Living and Teaching Diversity

Wie die Vielfalt der Geschlechter sichtbar wird

“My silence hat not protected me. Your Silence will not protect you. (…) The women who sustained me through that period were Black and white, old and young, lesbian, bisexual and heterosexual, and we all shared a war against the Tyrannies of Silence” (Audre Lorde: The Transformation of Silence, 28. November 1977 in Chicago)

Das bundesweite Projekt „Schule der Vielfalt“ ist ein Kooperationsprojekt von rubicon e.V. in Köln, Rosa Strippe e.V. in Bochum, SCHLAU NRW und des nordrhein-westfälischen Schulministeriums. Gegründet wurde es 2008 in Nordrhein-Westfalen. Die Förderung des Landes wurde 2012 von Sylvia Löhrmann, der damaligen nordrhein-westfälischen Schulministerin, veranlasst. Das Projekt befindet sich in der dritten Phase, es ist sehr wahrscheinlich, dass 2023 auch eine weitere Phase folgen wird.

Es gibt in 14 der 16 Bundesländer Ansprechpersonen für „Schule der Vielfalt“. Offiziell teilnehmende Projektschulen von „Schule der Vielfalt“ gibt es aktuell in Bayern, Berlin, Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Demnächst kommen Niedersachsen und Sachsen hinzu. Wenn sie mit ihrer Teilnahme die Qualitätsstandards erfüllen, bringen Projektschulen das Schild „Come in – wir sind offen“ öffentlich sichtbar an.

Landeskoordinator und Leiter der Fachberatungsstelle ist seit 2012 Frank G. Pohl. Er formulierte in unserem Gespräch die Ziele des Projekts wie folgt: „Schule der Vielfalt“ ist ein inklusives Antidiskriminierungsprojekt, im Sinne des erweiterten Inklusionsbegriffs, und ein bundesweites Schulnetzwerk. Schwerpunkt des Programms ist es, sich für eine größere Akzeptanz von lesbischen, schwulen, bi, trans*, inter* und queeren Menschen einzusetzen. Die Schulen müssen für ihre Teilnahme Qualitätsstandards erfüllen. Dazu gehören Workshops und Fortbildungsveranstaltungen mit und für Schüler*innen und Lehrkräfte.“

Frank Pohl ist auf dem Bild als zweiter von rechts in der hinteren Reihe zu sehen, als zweite von rechts in der vorderen Reihe Sylvia Löhrmann. Das Foto entstand auf dem in diesem Text erwähnten Fachtag zum Thema „Religion“. © Schule der Vielfalt Frank Pohl

Vor 2012 hat sich Frank G. Pohl zwei Jahrzehnte in der Anti-Gewalt-Arbeit engagiert und kennt durch seine Zusammenarbeit mit SCHLAU und der Landeskoordination der Anti-Gewalt-Arbeit für Lesben, Schwule und Trans* das Projekt „Schule der Vielfalt“ bereits seit 2008. Dabei erarbeitete er bereits Materialien für mehr Akzeptanz, die für den Unterricht einsetzbar waren (Jugendbuch: „Bist du schwul, oder was?“ und Lernkartei, erschienen beim Verlag an der Ruhr). Er war bis 2012 Lehrkraft für Geschichte und Sozialwissenschaften, hat an mehreren Schulformen gearbeitet, zuletzt an einer Gesamtschule in Düsseldorf. Er hatte sich über die GEW im Hauptpersonalrat Realschule engagiert, diese Tätigkeit jedoch ebenso wie andere ehrenamtliche Tätigkeiten in der GEW aufgegeben, um Kompatibilitätskonflikte mit seiner neuen Aufgabe zu vermeiden.

Birgit Palzkill © LSB NRW Foto: Andrea Bowinkelmann

In den Fortbildungen des Projekts arbeitet er mit Birgit Palzkill zusammen. Birgit Palzkill ist unabhängige Beauftragte zum Schutz vor sexualisierter Gewalt im Sport des Landessportbundes NRW, Diplommathematikerin und Sportwissenschaftlerin. Sie war Wissenschaftlerin und Lehrkraft, sie hat Beratungslehrkräfte ausgebildet. Ihr Themenschwerpunkt war schon damals „Gender und Diversity“, wobei zu Beginn die „Frauen- und Mädchen- beziehungsweise Jungenförderung“ im Mittelpunkt stand. 1989 hat sie im Fach Soziologie an der Universität Oldenburg promoviert. Thema: „Zwischen Turnschuh und Stöckelschuh – Die Entwicklung einer Identität und Existenz als lesbische Frau im Sport“ (erschienen im Verlag Frauenoffensive, München). Gemeinsam mit Heidi Scheffel haben Birgit Palzkill und Frank Pohl im Jahr 2020 das bei Cornelsen erschienene Buch zu „Diversität im Klassenzimmer“ herausgegeben (Untertitel: „Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in Schule und Unterricht“).

Stimmungen – nicht nur im Mikrokosmos Schule

Norbert Reichel: Das Projekt „Schule der Vielfalt“ findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern spiegelt allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen. Schule ist ja irgendwie auch so etwas wie ein Mikrokosmos der Gesellschaft. Alles, was es in der Gesellschaft gibt, gibt es auch in der Schule. Ich beobachte, dass sich zurzeit einiges verändert. Einerseits hat die wegweisende Entscheidung des Deutschen Bundestages für die „Ehe für alle“ die Akzeptanz für LSBTIQ* erheblich erhöht, andererseits gibt es den aktuellen Streit in der katholischen Kirche. Auf Schulhöfen und nicht nur dort erleben wir nach wie vor die Beschimpfung „Du Schwuler“, meines Erachtens neben „Du Jude“ die häufigste Beschimpfung unter Schüler*innen. Wie passen die steigende Akzeptanz und diese nach wie vor bestehende Aggressivität zusammen?

Frank Pohl: Das läuft parallel. Ich möchte zwischen Stimmungen, gesellschaftlicher Realität und politischem Handeln unterscheiden. Das zeigt sich auch an dem Beispiel der „Ehe für alle“. Die „Ehe für alle“ entstand ja nicht durch den politischen Willen einer Regierung. In der Bevölkerung gab es zu dem Zeitpunkt der Entscheidung des Deutschen Bundestages bereits eine Mehrheit. Die Bundesregierung wollte es jedoch nicht. Im Vergleich zur Zeit vor zehn Jahren gibt es unglaublich viele rechtliche Fortschritte, die aber häufig erst durch Klagen vor den Gerichten bis zum Bundesverfassungsgericht durchgesetzt werden konnten.

