Literarische Zukunftsvisionen unter dem Kommunismus
Science Fiction zwischen Utopie und Kritik in Sowjetunion und DDR
„Sehen und nicht verstehen ist dasselbe wie sich etwas ausdenken. Ich lebe, sehe und verstehe nichts. Ich lebe in einer Welt, die sich jemand ausgedacht hat, ohne sich die Mühe zu machen, sie mir zu erklären – oder sie sich selbst zu erklären (…). Es ist der Wunsch zu verstehen, dachte Pfeffer plötzlich. Das ist es, woran ich so leide: an der Sehnsucht zu verstehen.“ (Arkadi und Boris Strugazki, Die Schnecke am Hang , München, Heyne, 2019):
Wenn wir an sowjetische Science-Fiction (SF) denken, sind Iwan Jefremow (1908–1972), Arkadi (1925–1991) und Boris Strugazki (1933–2012) wahrscheinlich die ersten Autoren, die uns einfallen. Sie sind die bekanntesten Schriftsteller der russisch-sowjetischen Science Fiction, die vor allem mit Raumfahrt-Geschichten assoziiert wird. Der Wettlauf ins All hatte nämlich einen großen Einfluss auf die Entwicklung des Genres. Trotzdem ist sowjetische Science Fiction nicht nur die Darstellung von Optimismus und Legitimation des Fortschritts. Sie ist mehr. Ich versuche hier einen Überblick über ihre Geschichte zu geben, um die Vielfältigkeit des Genres, die Relevanz des Beitrags der Frauen und den engen Zusammenhang mit der DDR-SF zu zeigen.
Kleine Geschichte der sowjetischen Science Fiction
Die Wurzeln der sowjetischen SF liegen im Bewusstsein von der Modernität (Anindita Banerjee, We Modern People – Science Fiction and the Making of Russian Modernity, 2012) und im Utopismus (Darko Suvin, The Utopian Tradition of Russian Science Fiction in: Russian Science Fiction Literature and Cinema – A Critical Reader, hg. von A. Banerjee, 2008). Das Bewusstsein der Moderne und des menschlichen Potenzials entwickelte sich unter dem Einfluss der philosophischen Theorien Nikolai Fjodorows (1829–1903). Laut Fjodorow ist der Mensch aktiver Teil des Fortschritts. Durch ihren Intellekt, also durch Wissenschaft und Technik, kann die Menschheit unsterblich werden. Dieser Elan im Wissenschaftsglauben und im Kosmos (Leonid Heller, De la Science-fiction soviétique. Par delà le dogme, un univers, 1979) wurde in den 1970er Jahren mit dem Begriff „Kosmismus” definiert. In der Tat wurde Konstantin Ziolkowski (1857–1935), der Vater der Kosmonautik, sehr stark von Fjodorows Werk beeinflusst. Aufgrund ihres religiösen und okkulten Charakters waren die kosmistischen Theorien von den Sozialisten bis in die 1980er Jahre jedoch nicht gut angesehen. Immerhin prägte Fjodorows prometheisches Bild der Menschheit stark die SF-Literatur.
Bereits vor der Revolution spielte der Utopismus eine zentrale Rolle in der russischen Literatur. Der Utopismus der Slawophilen, die zu den Werten des bäuerlichen und patriarchalischen Russland zurückkehren wollten, der Sozialisten und der Populisten, die für die Emanzipation der Bauern kämpften, prägte die klassische Literatur des 19. Jahrhunderts. Laut Leonid Heller begann die russische SF mit dem Grotesken, dessen berühmtester Vertreter Nikolaj Gogol (1809-1852) war. Das kritische Potenzial der SF (Rafail Nudelman, Soviet Science Fiction and the Ideology of Soviet Society, in: Science Fiction Studies, 1989) manifestiert sich nämlich durch die Beschreibung der Absurdität der Realität, der eine ideale Welt gegenübergestellt wird. Das Absurde und das Unheimliche stehen im Mittelpunkt des Werks Gogols. In der sowjetischen Kritik wurde hingegen meistens Wladimir Odojewskis (1803-1869) fragmentarische Zukunfts-Utopie „Das Jahr 4338“ (1835) als Anfang des Genres bezeichnet. Moralische und physische Stärke des idealen Menschen charakterisieren den revolutionären Utopismus von Nikolaj Tschernyschewski (1828–1899). Er ist für seinen Roman „Was tun?“ (1863) bekannt, der von Darko Suvin als „utopia of libertarian socialism“ definiert wird (und später auch von Lenin als Titel seiner programmatischen Schrift übernommen wurde). Seine metaphysische Utopie eines „schönen Menschen“ findet sich dann später im Ideal des neuen sowjetischen Menschen wieder. Die sowjetischen Prinzipien und Modelle haben somit verschiedene utopische Vorläufer. Die Schaffung eines neuen Menschen, der sich durch eine ideale Maskulinität sowie Engagement für die Arbeit auszeichnen sollte, war ein Ziel des sowjetischen Projekts. Dabei bekam er gerade in der Stalinzeit bis Anfang der 1950er Jahre stark typisierte Züge, die wenige individuelle Eigenschaften aufwiesen. Die Utopie des neuen Menschen und der neuen sozialistischen Welt wurde Teil der sowjetischen Literatur, als die SF zunächst im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur, seit der Tauwetterzeit auch jenseits davon als „seriöses“ literarisches Genre anerkannt und definiert wurde – so Leonid Heller. Erst ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre begannen sich SF-Autor:innen vom Utopismus zu entfernen. Laut Leonid Heller hieß das auch, dass sich das Genre zu diesem Zeitpunkt allmählich von den sozialistischen Idealen und deren Ideologie verabschiedete.
