Nach dem Genozid

Ein Gespräch mit Kira Auer über Traumata und Konflikte in der Entwicklungszusammenarbeit

„If you must remember, remember this (…) The Nazis did not kill six million Jews (…) nor the Interahamwe killed a million Tutsis, they killed one and then another, then another (…) Genocide is not a single act of murder, it is millions of acts of murder” (Stephen D. Smith, Executive Director, Aegis Trust, 2004).

Dieses Zitat des Religionswissenschaftlers Stephen D. Smith ist auf der Wand der Gisozi-Gedenkstätte in Kigali (Ruanda) zu lesen. Stephen D. Smith gründete das Holocaust Centre in England und war einer der Gründer des Aegis Trust, der sich für die Prävention gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord engagiert. Diese Themen prägen auch seine weiteren Tätigkeiten und Funktionen. Die Frage des Vergleichs von Genoziden und Vernichtungsfeldzügen wird in diesen Kontexten immer wieder gestellt, doch führt sie nicht weiter. An ihren Taten könnt ihr die Mörder*innen erkennen, unabhängig von jeder Ideologie. Und so ist es auch mit Vergleichen von Genoziden und Vernichtungsfeldzügen unserer und vergangener Zeiten, nicht nur im aktuellen Fall der Ukraine, auch in vielen anderen Regionen des Planeten Erde, beispielsweise in Guatemala, Kambodscha, Ruanda.

Kira Auer, Mitarbeiterin der in der Entwicklungszusammenarbeit engagierten Karl-Kübel-Stiftung, hat im Jahr 2013 zur „Vergangenheitsbewältigung in Ruanda, Kambodscha und Guatemala“ promoviert. Die Arbeit trägt den Untertitel „Die Implementierung normativer Ansprüche“ und wurde 2014 als Band 24 der Studien des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung im Nomos-Verlag veröffentlicht. Die Studie bietet ein meines Erachtens auch auf andere Länder übertragbares Theoriemodell von Aufarbeitung beziehungsweise der Grenzen von Aufarbeitung. Sie belegt dieses Modell anhand von drei Fallstudien und formuliert Schlussfolgerungen für die Zusammenhänge von Aufarbeitung und Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Unser Gespräch fand am 20. Mai 2022 statt.

Mit den Kolonialsprachen zur Wahrheit?

Norbert Reichel: Ihre Dissertation spiegelt eine enge Verbindung von Wissenschaft und Praxis.

Kira Auer: Ich vertrete den Standpunkt, dass Wissenschaft und Praxis sehr eng im Zusammenhang gedacht und gelebt werden sollten. Das habe ich zum Anlass genommen, meine Diplomarbeit in diesem Kontext zu schreiben, nämlich zur wissenschaftlichen Erörterung der Frage, welchen Beitrag Exhumierungen zur Konfliktbearbeitung leisten und damit zu einem potentiellen Handlungsfeld der Entwicklungszusammenarbeit werden (veröffentlicht 2007 beim Tectum Verlag: Kira Holzhausen, Den Toten einen Namen geben – Wie Exhumierungen den Kriegsopfern Guatemalas wieder Würde schenken).

Nach Abschluss des Studiums habe ich einige Jahre als Consultant in der Entwicklungszusammenarbeit mit Fokus auf Friedens- und Konfliktarbeit gearbeitet, wo ich mir parallel weiter Gedanken gemacht habe zu den aus der Diplomarbeit entstandenen Fragen, auf denen dann später meine Dissertation beruhte. In dieser Zeit als Consultant stieß ich z.B. auf Kambodscha. Ruanda hatte mich schon lange interessiert. Und so kristallisierte sich nach und nach die Fragestellung heraus, welchen Einfluss die Generationen auf die Vergangenheitsbewältigung haben und was dies für eine Rolle spielt bei der Planung und Umsetzung von Projekten der Entwicklungszusammenarbeit. Ich bekam ein Stipendium und habe schließlich zu den drei Fallbeispielen Guatemala, Kambodscha und Ruanda vier Jahre lang geforscht, mit Forschungsreisen im Jahr 2009.

Nachdem ich die Arbeit Ende 2012 fertiggestellt hatte, ging ich wieder zurück nach Guatemala, um dort als Entwicklungshelferin zu arbeiten, also wieder vom Wissenschaftskontext in die Praxis. Das hat sich gut gefügt, denn meine Stelle hieß „Vergangenheitsbewältigung in Guatemala“ und hatte zur Aufgabe, zusammen mit der NGO IIARS ein ganzheitliches Konzept für die Lehrerbildung zu entwickeln, mit dem der Bürgerkrieg und seine Folgen traumasensibel und friedensfördernd behandelt werden kann, inklusive einem Methodenhandbuch, Materialien und einem Geschichtsbuch, weil es bis dahin kein solches Material für die Geschichte des Bürgerkriegs in Guatemala gab.

Norbert Reichel: Sie haben Interviews gemacht. In Guatemala auf Spanisch, in Ruanda auf Französisch?

Kira Auer: Ich spreche nur Englisch und Spanisch. Französisch lerne ich jetzt mit meinem Sohn. In Ruanda gab es in der Zeit, in der ich da war, eine Umbruchsituation. Ruanda war ursprünglich französischsprachig, nach dem Bürgerkrieg, der 1994 stattfand, hatte die Siegermacht, die aus den Flüchtlingscamps in Uganda kam, um den Genozid zu beenden und eine neue Regierung zu stellen, Englisch als Sprache eingeführt, da sie in Uganda in den Flüchtlingscamps, die ja schon seit Jahrzehnten bestanden, englischsprachig aufgewachsen waren. Als sie nach Ruanda kamen, mussten sie mit einer französischsprachigen Bevölkerung umgehen, sprachen selbst aber weiter in Englisch. Auch die NGO- beziehungsweise EZ-Landschaft orientierte sich dann englischsprachig und ab 2009 machte es die Regierung zur Pflicht, dass alle, die im Staatsapparat arbeiten wollten, auch Lehrer*innen, englisch sprechen. Das heißt: alle mussten innerhalb eines Jahres mehr oder weniger Englisch lernen. Das war ein heftiger Einschnitt. Ich war gerade in dieser Zeit da, sodass die Interviews gut zu machen waren. Spannend wäre es natürlich gewesen, ein paar Jahre später wiederzukommen, aber ich habe von Leuten, die da waren, gehört, dass dieser Prozess gelungen ist.

Norbert Reichel: Beide Sprachen sind Kolonialsprachen.

