Moderner Islam – die Vielfalt der Bilder

Ein Gespräch mit dem Islamwissenschaftler Michael Kiefer

„Aus der Kartierung des Islamismus verstärkt sich auch der mehrheitlich vorhandene homogenisierende Blick auf islamische Gemeinden, der die innermuslimische Pluralität völlig außer Acht lässt sowie dieser unausgesprochene Zwang zur Eindeutigkeit, unbedingt abschließende Bewertungen über Gemeinde A oder B abgeben zu wollen. Dabei wird die empirisch-wissenschaftliche Erkenntnis, dass eine scharfe Trennung zwischen Islam und Islamismus schwierig ist, kaum bis gar nicht verarbeitet. Strömungen und Spaltungen innerhalb des Islams beziehen sich auf komplexe Art aufeinander und verstärken oder schwächen einander – es ist eine fluide Landschaft. Für das staatliche Handeln stellte die Fluidität eine Herausforderung dar, die aber nicht durch das Erfinden einer Grenze einfach erledigt ist.“ (Sab-Nur Cheema, „Das hat nichts mit dem Islam zu tun!“ Muslime im Extremismustheater, in: Eva Berendsen, Katharina Rhein und Tom David Uhlig, Hg., Extrem unbrauchbar – Über Gleichsetzungen von links und rechts, Berlin, Verbrecher Verlag, 2019)

Wenn heute in Deutschland und in anderen sogenannten „westlichen“ Demokratien über den Islam gesprochen wird, geht es in der Regel um islamisch konnotierten Extremismus. Dieser wird mit Begriffen wie Islamismus, Salafismus, Djihadismus bezeichnet. Muslim*innen werden grundsätzlich als Vertreter*innen dieser extremistischen Version ihrer Religion angesprochen. Sie werden aufgefordert, sich grundsätzlich zu distanzieren, wenn sie nicht als Sympathisant*innen – ich wähle diesen Begriff ganz bewusst – einer mutmaßlich extremistischen Weltanschauung markiert werden wollen.

Eine extremistische Interpretation des Islam wird oft mit einer allgemeinen Migrationsdebatte verbunden. Mitunter unterstützt durch eine „Islamkritik“, an der sich auch einige muslimische Intellektuelle beteiligen, entsteht ein durchweg negatives Bild des Islam und der Muslim*innen. Diese „Islamkritik“ hat den Charakter eines Double Bind. Ein Beispiel aus dem Alltag mag die ausgrenzende Wirkung belegen: einerseits werden Muslim*innen aufgefordert, sich in bestimmte Wohnviertel, nicht in sogenannte „Parallelgesellschaften“ zurückzuziehen, andererseits finden Menschen mit türkischem oder arabischem Namen in den traditionellen deutsch-deutschen Vierteln nur unter großen Schwierigkeiten eine Wohnung.

Michael Kiefer

Der Islamwissenschaftler Michael Kiefer hat viele Projekte zur Prävention und Intervention gegen Extremismus entscheidend geprägt. Inzwischen hat er eine Professur an der Universität Osnabrück mit der Bezeichnung „Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft mit dem Schwerpunkt muslimische Wohlfahrtspflege“. In unseren Gesprächen haben wir, ausgehend von fundamentalistischen Konzepten des Islam, Elemente einer übergreifenden Strategie gegen jede Art Extremismus diskutiert. Der Kern: Klarheit in den Aussagen, Kontakt halten. Exklusion ist der falsche Weg. Unser hier dokumentiertes Gespräch fand am 10. September 2021 statt.

Der lange Schatten des 19. Jahrhunderts

Norbert Reichel: Wie entstand Ihr Interesse am Islam?

Michael Kiefer: Im Alter von 60 Jahren schaut man schon auf ein paar Jahre zurück. Die ersten Berührungspunkte mit dem Islam hatte ich vor über 40 Jahren, als ich mit Freundinnen und Freunden die Türkei besuchte. Das war kurze Zeit nach dem Septemberputsch des Militärs im Jahr 1980. Das Land war voller Soldaten. Dennoch haben wir uns das Topkapı-Museum angeschaut und viele andere Dinge mehr. Das war mein erster Kontakt mit muslimischer Kultur.

Ich habe den Zweiten Bildungsweg absolviert, das Abitur erworben und 1992 angefangen, Islamwissenschaften zu studieren. Das habe ich nicht getan, weil mich das Religiöse so sehr interessierte, mir ging es um das Verhältnis von Geschichte und Religion. Ich habe mich sehr intensiv mit osmanischer Geschichte befasst, im Schwerpunkt die Tanzimât-Reformen im 19. Jahrhundert von den Reformedikten bis zur osmanischen Verfassung 1876. Die türkische Verfassungsdiskussion der damaligen Zeit war der deutschen weit voraus. Man kann sich heute kaum noch vorstellen, dass die osmanische Verfassung damals Religionsfreiheit garantierte und viele andere Freiheitsrechte mehr. In der Umsetzung hat das natürlich nicht so geklappt wie in der Verfassung verbrieft. Sultan Abdülhamid (1842-1918, Sultan von 1876-1909) riss die Macht an sich und regierte als Autokrat. Dennoch war diese Zeit eine interessante Reformperiode.

In genau diese Zeit fiel die erste Islamdebatte in Europa, die von Ernest Renan (1823-1892) ausgelöst wurde. Ernest Renan möchte ich eher als Feuilletonisten bezeichnen, ein Wissenschaftler im heutigen Sinne war er eigentlich nicht, auch wenn er oft so rezipiert wurde. Sehr bekannt ist seine Vorlesung über den Islam aus dem Jahr 1883 an der Sorbonne. In diesem Vortrag waren schon alle Stereotype der heutigen Islamdebatten zu finden. Muslime würden so erzogen, dass sie mit 14 Jahren ihren Verstand abgeben, nur noch Regeln reproduzieren, sie wären nicht in der Lage, Dinge intellektuell zu durchdringen etc.

Norbert Reichel: Ernest Renan verband seine abwertende Haltung gegenüber Muslimen mit einer ebenso abwertenden Haltung gegenüber Juden. Das Judentum war für ihn nur eine Vorläuferreligion für das Christentum. Das ist nicht unser heutiges Thema, aber meines Erachtens wichtig zur Einordnung seines Werks in den 1870er und 1880er Jahren in Frankreich. Er starb kurz vor der Dreyfus-Affäre, hat mit seinen Schriften aber den Antisemitismus in Frankreich befeuert.

Michael Kiefer: Sein Gegenspieler auf der islamischen Seite war Muhammad ibn Safdar al-Husaini (1838-1897), der als Sayyed Dschamal ad-Din Asadabadi oder Dschamal ad-Din al-Afghani bekannt wurde. Er ist der frühe Begründer der Reform-Salafiya. Diese ist nicht vergleichbar mit dem heutigen Salafismus. Al-Afghani ging es um den Geist, den Spirit des frühen Islam, nicht darum, bestimmte Verhaltensweisen nachzuahmen. Er antwortete auf Renan. Diese Auseinandersetzung, die in den 1880er Jahren begann, wurde sehr früh ins Deutsche und in viele andere Sprachen übersetzt. Es ist vielen nicht klar, dass die heutigen Debatten um den Islam schon etwa 140 Jahre alt sind.