Bevor ich die Wandlung der SF in den 1960er Jahren beschreibe, möchte ich zunächst die Frage nach ihrer Entstehung beantworten. Die SF ist im Allgemeinen ein Genre, das Elemente mehrerer Gattungen enthält. Dazu gehören neben den genannten fantastischen und utopischen Anfängen groteske Erzählungen, Abenteuerromane, Krimimalromane oder Schauerromane. Aus diesem Grund ist es auch schwierig, den Anfang der russischen und dann sowjetischen SF zu datieren, wie Anindita Banerjee hervorhebt.
Anfang des 20. Jahrhunderts vor dem Ersten Weltkrieg wurden diese Textsorten häufig unter dem Genre des Pinkertons gruppiert, worunter man populäre Literatur für ein großes Publikum verstand, in der Verbrechen, Kriminalgeschichten und spannungsreiche Action eine große Rolle spielten. SF entstand genau aus einer Mischung von populärer Literatur und Wissenschaft (Leonid Heller). Vor der Revolution wurden Texte wie „Der Rote Stern“ (1908) von Alexander Bogdanow (1873–1928) veröffentlicht, die in diese Richtung gingen. In diesem Fall handelte es sich um eine sozialistische Utopie auf dem Mars, wobei der Autor zusammen mit Waleri Brjussow (1873–1924) von der Literaturkritik (zum Beispiel.von Anatoli Britikow) als wichtiger Vorläufer der sowjetischen SF-Literatur betrachtet wird.
Der erste russische Autor, der sich ausschließlich mit SF beschäftigte, war Alexander Beljajew (1884–1942). Er war auch der Erste, der den Begriff „nautschnaja fantastika“ benutzte, nachdem Jewgeni Samjatin (1884–1937) ihn zuvor schon versucht hatte zu konzeptualisieren, was seinerzeit aber kaum beachtet wurde (Matthias Schwartz, How Nauchnaia Fantastika Was Made: The Debates about the Genre of Science Fiction from NEP to High Stalinism“, in: The Slavic Review, 2017). Die deutsche Übersetzung dieses Begriffs wäre auf Deutsch „wissenschaftliche Phantastik“.
Dieser Ausdruck, der seit den 1950er Jahren auch für die SF der DDR verwendet wurde, unterscheidet sich von westlicher „Science Fiction“, ein Begriff, der ebenfalls in den 1920er Jahren von Hugo Gernsback (1884-1967) erstmals benutzt wurde. Der Begriff „nautschnaja fantastika“ fokussiert sich stärker auf den wissenschaftlichen Charakter fantastischer Texte. Außerdem ist die Entwicklung der sowjetischen SF sehr unterschiedlich zu der des Westens, da sie eng mit der sozialistischen Ideologie zusammenhängt (Rafail Nudelman).
Ohne den ideologischen Kontext kann man die sowjetische SF in ihrer Ganzheit nicht verstehen (Leonid Heller). In der Stalinzeit stand das Genre sehr stark unter dem Einfluss des sozialistischen Realismus, was sich erst seit Ende der 1950er Jahre änderte, als auch die sozialistische Gesellschaft immer häufiger in den Hintergrund trat und manchmal nur noch als allgemeine Rahmung der Geschichten vorhanden war.