Kira Auer: Beide sind Kolonialsprachen. Da beginnt natürlich auch die Frage, ob die Siegermacht den Bogen überspannt hat. Ich verfolge das in den letzten Jahren in Ruanda leider nicht mehr, aber es ist schon spannend, wie das Land in eine Autokratie abrutscht, das für selbstverständlich hält und es eigentlich auch niemanden interessiert. Die internationale Gemeinschaft hat kaum eine Möglichkeit, großartig Kritik zu äußern. Bei jeder Kritik antwortet Paul Kagame, ihr könnt uns nichts vorschreiben, denn ihr habt 1994 dermaßen versagt, ihr habt danebengestanden und zugeschaut, ihr wusstet genau, was kommen würde, es trat so ein und ihr habt euch rausgezogen. Die Legitimation, sich einzumischen, ist für eine internationale Gemeinschaft damit einfach nicht gegeben.

Norbert Reichel: Wie haben Sie in Kambodscha kommuniziert?

Kira Auer: Das war auch Englisch.

Norbert Reichel: Wie verbreitet sind die europäischen Sprachen? Ich war im Jahr 1998, es war das erste chinesische Jahr, in Hongkong, und kam dahin in der Annahme, alle sprächen Englisch. Das war nun nicht so, nicht einmal die Taxifahrer sprachen Englisch, die Restaurants hatten fast alle nur chinesische Speisekarten. Außer an der Universität war alles nur Chinesisch.

Kira Auer: Das ist in Kambodscha und in Ruanda ähnlich. Englisch sprechen nur Menschen, die in staatlichen Strukturen arbeiten oder mit internationalen Organisationen zusammenarbeiten. Meine Interviewpartner habe ich über den Zivilen Friedensdienst (ZFD) der deutschen EZ gesucht. Der Zivile Friedensdienst hatte und hat in allen drei Ländern große Programme, die in den Bereichen Vergangenheitsbewältigung tätig waren und sind. Dann ist es als Wissenschaftlerin natürlich leicht, sich vorzutasten, welche Ansprechpartner*innen mir lokale Organisationen empfehlen. Es ist nicht einfach, gute Kommunikationspartner*innen zu finden. In Kambodscha war es schwer, Partner*innen zu finden, mit denen ich gute analytische Gespräche führen konnte, da meine Doktorarbeit eher analytisch angelegt war. Es ging weniger deskriptiv um die Sezierung der Geschichten der Opfer. Es ging immer um die Frage, was die Arbeit mit den Instrumenten der Vergangenheitsbewältigung für den sozialen, den gesellschaftlichen Kontext bedeutete. Daher braucht man Menschen, die eher diese Zusammenhänge erkennen können. Das fiel mir gerade in Kambodscha schwer. Es ist mir aber mit Hilfe des Zivilen Friedensdienstes (ZFD) gelungen.

Norbert Reichel: Und in Guatemala dann alles in Spanisch?

Kira Auer: Das war einfach, eine fast 500-jährige Geschichte.

Bekenntnis- und Erinnerungsgeneration

Norbert Reichel: Ich habe in Ihrem Buch einige deskriptive Elemente gefunden, sodass ich mir die Situation, in der Sie forschten, vorstellen konnte. Ihr Buch ist aus meiner Sicht aber auch ein sehr guter Beitrag zur Theoriebildung in der Erinnerungskultur, gerade mit dem Phasenmodell, das Sie vorstellen. Wie verhält sich Ihr Theoriemodell zum Bewusstseinsstand in den Ländern, in denen Sie geforscht und gearbeitet haben? Wie bewusst sind sich die Menschen, in welchen Phasen, die sich ja auch überschneiden, durchdringen können, sie über die Vergangenheit sprechen?

Kira Auer: Die Begrifflichkeit, die ich verwende, die Unterscheidung in Bekenntnis- und Erinnerungsgeneration, orientiert sich an der Theorie von Aleida Assmann. Sie hat das hauptsächlich auf die deutschen Kontexte bezogen. Dies war die Grundlage für meine Anwendung auf andere Kontexte. Ich kann jetzt vor allem für den guatemaltekischen Kontext sprechen, da ich dort mehrere Jahre gelebt und gearbeitet habe. Dort gibt es das Bewusstsein schon, dass sie in verschiedenen Phasen stecken, oder auch feststecken. Das ist durch den politischen Kontext, der in den letzten Jahren extrem brisant war und von Jahr zu Jahr noch brisanter wird, bedingt.

Vulkan, Guatemala

Norbert Reichel: Welche Rolle spielt der Druck aus den USA?

Kira Auer: Es besteht ein gewisser Druck aus den USA. Letztendlich entwickelt sich in Guatemala ein Potential zur Eskalation. Ich glaube nicht, dass dieser Kessel hochkocht, weil doch die Traumatisierung aus dem Bürgerkrieg vorherrscht. Aber die Diskrepanz zwischen der politischen Wirklichkeit mit ihrer Kleptokratie und einer völlig ausufernden und offensichtlich illegal handelnden politischen und wirtschaftlichen Elite zu dem, was die Zivilgesellschaft versucht, voranzutreiben, wird immer größer. Die letzten Wahlen haben das gezeigt.

Die Menschen waren lange sehr apolitisch, gerade aus ihrer Erfahrung mit Korruption und Straflosigkeit. Das hat sich jedoch mit dem Erfolg der CICIG (Comisión Internacional contra la Impunidad en Guatemala) massiv geändert, als es 2015 gelang, große Netzwerke der Korruption aufzudecken, in denen der Präsident selbst und die Vizepräsidentin die verantwortlichen Köpfe waren. Die CICIG und die Generalstaatsanwaltschaft haben aufgedeckt, dass diese beiden schon vor den Wahlen schwarze Konten eingerichtet hatten, über die sie in ihrer Amtszeit von vier Jahren das Geld aus dem Staatshaushalt in private Vermögen abführen konnten. Das heißt, wir reden hier auch von einer perfiden Vorplanung der Verbrechen. Die Gesellschaft bekam über diese Aufdeckungen einen massiven politisierenden Schub. Die Menschen gingen in diesem Jahr 2015 über mehrere Monate hinweg auf die Straße, von April bis Anfang September wöchentlich. Sie sorgten dafür, dass Otto Pérez Molina, der Präsident, am 4. September 2015 zurücktrat und sofort ins Gefängnis wanderte. Wo geschieht dies schon?