Norbert Reichel: Eine sehr lesenswerte Darstellung des Werks und der Biographie von Al-Afghani bietet meines Erachtens Pankaj Mishra in seinem Buch „Aus den Ruinen des Empires – Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens“ (Frankfurt am Main, S. Fischer, 2013, englisches Original: „From the Ruins of Empire – The Revolt Against the West an the Remaking of Asia“, 2011). Der Buchtitel Pankaj Mishras ist Programm! Ich wage mal die These, dass es wohl kaum jemanden gibt, der Freud, Marx und Nietzsche gleichermaßen gelesen und durchdrungen hat, und dennoch ist unsere heutige Zeit nicht denkbar ohne die Art des Philosophierens und die Erkenntnisse dieser drei Männer. Ließe sich dies aus Ihrer Sicht auch über die Debatte zwischen Al-Afghani und Renan sagen?

Michael Kiefer: Das ist auf jeden Fall so. Die Zeiten lassen sich durchaus vergleichen. Bismarck nannte die Türkei damals den „kranken Mann am Bosporus“, und so ähnlich wird auch heute über die Türkei diskutiert. Es gab schon damals dieses Dekadenz-Szenario des Islam, das Fehlen von Modernität, das Verharren in Strukturen, das Nicht-nach-vorne-gehen können. Dieses Szenario bildete den Rahmen für die damaligen Debatten.

Orientalismus und Kolonialismus

Norbert Reichel: Die Populärdebatte in Deutschland prägte damals die Lektüre von Karl May.

Michael Kiefer: Das ist noch eine andere Geschichte. Bei Karl May wird der Islam teilweise auch idealisiert.

Norbert Reichel: Ich weiß nicht. Die Türken kommen bei Karl May immer schlecht weg, die Araber hingegen fast immer gut. Besonders gut werden Kurden und Jesiden beschrieben, u.a. mit der geradezu mystischen Gestalt der Marah Durimeh.

Michael Kiefer: Das hängt sicher auch mit der Rezeption der damaligen Zeit zusammen. Das arabische Nationalbewusstsein erwachte und die Osmanen wurden von einem Teil der arabischen Intellektuellen als Kolonialisten wahrgenommen. Die Osmanen waren in der heutigen arabischen Welt die entscheidende Kolonialmacht, unbeschadet des britischen und französischen Einflusses. Ein islamischer Staat, in dem alle privaten und gesellschaftlichen Angelegenheiten durch ein islamisches Reglement bestimmt war, war das osmanische Reich nicht unbedingt. Es gab keinen einzigen Sultan, der die Hadj nach Mekka gemacht hatte. Die heute so oft zitierten fünf Säulen des Islam wurden von den Sultanen nur rudimentär erfüllt. Das ist eigentlich ganz erstaunlich.

Norbert Reichel: Beim heutigen Sprechen über den Islam spielt auch das berühmte 1978 erschienene Buch „Orientalism“ (die deutsche Übersetzung „Orientalismus“ erschien 1981) von Edward Saïd (1935-2003) eine wichtige Rolle. Das Buch enthält ein ausführliches Kapitel über Ernest Renan.

Michael Kiefer: Renan ist sozusagen der Prototyp des Kolonialwissenschaftlers, der mit Zuschreibungen ein sehr überzeichnetes Islambild zeichnet. Edward Saïd hat in vielen Dingen recht, aber in vielen nicht. Die Orientwissenschaften waren sehr unterschiedlich ausgeprägt. Wenn wir uns die Genese der Orientwissenschaften im deutschen Sprachraum anschauen, finden wir beispielsweise bei Ignaz Goldziher (1850-1921) ein sehr positives Bild des Orients und des Islam. Man könnte sagen, dass der Mythos von Al-Andalus, auch die Kultur der „drei Ringe“, die damals modern wurde, ein deutsches Konstrukt ist. Die spanischen Orientwissenschaften widersprechen und sagen, dieses blühende Bild der toleranten andalusischen Kultur habe es so nicht gegeben. Wo die Wahrheit liegt, weiß ich nicht. Die Geschichte von Al-Andalus ist sehr divers. Wir hatten auch die brutalen Berberdynastien, die Almoraviden und Almohaden, die anders waren als die Omaijaden. Insofern ist es schwer, ein zutreffendes Bild zu zeichnen.

Norbert Reichel: Es gab muslimische Pogrome gegen Juden wie es christliche Pogrome gab. Jetzt haben wir drei Länder erwähnt: Deutschland, Frankreich, Spanien. Alle drei haben sehr unterschiedliche Traditionen beim Blick auf den Islam, auch wenn das mit dem Islam als Religion gar nicht unbedingt zu tun haben muss. Lässt sich das so zusammenfassen.

Michael Kiefer: Frankreich spielt eine extrem wichtige Rolle, gerade beim sogenannten Orientalismus, denn ausgelöst wurde dieser auch durch die napoleonischen Expeditionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Da wurden Kunstschätze wie der berühmte Obelisk auf der heutigen Place de la Concorde nach Frankreich verschleppt. Die Briten folgten und taten das Ihre dazu. Archäologen und andere Wissenschaftler überfluteten das Land. Ägypten wurde geradezu ausgeräumt. Ein kurzer Besuch im British Museum zeigt, was an Unmengen von Material dort liegt. Auch in Deutschland. Die Ausgrabungen in der Ägäis, Troja, Pergamonaltar – da wird es noch den ein oder anderen Streit um den rechtmäßigen Besitz geben. Dieser Streit hat ja gerade erst angefangen. Die Rückgabe der Benin-Bronzen ist nur ein erster Schritt.

Norbert Reichel: Das gibt noch heftigen Streit. Ich kann mir allerdings kaum vorstellen, dass jemals die Elgin Marbles nach Athen, die Büste der Nofretete nach Ägypten oder der Pergamon-Altar in die Türkei überführt werden. Das erleben wir beide nicht mehr.

Michael Kiefer: Ich befürchte das auch, es wäre im Grunde das Ende des Museums wie wir es kennen.

Norbert Reichel: In den islamischen Ländern finden wir heute eine Art Opfer-Mythos, das Andalusien-Syndrom, die Rolle des ewig Benachteiligten, des zu Unrecht Überwältigten, ob von Mongolen, ob von Christen, Kreuzrittern und wem auch immer missachtet, okkupiert, geknechtet, ausgeraubt.

Michael Kiefer: Der Opfer-Mythos ist eine Sicht des 20. Jahrhunderts. Wenn wir die Schriften der Gelehrten früherer Zeiten lesen, stellen wir fest, dass die Kreuzzüge von vielen als eine Episode betrachtet werden, die dank Sultan Saladin – übrigens ein Kurde – siegreich abgeschlossen werden konnte. 1187 war Jerusalem wieder muslimisch. Die Kreuzritter waren bis auf wenige Enklaven verdrängt. Der Blick auf Europa war eher der Blick des Bedauerns über die dort lebenden merkwürdigen Menschen.