In den 1920er Jahren erlebte die SF nicht nur durch die Werke von Alexander Beljajew eine Blütezeit, der oft auch als der „sowjetische Jules Verne“ bezeichnet wurde. Berühmt ist der Roman „Aelita“ (1922/23) von Alexei Tolstoi (1883–1945) geworden, allerdings erst in der vom Autor gründlich überarbeiteten Fassung von 1938. Sie handelt von zwei irdischen Weltraumreisenden, die auf dem Mars mit einer einheimischen Bevölkerung in Kontakt kommen, die unter einer tyrannischen Herrschaft lebt. Während der leidenschaftliche Revolutionär Gusew versucht die Diktatur zu stürzen, verliebt sich der verträumte Ingenieur Loss in die Tochter des Tyrannen, Aelita. Jewgeni Samjatin, der vor allem unter Dystopien-Fans bekannt ist, verfasste in diesen Jahren den Text „Wir“, der in der Sowjetunion jedoch erst in den 1980er Jahren veröffentlicht werden durfte. Auch Michail Bulgakows (1891-1940) fantastische Erzählung „Hundeherz“ (1925), ein satirischer Text voller politischer Anspielungen auf die neuen bolschewistischen Machthaber, wurde seinerzeit verboten. Das kritische Potenzial des Genres war den beiden Autoren bewusst. Bei Bulgakow sind deutliche Anklänge der Phantastik Gogols zu finden, während Samjatin symbolisch totalitäre Tendenzen der postrevolutionären Wirklichkeit antizipierte: „Die wahre, große Literatur steht der Gegenwart immer einen Schritt voraus“ (eigene Übersetzung von: Samjatin, Lekzii po technike chudoschestwennoi prosi, 1984).
Zu Beginn der sowjetischen Zeit (1922-1991) wurde dieses politische und kritische Potenzial der SF von den neuen Machthabern kaum beachtet, da das Genre als billige Unterhaltungsliteratur im Stile Pinkertons abgewertet wird. (Matthias Schwartz, Expeditionen in andere Welten. Sowjetische Abenteuerliteratur und Science-Fiction von der Oktoberrevolution bis zum Ende der Stalinzeit, 2014). Erst Ende der 1920er Jahre wurde das Genre vermehrten Repressionen ausgesetzt und auf der ersten Sitzung des neu gegründeten sowjetischen Schriftstellerverbandes im Jahr 1934 versuchte man die subversiven Seiten der wissenschaftlichen Phantastik stärker zu regulieren und es als Kinder- und Jugendliteratur an die Normen des Sozialistischen Realismus anzupassen. Das bedeutete, dass die Texte den harten Alltag und die Realität beschreiben sollten, indem der Sozialismus als Lösung aller Probleme vorgestellt wurde. Daher erlitt die SF während der Stalinzeit durch die Uniformierung der Texte einen Rückschlag. Das subversive Potenzial der SF wurde jedoch nicht vollständig ausgeschaltet, wie Matthias Schwartz betont. Während der kulturpolitischen Liberalisierung und vorsichtigen Destalinisierung in der Ära Chruschtschows konnte sie – so Matthias Schwartz – deshalb schnell wieder aufleben.
SF-Texte wurden nicht nur in Form von Romanen, sondern auch als Erzählungen in populärwissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht. Einige Beispiele sind: „Technika Molodjoschi“ (Technik für die Jugend, gegründet 1933), „Snanje—Sila“ (Wissen ist Macht, 1926), „Vokrug Svjeta“ (Um die Welt, 1861). In dieser Zeit teilte sich die SF in drei Linien: die SF der nahen Zukunft, die Produktionsromane und die utopische SF. Der Unterschied liegt darin, dass sich die SF der nahen Zukunft und die Produktionsromane auf wissenschaftliche, technologische und wirtschaftliche Elemente konzentrierten, während sich die utopische SF mit sozialen Aspekten auseinandersetzte (Leonid Heller). Beispiele von SF der nahen Zukunft und von Produktionsromanen sind Texte, in denen es um den Zusammenhang zwischen der Zeit der Wissenschaft und des Menschenlebens geht. Es handelt sich um konkrete Probleme der wissenschaftlichen Forschung, wobei die Texte stark vom Sozialistischen Realismus beeinflusst werden. Viele Erzählungen von Genrich Altow (1926-1998) und Walentina Schurawljowa (1933-2004) stehen in dieser Traditionslinie. Dagegen sind die Utopien mit der Konstruktion neuer Gesellschaften verbunden, die einer spezifischen Ideologie entsprechen.