Das gab der Gesellschaft das Gefühl: jetzt kann es vorwärts gehen. Wir haben immer vom Movimiento gesprochen, von einer wirklichen Bewegung, was soziologisch mehr ist als Proteste und Demonstrationen, weil sich die breite Gesellschaft beteiligte und nicht nur einzelne Gruppen. In den letzten Jahren mussten sie jedoch so viele Rückschritte hinnehmen, weil die Elite, der sogenannte Pakt der Korrupten, wie er auch genannt hat, sich massiv und auch auf kriminelle Weise dagegen wehrte und erreichte, dass die internationale Kommission 2019 aus dem Land geschickt wurde. 2019 war auch das Jahr der Wahlen, die aber im Vorhinein so massiv manipuliert worden sind, dass mit Alejandro Giammattei wieder ein Präsident an die Macht gekommen ist, der eben für die Interessen dieses Pakts der Korrupten steht. Gleichzeitig hat diese Regierung, auch wie die vorhergehende Regierung unter Jimmy Morales, dafür gesorgt, dass alle rechtsstaatlichen Institutionen okkupiert wurden. In Guatemala spricht man von der Geiselnahme des Staates durch diese oligarchischen Strukturen.   

Norbert Reichel: In Ihrer Arbeit sprechen Sie von einem Failed State.

Kira Auer: Das ist jetzt umso mehr der Fall. In den letzten Monaten hat sich das noch einmal verschärft. Die Institutionen werden ausgehöhlt. Schon 2014 ging es um die Frage, wie der Verfassungsgerichtshof und auch alle anderen Gerichte besetzt werden sollten. Das wurde so intensiv betrieben, sodass diese Posten mit paktfreundlichen Personen besetzt wurden, gegen die zum Teil bereits Strafverfahren liefen. Man kann sagen, dass der Staat seit diesen Jahren noch mehr „failed“ ist. Mehr „failed“ geht eigentlich nicht.

Norbert Reichel: Somalia? Libyen?

Kira Auer: Da gibt es auch noch ein paar mehr. Bedenklich ist, wie wenig das in Deutschland bekannt ist. Viele denken wohl, dass die politische Entwicklung in Lateinamerika auf einem guten Weg ist, aber es gibt auch Länder wie Guatemala oder Honduras.

Norbert Reichel: Oder Nicaragua. Nicht zu vergessen Brasilien mit einem rechtsextremen Präsidenten oder Mexiko als ein Land, in dem so viele Journalist*innen ermordet werden wie sonst fast nirgendwo auf der Welt, in dem Femizide nicht aufgeklärt werden.

Kira Auer: Nicaragua ist ein gutes Beispiel. Ganz gruselig. Aber das ist auch historisch gewachsen, dass es der Weltöffentlichkeit als schlechtes Beispiel präsentiert wurde, weil es zu Beginn der Herrschaft von Daniel Ortega diesen kommunistischen Hintergrund hatte. Andere Länder wurden weniger beachtet. Die USA haben sich in Guatemala – wie auch in anderen lateinamerikanischen Ländern – nicht mit Ruhm bekleckert. Aber sie haben die Kurve gekriegt und mit der CICIG versucht, diesem Land zu helfen, demokratische Strukturen zu schaffen und einen Rechtsstaat aufzustellen. Sie hatten eine wichtige positive Rolle – bis zur Amtszeit von Donald J. Trump. Unter einer anderen US-amerikanischen Regierung wäre es möglicherweise nicht so weit gekommen, dass die CICIG aus dem Land gewiesen wurde.

Norbert Reichel: Gibt es unter Joe Biden wieder eine Entwicklung in die andere Richtung?

Kira Auer: Ja, aber es fehlen die Hebel. Die Regierung hat einen so guten Zugriff auf den Staatshaushalt, dass die internationalen Gelder – das wäre der entscheidende Sanktionshebel – nicht benötigt werden. Der Staat wird ausgeraubt und sie sagen, wir brauchen das Geld aus den USA nicht. Das hat sich in den letzten beiden Jahren noch einmal massiv entwickelt. Die USA sind allerdings sehr daran interessiert, den Drogenhandel aufzudecken, es laufen alle möglichen Verfahren. Der ehemalige Präsident von Panamá, Manuel Noriega, war bis zu seinem Tod im Jahr 2017 etwa 25 Jahre lang in Haft. Auch der ehemalige Staatschef von Honduras, Juan Orlando Hernández, sitzt seit April in den USA in Haft, quasi direkt aus dem Amt in den Knast.

Das ist schon eine Warnung an Guatemala, zumal verschiedene hochrangige Politiker aus Guatemala auf US-amerikanischen Sanktionslisten stehen. Die „Engel-Liste“ ist eine solche Liste, dabei geht es um persönliche Sanktionen. Das führt in Guatemala allerdings eher dazu, dass sie auf Posten landen, die Immunität garantieren. Dabei ist den korrupten Eliten auch Otto Pérez Molina, der 2015 in Haft ging, ein Beispiel. Dieses Damoklesschwert, diese Drohung nehmen die Herrschenden sehr ernst und betreiben umso mehr die Aushöhlung des Staates. Gegen etwa 25 % der Abgeordneten im guatemaltekischen Parlament laufen Verfahren zur Aufhebung ihrer Immunität. Damit ist klar, dass aus diesem Apparat kein Wandel kommen kann. Sie neigen dazu, die Gesetze so zu formulieren, dass sie ihnen zugutekommen, beispielsweise mit strafmildernden Gesetzen, durch die eine Haftstrafe in eine Geldstrafe umgewandelt werden konnte, oder mit Gesetzen, die für bestimmte Delikte gar keine Strafe mehr vorsehen.

Autokratische Effizienz

Norbert Reichel: Sie beschreiben Guatemala als eine Art „Failed State“. Im Gegensatz dazu haben wir in Ruanda und in Kambodscha eher autoritäre Strukturen. Paul Kagame hat meines Erachtens international sogar ein ganz gutes Image. Ruanda wird oft als gutes Beispiel zitiert, es war das erste Land, das Plastiktüten verbot.

Kira Auer: Ja, dieses gute Image von Kagame ist erstaunlich. Das hat auch damit zu tun, dass sich Kagame nicht reinreden lässt. Kagame hat die internationale Gemeinschaft zum Schweigen gebracht. 2019 wurden sogar internationale Gemeinschaften gebeten zu gehen, wenn sie sich nicht an die offiziellen Spielregeln hielten. Man muss Kagame zugutehalten, dass er nicht zu den autokratischen Präsidenten gehört, die nur das eigene Wohl und das Wohl der eigenen Leute im Blick haben. Er hat von Anfang an eine Politik betrieben, die schon ein neues Ruanda mit einer neuen Gesellschaft im Blick hatte. Die Frage ist nur, ob ein Regierungsapparat eine solche Vorstellung entwickeln sollte, um dann das Land in die seines Erachtens richtige Richtung zu zwingen. Aber das muss eine Gesellschaft auch selbst entscheiden, wie weit sie mitgeht. Ich vermute, dass der Rückhalt Kagames ziemlich groß ist. Das Land verdankt ihm mit seinem Gesamtplan all diese Fortschritte: Hunger hält sich in Grenzen, Malaria wird erfolgreich bekämpft.

