Manches muss im Dunklen bleiben

Lenka Kerler über ihren Roman „Die Unterirdischen Seen“

„Es geht nicht darum, Leid zu vergleichen, es geht darum, es zu sehen, mitzufühlen, uns auf dieser Ebene zu verbinden. Wir alle machen ähnliche menschliche Erfahrungen, wir fühlen menschlich: Wir lieben und wir haben Angst, wir leiden, wir lachen und freuen uns, wir trauern und weinen, wir haben Hunger und Durst. Wir erzählen Geschichten gegen das Unbekannte, die Angst, wir definieren das Eigene und Fremde, Gut und Böse, wer ist Opfer, wer Täter, schuldig und unschuldig.“ (Lena Schraml / Lenka Kerler, in: Magie und Perspektivwechsel)

Erinnerung ist eines der zentralen Themen der Bücher von Lena Schraml aka Lenka Kerler. Ihre beiden ersten Bücher schrieb sie unter ihrem bürgerlichen Namen, ihr drittes unter dem Pseudonym „Lenka Kerler“: „Ich mag einfach den Namen „Kerler“. Es ist der Mädchenname meiner Mutter, der Name meiner Großeltern, bei denen ich meine halbe Kindheit verbracht habe. Ich wollte einfach einen gut klingenden Namen. Im Ausland bekam ich immer mit, dass Schraml schlecht aussprechbar ist. Ich wollte einen Namen, der auch international gut aussprechbar ist, schließlich ist es mein Traum, dass meine Bücher einmal auf der ganzen Welt gelesen werden. ‚Lenka‘ ist mein polnischer Spitzname, so wurde ich immer von meinen polnischen Gasteltern genannt.“

Lena beziehungsweise Lenka lebte und studierte lange in Polen, später in Halle an der Saale. Sie lebt jetzt in Regensburg, der Stadt ihrer Eltern. Sie spricht unter anderem Polnisch und Persisch. Schreiben ist ihr Leben. Leider kann sie zurzeit nicht reisen, da sie 2022 an COVID erkrankte und sich von den Folgen der Erkrankung nicht mehr erholt hat. Long-Covid beziehungsweise ME/CFS (chronisches Fatigue-Syndrom) strukturiert ihr Leben. Auf ihrer Internetseite kommentiert sie sich selbst, so auch in dem eingangs zitierten Beitrag „Magie und Perspektivwechsel“, den sie nach einem Gespräch schrieb, in dem wir im April 2025 über ihren Debütroman „Die Unterirdischen Seen“ sprachen.

Drei Bücher – drei Gattungen – ein roter Faden

Lena Schraml aka Lenka Kerler hat bisher drei Bücher aus drei unterschiedlichen Gattungen veröffentlicht, einen Reiseführer, eine wissenschaftliche Arbeit (ihre Doktorarbeit) und einen Roman. Lena Schraml hat lange in Polen gelebt und studiert, in Kraków und in Łódź. Der Stadt Kraków beziehungsweise Krakau hat sie in der 111-Orte-Reihe des Emons-Verlags einen Band gewidmet, der bereits 2021 erschien, sich aber wegen der Pandemie nicht so gut verkaufte, wie er es verdient hätte. Natürlich ist die Stadt Kraków auch heute im Zeitalter der Post-Pandemie immer einen Besuch wert. Der Reiseführer von Lena Schraml kann bestens dafür sorgen, sich die vielen Geschichten um jeden der von ihr beschriebenen Orte zu erlaufen. Ohnehin lernt man Städte erst richtig kennen, wenn man sie zu Fuß erläuft und sich dabei auch gelegentlich verläuft.

In ihrer Dissertation hat sie sich mit zwei sehr verschiedenen Erinnerungskulturen beschäftigt. Der Verlag Frank & Timme veröffentlichte sie im Jahr 2022 als 44. Band der von Jekatherina Lebedewa und Gabriela Lehmann-Carli herausgegebenen Reihe „Ost-West-Express“ unter dem Titel „Kollektives Gedächtnis und literarische Erinnerungskultur – Erinnern und Vergessen in polnischen und persischen Texten der Gegenwart“. Der ursprüngliche Titel – so die Autorin in ihrer Einleitung – lautete „Gegen das Vergessen, gegen das Nichts“, ein Zitat aus Monika Sznajdermans Roman „Die Pfefferfälscher“ („Fałszersze pieprzu“). Gegenstand der Arbeit waren fünf polnische und vier iranische Erzählungen. Im Demokratischen Salon wurde diese Arbeit von Lena Schraml unter dem Titel „Denkmal der Unbekannten“ vorgestellt.