Norbert Reichel: Ich habe den Eindruck, dass die Bundesregierung hier ausnahmsweise einmal mehr auf die Meinungen von Minderheiten hört. Aber ich denke, der Zug ist nicht aufzuhalten, oder was meinst du?

Frank Pohl: Ja, zum Beispiel hat die „Ehe für alle“ natürlich eine normative Kraft des Faktischen, genauso wie die Existenz von Regenbogenfamilien. Gewollte Unsichtbarkeit ist heute nicht mehr so leicht herstellbar. Und aus meinen Erfahrungen im Projekt sehe ich Änderungen auch auf den Schulhöfen: Heute wehren sich Schüler*innen und Lehrkräfte mehr als früher und oft sehr eindeutig gegen Beschimpfungen als „Schwuler“, als „Schwuchtel“ oder als „Lesbe“. Als Beschimpfung ist das Wort „Trans*“ hinzugekommen, weil in letzter Zeit auch Transpersonen sichtbarer geworden sind.

Andererseits haben sich die Statistiken gegenüber 2012 nicht verändert. Die Sorgen derjenigen, die sich outen, sind nach wie vor hoch. Und berechtigt. Dies belegen verschiedene Studien, beispielsweise die Studie „Coming Out – und dann?!…“ von Claudia Krell und Kerstin Oldemeier (Berlin / Leverkusen-Opladen, Verlag Barbara Budrich, 2017). Die Zahlen von Claudia Krell belegen, dass 54 % nach dem Coming Out beschimpft oder lächerlich gemacht wurden.

Es gibt beide Entwicklungen parallel, eine Weiterentwicklung zu mehr Liberalität, aber auch eine starke Kategorisierung in Schubladen und nach wie vor eine hohe Ablehnung.

Birgit Palzkill: Vielleicht noch einmal zu den Schimpfwörtern „Schwuler“ oder „Jude“. Das hat ja wenig damit zu tun, ob das betreffende Kind tatsächlich schwul oder jüdisch ist. Das wird als Schimpfwort generalisiert. Ein Junge wird schnell als „schwul“ bezeichnet, wenn er in den Augen der Mitschüler*innen nicht männlich genug ist – ganz unabhängig davon, welche sexuelle Orientierung er hat. Es geht also um die Performance des Geschlechts. Einerseits haben Jugendliche heute viel mehr Möglichkeiten, ihr Geschlecht darzustellen, es gibt eine viel höhere Vielfalt. Ich durfte in der Schule beispielsweise keine Hosen tragen, ich musste einen Rock anziehen. Hosen waren für Mädchen in der Schule verboten. Heute können sich Mädchen anziehen wie sie wollen – vielleicht etwas zugespitzt formuliert.

Auf der anderen Seite musst du dir das aktuelle Gendermarketing anschauen. Da gibt es einen Backlash. Es gab noch nie eine so starke Trennung zwischen Jungen- und Mädchenspielzeug. Wenn du in eine Spielzeugabteilung gehst, siehst du, dass du gar kein Spielzeug bekommst, das nicht eindeutig als Jungen- oder Mädchenspielzeug gegendert ist. Oder schau dir die Kleidung im Gendermarketing an, beispielsweise die Beschriftung von T-Shirts. Bei den Jungen gibt es dann immer Texte wie „Ich bin der King“, „Ich bin mutig“, „Ich bin stark“. Mädchen sind immer „süß“ und „lieb“, meistens dann in rosa gekleidet, die Jungen in blau. Auch bei Karnevalskostümen: die Jungen sind die Cowboys, die Mädchen die Prinzessinnen. Das geht bis in die Kleinigkeiten des Alltags. Ich weiß nicht wohin sich das entwickelt. Es spaltet sich immer mehr.

Frank Pohl: Vielleicht sollten wir uns anschauen, was die sogenannte „digitale Revolution“ bewirkt. Gerade in den sozialen Medien findet eine viel intensivere Auseinandersetzung statt. Jugendliche bekommen heute viele Informationen, die in den 1980er Jahren gar nicht möglich waren. Das merke ich bei Vernetzungstreffen von „Schule der Vielfalt“: wenn ich höre, wie Jugendliche heute im Vergleich zu vor ein paar Jahren bei Vernetzungstreffen von „Schule der Vielfalt“ argumentieren, wie genau sie die Begrifflichkeiten kennen und einsetzen. Das hat viel damit zu tun, dass sie sich in den sozialen Medien darüber austauschen können.

Vorsicht mit Zuschreibungen!

Norbert Reichel: Das wäre mal eine positive Folge der viel geschmähten sozialen Medien – bei allen Widersprüchen und Merkwürdigkeiten, die wir dort erleben. Aber stellt ihr auch Unterschiede zwischen verschiedenen Communities fest? Ich denke dabei an Stadt und Land, an Communities mit einem eher paternalistischen Erziehungsstil, an bestimmte migrantische Milieus türkischer, arabischer oder russischer Herkunft. In Russland und in der Ukraine spielt das Thema eine hochpolitische Rolle, es gibt das Feindbild „Gayropa“, das dort für alles Unheil dieser Welt verantwortlich gemacht wird. Über Sender wie Russia Today (RT) verbreitet sich das auch bei uns in Deutschland.

Birgit Palzkill: Dazu kann ich wenig sagen. Aber natürlich werden die Menschen in den russischen Communities von solchen Botschaften in den russischen Medien beeinflusst. Ich bin da aber sehr vorsichtig. Dies gilt auch im Hinblick auf die Trennung zwischen Stadt und Land. Ich habe Jahrzehnte lang Fortbildungen zum Thema Gender gemacht. Dabei habe ich gelernt, vorurteilsfrei an die Leute heranzugehen. In ländlichen Schulen war das nicht anders als in städtischen Schulen.

Auch Menschen, zu denen mir vorher gesagt wurde, die wären beim Thema Gender sehr traditionell eingestellt, erwiesen sich als sehr aufgeschlossen, wenn ihnen erklärt wurde, welche Probleme einengende Geschlechterbilder für die Schüler*innen mit sich bringen, wie sehr auch das Lernen darunter leidet und was die Schule hier positiv verändern kann. Sie ließen sich darauf ein und sagten, darüber hätten sie noch gar nicht nachgedacht. Sie hatten vielleicht vorher nicht den Zugang zu den Informationen, die sie gebraucht hätten, aber ihre persönliche Offenheit war oft anders als es das Vorurteil erwarten ließ.