Die Namen der Opfer, Gedenktafel in Kigali

Auch in der Vergangenheitsbewältigung hat er mit diesem sehr breit angelegten Ansatz der Gacaca-Gerichtsbarkeit, die mit Entschädigungen verknüpft ist, mit dieser Suche nach Wahrheit einen riesigen Schritt gemacht, auf den viele andere Länder noch warten. Er hat einen ruandischen Weg gefunden, in dem man im Detail Vieles kritisieren kann. Ein Beispiel: der Umgang mit Opfern. Frauen mussten vor der Gacaca-Gerichtsbarkeit, vor der gesamten Gemeinde berichten, wie sie vergewaltigt wurden, wie sie bedroht wurden, wie andere Menschen um sie herum ermordet wurden. Das kann man sehr in Frage stellen, aber Ruanda ist immerhin das Land, in dem 95 % der Täter*innen juristisch verfolgt wurden. Das führte nicht zu einer großen Versöhnung zwischen Opfern und Tätern. Das steht auf einem anderen Blatt. Aber Kagame hatte den Anspruch, dass die Opfer Gehör erhalten, dass alle Täter verfolgt wurden. Das hat er erfüllt, und er hat es mit dem Anspruch verbunden, dass das Land nicht zu den Ärmsten der Armen in Afrika gehören dürfe, es solle vorwärtskommen. Das gelingt ihm.

Norbert Reichel: Offenbar besser als in manch anderen Staaten in Afrika.

Kira Auer: Es ist natürlich auch ein kleines Land. Da ist eine Politik leichter umzusetzen, in der es um das Wohl aller Menschen geht, von der möglichst alle profitieren sollen. Das ist einfacher als in einem so großen Land wie Kenia, das auch eine sehr große ethnische Vielfalt hat. Es gibt in Ruanda nur drei ethnische Gruppen, die aber auch nicht mehr als solche benannt werden dürfen. Das war Teil des großen Versöhnungsplans. Es wurde gesagt, wir sind keine unterschiedlichen Ethnien mehr, wir sind jetzt alle Ruander. Die Wirklichkeit ist unterschwellig natürlich eine andere, aber die ruandische Gesellschaft gibt Kagame einen gewissen Vertrauensvorschuss. Wir werden sehen, wohin das führen wird. Ich bin jetzt keine Expertin für Ruanda, aber das ist mein Eindruck.

Vererbte Traumata

Norbert Reichel: Den Eindruck habe ich auch. Es gibt so etwas wie diesen ruandischen Weg. Ich versuche einmal, Unterschiede zwischen den drei Staaten, die sie untersucht haben, zu benennen. In Guatemala sprachen sie von einer Politisierungsphase, die inzwischen wieder in eine neue Depolitisierung gekippt ist. In Ruanda hat jemand die Regierungsgewalt, der eine Vorstellung von Gemeinwohl hat. Kambodscha hingegen scheint mir die am wenigsten politisierte Gesellschaft unter den drei Ländern zu sein. Hier scheint man sich damit begnügt zu haben, die fünf Haupttäter, vielleicht noch ein paar andere mehr zu belangen.

Kira Auer: Kambodscha leidet auch unter einer kleptokratischen Oligarchie. Auf der anderen Seite haben wir eine sehr junge Gesellschaft. Es stellt sich in der Tat die Frage, warum diese Gesellschaft so wenig kritisch, so wenig politisch ist, gerade vor dem Hintergrund einer Elite, die nur ihr eigenes Wohl betreibt. Hun Sen ist seit 1985 Premierminister und sitzt fest im Sattel. Er hat die gesamte Opposition ausgeschaltet. Aber es gibt nicht diesen Protest wie in Guatemala. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass der Bürgerkrieg 1979 vorbei war – aber wer war noch übrig? Die gesamte Elite war ausgelöscht. Überlebt haben nur sehr junge Leute, die lange Jahre keine Schulbildung hatten, keinen Rahmen, in dem man das Denken lernen konnte. Und man muss sehen, dass sich nachher immer noch nichts tat. Es war nicht so, dass in den 1980er Jahren auf einmal Schulen aufgemacht wurden, Lehrer*innen da waren, die die Kinder unterrichteten, die ihnen das Denken beibrachten.

Es ist so, dass diejenigen, die aus diesem Autogenozid, wie er genannt wird, herausgekommen sind, keine Chance hatten, in irgendeiner Weise kritisches Denken zu entwickeln. Es war – das sagte ich schon – sehr schwer, Gesprächspartner*innen zu finden, mit denen man gesellschaftliche Strukturen diskutieren konnte. Es war schwer, Fragen zu stellen, wie sich etwas entwickelt hatte. Es fehlten Interaktionen, die Erkenntnis von Interdependenzen, und wenn man von Generationen sprach, war es eh schwierig. Diese verschiedenen Generationen gab es so nicht.

Norbert Reichel: In diesem Zusammenhang ist das Thema der Trauma-Übertragung vielleicht von Bedeutung, über das Sie auch in Ihrer Arbeit geschrieben haben. Das ist ja auch ein Thema in der Geschichte von Shoah-Überlebenden, bei deren Kindern, deren Enkel*innen.

Kira Auer: Ich kenne Forschungsarbeiten, in denen beschrieben ist, dass sich diese Traumatisierung über viele Generationen geradezu genetisch vererben kann. In einem Text ging es um die Frage, wie lange sich die Traumata des Dreißigjährigen Krieges fortsetzen. Im Grunde bis heute. Eine Kriegsmaschinerie, die mit Terror, mit Hunger verbunden war.

Norbert Reichel: In Bayern lernten Kinder noch im 20. Jahrhundert: „Bet‘ Kindl bet‘, morgen kommt der Schwed‘“. Anders gesagt: ein Beispiel der „longue durée“ nach Fernand Braudel.