Die Stadt Łódź ist das Vorbild des dritten Buches und ersten Romans der Autorin „Die Unterirdischen Seen“, den sie 2025 im Selbstverlag veröffentlichte. Das Titelbild zeigt die Piotrkowska in Łódź. Die Autorin kommentierte es in einem unserer Gespräche: „Wenn man da im Norden steht, sieht es wirklich so aus, als würde diese Straße nie enden.“ So ist es – wie wir gleich erfahren werden – auch mit dem Roman. Der Roman ist als Print on demand und als E-Book erhältlich und setzt die Reihe von Büchern fort, in denen vor allem eines geschieht: Geschichten und Erinnerungen werden miteinander verwoben.

Geschichten sind oft genug spekulativ und politisch. Nicht alle Geschichten entsprechen den Tatsachen, viele jedoch den Wünschen, die sie erzählen. Im Demokratischen Salon flossen diese Erkenntnisse des Romans in eine Bewertung der Bundestagswahl vom 23. Februar 2025 ein: „Check The Balance”. Das am Schluss dieses Beitrags zitierte Statement, ein Satz aus „Die Unterirdischen Seen“, mag nicht nur die Einstellung der Autorin illustrieren, sondern ist vielleicht ein Auftrag an uns alle, die wir uns in dieser aktuellen Zeit der Polykrisen ständig neu orientieren müssen: „Ich mache es einfach. / Ich bin es leid, auf meine Ängste zu hören, bin es leid, mich zu verstecken, mein helles Licht mit einem Tuch zu verdecken, um ja niemanden zu stören. / Ich mache es einfach.“

Ein Buch schreibt sich selbst

Norbert Reichel: Sie haben drei völlig unterschiedliche Bücher geschrieben. Sie haben in Krakau reale Orte beschrieben, in der Dissertation Orte der Vergangenheit, gebrochen durch die Blickwinkel der Erzählenden, im Roman einen fiktiven Ort, der so fiktiv gar nicht ist. In allen ihren Büchern haben Sie sich mit ungewöhnlichen Sichtweisen beschäftigt.

Lena Schraml: „Die Unterirdischen Seen“ sind mein persönlichstes und mir wichtigstes Buch. Und ja, es gibt Dinge, die sich durchziehen, das Erzählen des Unsagbaren, des Nicht Erzählbaren. In meiner Doktorarbeit waren es die Traumata der Vergangenheit. Es geht immer um Perspektivwechsel.

Norbert Reichel: Ziemlich oft kommt das Wort „Erinnerung“ vor.

Lena Schraml: Vielleicht mein Thema. Es ist auch das Thema der Dissertation.

„Die Unterirdischen Seen“ kamen zu mir. Es hat etwa zehn Jahre gedauert, bis ich den richtigen Zugang zu dieser anfänglichen Idee gefunden habe. Vor zehn Jahren habe ich in Łódź gelebt. Dort gibt es tatsächlich einen unterirdischen Fluss, den ich mir vor einem Jahr auch angeschaut habe. Man sieht ihn durch einen Gullydeckel. Es hat sich Zeit gelassen, das Buch. Aber es wollte irgendwann geschrieben werden. Und da ich durch meine Krankheit sehr viel Zeit hatte, auch die benötigte Stille, habe ich es letztes Jahr endlich geschrieben. Es musste aus mir heraus, aus dem System heraus. Deshalb habe ich es auch im Selbstverlag veröffentlicht, weil ich es einfach abschließen wollte. Jetzt kann ich an einem weiteren Buch schreiben und muss nicht warten, bis irgendein Verlag einmal anbeißt.