Ein historisches Ereignis markierte eine wichtige Zäsur in der Entwicklung der SF: der Start des Sputniks 1957. Die Vision einer sozialistischen Weltraumeroberung als Triumph über den Westen verbreitete sich unter den Bürgern des Ostblocks, ebenso wie das Interesse für die Wissenschaft. Ein Symbol dieser Begeisterung ist der berühmte Roman „Andromedanebel“ (1957) von Iwan Jefremow, das beste Beispiel von sozialistischer Utopie, in der Bevölkerungen aus verschiedenen Planeten sich im „Großen Ring“ vereinigen. In diesem Text, der in einer Zeit der Krise der staatlichen Macht (nach dem 20. Kongress der Kommunistischen Partei 1956) während der ersten Tauwetter-Periode (1954-1964) entstand, mangelt es nicht an verdeckter Kritik am sowjetischen System, er ist aber noch ganz vom Enthusiasmus des Aufbruchs nach dem Start des Sputniks geprägt.
Die Enttäuschung der sowjetischen Intellektuellen wurde erst nach dem Ende des Tauwetters sichtbarer, als die SF immer häufiger zu einem Instrument politischer Kritik im Gewand fantastischer Elemente wurde. Genau in dieser Zeit, in der zweiten Hälfte der 60er Jahre, begann eine neue SF, in der nicht nur die dominante sozialistische Perspektive, sondern auch abweichende Ansichten dargestellt wurden. SF ist nämlich das Ergebnis des „Zusammentreffen(s) verschiedener Standpunkte“ (eigene Übersetzung von Leonid Heller). Deshalb passt die einheitliche Vision des Sozialistischen Realismus nicht gut dazu.
Die Brüder Strugazki sind die wichtigsten Vertreter der SF dieses Jahrzehnts und der negativen Utopie. Ihre Texte brachten eine große Neuerung für das Genre und enthalten nicht nur Geschichten im All, sondern auch anti-utopische Texte und Satire. Neben einer Kritik der bürgerlichen Gesellschaft stellen die Strugazki-Brüder die Taubheit der Menschheit und die Absurdität totalitärer Herrschaft dar (Leonid Heller). Dies steht im bekannten Text „Die Schnecke am Hang“ (die erste ungekürzte Fassung wurde 1972 in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlicht) im Mittelpunkt, in dem die Strugazkis den Widerspruch zwischen einem natürlichen matriarchalischen Zustand und einer bedrohlichen Zivilisation zeigen.
In den 1970er Jahren erlebte die sowjetische SF wegen des Todes Jefremows und der Verschärfung der Zensur eine Zeit der Stagnation und teilweisen Isolation vom Rest der globalen SF-Szene, gleichzeitig waren die Einflüsse der angloamerikanischen New Wave zu spüren. Psychologische Elemente wurden in die SF eingeführt. In diesem Kontext gilt das Werk Olga Larionowas schon in den 1960er und 1970er Jahren als Pionierarbeit die anstelle von typisierten Helden die Individualität der Figuren in den Mittelpunkt ihrer Werke stellte. Leider existieren über diese letzte Phase der sowjetischen SF nur wenige wissenschaftliche Arbeiten, die ausführlicher auf diese Zeitspanne eingehen. Sie markiert den Anfang neuer russisch-nationalistischer Tendenzen, aber lässt auch in den 1980er Jahren bereits erste Anzeichen von Glasnost erkennen, zudem sind in dieser Periode auch Texte im Samisdat (Selbstverlag) erschienen.
Mit dem Fall der Sowjetunion gerieten viele sowjetische Autor:innen in Vergessenheit. Unter dem Einfluss der angloamerikanischen SF entwickelten sich neue Richtungen, wie zum Beispiel Romane über Zeitreisen oder Alternativgeschichten über den Zweiten Weltkrieg, die als „Popadanzi“ bezeichnet werden. SF- und Fantasy-Texte gehören heute zu den Bestsellern und folgen meist der Entwicklungslinie amerikanischer SF-Serien.
Neben den vielen männlichen Autoren der russischen SF sind auch Schriftstellerinnen zu erwähnen. Sie sind meist vergessen, haben aber eine sehr relevante Rolle in der Entwicklung der SF gespielt, besonders zwischen den 1960er Jahren und heute. Aus diesem Grund verdienen sie mehr Aufmerksamkeit – sowohl von Akademiker:innen als auch vom Publikum –, wie es bereits mit ihren amerikanischen Kolleginnen Ursula K. Le Guin (1929-2018) oder Joanna Russ (1937-2011) geschehen ist.