Kira Auer: Genau. Das hält sich lange. Da stellt sich die Frage, wie diese Weitergabe von Traumata funktioniert und wie eine Gesellschaft damit umgeht, ob es ihr gelingt abzufangen, aufzuarbeiten, gegenzusteuern. Das Trauma ist dann nicht weg, aber es könnte abgemildert werden. Aber wenn das gesellschaftlich nicht geschieht, keine Strukturen da sind, es jedem einzelnen Menschen individuell überlassen bleibt, ist nicht verwunderlich, dass sich Traumata übertragen.

Norbert Reichel: Zu diesem Thema gehören Gedenktage, Mahnmale. Sie haben am Beispiel des 30. Juni in Guatemala beschrieben, wie unterschiedlich ein solcher Tag begangen werden kann, als Tag der Märtyrer oder als Tag der Soldaten. Das erinnert mich auch an manch deutsche Streitigkeiten. Es gibt immer noch kein einheitliches Denken über den 8. Mai.

Kira Auer: Spannend ist, dass das in Guatemala überhaupt nicht bekannt ist. Der 30. Juni ist einerseits Tag der Märtyrer oder der Opfer, aber andererseits der Tag des Militärs. In Guatemala weiß eigentlich so gut wie niemand, dass das der Tag der Opfer ist. Die NGOs sind dazu übergegangen, den Tag der Veröffentlichung des Wahrheitsberichts der Internationalen Kommission (CEH) zum Anlass zu nehmen zu gedenken und einen Rahmen für gesellschaftliche Debatten zu schaffen. Die Kirche macht den 24. April, den Tag, an dem Juan José Gerardi zwei Tage nach der Veröffentlichung des Wahrheitsberichts der Katholischen Kirche (REMHI) ermordet wurde, zum Anlass. Das sind die Daten, die auch in der Szene der NGO’s als Gedenktage genutzt werden. Der 30. Juni ist unbekannt. Es ist aber auch eine Verhöhnung der Opfer, wenn am gleichen Tag im ganzen Land das Militär im Stechschritt durch die Straßen zieht. Alle Kinder lernen das nachzumachen, alle sind auf der Straße, um sich das Militär im Stechschritt anzuschauen. Das ist letztlich ein großes Volksfest.

Norbert Reichel: Ich habe in vielen Erinnerungskulturen den Eindruck, dass durchweg die Neigung besteht, die Verbrechen in den Hintergrund zu schieben. Ich habe auch in Ihrer Arbeit bezogen auf Kambodscha und Guatemala das komplette Arsenal der Verdrängung gefunden, das wir bei der Erinnerung an die Shoah finden: Täter-Opfer-Umkehr, Schuldabwehr, Bagatellisierung und so weiter. In Ruanda sieht das offenbar anders aus.

Ausgegrabene Opfer des Massakers in Ruanda

Kira Auer: Im Fall von Ruanda muss man schon sagen, dass das Gedenken extrem zelebriert wird. Der Genozid hat am 7. April begonnen. In Ruanda findet am 7. April in Kigali eine große zentrale Gedenkfeier statt. Von dem Tag an wird 100 Tage getrauert. Die Opfer werden geradezu gesellschaftlich dazu gezwungen, sich an alles zu erinnern, was sie erlebt haben. Das führt zu schrecklichen Flashbacks und Retraumatisierungen. In den 2000er Jahren waren diese Zeremonien so gigantisch, dass sich Menschen über die Brüstung des Stadions in den Tod stürzten. Später wurde das eingedämmt. Aber für mich stellt sich die Frage, was diese ständige Retraumatisierung mit den Menschen macht, was an weitere Generationen weitergegeben wird.

Norbert Reichel: Gute Absicht wirkt kontraproduktiv?

Kira Auer: In dem Fall… Es ist anzunehmen. Auch wenn gegengesteuert wurde.

Norbert Reichel: Wie hat man gegengesteuert?

Kira Auer: Es wurde versucht, diese Zeremonien nicht mehr ganz so emotionsgeladen zu gestalten. Ich habe 2009 daran teilgenommen. Es war damals immer noch sehr emotional. Es ist kaum vorstellbar, wenn man in diesem großen Rahmen mit Tausenden von Menschen zusammen ist und plötzlich bekommen einige einen Schreikrampf, brechen zusammen. Es wurde schließlich dafür gesorgt, dass immer genug Sanitäter da sind, die die Leute herausführen und im Hintergrund versorgen.

Das ist sehr punktuell, aber auch ein Zeichen, wie schlimm das für die Menschen ist. Ihnen wird keine Latenzzeit gegeben. Das Trauma wird nie verschwinden, aber es wird keine Gelegenheit geben, das Trauma einmal ruhen zu lassen und nur dann aus dem Kästchen herauszulassen, wenn es im eigenen Kontext geschieht, sodass alle Betroffenen selbst entscheiden können, wie und wann sie trauern und nicht – jetzt öffne ich die Büchse der Pandora wieder – ein hunderttägiges Trauern politisch anordnet. Es ist ja nicht nur der eine Tag. Ab dem 7. April darf eine Woche nicht gelacht, nicht getanzt, keine Musik gehört werden. Die Radiosender stellen ihre Programme um. Nach dieser Woche kehrt das normale Leben zwar wieder zurück, aber über den gesamten Zeitraum der 100 Tage finden lokale Gedenkfeiern statt. Es ist immer wieder eine Rückkehr des Traumas. Es ist ein gesellschaftlich angetriebener Prozess, nicht ein Prozess, den die Individuen bestimmen, die darunter zu leiden haben.

Es bleibt in der Familie

Norbert Reichel: Die Philippinen, mit denen Sie sich zurzeit auch beschäftigen, sind vielleicht ein gutes Beispiel für kollektives Vergessen. Jetzt hat Bongbong Marcos die Wahl gewonnen, die Tochter des bisherigen Präsidenten Rodrigo Duterte ist Vize-Präsidentin. Das lässt nichts Gutes hoffen.

Kira Auer: Die Menschen, mit denen ich in den letzten Wochen gesprochen habe, sind am Boden zerstört und erwarten das Schlimmste. Das Spannende in den Philippinen ist, dass die Menschenrechtsverletzungen und die Korruption des Marcos Senior überhaupt nicht im kollektiven Gedächtnis verankert sind. Marcos Junior hat wohl auch deshalb gewonnen. Er hat seine Kampagne so aufgestellt, dass sein Papa nur das Beste für das Land gemacht hätte. Das ist völlig daneben, aber es ist ihm gelungen. Und die Menschen, die ihn gewählt haben, sind zu jung, um sich an Marcos Senior zu erinnern. So kommt jemand an die Macht, der sich mit den größten Lügen in einen Apparat gesetzt hat, den er jetzt für sich ausnutzen will.