Wie gesagt: ich bin sehr vorsichtig geworden. Ich war in einer Schule in Leverkusen-Rheindorf tätig, ein Stadtteil mit hohem Migrationshintergrund. Für die Schüler*innen kann ich die genannten Vorurteile nicht bestätigen. Ich kann die kolportierten Vorureile auch nicht im Hinblick auf Trans-Schüler*innen bestätigen. Ich hatte schon vor 30 Jahren Trans-Schüler*innen aus völlig prekären Verhältnissen. Die hatten zu Hause überhaupt kein Problem. Das war ein größeres Problem in gut bürgerlichen Milieus aus dem Mittelstand. Aber all das sind persönliche Eindrücke. Verallgemeinern möchte ich das nicht.

Norbert Reichel: Auf jeden Fall mahnen uns deine Erfahrungen zur Vorsicht. Wir sollten in sozial prekären Verhältnissen auf keinen Fall per se genderfeindliche Positionen unterstellen. Das wäre meines Erachtens eine gefährliche Spielart von Klassismus. Gab es in dem Projekt „Schule der Vielfalt“ nicht auch ein Teilprojekt zum Thema Migration?

Frank Pohl: Du meinst unsere Beschäftigung mit dem Thema Religion. (Dokumentation Fachtag, Schule der Vielfalt 2017)

Norbert Reichel: Und schon habe ich selbst diesen verhängnisvollen Fehler gemacht, Migration und Religion miteinander zu identifizieren.

Frank Pohl: Wir haben bei diesem Thema bewusst verschiedene Religionen einbezogen, denn wir wollten auf jeden Fall Zuschreibungen bestimmter Einstelllungen auf bestimmte Religionen vermeiden. Bei den monotheistischen Religionen, die sich auf eine enge Auslegung der jeweiligen heiligen Schriften beziehen, gibt es natürlich die bekannten Probleme. Bei unserem Fachtag zu diesem Thema wurde schon deutlich, dass es einerseits eine entsprechende, aber auch sehr kontrovers geführte theologische Diskussion gibt, andererseits sich jedoch bei den Schüler*innen nicht feststellen lässt, dass religiöse Auffassungen auch mit einer entsprechenden Einstellung zu unserem Thema verbunden wären. Schüler*innen, die homo- oder transfeindliche Äußerungen machen, begründen das nicht mit Religion. Ich stimme Birgit zu, dass es häufig andere Motivationen sind. Bestimmte Rollenbilder stehen im Vordergrund, bestimmte Vorstellungen von Männlichkeit, nicht die Frage, welche Religionszugehörigkeit jemand hat.

Birgit Palzkill: Ich kann vielleicht eine Erfahrung aus meiner ehemaligen Schule ergänzen. Jedes Jahr gab es einen Diversitätstag. Mal ging es um Behinderungen, mal um Rassismus, mal um Gender. Es war im Grunde ein Anti-Diskriminierungstag. Das hat unglaublich viel gebracht. Durch den intersektionalen Ansatz haben die Kinder schnell begriffen, welche Zusammenhänge es gibt, dass eben nicht nur eine Ausprägung von Diversität eine Rolle spielt, sondern der Zusammenhang, der sich in dem Obergriff „Anti-Diskriminierung“ zusammenfassen lässt.

Norbert Reichel: Am 10. Mai 2021 wurde Annalena Baerbock, die Kanzlerkandidatin von Bündnis 90 / Die Grünen, in der Sendung „Was nun, Frau Baerbock“ gefragt, ob der Koalitionsvertrag auch mit Gendersternchen geschrieben werden solle. Sie sagte, dafür setze sie sich ein. Sie hätte ergänzen können, dass der Deutsche Bundestag diese Schreibweise in seinen Dokumenten inzwischen zulässt. Das ist aber schon ein sehr emotional diskutiertes Thema. Dazu muss man*frau nicht nur die Kolumnen von Harald Martenstein im ZEITmagazin oder im Tagesspiegel lesen.

Frank Pohl: In unseren Fortbildungen stellen wir vor, welche Varianten es gibt, Doppelpunkt, Sternchen, Unterstrich, und welche Fragen damit verbunden sind. Wir lassen die Teilnehmenden darüber diskutieren, weil diese Diskussion eben da ist. Wenn wir uns da festhaken, kommen wir nicht weiter. Aber es wie bei allen Themen – wir könnten auch über Toiletten, das dritte Geschlecht und vieles mehr diskutieren – bei all diesen Themen hängt die Intensität und die Kontroversität der Debatten von der Konstellation der Teilnehmenden ab.

Ich hatte schon Fortbildungen, zum Beispiel in Zentren für Lehrerausbildung, in denen ich erstaunt war, wie kompetent die angehenden Lehrkräfte bereits waren, wie gut sie Bescheid wussten. Es gab aber auch sehr kontroverse Diskussionen mit all den Facetten, die wir aus den gesellschaftlichen Debatten kennen, von der Gesellschaft für Deutsche Sprache ausgehend bei den Deutschlehrkräften bis hin zu biologischen Fragen oder zu Fragen, wie sich Gesellschaft entwickeln sollte. Ich halte es für richtig, darüber zu diskutieren, aber für mich hat es doch sehr starken Symbolcharakter. Ich bin immer etwas skeptisch, wenn es zentral darauf hinausläuft, dass man*frau darauf setzt, Gesellschaft durch Symbole zu verändern.

Norbert Reichel: In den Texten des Demokratischen Salons habe ich in der Rubrik „Wer sind wir“ etwas dazu geschrieben, warum und wie ich das Gendersternchen einsetze. In der Schriftsprache lässt sich das ja sehr differenziert einsetzen, sodass auch einfach darstellbar ist, welche Gruppe nicht gemeint ist. Wenn ich Frauen* schreibe, ist klar, dass ich männliche Menschen nicht anspreche. Auf die Idee bin ich durch meine Beschäftigung mit Schwarzem Feminismus, u.a. mit Texten von Audre Lorde gekommen.

Frank Pohl: Das habe ich in deinem Blog gesehen. Es ist eben ein Unterschied, ob ich Frauen oder Frauen*, Männer oder Männer* schreibe. In unseren Fortbildungen versuchen wir geschlechtsneutrale Formulierungen zu verwenden, beispielsweise „Lehrkräfte“ statt „Lehrerinnen und Lehrer“ oder „Lehrer*innen“, so wie es der DUDEN vorschlägt. Wir weisen aber auch darauf hin, welche offiziellen Regeln es gibt, beispielsweise in Nordrhein-Westfalen die Doppelformel, die Lehrkräfte also in offiziellen Texten von „Schülerinnen und Schülern“ sprechen müssen, während das kurioserweise in anderen Bundesländern anders ist, beispielsweise in Baden-Württemberg, wo es noch nicht einmal die verpflichtende Vorgabe zur Doppelformel gibt. Die Lehrkräfte haben meines Erachtens auch eine Eigenverantwortung darüber nachzudenken. Entscheidend ist für mich, ob eine professionelle Reflexion über das Thema stattfindet.