Norbert Reichel: Nicht zu Unrecht. In den Naturwissenschaften, in der Philosophie war Europa Entwicklungsland. Ohne die muslimischen und jüdischen Philosophen wäre die griechische Philosophie in Europa unbekannt geblieben, erst durch den Einfluss der muslimischen und jüdischen Ärzte konnte Europa in der Renaissance in etwa wieder den Stand der Medizin vom Ende des Römischen Reiches wieder erahnen. Die Wiederherstellung des verborgenen Wissens der Antike dauerte seine Zeit.

Michael Kiefer: Das änderte sich mit der Erfahrung des Kolonialismus. Es stellte sich das Gefühl ein, man sei Opfer einer militärischen und kulturellen Aggression. Aber das war nicht immer so. Es war nicht so, dass man Westeuropäer immer als ernst zu nehmenden Feind betrachtete.

Norbert Reichel: Auch Juden nicht. Nach dem Sieg Mohammeds über die jüdischen Stämme war das im Islam kaum noch Thema. Den Antisemitismus in islamischen Ländern haben im 19. und 20. Jahrhundert Europäer und Christen maßgeblich in den Nahen und Mittleren Osten exportiert und befeuert. Zum Beispiel mit der Damaskusaffäre 1840.

Michael Kiefer: Das beschreibt Omar Kamil als die „Negativierung des Judenbildes“. In den muslimischen Gesellschaften hatte man damals die Juden bedauert oder verachtet. Die Dämonisierung des Judentums begann erst im Kontext des Palästina-Konflikts. Aber wir müssen natürlich auch sehen, dass es immer wieder externe Aktivierungen gab, die die Debatte anheizten. Wenn wir auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts schauen, dann spielte die iranische Revolution eine zentrale Rolle.

Schlüsseljahr 1979

Norbert Reichel: 1979, das Jahr der Gründung der Islamischen Republik Iran, ist auch das Jahr der Besetzung der Moschee in Mekka und in gewisser Weise auch so etwas wie die Geburtsstunde des modernen Djihadismus.

Michael Kiefer: Schauen wir uns einmal an, wie der Islam damals präsentiert wurde. Der Islam spielte bis dahin in den Medien kaum eine Rolle. Vielleicht gab es mal Bilder von der Hadj in Mekka. Mit der iranischen Revolution verdichtete sich die Berichterstattung. Man sah bärtige Männer auf den Straßen, die Pasdaran, die iranische Revolutionsgarde. Dann kam die Besetzung der amerikanischen Botschaft und der gescheiterte Rettungsversuch von Jimmy Carter. Wir sahen die fanatisierten Massen auf den Straßen. Das verschob das Islambild auch in Deutschland.

Und es beeinflusste das Bild von hiesigen Muslim*innen erheblich. Auch die ehemaligen Gastarbeiter in Deutschland wurden des Fanatismus bezichtigt. Vorher spielte die Religion keine Rolle als Gegenstand von Auseinandersetzungen, das waren eben Türken oder Marokkaner. Es verkauften sich äußert erfolgreich Produkte wie das Buch von Betty Mahmoody „Nicht ohne meine Tochter“, in der ein patriarchalischer Mann dargestellt wurde, der sich in Amerika zivilisiert gibt, aber nach der Rückkehr in den Iran wieder seine ursprüngliche Gestalt annimmt, als der alles kontrollierende, die Frauen unterdrückende Mann. Das wurde zur verbreiteten Narration, als wäre das Patriarchat den Muslimen als zweite Natur eingeschrieben, ein wirkmächtiges Bild bis auf den heutigen Tag.

Norbert Reichel: Man könnte es natürlich auch anders sehen: es gibt patriarchalische Gesellschaften, und manche sind zufällig auch islamisch, so wie andere christliche Gesellschaften waren und sind.

Michael Kiefer: Wir haben es im Jahr 2018 mit der Debatte um das Kopftuchverbot für Mädchen unter zwölf Jahren in Nordrhein-Westfalen gesehen. Der Vorschlag der nordrhein-westfälischen Integrationsstaatssekretärin wurde inzwischen zurückgezogen. Argumentiert wurde mit der Sexualisierung des Kindes.

Norbert Reichel: Es gibt auch immer wieder den Ruf einzelner Politiker*innen nach einem Verbot der Burka oder des Niqab, obwohl es kaum eine Frau geben dürfte, die in Deutschland eine Burka oder einen Niqab trägt, abgesehen von ein paar Medizintouristinnen. Ich habe aber auch den Eindruck, dass diese Debatten in Deutschland doch noch etwas entspannter geführt werden als in Österreich oder in Frankreich.

Michael Kiefer: Oder in der Schweiz. Ich denke auch, dass die Debatte in Deutschland eher moderat geführt wird. Frankreich ist mit seiner Laïcité natürlich noch etwas ganz Besonderes, geprägt von einem radikalen Jakobinismus gegenüber Religionen. Religionen werden seit der Französischen Revolution grundsätzlich sehr kritisch betrachtet, und der Islam ganz besonders.

Salafismus und Wahhabismus

Norbert Reichel: Wenn wir über das Bild des Islam sprechen, sollten wir vielleicht zwei Begriffe noch etwas genauer betrachten. Salafismus und Wahhabismus entstanden im 19. Jahrhundert. Sie sagten eben, dass der Salafismus des 19. Jahrhunderts und der Salafismus, über den wir heute sprechen, sich unterscheiden. Mit dem Wahhabismus verhält es sich etwas anders. Er wurde mehr oder weniger so etwas wie saudi-arabische Staatsreligion, aufgrund der finanziellen Mittel des saudi-arabischen Staates mit erheblichem Einfluss auf muslimische Gemeinschaften in anderen Ländern, auch in Europa.

Michael Kiefer: Der nach Muḥammad ibn ʿAbd al-Wahhāb (1703-1792) benannte Wahhabismus, den ich sehr nahe am Salafismus sehe, basiert auf einer literalistischen Auslegung des Koran. Der Koran wird wortwörtlich gelesen, Raum für eine Interpretation gibt es nicht. Das ist auch ein Kennzeichen des Salafismus. Hadithe, Koranstellen werden eklektizistisch und literalistisch gelesen. Einzelne Stellen werden herausgegriffen, daraus wird dann eine Aussage konstruiert, man tut dann so, als wenn aus diesen Zeilen der unmittelbare göttliche Wille erscheine.