Da sehe ich große Parallelen zu Guatemala. Es geht nur darum herauszuholen, was geht und die paar Jahre, die solche Präsidenten haben, so gut wie möglich für sich zu nutzen. Das ist so ein Trugbild bei uns: die haben alle paar Jahre Wahlen und es kommt dann auch wieder ein neuer Präsident. Das funktioniert doch irgendwie. Aber dass das letztlich ein System ist, das hochgradig manipuliert wird, bereits lange vor den Wahlen, und nur dazu führt, dass der Staatshaushalt von Familie zu Familie weitergereicht wird, das will niemand sehen. Formal haben wir eine Demokratie, aber unter dem Strich natürlich nicht.

Norbert Reichel: Vielleicht allenfalls eine illiberale Demokratie im Sinne von Orbán, oft genug aber eher in der gewalttätigen Ausformung, wie wir sie zum Beispiel in Belarus erleben. Vielleicht ist der Bogen zu weit, den ich spanne. Mich erinnert Ihre Darstellung von Guatemala oder von den Philippinen an die Art und Weise, wie sich in Russland in der Jelzin-Ära bestimmte Oligarchen bedienten und wie dann seit 1999 sich der KGB und die mit ihm verbundenen Oligarchen bedienten. Ab und zu kommt einer in die Quere: den entsorgt man dann so wie Putin Chodorkovskij entsorgte. Irgendwelche Cliquen schaffen es immer.

Kira Auer: Meine Beobachtung aus den Wahlen in Guatemala ist die, dass die Manipulationen bereits viel viel früher stattfinden als der Stichtag für den Urnengang, deutlich, bevor sich die Kandidat*innen überhaupt einschreiben können. Jemand, der gefährlich werden könnte, kommt dann gar nicht erst in die engere Auswahl.

Norbert Reichel: Und die Kandidaten der jeweiligen Familien haben Presse und Medien hinter sich.

Alte Mayastätte in Guatemala

Kira Auer: Im Falle von Guatemala hatte Thelma Aldana, die frühere Generalstaatsanwältin, die hervorragende Arbeit geleistet hatte, die maßgeblich zur Aufklärung der korrupten Netzwerke beigetragen hatte, Trägerin des sogenannten Alternativen Nobelpreises, des Right Livelihood Awards, im Jahr 2019 gute Chancen, sich bei den Präsidentschaftswahlen zu bewerben. Sie hatte eine gute Reputation, hatte sich strategisch sehr gut positioniert und wollte ein gesamtgesellschaftliches Bündnis aufstellen, ein in einer zersplitterten Zivilgesellschaft kein einfaches Unterfangen. Sie hatte angefangen dieses erfolgreich aufzubauen. In der Woche bevor sie sich als offizielle Kandidatin einschreiben konnte und damit auch Immunität genossen hätte, hat einer der netten korrupten Richter einen Haftbefehl gegen sie unterzeichnet. Es ging um Unterschlagung und Steuerhinterziehung.

Norbert Reichel: Das sind die üblichen fingierten Vorwürfe, um Oppositionelle loszuwerden: Unterschlagung, Steuerhinterziehung, Drogenbesitz oder Pädophilie.

Kira Auer: Thelma Aldana wurde nicht verhaftet, sondern floh in einer Nacht- und Nebelaktion aus dem Land, ist nach wie vor im Exil. Ich sehe nicht, dass sie wieder zurückkommt. Dies warf die Bewegung so weit zurück, dass sie sich nicht mehr davon erholt hat. Der jetzige Präsident, Alejandro Giammatei, hat den Apparat im Griff. Es dürfte kaum möglich sein, zu den Errungenschaften der Jahre 2015 bis 2018 zurückzufinden.

Interkulturelle Kompetenz in der Entwicklungszusammenarbeit

Norbert Reichel: Sie beschreiben in Ihrer Arbeit immer wieder die Konsequenzen der Aufarbeitung für die Entwicklungszusammenarbeit. Was bedeutet das für die Mitarbeiter*innen? Ich denke, dass doch viele Menschen dabei sind, die mit einer eher westlichen Sicht der Dinge in das jeweilige Land kommen, manches gelesen und studiert haben und damit möglicherweise auch manches Missverständnis bewirken könnten. Ein inzwischen gängiger Begriff für dieses Problem ist das Westsplaining.

Kira Auer: Entscheidend ist in Ländern nach solchen Konflikten und Genoziden genau wie in Ländern von On-going Conflicts, die wir zurzeit erleben, die Schaffung der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Unsere Bibel ist das internationale Völkerrecht, dem im Grunde alle Staaten zugestimmt haben. Dort wo dieses Völkerrecht nicht beachtet, verletzt wird, müsste die internationale Gemeinschaft dies auch benennen. Das gelingt meines Erachtens zu wenig. Zu oft wird auf wirtschaftliche, geopolitische Interessen Rücksicht genommen, obwohl gesagt werden müsste, dass hier eine rote Linie von Regeln überschritten wird, auf die wir uns doch geeinigt haben. Es ist ja nicht so, dass westliche Länder alles vorschreiben werden. Diesen imperialistischen Blick gibt es auch. Aber das Völkerrecht gilt.

Norbert Reichel: Darüber sollten auch manche Anti-Kolonialisten nachdenken, manchen ist das nicht klar.

Kira Auer: Genau. Aber die Frage ist natürlich, wie weit soll es gehen? Das Beispiel Guatemala: dort wurde immer mal wieder auf das Problem hingewiesen, aber es wurde nicht konsequent gehandelt. Das haben wir auch bei der EZ. Wir haben den institutionellen Apparat ebenso wie die einzelnen Personen. Der Reformprozess 2030, den das BMZ angestoßen hatte, enthält die Absicht, aus bestimmten Ländern herauszugehen, um in anderen Ländern wirkungsvoller zu handeln. Das klingt ganz schön, die bilaterale Kooperation jedoch, mit Guatemala beispielsweise, müsste anders aufgestellt werden.