Eine Parabel ohne wirkliches Ende

Norbert Reichel: Sie beginnen mit Franz Kafka und zitieren ihn im deutschen Original und in polnischer Übersetzung. Ich darf zitieren: „Wer sucht findet nicht, aber wer nicht sucht, wird gefunden.“ (Oktavhefte 13. Dezember 1917) Beziehungsweise: „Kto szuka, nie znajduje, lecz kto nie szuka, zostanie znaleziony.“ Sie variieren den Satz im Verlauf des Romans: „Wer sucht, findet nicht, doch wer aufhört zu suchen, den werden sie finden.“ Oder im Gespräch mit dem Bären „Gerade ist es eher so, dass die Suche mich findet.“

Lena Schraml: Ich denke, das Zitat fasst es ganz gut zusammen, um was es in meinem Buch geht. Dass man nicht allzu angestrengt suchen sollte, damit man das, was man eigentlich finden soll, nicht übersieht. Kafka begleitet mich schon lange, und in meinem Auslandsjahr in Łódź habe ich damals auch viel Haruki Murakami gelesen.

Norbert Reichel: Ich habe bei der Lektüre auch an Jorge Luis Borges gedacht, nicht zuletzt beim Motiv der Bibliothek. Ich habe ihr Buch als Parabel gelesen. Parabeln enden offen und lassen die Leser:innen mit vielen Fragen zurück. Ich denke an Kafkas „Ein Landarzt“ oder auch an einer Stelle bei Ihnen an „Vor dem Gesetz“. Es ist der Fehlalarm im „Landarzt“ oder in „Vor dem Gesetz“ die eine Tür, die nur für den Wartenden da ist, der sich aber nicht traut, hineinzugehen. Bei Ihnen liest sich das dann so: „Muss ich durch die Wüste gehen, um die Höhle zu finden? Muss ich in die Schattenwelt eintreten, aus der niemals jemand zurückkam?“ Dann kommt: „Ich mache es einfach.“ Und dann die Begegnung mit dem Wächter. Ihre Erzählung hat etwas von einer Matrjoschka-Puppe, jeder Schritt führt zu einer neuen Enthüllung, aber nie enthüllt sich das Ganze. Ihr Roman hat schon etwas von Fantastik.

Lena Schraml: Das gefällt mir. Ich habe beim Schreiben nicht daran gedacht, aber mir gefällt, dass man es so lesen kann. Die Leute, mit denen ich über das Buch gesprochen habe, haben es allerdings auch sehr unterschiedlich gelesen. Es gab welche, die nahmen es wörtlich, andere wiederum nicht. Manche haben geschaut, was sie von mir im Text wiederfinden und wo sie mich wiedererkennen.

Ich musste auch an Olga Tokarczuk denken: „An Ur und andere Zeiten“ („Prawiek i inne czasy“). Ein Text, den ich ja auch in meiner Doktorarbeit untersucht habe. Sie hat mich inspiriert. Sie lässt die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen. An der Stelle, an der ich über den Nebel schreibe, steht dann auch, dass man diese Stadt eigentlich nie wirklich verlassen kann. Es gibt eine Art Wand. Eine solche Wand gibt es auch bei Olga Tokarczuk. Die Menschen haben das Gefühl, die Stadt verlassen zu haben, aber sie sind nach wie vor in der Stadt.

Ich habe auch oft gehört, dass einige der offene Schluss verwirrt hat. Manche wollen eben gerne wissen, wie es weitergeht und wie es ausgeht. Eine Freundin fragte mich, ob ich eine Fortsetzung schreiben werde. Ich habe jedoch gesagt, dass ich das nicht bieten kann und auch nicht bieten will. Es gibt einige Lücken im Text, in die ich versucht habe, noch etwas hineinzugehen, aber sie ließen es nicht zu. Sie sollten nicht erzählt werden. Vielleicht ein anderes Mal.