Allianzen und Konkurrenzen – Macht und Herrschaft

© Schule-der-Vielfalt Frank Pohl

Norbert Reichel: Eure Mahnung zur Vorsicht und zum Respekt vor unterschiedlichen Sichtweisen sollte aus manchen Debatten die Schärfe herausnehmen. Ob dies immer gelingen wird, ist eine andere Frage und es gibt natürlich auch Grenzen. Wir müssen bei unserer Annäherung an ein Verständnis gesellschaftlicher Stimmungen und Entwicklungen das Thema der „Identitätspolitik“ ansprechen. Die Erfahrungen mit dem Diversitätstag, über den du, Birgit, eben gesprochen hast, erscheinen mir in diesem Zusammenhang hilfreich.

Birgit Palzkill: Der Diversitätstag, von dem ich eben gesprochen habe, begann mit der Inklusionsdebatte, Inklusion bezogen auf Behinderungen, also der enge Inklusionsbegriff. Das weitete sich dann aus, indem wir über Rassismus sprachen, über Gender. Dadurch wurde viel bewegt, weil sowohl die Lehrkräfte als auch die Schüler*innen verstanden, dass es um Macht und Herrschaft geht, dass es immer darum geht, dass eine Gruppe ausgeschlossen wird, exkludiert wird, nicht teilhaben kann, dass Menschen diskriminiert werden: wegen der Hautfarbe, wegen einer körperlichen Behinderung, wegen der Religion oder eben wegen des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung. Dadurch, dass sie diese Zusammenhänge verstanden, wuchs die Akzeptanz auch bezüglich solcher Diversitätsdimensionen, von denen sie nicht selbst betroffen waren. Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, die verschiedenen Debatten im Sinne von Intersektionalität immer auf einander zu beziehen. Die Grundstruktur ist ähnlich, gleichviel ob ich jemanden aufgrund eines bestimmten körperlichen Merkmals, wegen des Geschlecht oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe exkludiere.

Norbert Reichel: Das könnte auch ein soziales Distinktiv sein, der Wohnort, die Berufe der Eltern. Dann sind wir beim Thema Klassismus.

Birgit Palzkill: Klassismus hat über die Frage der Diskriminierung hinaus noch einmal weitere Dimensionen. Aber bezüglich der Diskriminierungsebene ist das richtig. Im Zusammenhang wächst eben die Bereitschaft, die jeweils andere Position zu sehen. Das richtet sich dann auch gegen den Vorwurf, dass sich die einzelnen Gruppierungen immer mehr von einander abschotten und die Gesellschaft zerfällt, weil alle Gruppierungen nur an ihren jeweiligen eigenen Interessen interessiert wären. Das ist nun gar nicht der Fall, wenn die verschiedenen Gruppen sehen, dass es im Grunde für alle darum geht, dass sie alle teilhaben können an der Gesellschaft.

Norbert Reichel: Über dieses Thema habe ich mit Olaf Zimmermann, dem Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats gesprochen („Staatsziel Kultur – nur eine Utopie?“). Er berichtete von den Integrationsgipfeln bei der Bundeskanzlerin. Er habe beobachtet, dass die verschiedenen Verbände der Migrant*innen sich auseinanderentwickelten und immer weniger bereit wären, sich auf gemeinsame Interessen zu verständigen. Diese Entwicklung verhindere, dass Gruppen, die Minderheiten sind oder sich als Minderheiten fühlen, Allianzen eingehen, um gemeinsame Anliegen vorzutragen und durchzusetzen, auch Allianzen mit Bündnispartner*innen in der Mehrheitsgesellschaft.

Frank Pohl: Ich kann dazu sagen, dass wir in unserem Projekt grundsätzlich intersektional arbeiten. Wir stehen in regelmäßigem Gesprächskontakt zu Gruppen und Menschen, die von anderen Diskriminierungskategorien neben Geschlechtern und sexueller Orientierung betroffen sind. Dieser Austausch ist hilfreich.

Zugleich hat Schule der Vielfalt einen Queer-Straight-Alliance-Ansatz. Das heißt, in den Schulen sind alle gefordert, solidarisch für mehr Akzeptanz zu arbeiten, unabhängig von Geschlecht oder Sexualität. Mit dieser Konzeption realisiert Schule der Vielfalt an seinen Schulen zahlreiche Forderungen, die es für mehr queere Sichtbarkeit im Bildungsbereich schon lange gibt, zum Beispiel durch den etablierten Bundesausschuss Queer der GEW, und aktuell mit der Initiative #TeachOut.

Das Problem von Anerkennung und Sichtbarkeit, das du beschreibst, kennen wir auch innerhalb der LSBTIQ*-Communities. In Bezug auf staatliches Handeln geht es zusätzlich um die Verteilung von begrenzten Ressourcen, wer welche Mittel bekommt und wer nicht.

Norbert Reichel: Welche Konkurrenzen stellt ihr in eurer Arbeit fest?

Frank Pohl (etwas längere Pause): Besonders der Nationale Aktionsplan gegen Homo- und Transfeindlichkeit steht immer noch aus. Seit fünf Jahren fordert das Bundesnetzwerk von „Schule der Vielfalt“ zudem die Einrichtung einer Bundeskoordinationsstelle. Die wurde bis heute nicht eingerichtet.

Ich würde es aber gar nicht so eng sehen. Ich denke, es ist wichtiger, sich gegenseitig zu unterstützen. Wenn ich mit verschiedenen Partner*innen intersektional Video-Konferenzen mache, wie wir sie hier gerade miteinander machen, unterstützen wir uns gegenseitig. Wir weisen auf bestimmte Papiere hin, die wir wichtig finden, machen die uns gegenseitig zugänglich, tauschen uns darüber aus, welche Formen von Diskriminierungen sich wo abzeichnen und wie wir gemeinsam dagegen vorgehen könnten und was wo fehlt. So sind wir in den letzten Monaten gut vorgegangen. Neben den Nachteilen der Pandemie, auch für LSBTIQ*, würde ich sagen, dass wir als beratende Institutionen durch die Pandemie in noch engerem Kontakt stehen, weil wir häufiger digital konferieren konnten. (Auswirkungen der Coronapandemie auf LSBTIQ*, herausgegeben von BVT*, LSVD und Bundesstiftung Magnus-Hirschfeld, 2021)

Und wenn ich mir die SCHLAU-Projekte der letzten Jahre anschaue, ist die Thematik Antirassismus doch sehr zentral geworden, in den Diskussionen innerhalb der SCHLAU-Teams, die in die Schulen gehen. Genauso auch in unserer Ausbildung der Moderator*innen, die die Fortbildungen mit Lehrkräften durchführen, ganz einfach, weil diese Diskussionen in den Kollegien und Schulklassen stattfinden.