Das hat mit der klassischen islamischen Gelehrsamkeit weder der Sunniten noch der Schiiten etwas zu tun. Den klassischen Islam-Gelehrten war durchaus bewusst, dass die Quellen unterschiedlich, aus verschiedenen Perspektiven gelesen und verstanden werden können. Ich möchte Ibn al-Jazari sinngemäß zitieren: „Der Koran ist wie ein Meer, dessen Boden wir niemals betreten und dessen Ufer wir niemals erblicken können.“ Er ist unausdeutbar. Es wird nicht so diskutiert, dass der eine etwas sagt, der andere dann sagt, dass dies falsch und wie es richtig wäre. Es ist so, dass gesagt wird, der eine sagt dieses, der zweite jenes, ein dritter wieder etwas anderes, und ich sage das und das. Alle stellen ihre Sicht zusätzlich neben die anderen Sichtweisen, sie negieren nicht die Sichtweisen der anderen.

Mit dem Wahhabismus hat es angefangen, dass sich in den islamischen Gesellschaften so etwas wie eine strikte Eindeutigkeit herausgebildet hat, mit einem bipolaren Bewertungssystem, mit dem an alle politischen, gesellschaftlichen und religiösen Fragen herangegangen wurde. Das wurde von vielen osmanischen Gelehrten der damaligen Zeit mit Schrecken wahrgenommen. ʿAbd al-Wahhāb ließ als erster seit langer Zeit eine Frau steinigen. Das islamische Recht hat sehr hohe Hürden, um eine solche Strafe auszusprechen. Es ging eigentlich im Islam darum, solche Strafen nicht zu vollstrecken.

Norbert Reichel: Wir sprachen zu Beginn über Al-Afghani als Begründer des Salafismus.

Michael Kiefer: Bei Gelehrten wie Al-Afghani war das anders als im Wahhabismus. Al-Afghani sah zunächst, dass man gegenüber Europa ins Hintertreffen geraten war, in allen gesellschaftlichen Bereichen, ökonomisch, kulturell und sozial. Westeuropa hatte auch durch die Industrialisierung Wegstrecken zurückgelegt, die für Istanbul und andere unerreichbar erschienen. Al-Afghani suchte nach einer Synthese, die Modernität mit Tradition versöhnen könnte. Al-Afghani war Mitberater bei der Debatte um die Tanzimât-Reformen, fiel später in Ungnade, aber das ist ein anderes Thema. Wenn man die Verfassung von 1876 liest, hat man schon den Eindruck, dass der Islam so etwas wie eine gemeinsame Klammer ist, aber Modernität eingebracht werden sollte. Das war der große Gedanke.

Hier nahm Al-Afghani Anleihen im frühen Islam. Er wollte sehen, wie Muslime die mekkanische Stammesgesellschaft verändert hatten, die sehr tribal organisiert war. Man war damals in einem Stamm verwurzelt und das war es dann. Der junge Islam war antitribalistisch, er hatte einen universalistischen Anspruch, jeder konnte dazugehören, sollte auch die gleichen Rechte erhalten. Es ging nicht um Herkunft. Für das 7. und 8. Jahrhundert waren das sehr moderne Gedanken. Das waren Denkfiguren, die Al-Afghani inspirierten, die beeinflussten, was er unter Salafiya verstand, er wollte den Anschluss an die reformerischen Ansätze des Propheten und der Gefährten des Propheten wiederherstellen.

Norbert Reichel: Wie kommt es, dass der Salafismus zu einer radikalen Version geworden ist, die nichts anderes als eine literalistische Lesart des Koran zulässt? Wie kommt es – wie Melissa Erkurt in ihrem Buch „Generation Haram“ (über die Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich) beschreibt –, dass 13-14jährige meinen, im Namen des Islam bestimmen zu können, wie sich ihre Schwestern zu verhalten hätten und dass es nur einen einzigen Weg gebe, sich als guter Muslim zu bewähren.

Michael Kiefer: Ein Drama, ein wirkliches Drama. Diese Form der Salafisierung ist am deutlichsten in Ägypten. Einstmals liberale Städte wie Alexandria sind zu islamistischen Hochburgen geworden und hatten so viel Macht, auch das Straßenbild zu verändern. Das griff nach dem Scheitern des Panarabismus und Gamal Abdel Nassers (1912-1970) schon in den 1960er Jahren um sich.

Norbert Reichel: Gamal Abdel Nasser hatte seine Gründe, 1966 Sayyid Qutib, den Hauptideologen der Muslimbrüder hinrichten zu lassen. Ihm schadete dann aber die vernichtende Niederlage gegen die israelische Armee im Jahr 1967. Welche Rolle spielten die Muslimbrüder?

Michael Kiefer: Die Muslimbrüder waren seit den 1930er Jahren aktiv. Sie waren in der Lage, eine Gegengesellschaft zu bilden. Da muss man sich nichts vormachen. Gamal Abdel Nasser konnte ihre Aktivitäten eine Zeitlang kontrollieren, aber das war dann Ende der 1960er Jahre vorbei. In Kairo gibt es kein Sozialamt im klassischen Sinne, aber es gab immer Anlaufstellen der Muslimbrüder, bei denen man Hilfe erhalten konnte. Das ist ein Grund für die Massenbasis der Muslimbrüder.

Radikalisierung – „Heilige Einfalt“ und „Rache Gottes“

Norbert Reichel: Für Radikalisierungsprozesse werden oft soziale Ungerechtigkeiten verantwortlich gemacht.

Michael Kiefer: So einfach möchte ich es mir jetzt nicht machen, dass der Islamismus aufgrund sozialer Ungerechtigkeiten gewachsen wäre. Wir müssen uns einmal anschauen, wie das bei anderen Religionen war. Olivier Roy hat vor einigen Jahren das wunderbare Buch „Heilige Einfalt“ geschrieben (München, Siedler, 2010, das französische Original „La sainte ignorance – Le temps de la religion sans culture“ erschien 2008). Er führt den Nachweis, dass fundamentalistisch einwertiges Denken in der Welt auf dem Vormarsch ist. Brasilien, ein traditionell katholisches Land, ist heute weitgehend evangelikal radikal.

Norbert Reichel: Ähnliche Entwicklungen gibt es in Afrika.

Michael Kiefer: Auch im Buddhismus haben wir solche Entwicklungen. Die Frage, die wir uns deshalb stellen müssen: was ist los in der späten Moderne, dass wir solche Dinge beobachten? Natürlich spielen sozio-ökonomische Entwicklungen eine Rolle, aber mit Sicherheit nicht ausschließlich. Ich betrachte das mit einer gewissen Sorge, habe aber auch keine Erklärung.

Norbert Reichel: Ähnliches beschrieb Gilles Kepel in seinem Buch „Die Rache Gottes“ (München, Piper, 1994, das französische Original „La revanche de Dieu“ erschien 1991). Gilles Kepel beschrieb fundamentalistische Entwicklungen im Christentum, im Islam, im Judentum, im Christentum u.a. die evangelikalen Kirchen in den USA oder Gruppierungen wie Opus Dei und Communione e Liberazione im Katholizismus. Zuletzt gab es eine interessante Kontroverse zwischen Olivier Roy und Gilles Kepel. Andererseits unterscheiden sich die grundlegenden Thesen ihrer Arbeiten wenig.