Norbert Reichel: Ich darf zitieren: „Die Wahrheit ist nicht immer eine gute Geschichte, manchmal ist sie einfach nur langweilig. Lügen sind spannender, warum sonst haben wir Menschen das Geschichtenerzählen begonnen? Ja nicht deshalb, um unsere Begegnungen und Erlebnisse genau so darzustellen, wie sie waren. Bilder sind stärker als Worte, und daher vermischt sich in dieser Szene das, was wirklich geschah, mit dem, was geschehen hätte sollen.“ Sie nehmen die Geschichte, die Sie erzählen, selbst immer wieder zurück und überlassen es den Leser:innen, sich einen Reim darauf zu machen. Ich erinnere mich an so manche Lehrer:innen, die im Deutschunterricht meinten, dass ihre Schüler:innen fragten: „Was will uns der Dichter sagen?“. Als wenn man das überhaupt herausbekommen könnten und als wenn es eine eindeutige und nur diese eine Botschaft gäbe.

Lena Schraml: Das hat mich auch schon immer gestört. Als wenn es nur eine Lesart gäbe. Wehe, man liest da etwas anderes hinein. Meine Schulzeit ist etwa 15 Jahre her, aber so war es. Nur bei einer Deutschlehrerin gab es etwas Freiraum. Mich hat die Schule nicht zum Lesen motiviert. Ich habe einfach etwas anderes gelesen. Diese Schullektüren habe ich manchmal gar nicht gelesen. Es ist eigentlich schade, wenn man keinen Zugang dazu findet. Auch bei der Interpretation von Gedichten.

Norbert Reichel: Sie haben in Ihrem Roman an mehreren Stellen Gedichte eingestreut.

Lena Schraml: Die habe ich unabhängig vom Roman geschrieben, aber dann passten sie so gut dahin, dass ich sie integrieren wollte.

Norbert Reichel: Das passt auch zu dem offenen Schluss. Die vorletzte Überschrift lautet: „Das Ende?“ Eineinhalb Seiten: „Wenn ich das Ende erzählte, hießen Sie mich eine Hochstaplerin, Lügnerin, ja sogar Märchenerzählerin, daher überlasse ich es Ihrer Fantasie, wie meine Geschichte ausgeht.“ Und am Schluss dieser Seite: „Ist nicht alles dann reine Fantasie, eine Geschichte wie jede andere, warum sie also erzählen? Und dann der „Epilog“. Eine halbe Seite, die die Leser:innen alleine zurücklässt. Es bleibt der See, aber was ist eigentlich geschehen. Der See ist auch nicht darauf angewiesen, dass jemand herkommt, ihn entdeckt, erklärt. Kurze Zeit hat sich etwas geöffnet, so wie bei Kafka die Tür in „Vor dem Gesetz“ geschlossen wird. „Dort legte auch dieses Flüstern sich zu Bette, es verkroch sich in seine Höhle, wo es ruhte, bis der nächste Sturm aufkam, bis der nächste ungebetene Gast die heilige Stille dieses Ortes zerbrach.“

Lena Schraml: Je mehr man sich dem Ende nähert, um so mehr übernimmt die Poesie. „Ich bin jetzt eine von denen, die nichts mehr sagen, die sich nur noch in Bildern ausdrücken.“ Wie auch immer diese Bilder aussehen.

Spiel mit den Erzählstimmen

Norbert Reichel: Sie haben keinen allwissenden Erzähler installiert. Sie kommentieren dies an einer Stelle sogar selbst: „Die allwissende Erzählerin zu spielen, empfinde ich als anmaßend. / Es ist verlockend, freilich, aber damit versetzte ich mich in eine Rolle, die ich nicht anzunehmen vermag. Die für viele Schreibende wohl ein Grund ist, dieser Tätigkeit nachzugehen. / Warum wollen alle ein Buch schreiben? Wenigstens einmal Gott spielen, wenigstens einmal alles wissen. Mich ausdrücken und alle hören zu, Papier ist geduldig.“ Die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten zu erzählen sind vielleicht eine der zentralen Debatten um die Figur des Erzählers beziehungsweise der Erzählerin in erzählender Literatur des 20. Jahrhunderts. Sie lassen in „Die Unterirdischen Seen“ verschiedene Personen erzählen, auch die Stadt selbst erzählt.