Birgit Palzkill: Eine Konfliktlinie kann es beispielsweise zwischen der Frauengleichstellungspolitik und der LSBTIQ*-Politik geben. Das müssen wir sehr genau beobachten. Wenn du beispielweise nach Polen schaust, siehst du, dass die beiden Gruppen abgestimmt und gemeinsam handeln. Als in Polen der Abtreibungsparagraph verschärft wurde, war die LSBTIQ*-Community als erste auf der Straße, obwohl sie selbst am wenigsten von dieser Verschärfung betroffen sein dürften. Da gibt es einen Schulterschluss. In Deutschland gibt es den auch, aber es gibt auch die Befürchtung, dass durch die Dekonstruktion von Geschlechtskategorien die Anliegen von Frauen, die nach wie vor schlechter gestellt sind, in den Hintergrund gedrängt werden.

Norbert Reichel: Das würde mich jetzt interessieren. Wie wird dieses Thema insgesamt diskutiert?

Birgit Palzkill: Das wird nicht insgesamt diskutiert, sondern da und dort. Dabei wird von machen Vertreterinnen der Frauen- und Lesbenbewegung die Befürchtung geäußert, dass mit der Dekonstruktion der binären Kategorien „Mann“ und „Frau“ die Benachteiligung von Frauen nicht mehr thematisiert werden könne. Diese Gefahr muss tatsächlich im Blick behalten werden. Doch vielfach wird in diesen Diskussionen die Genderdebatte verkürzt und missinterpretiert. Der dekonstruktivistische Ansatz, der die Natürlichkeit von zwei binären Kategorien „Mann“ und „Frau“ bestreitet, wird dann so verstanden, als bedeute dies, so tun, als gäbe es diese Kategorien nicht mehr.   Nur eine biologistische Definition von Frau-Sein könne davor schützen, dass Diskriminierungen und Benachteiligungen von Frauen benannt und bekämpft werden können. Dies halte ich nicht nur für eine falsche, sondern für eine sehr gefährliche Position.

Norbert Reichel: Über diese Debatte hat bell hooks geschrieben (u.a. in: „Die Bedeutung von Klasse“, deutsche Ausgabe 2020 im UNRAST Verlag in Münster erschienen, im Demokratischen Salon: „Schwarze Frauen in Deutschland“). Sie beschrieb, dass Schwarze Männer Schwarze Frauen kritisierten, die sich feministisch äußerten, weil sie damit die gemeinsamen Interessen aller Schwarzen schwächten. Ähnlich argumentierten auf ihre Belange bezogen weiße Frauen gegenüber Schwarzen Frauen. Es entstanden innerhalb von Minderheiten beziehungsweise diskriminierten Gruppen Hierarchien, auch je nach sozialem Stand.

Birgit Palzkill: Du kannst diese Problematik nicht auflösen. Du musst je nachdem schauen, mit wem du koalieren kannst und musst. Das siehst du in Polen, wie ich eben beschrieben habe. Das zeigt, dass im konkreten politischen Handeln überhaupt kein Problem bestehen muss. Du musst dir in der jeweiligen konkreten Situation die jeweilige konkrete Forderung und das konkrete politische Handeln anschauen. Da werden die möglichen Koalitionen sehr schnell sichtbar. Das Ziel muss ja sein, dass alle, wirklich alle, alle gleichberechtigt teilhaben können.

Norbert Reichel: Ich wage mal die steile These, dass wir dann, wenn die AfD in Deutschland so stark wäre wie die PiS in Polen, wir möglicherweise auch eine andere Situation hätten. Ansätze zu einer solchen Solidarität gab es beispielsweise bei den vielen Gruppierungen, die sich an den #unteilbar-Demonstrationen beteiligten, verbunden mit der Merkwürdigkeit, dass keine Deutschland-Fahnen gezeigt werden sollten, weil das einige Organisator*innen an die AfD erinnerte. Ich bin eher der Meinung, dass die AfD die Deutschland-Fahne missbraucht. Wir sollten sie ihr – wie Peter Tauber es mal in der Süddeutschen Zeitung formulierte – wegnehmen.

Frank Pohl: Das ist eine schwierige Diskussion, wenn wir schauen, wer sichtbar ist und wessen Diskriminierung sichtbar gemacht wird und wessen Verletzung von Menschenrechten unsichtbar bleibt. (LSBTI*Q-Menschenrechte und Schule, Schule der Vielfalt 2020) Wenn viele Gruppen diskriminiert werden, entsteht auch viel mehr Solidarität. Wenn aber Gruppen das Gefühl haben, sie würden diskriminiert, aber diese Diskriminierung werde nicht thematisiert, dann gibt es natürlich schnell Konflikte. Das sieht man*frau auch bei dem Gender-Thema. Da ist immer wieder von Mehrheit und Minderheit die Rede, aber Frauen sind ja gar keine Minderheit.

„Trilemma der Inklusion“

Norbert Reichel: Birgit, du beziehst dich in deinen Vorträgen und Aufsätzen auf den Begriff „Trilemma der Inklusion“.

Birgit Palzkill: Der Begriff wurde von Mai-Anh Boger eingeführt, die in der Behindertenforschung arbeitet. Sie hat ursprünglich Interviews mit psychisch behinderten Studierenden geführt und die Ergebnisse dann auch für andere Bereiche ausgearbeitet. Sie hat festgestellt, dass es im Grunde immer drei Perspektiven der Inklusion gibt. Die erste Perspektive: jeder Mensch will in seiner*ihrer spezifischen Existenz als Frau, als Schwarze*r, als Behinderte*r gesehen, benannt und anerkannt werden (Emanzipation von der Normalisierung), die zweite, dass jede*r als Mensch in der eigenen Individualität und eben nicht als Andere*r wahrgenommen werden will (Dekonstruktion der Binarität “Normale“ / “Andere“), die dritte, dass niemand aufgrund seiner*ihrer jeweiligen spezifischen Situation benachteiligt werden will (Empowerment). Das sind drei Perspektiven, mit denen du auf Diversität schauen kannst. Das Problem besteht, dass du, wenn du dich auf zwei dieser Perspektiven konzentrierst, die dritte ausschließt.