Michael Kiefer: Olivier Roy sagt, wir erleben eine Islamisierung der Radikalität, Gilles Kepel spricht von einer Radikalisierung des Islam. Roy führt an, dass die französischen Terroristen, die für die Angriffe auf Charlie Hebdo, Bataclan und den jüdischen Supermarkt verantwortlich waren, alle schon vor ihrer Tat delinquent waren, Kriminelle, die sich durch Körperverletzung, Raub, Drogendelikte, schwere Straftaten hervorgetan, letztlich eine areligiöse Lebensführung hatten. Sie haben den Islam für sich entdeckt, und Olivier Roy spricht daher von der Islamisierung der Radikalität.

Norbert Reichel: Vielleicht stimmt ja beides. Die Attentäter des 11. September 2001 stammten alle aus guten, religiösen Familien. Hier passt die These der Radikalisierung des Islam.

Michael Kiefer: Ich habe mich selbst vor zwei Jahren um eine Typologie bemüht, um herauszufinden, welche Menschen sich in djihadistischen Netzwerken finden. Wir haben tatsächlich einen großen Teil von Menschen, die aus religionsfernen Verhältnissen kommen. Dies trifft auch für einen großen Teil der Kombattanten des Islamischen Staates zu. Dazu gehörten nicht nur ehemalige Mitglieder der Armee Saddam Husseins, auch die meisten Kombattanten, die in Europa rekrutiert wurden. Der Islamische Staat hat bei der Rekrutierung in Europa immer nach den religiösen Kenntnissen gefragt. Die Antwort war häufig: „gering“.

Auf der anderen Seite haben wir die Elite-Terroristen auf der Seite von Al-Qaida. Es gibt allerdings als dritte Gruppe die tschetschenischen Kommandeure. Die Väter waren radikal, die Kinder sind radikal, die haben in allen Bürgerkriegen, die etwas mit dem Islam zu tun haben, gekämpft, in Bosnien, in Afghanistan, im Irak, in Syrien. Das ist eine andere Gruppe als die 16-17jährigen, die einen Anschlag wie den auf den Sikh-Tempel in Essen verübten. Das sind hoch geschulte Kämpfer, hoch ideologisierte und intelligente Kader-Persönlichkeiten.

Auf der anderen Seite gibt es viele, die zum Islam ein instrumentelles Verhältnis haben, die durch den Islam in Verbindung mit dem Kombattanten-Status Selbstaufwertung erfahren, mächtig werden. Das Religiöse ist dabei weit weniger bedeutsam. Aber man muss das differenzieren. Man kann mit 9/11 und Al-Qaida nicht den globalen islamischen Terrorismus erklären, man kann nicht sagen, das sei der Durchschnittstyp des Djihadisten.

Attraktiver Djihadismus

Norbert Reichel: Was macht den Djihadismus für junge Männer – und auch für junge Frauen, was oft unterschätzt wird – in Deutschland und in anderen westlichen Staaten denn so attraktiv?

Michael Kiefer: Das ist schon eine ganze Reihe von Attraktivitätsmomenten. Zunächst kann man einfach mal konstatieren, dass junge Menschen nichts ohne einen Grund tun. Junge Menschen werden nicht radikal, wenn sie nichts davon haben. Wir müssen sehen, dass der Anschluss an eine bestimmte radikale Gruppe für diese Menschen ein persönlicher Gewinn ist.

Gut beschrieben hat das Dominik Musa Schmitz in seinem Buch „Ich war ein Salafist – Meine Zeit in der islamistischen Parallelwelt“ (2016 im Eco Verlag erschienen). Er beschreibt seinen Einstieg in die Mönchengladbacher Szene. In der Mönchengladbacher Salafistenszene lernte er Leute kennen, die ihm halfen, Struktur in sein Leben zu bringen und seine Existenz sinnhaft aufzuladen, mit Transzendenz zu erfüllen. Und was hinzukommt: als Rechtgläubiger ist man exklusiv. Die anderen kommen in die Hölle, die sind Kāfir. Bei ihm stoppte die Radikalisierung irgendwann, den Weg in die Gewalt machte er nicht mit. Anderen hat jedoch die Selbstaufwertung nicht gereicht, die brauchten auch noch die Selbstermächtigung als weiteren Schritt. Darüber wissen wir inzwischen recht viel. Viele Biografien von Ausgereisten sind bekannt. Es gab inzwischen einige Gerichtsprozesse in Deutschland, die auch Motivlagen offenlegten und die Schritte der Radikalisierung nachvollziehbar machten.

Die Attraktivitätsmomente ähneln sich bei allen, ein Moment ist sicherlich die Entlastung in der Weltdeutung, dass man*frau ein klares Bild der Welt hat, alles erklären kann, sich nicht anstrengen muss, zwischen unendlich vielen Grautönen zu wählen, was richtig oder was falsch ist. Morgens ist es falsch, abends ist es richtig? Diese Belastung verschwindet. Niemand muss nachdenken, was das richtige Leben ist. Es muss nur so gemacht werden wie angeblich im Koran vorgeschrieben. Attraktiv ist schließlich das Erlebnis der Gemeinschaft, der Netzwerke, die auch fürsorglich organisiert sind. Es gibt Brüder und Schwestern, die Zuspruch geben, auf die man*frau sich verlassen kann. Das ist im Grunde wie in jeder Sekte. Und dazu kommt das Gefühl der Macht.

Norbert Reichel: Manche leiten Radikalisierung aus der Erfahrung einer Diskriminierung ab und behaupten, dass die Radikalisierung nicht erfolge, wenn die Diskriminierung im Alltag verschwände. Würde sich beispielsweise die vierte Generation der Gastarbeiterfamilien nicht so ausgeschlossen fühlen wie die erste, würde all diese Radikalisierung nicht passieren.

Michael Kiefer: Davon stimmt ein Teil, aber das alleine erklärt es nicht. Wir hätten wahrscheinlich auch Terrorismus, wenn es keine Diskriminierung gäbe. Wir sprechen immer von einem multifaktoriellen Prozess. Eine sehr große Rolle spielen kritische Lebensereignisse, das, was wir Schicksalsschläge nennen. Das ist nicht unbedingt das Erlebnis einer Diskriminierung, das ist der Tod des Vaters, der Mutter, eines Familienmitgliedes, eines Bruders, eine schwere Erkrankung, das Aus-dem-Tritt-geraten, das Gefühl, dem Alltag, der Schule nicht gewachsen zu sein. Daraus erwachsen dann Erfahrungen der Deklassierung – das ist etwas anderes als Diskriminierung – man*frau schmiert sozusagen ab, man*frau schafft es nicht, Verpasstes wieder aufzuholen.

Ein Klassiker der Psychologie, der in diesen Kontexten oft vergessen wird, ist Erik H. Erikson (1902-1994) mit den Phasen der Identitätsbildung. Erikson sagt, es gibt eine sehr störanfällige Phase in der Adoleszenz, in der Jugendliche dazu neigen, eine sehr radikale und provokative Performance zu entwickeln. Erikson sagt, das verschwinde oft wieder, wäre ein temporäres Phänomen, aber wenn Kaderpersönlichkeiten geschickt in solche Phasen eingreifen, lässt sich diese Phase für Radikalisierungsprozesse nutzen. Es ist eben nicht so, dass ohne Diskriminierung solche Radikalisierung verhindert werde.