Lena Schraml: Es ist ein Spiel mit den Erzählstimmen. Sie kennen meine Doktorarbeit. Daher kennen Sie meinen Stil. Ich will nicht behaupten, alles zu wissen. Ich schreibe die Geschichte, aber wie soll ich alles wissen? Es ist immer spannend, mit Leser:innen zu diskutieren: Was könnte das sein? Was könnte das bedeuten? In den Leser:innen entsteht das Buch noch einmal neu.

Ich finde das Spiel mit den Perspektiven wichtig. Ich finde es spannend zu überlegen, was eine Stadt erzählen könnte, was sie zu sagen hätte. Wie sieht die Stadt das alles? Das ist eine Perspektive von oben. Es geht mir in Literatur ohnehin um den Perspektivwechsel, den die Literatur mit uns übt. Die Stadt ist Subjekt, nicht Objekt: „Die Geschichten, die sie in sich barg, begründeten ihre Seele.“

Norbert Reichel: Die Stadt weiß genau, dass sie älter ist als die Menschen, die in ihr wohnen. Sie langweilt sich – zu Beginn eines ihrer Auftritte sagt sie: „Ich gähne.“ Etwas später: „Vieles an diesen Zweibeinern ekelt mich an.“ Im dritten Kapitel notieren Sie, dass sich die Stadt verändert hat, dass sie „dunkler, unheimlicher“ geworden sei. Es wird ohnehin immer „unheimlicher“, vom Anfang bis zum Ende, je mehr man zu den unterirdischen Seen vordringt.

Lena Schraml: Vielleicht weil die Erzählstimme von L. immer bewusster wird. Es ist etwas schwierig für mich, das jetzt im Detail zu erklären, weil ich meinen Text eigentlich zurzeit nicht lesen kann. Aber ich habe mich natürlich jetzt vor unserem Gespräch wieder damit beschäftigt. Aber manchmal darf ich das Buch auch nicht lesen, wenn ich nicht in der Stimmung bin, das zu tun. Ich brauche diesen Abstand zu meinen Texten, manchmal über Jahre. Wie auf meiner Homepage steht: „Die Worte flossen mir aus meinen Fingern. Ich verstehe sie erst jetzt.“

Norbert Reichel: Das hat etwas Surreales. Schon fast eine Art automatisches Schreiben.

Lena Schraml: Das ist so. Ich lasse erst einmal fließen und schaue mir dann an, was herausgekommen ist. Ich habe etwa ein halbes Jahr geschrieben und dann ein halbes Jahr überarbeitet. Ich hatte davor für die Geschichte schon ein paar Anhaltspunkte, aber ich wusste nicht, wie es ausgeht, auch nicht, dass das Ende eigentlich gar nicht erzählt werden sollte.

Zurzeit lese ich viel Hermann Hesse, zuerst „Demian“, dann „Narziss und Goldmund“, jetzt „Siddartha“. Dort gibt es auch die Idee der letzten Geheimnisse, die nicht in Form gegossen werden wollen. Ich habe mich wirklich bemüht, einen Zugang zu einem Ende zu finden, aber das sollte nicht sein.

Mysteriöse Figuren

Norbert Reichel: Wie kam es zur Auswahl der Personen? Bei „L.“ denkt man natürlich an „Lena“, muss man aber nicht. Es gibt „F.“, wieder abgekürzt, wir haben „Ewa“, die „Grüne Frau“, vielleicht eine Art Fee, der „junge Tribun“, bei dem man zu Beginn nicht so recht weiß, welche Rolle er spielt, bis man merkt, dass die Tribunen eine Art oligarchischer Club sind, obwohl man mit „Tribun“ eigentlich jemanden verbindet, der sich für das Volk einsetzt. Es gibt den „alten Priester“, den „Wächter“.

Lena Schraml: Dann gibt es noch die Tiere, den Bären und die schwarze Katze, nach der auch das Café benannt ist.