Je mehr beispielsweise die spezifische Situation von Mädchen* im Vordergrund steht und Maßnahmen gegen deren Benachteiligung gefordert werden, desto schwieriger wird es, die Vorstellung zu dekonstruieren, dass Mädchen* und Jungen* sich essenziell unterscheiden. Umgekehrt: wenn ich die dekonstruktive Perspektive betone, negiere ich solche Unterschiede und kann schlechter auf real vorhandene spezifische Bedürfnisse der Geschlechter oder zum Beispiel auf real existierende Benachteiligungen von Mädchen eingehen. Quotierungen kannst du nur einführen, wenn du kategorisierst und damit die dekonstruktive Position in den Hintergrund rückst. Das heißt, es gibt immer wieder Ambivalenzen und Widersprüche, aber es ist eben nicht so, dass eine der drei Perspektiven weniger Berechtigungen hätte als die andere.

Es bleibt nichts anders übrig als mit diesen Ambivalenzen und Widersprüchen umzugehen und jede konkrete Situation aus allen drei Perspektiven zu reflektieren und dann zu entscheiden, was dies für das konkrete politische Handeln bedeutet. Wenn ich mich für Quotierung einsetze, stelle ich dekonstruktive Aspekte in den Hintergrund. Gleichzeitig will ich nicht die Kategorien „Mann“ und „Frau“ betonen, denn darunter litte mein Ziel, geschlechtliche Vielfalt zum Ausdruck zu bringen. Es gilt immer, diese Ambivalenzen und Widersprüche auszubalancieren.

Es gibt natürlich Gruppen, die aufgrund ihrer beruflichen Rolle immer einen Aspekt in den Vordergrund rücken. Eine Gleichstellungsstelle hat vorrangig immer den Aspekt der Gleichstellung von Frau und Mann im Blick. Das bewirkt auch immer die Gefahr, die Kategorien „Frau“ und „Mann“ zu zementieren.

Norbert Reichel: Das hat meines Erachtens auch Auswirkungen auf die Frage, wo ich in einer Kommune eine Antidiskriminierungsstelle ansiedele. Ich bin persönlich der Meinung, als Stabsstelle bei den jeweiligen kommunalen Spitzen. Wenn ich eine solche Stelle bei der Gleichstellungsbeauftragten oder bei einem Kommunalen Integrationszentrum ansiedele, betone ich immer nur einen bestimmten Aspekt, zementiere bei der zweiten Variante die Kategorien „Migrant*in“ und „Nicht-Migrant*in“. Im Koalitionsvertrag der vier Parteien, die sich über eine Zusammenarbeit im Rat der Stadt Bonn verständigt haben, wird beispielsweise das Thema Antisemitismus dem Stabsstelle Integration zugewiesen. So entsteht der Eindruck, als habe Antisemitismus nur etwas mit Migration und Integration zu tun.

© Schule-der-Vielfalt Frank Pohl

Birgit Palzkill: Das lässt sich nicht auflösen. Das ist das Problem. Es bedarf der Fähigkeit, jede Situation aus allen drei Perspektiven zu betrachten. Es gibt für die Schule das Konzept von Katharina Debus, die mit den Begriffen der „Dramatisierung, Entdramatisierung und Nicht-Dramatisierung von Geschlecht und sexueller Orientierung einen Ansatz von Hannelore Faulstich-Wieland weiterentwickelt hat. Sie sagt, wenn du im Unterricht „Geschlecht“ dramatisierst, indem du die spezifische Situation eines Geschlechts thematisierst, solltest du eine Einheit anschließen, in der du über entdramatisierende Themen, beispielsweise über Liebe allgemein, eben nicht die Unterschiede thematisierst. Wie du es machst, hast du Nachteile. (Katharina Debus: Dramatisierung, Entdramatisierung und Nicht-Dramatisierung von Geschlecht und sexueller Orientierung in der geschlechterreflektierten Bildung).

„Ambiguitätstoleranz“

Norbert Reichel: Das fordert von Lehrkräften oder Moderator*innen in der Fortbildung einen meines Erachtens doch sehr hohen Reflexionsstand, um in dieser Komplexität reagieren zu können. Im Grunde geht es um ein hohes Maß an „Ambiguitätstoleranz“, ein Begriff des Islamwissenschaftlers Thomas Bauer.

Frank Pohl: Das erfordert in der Tat viel Selbstreflexion und eine gute Analyse der jeweiligen Lerngruppe, um zu verstehen, welche Konflikte es gibt und woher die rühren, beispielsweise ob einige das Gefühl habe, bestimmte Gruppen würden nicht gesehen oder bestimmte Gruppen würden in den Mittelpunkt gestellt. Du hast eben die Antidiskriminierungsstellen genannt. Dieselbe Frage stellt sich für die Einrichtung von Beschwerdestellen. Gibt es die überhaupt? Für viele Schulen gibt es die nicht. An wen richte ich die Beschwerden? Wer sind die Adressat*innen?

Bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gibt es einen Leitfaden für Schulen. (Diskriminierung an Schulen erkennen und vermeiden, ADS 2018). Dort werden Kategorien benannt, damit es möglich wird, Strategien der Prävention und der Intervention spezifisch zu entwickeln. Wir haben diese Diskussion in unserem Projekt schon seit vielen Jahren, beispielsweise welche Adjektive kommen auf das Schild von „Schule der Vielfalt“? Das ist ein Prozess, sich darüber zu verständigen. Was wollen wir erreichen? Beispielsweise werden bei „Schule der Vielfalt“ in Nordrhein-Westfalen auf dem Schild andere Kategorien genannt als in Berlin, in Berlin wurden weitere Kategorien hinzugefügt. Das erfordert aber dann auch, dass man*frau im Rahmen der jeweiligen Kategorien kompetent agiert, im Unterricht muss ich, wenn ich bestimmte Begriffe einführe, zeigen, dass ich diese kompetent anwenden und reflektiert agieren und reagieren kann. Als Lehrkraft muss ich gegebenenfalls auch zugeben können, wo ich mich nicht so genau auskenne.

Birgit Palzkill: Ich muss – bezogen auf die jeweilige individuelle Situation – etwas auch stehen lassen können. Es gibt auch Frauen, die sagen, sie wollen nicht immer auf ihr Geschlecht angesprochen werden. Sie sind dann in der zweiten Kategorie des „Trilemmas der Inklusion“. Sie sagen, sie wollen als Mensch wie alle anderen gesehen werden, sie wollen nicht ständig gegendert werden.

