhygienischen Motiven getragen wird?“
Eine rhetorische Frage, die sich aber angesichts des Wahlergebnisses der einzigen demokratischen Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990 anders als von Bärbel Bohley gemeint beantworten lässt: evangelische Pfarrer*innen spielten eine erheblich bedeutendere Rolle als Oppositionelle, die nicht aus den Kirchen kamen. Allerdings schafften auch sie es nicht, eine Mehrheit zu organisieren – mit einer Ausnahme: im Land Brandenburg. Dort wurde mit Manfred Stolpe ein hochrangiger Kirchenmann der erste Ministerpräsident des Landes Brandenburg.
Streit um die Aufarbeitung
Eine grundlegende Quelle für die Geschichte der DDR und die Voraussetzungen der „Friedlichen Revolution“ sind die Berichte der Enquête-Kommissionen des Deutschen Bundestages „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“. Der Bericht vom 13. Mai 1994 enthält ein umfangreiches Kapitel zur Rolle der Kirchen (Bundestagsdrucksache 12/7820).
Der Bericht bleibt in vielen Punkten wenig konkret. Es ist oft davon die Rede, was Vertreter*innen der Kirchen sagten und taten, wenig jedoch davon, was in den Gemeinden geschah. Interessanter als die vielen Details des Berichts sind jedoch die Kontroversen um ihre Interpretation. Zwischen CDU/CSU und FDP auf der einen Seite und der SPD auf der anderen Seite gab es im Grunde drei Streitpunkte, die sich dann in einem ausführlichen Sondervotum der SPD und der dazu verfertigten kurzen Stellungnahme von CDU/CSU und FDP wiederfinden:
- Die Bewertung der Barmer Theologischen Erklärung: Laut Bericht „müssen sich die Kirchen auch nach den klaren Normen fragen lassen, die hier aus den Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur formuliert worden waren. Weshalb diese Einsichten späterhin nur noch in Teilen der evangelischen Kirchen normativ wirkten, muss weiter gefragt und noch umfassend aufgeklärt werden.“ Das Sondervotum hält fest, dass eine solche Interpretation der Erklärung „selbst innerhalb der Kirche und Theologie strittig ist“, fordert andererseits aber auch von den Kirchen „die Erörterung des Zusammenhangs zwischen eigenen theologischen Positionen und ihrem öffentlichen Wirken.“
- Die Bewertung der Formel „Kirche im Sozialismus“: Einerseits mit Bezug auf den Brief der Bischöfe der DDR von 1968 aus Lehnin: „Die Vieldeutigkeit der Formulierungen zeugt vom politischen Geschick der Verfasser, trug aber dazu bei, der bald üblichen Kurzformel ‚Kirche im Sozialismus‘ den Weg zu ebnen. (…) Ob hiermit lediglich eine ‚Ortsbestimmung‘ gemeint war, oder ob damit nicht auch Elemente einer ‚Theologie der Anpassung‘ oder sogar Zustimmung zum ‚realen Sozialismus‘ der DDR zur Geltung gebracht wurden, ist nie geklärt worden.“ Andererseits: „Durch den Mehrheitstext wird (…) der Eindruck erweckt, als ginge es bei der Wendung von der ‚Kirche im Sozialismus‘ um eine eindeutige Konzeption. Tatsächlich verstand eine große Mehrheit unter dieser Formel eine Ortsbezeichnung: Hier in dieser Gesellschaft, wie sie ist, haben wir das Evangelium zu verkünden.“
- Die Rolle der Staatssicherheit: Bei dieser Frage geht es ums Eingemachte. CDU/CSU und FDP in ihrer kurzen Replik auf das Sondervotum, die man durchaus auch mit dem Begriff „abkanzeln“ charakterisieren könnte: „Es geht darum, die Rolle des MfS bei der konspirativen Durchdringung der Kirchen herunterzuspielen. Der Zweck dieser Übung ist offensichtlich! Man vergleiche dazu die Ausführungen im Mehrheitsbericht über Rolle und Funktion leitender Kirchenjuristen in der ständigen Zusammenarbeit mit dem MfS.“ Die Bezugsstelle im Bericht: „Seit Mitte der fünfziger Jahre ist eine ausgedehnte IM-Tätigkeit leitender Kirchenjuristen in fast allen Landeskirchen festzustellen. In der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion werden diese Zusammenhänge insbesondere in Verbindung mit dem früheren Konsistorialpräsidenten der Berlin-Brandenburgischen Kirche kontrovers erörtert.“ Es ging letztlich um die Legitimierung oder Delegitimierung des brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe. Die SPD nennt Zahlen, aus denen sie den schließt, „dass das heute vielfach verbreitete Bild eine Stasi-unterwanderten Kirche nicht aufrechtzuerhalten ist.“ Konkret: „Die Gauck-Behörde teilte 1993 mit, dass von 5200 von den Kirchen gestellten Anträgen auf Überprüfung 113 kirchliche Mitarbeiter als belastet eingestuft worden seien.“
Der Bericht der Enquête-Kommission vom 13. Mai 1994 ist eine Fundgrube für die politische Instrumentalisierung von Fakten. Dabei gilt die Einschränkung, dass in vielen Punkten nicht klar ist, was wirklich Fakt ist und was nicht. Es ist aber auf jeden Fall lebensfremd anzunehmen, dass jemand, der in einer Kirche eine leitende Stellung hatte, ob als Pfarrer*in oder in einem höheren Amt, ohne Kontakte zur Staatssicherheit hätte leben und arbeiten können. Für Anwält*innen gilt das im Übrigen genauso und war Gegenstand der Kontroversen um die Rolle von Gregor Gysi bis 1989. Aus solchen Kontakten lässt sich jedoch noch lange keine wie auch immer geartete Form der Kollaboration ableiten. Insofern dokumentiert der Bericht der Enquête-Kommission eine Stimmungslage zu Beginn der 1990er Jahre, in der der Versuch unternommen wurde, alles, was es in der DDR gab, so zu bewerten, dass eine gewisse „westliche“ moralische Überlegenheit geradezu zwangsläufig abgeleitet werden konnte. Religiöse Begründungen werden für eine solche Argumentation nicht benötigt.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im März 2020, Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft. Wertvolle Hinweise zur Rolle der Kirchen in der DDR, unter anderem auf den Zusammenhang zwischen der Barmer Theologischen Erklärung von 1934, dem Bekenntnis von Akkra von 2004 und den Zielen der kirchlichen Oppositionsbewegung in der DDR, verdanke ich Pfarrer Steffen Reiche, mit dem ich Gelegenheit hatte, am 26. November 2019 zu sprechen. Steffen Reiche ist heute Pfarrer in Berlin-Nicolassee. Er war einer der Gründer der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) und erster Landesvorsitzender der SPD in Brandenburg, Abgeordneter im Deutschen Bundestag und Bildungsminister in Brandenburg.)