Andere sagen, es ist alles der Islam, aber das ist ebenso Unsinn. Auch ohne den Islam wäre Radikalisierung denkbar und würde auch erfolgen. Wenn es nicht der Islam ist, der die eindeutige Weltsicht bietet, ist es etwas anderes. Diskriminierung kann ein Faktor sein, muss aber keiner sein. Ich würde diesen Faktor nicht zu groß machen.

Norbert Reichel: Wären die Entwicklungsprozesse der Radikalisierung bei Djihadisten, Rechtsextremisten, Linksextremisten aus dieser Sicht vergleichbar?

Michael Kiefer: Ja, das sind sie. Das Alter, in dem sich Menschen radikalisieren, ist immer das Alter zwischen 17 und 28. Wir konnten sehr genau bei den etwa 5.000 aus Westeuropa ausgereisten Djihadisten – etwa 1.750 davon kamen aus Deutschland – sehen, welche Altersgruppen das waren. Das Bundeskriminalamt hat das sehr genau ausgewertet. Über 40 war kaum noch jemand, auch nur relativ wenige über 30. Die meisten waren in den 20er Jahren. Das hat etwas damit zu tun – das wissen wir aus der Kriminologie – dass das Temporalbewusstsein, das Risikobewusstsein bei jungen Menschen völlig anders ist als bei älteren Menschen.

Norbert Reichel: In der Hirnforschung gibt es den Satz, die beste Prävention gegen Gewalt wäre der 30. Geburtstag.

Michael Kiefer: Das ist wie bei Motorradfahrern: warum verunglücken 19jährige Motorradfahrer viel häufiger als 60jährige? Das hat etwas mit Risikobewusstsein zu tun. Das bestätigt sich auch in der Forschung zur Delinquenz. Menschen über 40 fangen nicht mehr an, eine kriminelle Karriere zu entwickeln. Sie wissen, dass mit einer zehnjährigen Gefängnisstrafe ihr Leben mehr oder weniger verwirkt ist. Das schätzen 19jährige nicht so ein. Die hohe Zahl der Auswandernden belegt, dass ihnen überhaupt nicht klar war, welche Konsequenzen das für sie und für ihre Familien hatte. Ich glaube, dass einige den Tag der Entscheidung, nach Syrien oder in den Irak auszuwandern, heute verfluchen.

Erfahrungen aus Präventionsprogrammen

Norbert Reichel: Sie haben viel Erfahrung mit Präventionsprogrammen. Wie wirksam ist Prävention, wie wirksam kann sie sein? Ich erinnere mich daran, dass nach dem Anschlag auf den Sikh-Tempel in Essen ein CDU-Abgeordneter im nordrhein-westfälischen Landtag das gesamte von der rot-grünen Regierung eingerichtete Programm „Wegweiser“ in Frage stellte, weil der junge Mann im Programm „Wegweiser“ betreut wurde. Nach der Übernahme der Regierung baute der von der CDU gestellte Innenminister Herbert Reul das Programm weiter aus.

Michael Kiefer: „Wegweiser“ ist in Nordrhein-Westfalen inzwischen so gut wie flächendeckend eingeführt worden. Das ist ein sehr gutes Programm, weil es sozialräumlich angelegt ist. Es wird in die gesamte kommunale Landschaft eingebunden, beispielsweise werden Jugendhilfeträger aktiv eingebunden. Die Frage nach dem Erfolg ist schwer zu beantworten. Dazu bräuchten wir eine evidenzbasierte Evaluation. Die gibt es nicht und die ist eigentlich auch nicht machbar. Wie will ich definieren, ab wann Prävention erfolgreich ist?

Norbert Reichel: Und ich habe ja auch keine Vergleichsgruppe, abgesehen davon, dass es zynisch wäre, eine Gruppe mit und eine Gruppe ohne Betreuung durch das jeweilige Forschungsprogramm zu jagen und das Scheitern der Mitglieder der Gruppe ohne Betreuung sehenden Auges in Kauf zu nehmen.

Michael Kiefer: Ich habe einige Zeit bei der Aktion Gemeinwesen und Beratung in Düsseldorf gearbeitet. Es ging um Rechtsextremismus und Salafismus. Wir haben ein Projekt mit dem Titel „Case-Management und Clearing“ durchgeführt. In diesem Projekt haben wir ein hochstrukturiertes Hilfeverfahren für Schulen bei Radikalisierung erprobt. Unsere Präventionsziele waren einfach und überschaubar. Wir haben gesagt, auffällige Schüler*innen, die kurz vor der Ausschulung standen, sollten Hilfe erhalten, um ihren Schulabschluss zu schaffen und in dieser Zeit „ereignisfrei“ bleiben. Wenn wir uns solche überschaubaren Ziele setzen, kann ich diese Ziele erreichen. Ich kann aber nicht sagen, dass ich einen Menschen auf Dauer und erfolgreich deradikalisiert habe.

Norbert Reichel: Es kommt meines Erachtens darauf an, dass jemand einen Vorteil erkennt, nicht radikal, nicht delinquent zu werden. Und dieser Vorteil muss die Vorteile überwiegen, die jemand zu erreichen glaubt, wenn er*sie radikal und delinquent wird.

Michael Kiefer: Das ist die Hoffnung, die wir bei solchen Projekten haben. Ich erinnere mich an den konkreten Fall eines rechtsextremistisch orientierten Schülers, der mehrfach mit Schlägereien aufgefallen war und kurz vor der Ausschulung stand. Es gelang, ihn in der Schule zu behalten. Der junge Mann war zwei Mal die Woche bei einem Sozialarbeiter, nicht so ganz freiwillig, etwas Zwang gehörte schon dazu, aber er hat ein halbes Jahr lang nichts mehr angestellt. Bei diesem Jungen hat es geklappt. Eine Sozialarbeiterin traf ihn später wieder, er war gut integriert, hatte ein regelmäßiges Auskommen. Wenn er ausgeschult worden wäre und dann lediglich zu Hause oder in der Clique hätte rumhängen können, wäre er wahrscheinlich ins kriminelle oder extremistische Milieu abgerutscht. Es wäre viel schwerer geworden, ihn dort zu erreichen und wieder herauszuholen. Er musste und konnte lernen, seine Schwierigkeiten selbst zu bewältigen. Das ist im Grunde der Kernauftrag der Präventionsarbeit.

In diesem Kontext leistet „Wegweiser“ gute Arbeit. „Wegweiser“ macht im Grunde zunächst Umfeldberatung. Die radikalen beziehungsweise sich radikalisierenden Jugendlichen kommen ja nicht zu „Wegweiser“ und bitten um Hilfe, sagen, hilft mir mal und zeigt mir, wie radikal ich bin. Das sind die Eltern, die Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen, die Hilfe erbitten, diese Jugendlichen zu erreichen. Diese Menschen brauchen Hilfe, in dieser schwierigen Situation durchzuhalten, Mut und Zuversicht zu bewahren oder zurückzugewinnen, Bindung zu halten und zu verstärken. Entscheidend ist, dass der Kontakt zum Kind, zum Jugendlichen nicht abgebrochen wird. Das kann helfen, Erfolge zu erreichen. Das leistet „Wegweiser“.