Norbert Reichel: Das erlebe ich öfter bei Frauen aus Ostdeutschland, die wollen nicht als Lehrerin, sondern als Lehrer angesprochen werden. Sie verstehen „Lehrerin“ als Missachtung.

Birgit Palzkill: Natürlich gibt es da viele Diskussionen, aber auch diese Position hat ihre Berechtigung. Es stellt sich die Frage, wie ich damit umgehe. Es geht darum, dass nicht alle direkt abgewertet werden, die eine solche Aussage machen. Ich kenne das noch krasser: eine Frau war „Sekretär“ der SED. Sie sagte, ich bin „Sekretär“, nicht „Sekretärin“, denn „Sekretärin“ war die Kollegin beziehungsweise Genossin im Vorzimmer.

Ich plädiere dafür, dass jemand, der*die das Gefühl hat, nicht gesehen zu werden, die Möglichkeit haben muss, die Kategorie, der er*sie sich zugehörig fühlt, zu benennen. Aber mit dem Ziel einer gleichberechtigten Teilhabe und nicht als ein Ziel – wie das bei nationalistischen Gruppen der Fall ist – dass die eigene Identität als etwas Besonderes herausgestellt wird, das andere abwertet und ausschließt. Das ist der große Unterschied.  

Jenseits der Binarität

Norbert Reichel: Wir haben ausführlich über den gesellschaftlichen Rahmen des Projekts „Schule der Vielfalt“ diskutiert, über die „Frames“, in denen wir über „Vielfalt“ sprechen. Vielleicht sprechen wir noch ein wenig über die konkrete Arbeit im Projekt. Ihr habt den Namen geändert. Zunächst hieß das Projekt „Schule der Vielfalt – Schule ohne Homophobie“. Jetzt heißt es „Schule der Vielfalt“.

Frank Pohl: Ursprünglich hieß das Projekt sogar „Schule ohne Homophobie – Schule der Vielfalt“, das war der ursprüngliche Start. Als ich die Landeskoordination übernommen hatte, haben wir das umgedreht und die positive Botschaft, die „Schule der Vielfalt“ an den Anfang gestellt. Im Laufe der Zeit hat sich das Projekt weiterentwickelt. 2015 wurde das Netzwerk auf der Bundesebene gegründet. Damals war der Diskussionsprozess schon so weit, dass auf die Verwendung der Begriffe „Homophobie“ oder „Transphobie“ verzichtet werden konnte. Das Berliner Projekt nennt sich seit Bestehen nur „Schule der Vielfalt“. Die Begriffe „Homophobie“ und „Transphobie“ – so wird angenommen – betonen die Perspektive der Täter*innen, als handelten diese aus Angst heraus.

Im Jahr 2020 nahm dann auch das Projekt in Nordrhein-Westfalen die Verkürzung des Namens vor. Gleichzeitig ist allen klar, dass dies auch zu einer Verwischung führen kann, denn „Vielfalt“ ist zunächst ein unspezifischer Begriff. Wir haben uns daher darauf verständigt, dass bei allen Publikationen und Veranstaltungen deutlich wird, welchen Schwerpunkt „Schule der Vielfalt“ hat. Wir setzen uns für eine größere Akzeptanz in Bezug auf sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ein. Sonst wird der Begriff der „Vielfalt“, der „Diversität“ so unspezifisch, dass die Gefahr entsteht, dass sich Schulen mit dem Titel „Schule der Vielfalt“ schmücken, aber nicht gesagt wird, worum es in diesem Projekt eigentlich geht, sie die Kategorien nicht benennen und nicht in die dringend notwendige Auseinandersetzung gehen. Für uns ist wichtig, dass Begriffe wie „schwul“, „lesbisch“, „trans“ weiterhin auf dem Schild stehen, damit es diese notwendigen Diskussionen gibt.

Norbert Reichel: Manche würden hinter dem Begriff „Schule der Vielfalt“ vielleicht ein Migrationsprojekt vermuten.

Frank Pohl: Oder ein Inklusionsprojekt. Wichtig ist, dass es erkennbar um LSBTIQ* geht und die Akzeptanz fördernde Maßnahmen. Das Problem stellt sich auch bei der Erstellung von Curricula dar. Wir haben festgestellt, dass dann, wenn in den Lehrplänen die mit der Abkürzung LSBTIQ* verbundenen Begriffe nicht auftauchen, tauchen sie auch nicht in Schulbüchern und auch nicht im Unterricht auf. Das heißt, die Benennung ist schon sehr wichtig. Manche schreiben in neuere Lehrpläne auch, dass der Begriff „Geschlecht“, gelegentlich auch „Gender“ auftauchen soll, aber damit wird das Thema LSBTIQ* nicht ausdrücklich benannt. Ich bin dafür, dass im Unterricht die Themen „Geschlecht“ und „Gender“ diskutiert werden, weil Arbeit gegen Homo- und Transfeindlichkeit ohne das Thema „Gender“ nicht erfolgreich sein kann. Aber LSBTIQ* müssen ausdrücklich genannt werden.

Norbert Reichel: Ein vergleichbares Problem entsteht durch den Begriff der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“. Dieser Begriff zeigt meines Erachtens sehr deutlich, wie wichtig es ist, neben den Gemeinsamkeiten auch die Spezifika der jeweiligen Diskriminierungen herauszuarbeiten. Das eine ist ohne das andere nicht möglich. Aber wie lässt sich Anti-Diskriminierungsarbeit von Anti-Gewalt-Arbeit oder Arbeit gegen sexualisierte Gewalt abgrenzen?

Frank Pohl: Das ließe sich über den Begriff der Binarität klären. Es fällt auf, dass sich Lehrkräfte nicht selten Eindeutigkeit wünschen. Viele brauchen Kategorien – da haben wir Lesben und Schwule und vielleicht noch eine dritte mit Trans* – und das macht es einigen dann einfacher. Ich nenne einen Beratungsfall, den wir auch im Jahresbericht 2020 dokumentiert haben (Schule der Vielfalt 2021, S. 41). Ein*e Schüler*in definiert sich als „nicht binär“. Diese Offenheit wird von manchen Lehrkräften überhaupt nicht gesehen. Sie verstehen dies nicht. Sie kategorisieren Trans* als vermeintlich klare Kategorie. Ihnen ist jedoch nicht klar, dass es auch Inter*-Menschen gibt. Diese werden dann nicht wahrgenommen. Es wäre gut, wenn es gelänge, Fragen der Binarität aufzulockern.