Wie bin ich auf die Figuren gekommen? Ich habe mich in „L.“ hineinversetzt und bin ihr gefolgt. Dann ist es passiert. Auch die Grüne Frau in dieser mysteriösen Bibliothek. Die ist einfach so entstanden. Nach unserem Gespräch habe ich in meinem Blog unter der Überschrift „Magie und Perspektivwechsel“ notiert: „Ich kann nicht planen, wo meine Figuren am Ende landen, ich kann nicht planen, wem sie begegnen, was sie erleben. Ich kann mir vielleicht einen groben Plan machen mit den Stationen, an denen meine Figuren unbedingt vorbeischauen müssen. Aber was dazwischen und außerhalb davon geschieht, entzieht sich meiner Kontrolle. Das ist doch das Spannende am Schreiben: Ich folge meinen Figuren und weiß selbst nicht, was als nächstes passiert, denn wenn ich schon alles wüsste, wie langweilig wäre das, dann müsste ich es ja nicht mehr aufschreiben.“

Ich schreibe eher aus dem Herzen als aus dem Kopf. Das ist zumindest mein Anspruch.

Norbert Reichel: Ich habe den Eindruck, dass die Figuren mit dem Fortgang der Erzählung immer mysteriöser, immer surrealer werden, bis hin zu dem sprechenden Bären. Die Grüne Frau und der sprechende Bär sind im Grunde Märchenfiguren.

Lena Schraml: Eine Freundin sagte mir letztens, dass man nicht mehr erkennen kann, was Realität ist, was Traum. Es vermischt sich, auch wegen des Nebels. Es wird immer surrealer. Das Spiel von Traum und Wirklichkeit war auch die Absicht.

Norbert Reichel: Es ist eine Suche, aber eigentlich findet man nichts. Die unterirdischen Seen sind im Grunde auch eine Art Mythos.

Lena Schraml: Eigentlich weiß man nicht, was am Ende da ist. Es gibt schon diesen See, aber L. ist am Schluss nicht an dem See. Sie kommt wieder nach oben und findet eine andere Stadt vor. Oder vielleicht träumt sie auch von einer anderen Stadt. Das ist nicht klar. Oder sie erkennt, was möglich wäre, was ihr eigener Wunsch ist. An einer Stelle heißt es auch, dass die unterirdischen Seen einen Schatz in sich bergen, etwas, das man sich aus tiefstem Herzen wünscht. Vielleicht wünscht sich L. eine solche Stadt. Das drittletzte Kapitel mit der Überschrift „Ende“ – danach folgen „Das Ende?“ und „Epilog“ – beginnt wie folgt: „Ich erzähle schon wieder Märchen. / Die andere Stadt gibt es nicht. Noch nicht. Meine Erinnerungen verschwimmen mit meinen Träumen, Wünschen. Heute ist etwas anders, aber noch lange nicht zu Ende.“

Die Wahrheit suchen und nie finden

Norbert Reichel: Der Zettel, den „L.“ in der Bibliothek findet, ist ein Hinweis auf etwas, das gefunden werden könnte, aber vielleicht ist es nur der Wunsch.

Lena Schraml: Das war auch ein Thema in meiner Doktorarbeit. Ich habe mich auf eine These von Paul Ricoeur bezogen, dass die Lesenden im Grunde alles in den Text hineininterpretieren können. Das muss nichts damit zu tun haben, was ich als Autorin hineingeschrieben habe.

Norbert Reichel: In Ihrer Doktorarbeit war dies sehr deutlich. Sie haben sich auf polnische und auf persische Erzählungen bezogen, die in völlig unterschiedlichen Kontexten spielen, auf völlig unterschiedliche Kontexte zurückgehen, aber gleichermaßen auf Leser:innen treffen, die auch ihr eigenes Bild von Vergangenheit, Gegenwart, Aufarbeitung und Erinnerung haben, nicht nur in den polnisch beziehungsweise persisch lesenden Communities.