Was ich allerdings nicht verstehe, ist, dass die Landesregierung „Wegweiser“ nicht zu einem kommunalen Präventionsprogramm gegen Extremismus jeder Art ausbaut. Wir haben ein Spezialistentum gegen rechts, gegen Salafismus, manchmal auch gegen links, gegen dieses und jenes.

Fallarbeit im Sozialraum – akzeptierende Jugendarbeit

Norbert Reichel: Sie sprechen mir aus der Seele. Ich habe in meinem früheren Leben als Verantwortlicher im nordrhein-westfälischen Bildungsministerium genau diese Erfahrung gemacht. Es war ein Reden gegen Wände. Es war nicht durchsetzbar, ein übergreifendes Programm gegen Extremismus zu konzipieren. Die Zuständigkeiten in der Landesregierung waren für Externe, manchmal auch für Interne, schwer überschaubar, für Salafismus war das Innenministerium zuständig, für Rechtsextremismus das Jugendministerium und so fort.

Michael Kiefer: Das ist heute noch so. Ich habe zu diesem Thema die SPD-Landtagsfraktion beraten und eine Präsentation vorgestellt, wie sich „Wegweiser“ zu einem umfassenden kommunalen Präventionsprogramm ausbauen ließe. Das wäre genial. Gerade beim Rechtsextremismus haben wir das Problem, dass niemand mit rechtsradikalen Jugendlichen oder deren Umfeld arbeiten will. Ich meine sozialarbeiterisch. Es gibt keine Fallarbeit. Hier hat die Salafismus- beziehungsweise Islamismus-Prävention mit der Umfeldberatung, der Unterstützung von Lehrkräften und Sozialarbeiter*innen in den Schulen, der Familien im Sozialraum, gezeigt, dass es möglich ist, temporär für diese Menschen da zu sein. Das ist etwas anderes als wenn Präventionskräfte in den Sozialraum hinein- und wieder hinausfliegen, ihn eigentlich gar nicht kennen. Die Mitarbeiter*innen von „Wegweiser“ sind eigentlich Techniker*innen für Prävention.

Norbert Reichel: Eigentlich müssten die in den entsprechenden Stadtteilen wohnen. Residenzpflicht wäre hilfreich, ist aber aufgrund der diversifizierten Lebensumstände der Lehr- und Fachkräfte nicht praktikabel. Aber es wäre schon wichtig, wenn in der Aus- und Fortbildung der Sozialraumbezug, die Einbeziehung des Umfelds, die Funktionsweisen von Fallarbeit ausführlich eingeübt werden könnten.

Michael Kiefer: In den letzten Jahren wurde viel geforscht, Haim Omer, ein israelischer Psychologe hat das Konzept der neuen Autorität entwickelt, das helfen soll, mit schwierigen Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Im Kern geht es ihm um die Verstärkung von Bindungen. Jugendlichen wird signalisiert, ich sehe genau, was du tust, aber ich kann dir versprechen, ich werde dich nicht loslassen, ich bin nicht einverstanden mit dem, was du tust, und ich werde alles tun, damit sich dein Verhalten ändert. Das ist eine andere Botschaft als die, die wir oft genug hören: Verschwinde, ich halte nicht aus, was du machst.

Haim Omer hat ein ganzes Bündel von Maßnahmen entwickelt. Er empfiehlt Eltern, sie sollten Elemente des gewaltfreien Widerstandes entwickeln. Wenn du jemanden hast, der in einer problematischen Clique verkehrt, die sich in einer bestimmten Kneipe trifft, dann stell dich mit dem Auto vor die Kneipe, bleib da sitzen, warte, bis dein Kind herauskommt, öffne die Autotür und sage, ich fahr dich nach Hause. Es geht darum, nicht nur zu reagieren, sondern das Heft des Handelns wieder in die Hand zu nehmen, den jungen Menschen zeigen, dass man an ihnen ein aktives Interesse hat. Das können auch Lehrkräfte so handhaben. Bindung lässt sich immer wieder neu aktivieren.

Norbert Reichel: Es ist dafür noch nicht einmal erforderlich, Spezialist*in für Djihadismus oder Rechtsextremismus zu sein?

Michael Kiefer: Viele Lehrkräfte denken leider nimmer noch, sie müssten alle Probleme alleine lösen können. Das kennen Sie ja auch aus Ihrer jahrzehntelangen Erfahrung mit Schule.

Norbert Reichel: In der Tat. Die Leute überfordern und überschätzen sich. Vielleicht wäre mehr Bescheidenheit erforderlich. Viele glauben, es reiche, Schule weiterzuentwickeln und dann würde die Welt besser. Sie ignorieren, was um die Schule herum, außerhalb der Schule geschieht, welche Problemlagen dort herrschen, welche Ressourcen es dort aber auch gibt, um sich selbst die Arbeit zu erleichtern, und dass man*frau sich auf diese Ressourcen einlassen muss. Es reicht eben nicht, Probleme an das Jugendamt zu delegieren, oder – falls vorhanden – an die Sozialarbeiter*innen der Schule.

Das ist aus vielen Köpfen nicht herauszubekommen, in den Schulen, in der Schulaufsicht, in den Ministerien. Und wenn dann einmal für eine bestimmte Zeit die Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe, Schule und Polizei etc. funktioniert, hängt es oft an einzelnen Personen. Sobald diese in den Ruhestand gehen oder eine andere Stelle annehmen, ist es oft vorbei. Meines Erachtens brauchen wir ein ganz anderes Verständnis von Schulpolitik. Schulpolitik ist Gesellschaftspolitik! Meine Kritik gilt unabhängig von der Parteizugehörigkeit.

Mein Fazit: die diversen Extremismen, Rahmenbedingungen und Verhältnisse, die extremistisches Verhalten begünstigen können, werden in der pädagogischen und in der sozialen Arbeit viel zu oft de-kontextualisiert. Im Fokus der Kritik steht dann immer der einzelne Mensch als Delinquent*in.

Michael Kiefer: Genau so ist das. Man sieht die Zusammenhänge nicht und hat noch nicht einmal die Bereitschaft, traditionelle Vorgehensweisen gegen Extremismus kritisch zu beleuchten und in Frage zu stellen. Das ärgert mich maßlos. Wir wissen viel darüber, was funktioniert und was nicht. Wir wissen, dass eine exkludierende, Kontakt verweigernde Form der Bekämpfung von Extremismus eindeutig der falsche Weg ist. Was soll denn passieren? Haltungen von Jugendlichen sind doch nicht verfestigt, es gibt doch immer Ambivalenz, und diese Ambivalenz ist im Kontakt doch auch immer eine Chance.