Die Frauen in der sowjetischen Science Fiction
Die weiblichen Stimmen in der SF sind oft in der literarischen Forschung und im Buchmarkt unterrepräsentiert. Es gab wenige Frauen, die sich mit SF in der Sowjetzeit beschäftigten, aber es lohnt sich, von ihnen zu erzählen. Die berühmtesten russischsprachigen Autorinnen sind Ariadna Gromowa, Walentina Schurawljowa und Olga Larionowa. Das Werk von Ariadna Gromowa wurde (zumindest in Russland und in Italien) eingehender untersucht als das der anderen. Sie ist nicht nur für ihren Roman „Gljegi“ (die italienische Übersetzung lautet: „Der Planet der Viren“, 1962, eine deutsche Übersetzung steht noch aus), sondern auch für ihre Aufsätze über SF-Literatur bekannt. Ihre Texte wurden jedoch nur selten auf Englisch und auf Deutsch übersetzt.
Trotz ihres wichtigen Beitrags zur SF-Literatur gibt es über die Texte Larionowas und Schurawljowas kaum literaturwissenschaftliche Studien. Selbst über ihre Biografien sind nur wenige Informationen bekannt. Was wir wissen, stammt meist von der Internetseite FantLab.ru, die das Ergebnis einer Digitalisierung der russischen SF und Fantasy ist. Deshalb konzentriere ich mich jetzt auf Larionowa und Schurawljowa.
Olga Larionowa wurde 1935 in Sankt Petersburg (damals Leningrad) geboren, wo sie als Ingenieurin arbeitete. Ab 1964 begann sie ihre Karriere als Schriftstellerin. Ihr 1965 erschienener erster Roman „Ein Leopard aus Kilimandscharo“ machte sie bekannt. Sie schrieb „powjesti“ (wörtlich „Sagen“, aber als „Erzählungen“ verstanden) und wurde 1987 für ihren Text „Meersonate“ (eigene Übersetzung von „Sonata Morja“), der Teil der Trilogie „Labyrinth für Troglodyten“ (eigene Übersetzung von „Labirint dlja trogloditow“) ist, mit dem Aelita-Preis ausgezeichnet. Im Mittelpunkt ihrer Texte stehen Moral und Gefühle der Figuren, denen sie soziale Kritik beifügen. Larionowa hatte aus diesem Grund vorher Probleme mit der Veröffentlichung ihres Textes „Die Insel der Mutigen“ (1971). Das erklärt auch, warum sie erst in den 1980er Jahren erfolgreich wurde. Larionowa war als Schriftstellerin bis Anfang der 1990er Jahre aktiv. In den 2000er Jahren gab sie nur noch Interviews. Sie starb 2023.
Walentina Schurawljowa wurde 1933 in Baku in Aserbaidschan geboren. Sie graduierte in Pharmazie und wurde 1963 Mitglied des Schriftstellerverbands. Sie arbeitete sowohl als Wissenschaftlerin als auch als Schriftstellerin mit ihrem Mann Genrich Altow (Pseudonym für Genrich Altshuller, ein Name jüdischer Herkunft, 1926-1998) zusammen, der für seine TRIZ-Theorie (eine wissenschaftliche Methode) bekannt war. Aufgrund seiner Ideen verbrachte er einige Jahre im Gulag. Nach dieser Zeit widmete er sich gemeinsam mit seiner Frau der Literatur. Sie zogen nach Russland und schrieben gemeinsam Texte wie Die „Ballade der Sterne“ (eigene Übersetzung von „Ballada Svjesdach“) von 1960, aber auch getrennt voneinander. In der ersten Phase ihrer Karriere, die in die 1950er und 1960er Jahre fiel, schrieb Schurawljowa Texte über Wissenschaftler, Astronauten und Raumfahrer, wie zum Beispiel „Der Astronaut“ (eigene Übersetzung von „Astronavt“) von 1960. In der zweiten Phase beschäftigte sie sich hingegen mehr mit der Realität und den Gefühlen der Figuren, wie in der Erzählung „Schneebrücke am Abgrund“ (eigene Übersetzung von „Snjeschni most pod propastju“) von 1969. Schurawljowa war bis in die 1990er Jahre als Schriftstellerin aktiv und starb 2004.