Norbert Reichel: Vielleicht wäre das der große Erfolg, wenn es gelänge, diesen binären Code zu überwinden.

Birgit Palzkill: Im Grunde bist du dann wieder bei dem Trilemma, über das wir eben gesprochen haben. Auf der einen Seite ist zum Beispiel klassische Mädchenarbeit nach wie vor erforderlich, auf der anderen Seite bedarf es einer inklusiven Pädagogik, die auch darauf zielt, diese Binarität aufzuweichen. Wenn du immer nur Selbstverteidigungskurse für Mädchen anbietest, schaffst du das Bild, dass die Jungen immer die Täter und die Mädchen immer die Opfer sind. Damit verstärkst du ein binäres tradiertes Geschlechterbild. Gleichzeitig ist es nach wie vor erforderlich, dass du Kurse zur Stärkung des Selbstbewusstseins von Mädchen, auch über Selbstverteidigungskurse anbietest. Die Frage lautet, wie du die Kurse rahmst.

Wenn zum Beispiel ein Junge ein Mädchen sexistisch anmacht, dann sagt eine Lehrkraft vielleicht: „Bei mir machen Jungen Mädchen nicht sexistisch an.“ Es ist natürlich schon einmal gut, dass die Lehrkraft überhaupt einschreitet, aber sie verstärkt so ganz nebenbei das Bild, dass es anderswo die Regel sein könnte, dass Jungen Mädchen sexistisch anmachen. Sinnvoller wäre es zu sagen: „Hier in meinem Unterricht wird niemand sexistisch angemacht.“ Unabhängig davon welches Geschlecht er*sie hat. Das ist eine ganz andere Aussage. Das ist eine sehr differenzierte Herangehensweise, so könnte ich mit der Sprache und mit der Rahmung vermeiden, dass ich bestimmte Zuschreibungen mache und verfestige.  

Der Alltag der Komplexität

Norbert Reichel: Wie sieht dann diese Komplexität in einer „Schule der Vielfalt“ aus? Was geschieht, wenn eine Schule sich auf den Weg macht, und was muss geschehen, bis eine Schule sich mit Recht „Schule der Vielfalt“ nennen darf?

Frank Pohl: Es gibt zwei Ebenen, einerseits, wie eine Schule Teil des Netzwerks „Schule der Vielfalt“ wird, anderseits welche Beratungsanlässe es gibt. Alle Schulen, genauso wie die Dezernent*innen in der Schulaufsicht haben einen Anspruch auf Teilhabe an Beratungsprozessen. Beratungslehrkräfte wenden sich in der Regel an uns, Eltern oder auch Schüler*innen dann häufiger an unsere Partner*innen wie die Psychosoziale Beratungsstelle des rubicon e.V. Wir teilen mit rubicon e.V. das Gebäude, haben eine Bürogemeinschaft mit gemeinsamen Tagungs- und Beratungsräumen. Hier zeigt sich, wie sinnvoll die Implementation der Fachberatung von Schule der Vielfalt bei den Kooperationspartner*innen ist. So kann dann auch der enge Austausch stattfinden, wenn es um Beratungen im Kontext Schule geht.

Die Idee, eine offizielle Projektschule im Antidiskriminierungsnetzwerk, kommt häufig von SV-Schüler*innen, die den Kontakt zu uns aufnehmen. Dann stellt sich auch die Frage, ob sie in der Schule Verbündete finden, bei Lehrkräften, bei Eltern.

Wir erwarten von einer „Schule der Vielfalt“, dass sie Fortbildungen in der Schule durchführen. Zu den Qualitätsstandards gehört, dass jedes Schuljahr auf der Seite der Schüler*innen, im Unterricht, im Schulleben, aktiv gearbeitet wird, eben, dass die Lehr- und Fachkräfte in den Schulen sich fortbilden. Nach jedem Schuljahr gibt es eine Berichtspflicht. In den regelmäßigen Vernetzungstreffen können sie über Konzepte sprechen oder sich austauschen, was funktioniert, was nicht. Im Grunde ist das eine durchgehende Schul- und Unterrichtsentwicklung, die die gesamte Schule durchdringt.

Norbert Reichel: Ich habe den Eindruck, dass viel Einzelansprache und Einzelberatung erforderlich sind. Bei Einrichtungen, die die Aufgabe der Multiplikation übernehmen könnten und sollten, beispielsweise bei Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung, ist das nicht einfach. Mitunter ist viel Aufwand an Klinkenputzen erforderlich.

Frank Pohl: Hier sind wir schon einen erheblichen Schritt weiter, dadurch, dass wir bei den für Fortbildung zuständigen Dezernaten der Bezirksregierungen Moderator*innen für „Gender und Diversität“ und Bezirkskoordinationen für Schule der Vielfalt haben. Die Bezirkskoordinationen sind regional zuständig sind und unterstützen die Schulen und ZfsL. Mit den Moderator*innen gibt es Angebote sowohl als schulinterne Fortbildung (SCHILF) als auch schulextern (SCHELF). Damit wollen wir erreichen, dass alle Schulen, die als Projektschule im Programm „Schule der Vielfalt“ Verpflichtungen eingegangen sind, die Verpflichtung zur Fortbildung auch erfüllen können.

Zu den Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung. Das ist in der Tat irgendwie schon Klinkenputzen. Wir haben bisher zehn der 32 Zentren erreicht. Es könnten mehr sein, aber unsere Ressourcen sind natürlich auch begrenzt. Selbst wenn sich alle meldeten, könnten wir die Anfragen nicht alle bedienen. Mit unseren fünf Bezirkskoordinator*innen, die wir seit 2019 haben, haben sich die Bedingungen verbessert, aber es gibt da Luft nach oben.

Birgit Palzkill: Vielleicht lässt sich auch noch einiges dadurch erreichen, dass wir inzwischen Fortbildungen auf youtube präsentieren können, zwar nicht interaktiv, aber immerhin als Einstieg. Ich darf auf eine solche Fortbildung hinweisen, die ich gemeinsam mit Heidi Scheffel durchgeführt habe, die lange Zeit die „Schule der Vielfalt“ in der Bezirksregierung Köln unterstützt hat. Aber es wäre natürlich schön, wenn da auch noch mehr Initiative „von oben“ käme. Als Sylvia Löhrmann die Genderfrage auf die Tagesordnung gesetzt hat, hat das schon viel bewirkt.

(Anmerkungen: Ersteinstellung im Juni 2021, alle Internetzugriffe zuletzt am 18.5.2021.)