Sie kennen aus den 1990er Jahren Formen der akzeptierenden Jugendarbeit. Diese wurde fürchterlich diskreditiert, als billige sie das Handeln der rechtsextremistisch handelnden jungen Menschen, als belohne sie sie.

Norbert Reichel: Ich erinnere mich gut an Franz Josef Krafeld, lange Jahre Professor an der Universität Bremen, einer der Väter der akzeptierenden Jugendarbeit.

Michael Kiefer: Es gab und gibt immer wieder diese Debatte darüber, die Jugendlichen würden für ihr delinquentes Verhalten belohnt, würden eine schöne Reise auf einem Schiff machen und so weiter. Aber wie soll es denn gehen, wie soll man denn Kontakt halten und diesen Kontakt so intensiv wie möglich gestalten? Dazu gehört eben auch, diese Jugendlichen aus ihrem Umfeld herauszulösen, sie von diesem Umfeld zu trennen. Das ist ein ungeheuer wichtiger Schritt. Die Fahrt auf dem Schiff, die auch mit viel Übernahme von Verantwortung und harter Arbeit verbunden ist, dient der Stabilisierung, ist sozusagen die zweite Phase, die natürlich dazu führen soll, dass nach Rückkehr das bisherige extremistische Milieu erfolgreich gemieden werden kann. Es muss natürlich nicht immer eine Schifffahrt sein, es gibt auch viele andere Möglichkeiten, diese zweite Phase zu gestalten, auf einer Alm, einem Bauernhof.

Islamischer Religionsunterricht

Norbert Reichel: Oft wird auch der islamische Religionsunterricht als Präventionsmaßnahme gegen Djihadismus verstanden.

Michael Kiefer: Die Grundthese lautet: religiöse Bildung immunisiert gegen Extremismus. Ich glaube schon, dass ein guter islamischer Religionsunterricht präventive Wirkungen haben wird.

Norbert Reichel: Bernd Ridwan Bauknecht und Lamya Kaddor haben das in den Gesprächen, die ich mit ihnen führen durfte, bestätigt.

Michael Kiefer: Ein Beispiel: ein kooperativer Religionsunterricht, in dem die christlichen Kinder Moschee und Synagoge besuchen, die muslimischen Kinder Synagoge und Kirche, verändert das Bild von der anderen Religion. Das kann durchaus auch gegen den Antisemitismus wirken, der in der Regel ein fester Bestandteil islamischer oder djihadistischer Einstellungen ist.

Andererseits: Sie haben die Demonstrationen im Mai 2021 gesehen. Da waren viele Kinder und Jugendliche dabei. Das ist erschreckend und zeigt, da ist noch sehr viel zu tun. Aber ein guter – ich betone – ein guter Religionsunterricht kann zu mehr Toleranz und Liberalität beitragen. Umgekehrt wirkt auch ein schlechter Religionsunterricht, und zwar in die andere Richtung. Ein großes Problem im Religionsunterricht ist allerdings auch die Vereinzelung, in einer Klasse gibt es viele verschiedene Milieus, die sich nicht unbedingt gegenseitig respektieren. Das ist aber auch eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung, mit der Lehrkräfte umgehen müssen.

Norbert Reichel: Manche sehen Religionsunterricht kritisch, weil die Religionsgemeinschaften mitwirken, manche plädieren für seine Abschaffung oder den Ersatz durch einen allgemeinen Werteunterricht, der nicht nach Bekenntnissen unterscheidet.

Michael Kiefer: Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben mit guten Gründen dafür gesorgt, dass der Staat nicht in der Lage ist, alleine von sich aus Werteerziehung zu betreiben. Das heißt, dass andere Akteursgruppen, eben im Religionsunterricht Kirchen und Religionsgemeinschaften mitwirken. Ich halte es für wichtig, dass Eltern eine Wahlmöglichkeit haben, ob ihre Kinder am Religionsunterricht teilnehmen sollen oder nicht. Aber Religion ist im Leben vieler Menschen eben sehr wichtig.

Die Frage nach der Kooperation des Staates mit Religionsgemeinschaften ist natürlich eine andere Frage. Sie ist schwierig zu beantworten. Ich denke, wir müssen uns von der Illusion verabschieden, dass es jemals eine islamische Religionsgemeinschaft geben könnte, die mit den Kirchen oder den Religionsgemeinschaften anderer Bekenntnisse vergleichbar wäre. Das hat theologische Gründe, die die Politik leider bisher nicht begriffen hat. Für Muslim*innen ist die Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft aus theologischen Gründen keine Option, denn das Verhältnis zwischen jedem einzelnen Menschen und Gott ist unmittelbar und bedarf keiner vermittelnden Organisation, die Seelenheilsprozesse organisiert. Unser Religionsverfassungsrecht passt nicht auf den Islam. Wir brauchen Modelle der Partnerschaft, die auf den Islam passen, und sollten uns von der Vorstellung verabschieden, es könne jemals so etwas wie eine islamische Kirche entstehen.

Norbert Reichel: Die aktuelle Debatte über die diversen islamischen Verbände kränkelt auch daran, dass die Verbände miteinander heftig konkurrieren und sich gegenseitig nicht unbedingt akzeptieren. Die vier im Koordinierungsrat der Muslime (KRM) organisierten Verbände bilden nur einen Teil der Vielfalt des Islam ab. Die größte Organisation ist die DITIB, die vielen ein Dorn im Auge ist. Ich unterscheide zwischen den Debatten vor dem 15. Juli 2016 und nach dem 15. Juli 2016. Vor diesem Datum wurde in mehreren Ländern alles versucht, um die DITIB und die anderen Verbände des KRM als Religionsgemeinschaften anzuerkennen. Nach diesem Datum war das vorbei, der DITIB wird vorgeworfen, sie wäre der lange Arm des türkischen Staatspräsidenten im Klassenzimmer. Die Geschichte der DITIB und der türkischen Religionsbehörde DIYANET zeigt jedoch etwas, das kaum noch jemand weiß: Atatürk hatte diese Behörde gegründet, um Moscheen und Imame zu kontrollieren. Es ist wie mit dem Salafismus. Die Ursprungsidee war eine andere.

Michael Kiefer: DIYANET war in der Tat eine Kontrollbehörde in einem Staat, dessen Selbstverständnis laizistisch war. Der türkische Staat der 1930er, der 1940er und der 1950er Jahre ging oft genug gegen bestimmte Imame und Moscheen vor. Wenn ich heute lese, die DITIB wäre der lange Arm des türkischen Staatspräsidenten in der Schule, ist das einfach unhistorisch und falsch. Nicht einmal Schulleiter*innen wissen, was in den einzelnen Unterrichtsstunden geschieht, wie soll dies der türkische Staatspräsident schaffen? Und die Lehrkräfte des islamischen Religionsunterrichts haben alle durchaus ihren eigenen Kopf und leisten aus meinen Erfahrungen gute Arbeit.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2021, alle Internetzugriffe zuletzt am 16.9.2021)