Wie können wir begründen, dass ihr Werk mehr Aufmerksamkeit vom Publikum und von der Akademie verdient? Beide Autorinnen waren Pionierinnen in zwei verschiedenen Strömungen des Genres. Schurawljowa beschäftigte sich mehr mit SF der nahen Zukunft. Ihr Fokus lag zunächst auf wissenschaftlichem Fortschritt und später auf Alltagssituationen und Gefühlen. Larionowa widmete sich hingegen in ihren fantastischen Texten Geschichten, in denen die psychischen Eigenschaften der Figuren im Mittelpunkt stehen.
Schurawljowas Texte sind stärker vom Sozialistischen Realismus beeinflusst, während bei Larionowa deutlicher westliche Einflüsse präsent sind. Offensichtlich hatten die beiden Schriftstellerinnen einen sozialistischen Hintergrund, jedoch ohne explizite politische Orientierung. In Interviews fehlen klare Stellungsnahmen. Ihre Werke haben aber eine Gemeinsamkeit in ihrer kritischen Haltung gegenüber der marginalisierten Position der Frau in der sozialistischen Gesellschaft. Um Geschlechterkonventionen darzustellen und zu dekonstruieren, benutzten die Schriftstellerinnen verschiedene Techniken: Sehr oft erzählten sie Geschichten aus einer männlichen Perspektive, indem sie die Sichtweise der Autorin mit der eines Mannes vergleichen. Die weiblichen Figuren sind oft Teil eines wissenschaftlichen Arbeitsumfelds und ihre Rolle ist üblicherweise einem Mann untergeordnet. Die Darstellung von Raum und Zeit ändert sich je nach Erzählerperspektive. Stereotypen werden durch mythische Elemente ergänzt, die meist durch SF- und fantastische Elemente revidiert und gekippt werden.
Während Larionowa und Zhurawljowa ins Deutsche übersetzt sind, ist das bei Gromowa nicht der Fall. Die Titel der übersetzten Werken und ihre Erscheinungsdaten in der DDR sind die folgenden: Der „Leopard vom Kilimandscharo“ (1974), „Die Insel der Mutigen“ (1974), „Der Doppelname“ (1976), „Herausforderung zum Duell“ (1980, Sammlung von vier Erzählungen), „Der Überläufer“ (1982), „Königliche Jagd“ (1982), „Schlangensonate“ (1986), „Bis zum Ozean fliegen“ (1986), „Scheidung auf Marsianisch“ (1989) von Larionowa; sowie „Ein Sendbote aus dem Kosmos“ (1961), „Die Zeitmaschine: Eine nicht ganz ernst zu nehmende Erzählung“ (1961), „Ein Diamant von 20.000 Karat“ (1963), „Musik aus dem All“ (1964), „Der Mann, der Atlantis schuf“ (1973), „Frechdachs“ (1979), „Der zweite Weg“ (1988) von Schurawljowa. Aufgrund ihrer größeren Popularität wurden die Texte Larionowas in der DDR mehr übersetzt als die von Schurawljowa. Interessanterweise enthalten Larionowas Texte mehr politische Allegorien und Kritik als die von Schurawljowa. Wahrscheinlich standen ihre Werke nicht so sehr im Zentrum der Aufmerksamkeit von Herausgebern und Übersetzern, da Schurawljowa Vertreterin einer Strömung war, der andere, bereits etablierte männliche SF-Autoren ebenfalls angehörten.
Ich möchte die Leser:innen besonders auf die Sammlung Herausforderung zum Duell aufmerksam machen. Sie beinhaltet Larionowas Texte, die in der Sowjetunion in einer Sammlung unter dem Titel der powjest Skaska Korolej (Märchen der Königen) veröffentlicht wurden. Der Titel der deutschen Sammlung geht auf die Erzählung Kartel zurück, die mit „Herausforderung zum Duell“ übersetzt wurde. Die Geschichte handelt von zwei Wissenschaftlern, die eine Maschine bauen, die wie der russische Nationaldichter Alexander Puschkin schreiben soll. Die Maschine ist am Anfang jedoch weiblich, weswegen einer der Wissenschaftler versucht, ihr männliche physische Eigenschaften zu geben: „‚ELSA ist bereit’, sprach Basmanow langsam (…) ,,‚Sie ist in ihre Rolle, geschlüpft. Aber was rede ich von Rolle: Sie ist ER geworden. Sie ist bereit, […] zu leben.’/ ‚Zu leben?’ konnte ich mich nicht enthalten zu fragen./ ‚Für IHN bedeutete leben – schreiben.’“
Das bringt die Maschine zur Rebellion, sodass sie ihre Schöpfer zum Duell auffordert. Dieser Moment ist ein Bezug sowohl auf den Versroman Puschkins „Eugen Onegin“ (1833) als auch auf sein Leben, das wegen eines Duells endete. Larionowa verwendet das Motiv der Frau als Maschine, um den Leser:innen die Bedeutung des menschlichen Tuns zu vermitteln und die Rolle des weiblichen Schreibens hervorzuheben. Eine ähnliche Botschaft wird von Schurawljowa im Text „Ein Diamant von 20.000 Karat“ („Almas v 20.000 Karatov“) vermittelt. In der Erzählung geht es um die Entdeckung eines 20.000-Karat-Diamanten, dessen Geschichte von der Erzählerin selbst erfunden wurde. Der Ingenieur Flerowski erwartet nicht, dass sie von einer Frau geschrieben wurde: „,Verzeihen Sie (…) ich habe erwartet einen Schriftsteller mit grauen Schläfen zu sehen… und vor mir steht eine junge, charmante Frau… offensichtlich die Autorin jener Erzählung…‘“.