Und da ist in „Die Unterirdischen Seen“ das Kapitel mit dem Titel „Ende“, nach dem dann das kürzere mit dem Titel „Das Ende?“ folgt, dann der „Epilog“, eine Art Fading Out. „Vielleicht ist die Welt schon so, wie ich sie mir nach der Entdeckung der Unterirdischen Seen erträumte. Aber wären wir dann noch hier? / Der Bär sitzt drüben in seiner Ecke unter der großen Weide, zieht an seiner Pfeife und blickt den ganzen Tag auf den See. Als ich neu in den Wald kam, sah er mich nur kurz traurig an und verkroch sich wieder in sich zurück.“

Lena Schraml: Da habe ich an „Schöne neue Welt“ gedacht. Da gibt es auch ein „Fühlkino“, so wie es bei mir diese „Fühlhäuser“ gibt. Als ich das schrieb, dachte ich nicht daran, aber letztens fiel es mir auf. In „Schöne neue Welt“ gibt es auch diese „Wilden“, die außerhalb irgendwo im Wald wohnen.

Norbert Reichel: Ein Motiv dystopischer Romane, wo immer wieder von Leuten erzählt wird, die irgendwo eingesperrt sind, aber wissen, dass es außerhalb so etwas wie ein wahres Leben geben könnte. Haben Sie einen dystopischen Roman geschrieben?

Lena Schraml: Ich denke schon, zum Teil. Das, was ich geschrieben habe, hat schon viel mit unserer Realität zu tun. Die Tribunen zum Beispiel. Und die Erzählung des Bären über die oligarchischen Strukturen der Stadt und die Dauerüberwachung.

Norbert Reichel: Die Suche nach Sündenböcken, weil angeblich wohl der Fluss der Stadt im Untergrund verschwunden ist: „Die Besatzer im Westen der Stadt hätten das Wasser abgepumpt, aus purem Sadismus, um die ihnen verhassten Bewohner zu quälen, behaupteten die nächsten. Die Besatzungsmacht östlich der Stadt habe der anderen Besatzungsmacht das Wasser entzogen, um ihren Feind zu schwächen, widersprachen die anderen. / Ja, ein jeder fand für sich einen Schuldigen, der ihm gut in die eigene Erzählung passte.“ Es gibt aber auch die Erzählung, der Fluss habe sich von selbst zurückgezogen. Auf jeden Fall wollen die Tribunen Bildung verhindern: „Um jeden Preis mussten sie verhindern, dass sich die Einwohner über das Maß bildeten, dass sie unabhängig dachten.“ Bücher werden verbrannt.

Sie lassen „L.“ auch erfahren, „dass eine geheime Widerstandsbewegung gibt, aber nicht, gegen wen.“ Irgendwie hat wohl „der alte Priester“ etwas damit zu tun, der schon im Ton der Erzählung wie eine Märchenfigur eingeführt wird: „Es war einmal ein Priester, der war unter den Menschen beliebt, denn er half ihnen, so viel und so oft er konnte, er hatte stets ein offenes Ohr und verurteilte niemanden.“ Der Priester verschwindet plötzlich und wird Gegenstand von Spekulationen. Auch er sprach „in Bildern“, die mich an biblische Gleichnisse oder auch an Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ erinnerten.

Aber welche Erzählungen dominieren? Geschichten „sind so unglaublich mächtig. (…) Wer hat die bessere Geschichte? Mehr braucht es nicht, um Krieg zu führen.“ Da fallen mir schon einige reale Entwicklungen unserer Zeit ein.

Lena Schraml: Das Dystopische ist mir erst nach dem Schreiben aufgefallen. Irgendetwas muss hängengeblieben sein. In einem Gespräch zwischen „L.“ und „Ewa“ liest sich das dann so: „‚Hast du denn keine Angst? Was, wenn sie dich gerade hören? Oder uns sprechen sehen?‘ / ‚Nein, das würden sie in diesem Klub nicht wagen. Hier sind zu viele von ihnen, die wollen sich nicht selbst abhören. Du weißt schon, von wem ich spreche, oder? Ich sage die ganze Zeit ‚die‘ und ‚sie‘ und am Ende entsteht dadurch eine Fantasiegeschichte in deinem Kopf, wie sie sich so viele Einwohner erzählen, um sich die Angst im Dunklen zu vertreiben.“ Im vierten Kapitel, nur eine Seite nach dem eben Zitierten, dann aber der Satz: „Es gibt Geschichten, die müssen im Dunklen bleiben.“

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juni 2025, Internetzugriffe zuletzt am 2. Juni 2025, Titelbild: NoRei.)