Aber anders aufstellen heißt nicht rausgehen und jetzt zeichnet sich ab, dass die bilaterale Kooperation mit Guatemala eingestellt wird. In einer kleinen Zeile des Konzepts steht, dass die Arbeit in diesen Staaten der EU, den kirchlichen Organisationen oder Stiftungen überlassen werden soll, die vor allem die Zivilgesellschaft unterstützen sollen, damit sich aus der Zivilgesellschaft etwas entwickelt. In Guatemala gab es in den letzten Jahren mehrere große Programme, die finanziell stark ausgebaut waren. Ich sehe nicht, dass zivilgesellschaftliche Strukturen aus Deutschland so schnell aufgebaut werden könnten, die im gleichen Volumen leisten, was vorher staatliche Programme leisteten. In Guatemala habe ich gesehen, dass in den Programmen der bilateralen Kooperation viel Rücksicht auf die dortige Politik genommen wurde, darauf, dass bestimmte Dinge nicht gesagt werden sollten, weil sonst die bilaterale Kooperation gefährdet würde. Aber das hilft halt nicht, denn wir erfüllen unsere Aufgabe nicht, die Zivilgesellschaft zu stärken, wenn wir uns mit kritischen Äußerungen zurückhalten. Da beißt sich die Katze in den Schwanz.

Norbert Reichel: Zivilgesellschaft lässt sich auch nicht aus dem Boden stampfen.

Kira Auer: Das stimmt, aber in Guatemala gibt es eine gute sehr engagierte Zivilgesellschaft, die beeindruckende Arbeit geleistet hat und auch noch leistet, aber in den letzten Jahren extrem kriminalisiert wird. Wenn wir dann zögerlich handeln und diejenigen von der Zusammenarbeit ausschließen, weil das die jeweilige Regierung nicht so gerne sieht, ist dies eben gerade nicht im Sinne der Förderung der Zivilgesellschaft. Es gibt Strukturen, aber wenn die keine Unterstützung bekommen, geraten die Engagierten sehr unter Druck, werden in die Gefängnisse gesteckt, ermordet. Das hat in Guatemala in letzter Zeit zugenommen, dass Menschenrechtsaktivisten oder Menschen, die sich überhaupt am Protest beteiligen, verhaftet oder sogar ermordet werden. Das ist sehr besorgniserregend.

Norbert Reichel: Das heißt, dass eine Zivilgesellschaft, die nicht von außen unterstützt wird, gleichviel ob mit Geld oder durch Präsenz, in Staaten, die sich nicht unbedingt an unseren liberalen und demokratischen Grundsätzen orientieren, hochgradig gefährdet ist.

Kira Auer: Das ist sie definitiv. Das sehen wir auch in anderen Ländern, in den Philippinen beispielsweise. Sobald kein internationaler Background mehr da ist, sobald die Förderer ausfallen, verschwinden zivilgesellschaftliche Organisationen. Dann haben diejenigen, die sie ohnehin nicht wollen, gewonnen.

Symbol für internationale Verbindung in Gisozi, Kigali

Vielleicht noch zu Ihrer Frage nach den individuellen Voraussetzungen von Menschen, die in der Entwicklungszusammenarbeit im Ausland tätig sind. Dazu habe ich zwei Aspekte. Die Leute, die ausreisen, bekommen eine landesspezifische Vorbereitung. Das macht die Akademie für internationale Zusammenarbeit. Gegenstand einer dreitägigen Vorbereitung ist eine Landesanalyse. Die Teilnehmenden erhalten eine Tool-Box, die den Finger in die Wunden legt. Wo sind die Konflikte, wo ist die Fragilität gegeben, wo ist Gewaltpotenzial? Die Landesanalyse entfaltet das Feld, in dem die Teilnehmenden arbeiten werden, benennt kulturelle Fettnäpfchen, in die man hineintreten könnte, das wäre die sogenannte interkulturelle Kompetenz.

Vor allem wichtig ist für mich aber, die ich als Landestrainerin arbeite, zu klären wo die politischen Probleme liegen, die sich auf die Arbeit auswirken. Wir reden ja gerne von Dialogen, was für eine wunderschöne Methode das ist. In Guatemala ist es nun einmal so, dass die Zivilgesellschaft keine Dialoge mehr will, sie sagt, wir wurden Jahrzehnte lang an der Nase herumgeführt. Es gab die Dialoge, doch gleichzeitig wurde der Fluss umgeleitet, wurden die Minen ausgenommen, werden Tatsachen geschaffen, und wir werden am Dialogtisch festgehalten und haben keine Chance, auf der Straße zu demonstrieren, juristische Prozesse einzuleiten. Das heißt, dass das Instrument des Dialogs hochgradig in Frage gestellt ist. Wenn wir dann als EZ’ler dahingehen, müssen wir das wissen. Selbstverständlich wollen wir Dialoge, aber wir müssen auch zeigen, dass wir das Land zumindest auch ein bisschen verstehen und die Instrumente an die örtlichen Bedingungen anpassen.

Wer etwas bewirken will, muss sich seiner, ihrer Rolle klar sein. Wir haben eine Beratungsfunktion. Eine solche Funktion besteht zu einem großen Teil daraus, Fragen zu stellen, sich mit dem Kontext vertraut zu machen und nicht gleich Vorschläge zu machen und zu erwarten, dass die auch angenommen werden. Es kommt darauf an: ich bin diejenige, die lernen muss, ich bin die Unwissende, ich will von euch lernen. Nur so kann etwas nachhaltig werden.

Norbert Reichel: Ähnlich ist das ja mit internationalen Abkommen. Vor Kurzem unterschrieb Bolsonaro den Stopp weiterer Entwaldung ab 2030. In der Zwischenzeit beschleunigt er den Kahlschlag. Das ist doch auch für EZ’ler*innen mehr als frustrierend.

Kira Auer: Ich würde sagen, die Präsenz muss verstärkt werden. Es nutzt nichts nur zu beobachten. Man braucht auch das Rückgrat und die Courage, dies zu benennen, den Finger in die Wunde zu legen, kritisch zu sein und kritisch zu bleiben. Das ist dasselbe zurzeit mit China. Wir wissen genug, mehr als genug, es ist vielleicht auch nur ein Bruchteil dessen, was wirklich geschieht. Das Vorsichtige, Zaghafte – das haben wir jetzt 20, 30 Jahre lang versucht. Wir beobachten weltweit diesen Trend zu mehr Autokratie. Selbst Fortschritte werden zurückgenommen. Das sind Momente, da muss es immer – auch direkt – eine Antwort geben.

Ich komme noch einmal auf Guatemala zurück, das Land, in dem ich mich am besten auskenne. Dort wurde in den letzten Jahren vermehrt vom „inneren Feind“ gesprochen. Alle Aktiven werden wieder als Kommunisten und linkes Gesocks dahingestellt. Das war auch während der Internationalen Kommission so, als ich dort arbeitete. Ich wurde als Kommunistin bezeichnet, die ich nun wirklich nicht bin. Diese Schlagworte fallen und es ist kaum möglich, sich dem zu entziehen. In Guatemala hat es in den letzten Jahren kaum Gegenbewegung gegeben, es startete niemand eine Kampagne, keine Öffentlichkeitsarbeit, um zu zeigen: wir sind keine Kommunisten, keine Sozialisten.