Obwohl sie ihre Geschichte fertiggestellt hat, beurteilt der Ingenieur die Erzählung als zu oberflächlich, da die Autorin keine Wissenschaftlerin sei. Am Ende überzeugt sie ihn jedoch, dass die Realität ohne Fantasie nicht zu verstehen ist. In diesem Sinne ist die Frau eine Mediatorin zwischen frauenfeindlicher Realität und irrealer fantastischer Revision dieses Missstands, indem sie zeigt, dass SF ein Instrument zur Herstellung von Wirklichkeit und nicht der wissenschaftlichen Forschung ist. Ob das Lesepublikum diese emanzipatorischen Botschaften seinerzeit wirklich verstanden, ist schwer zu sagen, interessierten sich die meist männlichen Leser kaum für solche Fragen. Auch die akademische Forschung hat sich bislang kaum mit dieser Autorin befasst.
Berührungspunkte der sowjetischen und der DDR-Science Fiction
Die Entwicklung der SF in der Sowjetunion und der DDR weist ähnliche Phasen auf. Der größte Unterschied liegt in den Ursprüngen des Genres in beiden Ländern. Traditionslinien der sowjetischen SF gehen auf den Utopismus und die Groteske des 19. Jahrhunderts zurück, während die SF der DDR aus dem Schauerroman der Romantik stammt und von der politischen SF der Weimarer Republik beeinflusst wurde. Die Modelle waren also anfangs sehr unterschiedlich, aber unter dem Einfluss der Kultur des sowjetischen Blocks passte sich die SF der DDR der sowjetischen an. Der implizite Utopismus in der sozialistischen Ideologie kennzeichnet beide Literaturen.
Die Phasen der DDR-SF entsprechen den historischen Phasen des Kalten Krieges. Für die DDR-SF-Geschichte haben Literaturwissenschaftler:innen ein Vier-Phasen-Modell vorgeschlagen (Hans Frey, Vision und Verfall. Deutsche Science Fiction der DDR, 2023 und Olaf R. Spittel und Erik Simon, Die Science Fiction der DDR – Autoren und Werke – Ein Lexikon, 1988). Demnach beginnt eine erste Phase in der späten Stalinzeit der 1950er Jahren, als die Produktionsromane sowohl in der DDR als auch in der Sowjetunion die SF dominierten.
Mit dem Start des Sputniks im Jahr 1957 erlebte die SF in der DDR durch das Interesse für den Weltraum einen Aufschwung, ebenso wie die SF in der Sowjetunion. Die Anzahl der SF-Texte stieg in dieser zweiten Phase stetig an, bis Anfang der 1970er Jahre die Zensur verschärft wurde. In dieser dritten Periode konnte sich die SF der DDR weiter entwickeln, während die sowjetische SF isoliert blieb. Zwischen den 1970er und 1980er Jahren profitierte die DDR-SF von einer qualitativen Verbesserung, die in der sowjetischen SF schon seit den späten 1950er Jahren mit den Werken der Brüder Strugazki stattfand. Mitte der 1980er Jahre beginnt dann in beiden Ländern eine vierte Phase der Öffnung, als im Zeichen von Glasnost allmählich Texte aus den USA oder verbotene Texte veröffentlicht und verbreitet werden konnten. Diese vier Phasen entsprechen, wie bereits erwähnt, Perioden einer kulturellen Politik der Offenheit oder Restriktion innerhalb des Ostblocks.
Dank der vielen Übersetzungen von den Verlagen Das Neue Berlin und Neues Leben, insbesondere aus dem Russischen ins Deutsche, wurden die Autor:innen der DDR, wie schon erwähnt, vor allem von sowjetischen Werken beeinflusst. Dadurch lassen sich mindestens zwei Berührungspunkte finden: der Zusammenhang mit Sozialkritik und die große Rolle der Utopie in der SF beider Staaten.
In Bezug auf die Sozialkritik ist die Rolle von Schriftstellerinnen und ihren Ehemännern in beiden Kontexten sehr relevant. Die Gleichheit der Geschlechter war ein großes Thema in den Texten von Angela (1941) und Karlheinz Steinmüller (1950), Johanna (1929-2008) und Günter Braun (1928-2008), Olga Larionowa, Walentina Schurawljowa und Genrich Altow. Oft werden in ihren Texten Geschlechterrollen infrage gestellt, um eine Alternative zur patriarchalischen Gesellschaft zu finden. Das Konzept der Frau in der sozialistischen Gesellschaft als Arbeiterin und Mutter wird durch Bilder von Wissenschaftlerinnen und Astronautinnen in ihren Texten hinterfragt. Wir könnten Larionowas Geschichte „Herausforderung vom Duell“ mit dem Roman der Brauns „Der Irrtum des großen Zauberers“ (1974) vergleichen, in denen Frauen als Maschinen und Tiere dargestellt werden. Im Fall Larionowas bedeutet die Rebellion der Frauenmaschine eine Hervorhebung der Rolle der Schriftstellerinnen in der Gesellschaft. Im Text der Brauns werden Frauen vom Diktator Multi Multiplikato als Prostituierte benutzt, um eine ideale Frauenmaschine zu konstruieren. Naida, eine Schlange, die sich in eine Frau verwandelt, ist die Schlüsselfigur, um die Diktatur zu stürzen: sie ist „der Gute Geist (…), der (den Protagonisten) befähigte, den Großen Zauberer zu überwinden“.
Wie schon beobachtet sind utopische Welten charakteristisch für die SF aus der DDR und der Sowjetunion. Meistens spielen die Utopien im All oder auf anderen Planeten, um die Kritik an der Wirklichkeit zu verstecken. Ein sehr ähnliches Werk zu Jefremows Andromedanebel ist Günter Krupkats „Als die Götter starben“ (1963), in dem die Zivilisation des Planeten Meju-Ortu als ideale Gesellschaft dargestellt wird und der Protagonist als typischer sozialistischer „neuer Mensch“ beschrieben wird. Die Utopien beider Autoren sind sozialistische Welten, die jedoch nicht mit den Regimen der DDR und der Sowjetunion übereinstimmen. Die Texte haben das Ziel, dem Publikum die Werte einer kommunistischen Gemeinschaft zu vermitteln, jedoch nicht als Teil des politischen Programms der Staaten, sondern als Grundlage für eine neue Realität, in der alle Menschen gleich sind (Chiara Viceconti: „When the Gods Died: A Socialist Utopian Novel from East Germany“. In: SFRA Review, 2024). So heißt es in der Utopie Krupkats: „Dunkel ist der Sinn des göttlichen Spruchs. Ich vermag ihn nicht zu deuten. Soll der Sklave das gleiche essen wie der Herr, der Arme teilhaben an den Gütern des Reichen? Für die Götter sind Menschen eben Menschen…“
Die Rolle der Sozialkritik und der Utopie als Grundlage für die Etablierung der Gleichheit der Geschlechter, Rassen und Sozialschichten charakterisiert die SF des Ostblocks stärker als die des Westens. Das Genre wirkt somit durch Optimismus und Kritik als literarische Verfahren, um Widersprüche aufzuzeigen, Unterschiede zu überwinden und das Publikum an der Verwirklichung einer Utopie teilhaben zu lassen. Gerade heute, in einer Zeit neuer geopolitischer Spannungen, lohnt sich der Blick auf vergangene SF-Zukunftsvisionen – als Einladung, unsere Zukunft neu und kritisch zu durchdenken.
Chiara Viceconti, Rom
Die Autorin ist Doktorandin an der Sapienza Universität Rom.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juni 2025, Internetzugriffe zuletzt am 9. Juni 2025. Die in diesem Text gezeigten Cover der angesprochenen Bücher hat die Autorin der Internet Speculative Fiction Database entnommen. Sie stehen unter der Creative Commons Licence 4.0. Titelbild: Thomas Franke, Ascheglühen (Ausschnitt), Rechte beim Künstler.)