Norbert Reichel: Der andere pauschale Vorwurf ist Faschismus.

Kira Auer: Und wenn man nicht widerspricht, lautet die Botschaft: da kann man ja noch weitermachen, noch einen Schritt weitergehen. Da ist Russland das beste Beispiel, das zeigt, wie das funktioniert. Putin konnte immer einen Schritt weitergehen, weil wir die Füße stillgehalten haben. Vieles dieser Art geschieht in vielen anderen Ländern auch.

Geschichtskenntnisse sind unabdingbar

Norbert Reichel: Wichtig ist es meines Erachtens, dass die Menschen, die in der EZ oder anderweitig im Ausland arbeiten, dass sie aus Deutschland unterstützt werden, wenn sie sich – vorsichtig gesprochen – zu schwierigen Verhältnissen verhalten müssen.

Kira Auer: Ich bin mir sicher, dass es dazu auch unterschiedliche Meinungen gibt. Tendiert man mehr zu den kritischen Stimmen oder sagt man sich, wir sind lieber leise und setzen unsere Arbeit still fort. Riskieren wir unsere Arbeit, wenn wir laut werden? Das hängt von der Situation ab, aber auch von den eigenen Einstellungen. Die Mitarbeiter*innen der EZ vertreten dabei unterschiedliche Meinungen.

Norbert Reichel: Ich nehme an, wir sind noch an den Anfängen dessen, was Annalena Baerbock wertegeleitete Außenpolitik nennt. Außenpolitik war lange nur wirtschaftsorientiert.

Kira Auer: Wir haben uns in Deutschland auch keinen Gefallen getan, die verschiedenen staatlichen Institutionen der Entwicklungszusammenarbeit zu fusionieren. Jetzt haben wir das BMZ und die GIZ als nachgeordnete Behörde. Es kommt außen nur noch eine Meinung an, eine Linie. Das war vorher gemischt. GTZ ging damit anders um als der DED. GTZ hat eher mit staatlichen Partnern gearbeitet, DED eher mit den Zivilgesellschaften. Aber auf diese unterschiedlichen Gesichtspunkte kommt es meines Erachtens an.

Norbert Reichel: Die von Ihnen in Ihrer Dissertation beschriebenen Phasen der Aufarbeitung nach Kriegsende beziehungsweise der Gewaltphase. Ich nenne die Phasen in Stichworten: Stabilisierung, Schweigen oder Erinnerung, Kontroversen, Normierung. Dabei ist zu unterscheiden, ob und wie sich Staat beziehungsweise Politik und Zivilgesellschaft in diesem Modell verorten. Ihr Fazit: „Die vorliegende Arbeit hat mit den Fallstudien Ruanda, Kambodscha und Guatemala und dem daraus abgeleiteten Phasenablauf deutlich gemacht, dass weder ein schneller, inszenierter und offensiver Umgang mit der Vergangenheit zu einer schnelleren individuellen und gesellschaftlichen Aufarbeitung führt, bei der die vergangenen Ereignisse und traumatischen Erlebnisse als Teil der individuellen und kollektiven Biographie aufgenommen werden können; noch eine tabuisierte, zensierte und verzögerte Vergangenheitsbewältigung zu einer stabilen und friedlichen Gesellschaft.“ Es „entsteht im Idealfall in der Zivilgesellschaft und ihren nachfolgenden Generationen ein tief sitzendes Bedürfnis, dass sich derartige Gewaltverbrechen, kollektive Schuld und kollektives Leid nicht wiederholen dürfen.“ Das wäre das im „transgenerationellen Gedächtnis“ zu verankernde „Nie wieder“.

Dieses Modell lässt sich meines Erachtens auf fast alle Länder anwenden, auch auf Deutschland, Polen, Russland. Die Graphiken, die Sie zum Abschluss der drei Fallstudien abbilden, sind sehr übersichtlich und geben einen ausgezeichneten Überblick. Lässt sich dieses Modell nicht auch in der Aus- und Fortbildung von EZ’ler*innen einbauen, sodass sie sich alle dann schnell ein Bild machen können, in welchen Phasen der Aufarbeitung sich das jeweilige Land befindet?

Kira Auer: Das ist eine schöne Frage. Tatsächlich war das der Urgedanke der Dissertation, ein Modell zu entwickeln, dass man leicht verstehen kann und aus dem abgeleitet werden könnte, wie man in der EZ agieren kann. Es wäre nicht so schwer, das Modell über ein Training zu vermitteln, allerdings braucht es trotzdem die landesanalytischen historischen und räumlichen Kenntnisse, um zu entscheiden, an welchem Punkt, in welchem Element des Phasenmodells sich eine Gesellschaft befindet. Deshalb finde ich die Landesanalyse so wichtig. Leider machen das nicht alle, mir ist sogar aufgefallen, dass vor allem diejenigen, die Entscheidungen treffen, sie nicht machen. An meinen Kursen zur Landesanalyse, die ich seit sieben Jahren durchführe, haben beispielsweise die jeweiligen Landesdirektor*innen nicht teilgenommen. In der Landesanalyse geht es darum zu vermitteln, auf welche Menschen man trifft, in welcher Gesellschaft man sich bewegt, welche Fragen welche Rolle spielen. Ohne den Blick in die Geschichte geht es nicht. Der lässt sich über ein Phasenmodell nicht vermitteln. Das Phasenmodell hilft, die Geschichts- und Raumkenntnisse einzuordnen, darüber nachzudenken, was gerade Sinn macht, beispielsweise ob es angezeigt ist, sich weniger in der psycho-sozialen Arbeit zu engagieren, aber sich mehr bei dem Aufbau institutioneller Strukturen zu befassen, den Menschen auch eine Latenzzeit zu geben, bis sie sich auf die Aufarbeitung des Traumas einlassen können. Dies ist im Grunde Gegenstand jeder Kontextanalyse, die vor jeder Aktion durchgeführt werden müsste. Ohne Geschichtsanalyse geht es nicht. Das aber ist nicht überall durchgedrungen.

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Juli 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 26. Juni 2022, die Rechte der Bilder liegen bei Kira Auer, das Titelbild ist ein Ausschnitt des Bildes „Chain Swallowing Artist“ von Arina N1aberezhneva, das mir von Katja Makhotina zur Verfügung gestellt wurde.)