Nächstes Jahr in Jerusalem?

Gespräche mit Michael Szentei-Heise – Teil I

„Die Geschichte der Opfer ist die Geschichte der Menschheit.“ (Aslı Erdoğan)

„Die Opferferne und Empathielosigkeit deutscher Mentalitäten überlebt doch jeden Regimewechsel.“ (Ralph Giordano)

(beide zitiert nach Marko Martin: Dissidentisches Denken – Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters, Berlin, Die Andere Bibliothek, 2019)

Michael Szentei-Heise war bis Anfang 2020 Verwaltungschef der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf und vertrat die jüdischen Gemeinden in Nordrhein-Westfalen in verschiedenen Gremien. Die jüdische Gemeinde Düsseldorf ist die drittgrößte jüdische Gemeinde in Deutschland. Im März 2020 vertrat er in der Jüdischen Allgemeinen die Auffassung, dass Jüdinnen und Juden voraussichtlich spätestens 2025 aus Deutschland auswandern müssten, weil dann eine antisemitisch orientierte Partei an der Regierung beteiligt werden müsste, weil andere Mehrheiten nicht mehr organisierbar wären.

Norbert Reichel: Vielleicht fangen wir mit einigen persönlichen Hinweisen an.

Michael Szentei-Heise: Ich wurde 1954 in Ungarn geboren. Meine Muttersprache ist ungarisch. Ich bin 1965 mit meiner Mutter Edith zu der Schwester meiner Mutter nach Deutschland gekommen. Die beiden Schwestern und ihre bereits verstorbene Mutter, meine Großmutter, waren Auschwitzüberlebende. Sie wurden in Tirschenreuth in Bayern auf einem Todesmarsch von den Amerikanern befreit. Die Mutter hatte im Anschluss daran in Toulouse Chemie studiert und war während der Berlinkrise von Frankreich nach Ungarn zurückgekehrt. Dies bezeichnete sie später als den größten Fehler ihres Lebens. Mein Vater war 1956 nach Amerika ausgewandert, da waren die Eltern bereits geschieden. 1964 wurde der sowjetische KP-Chef Chruschtschow unter anderem von seinem Nachfolger Breschnew gestürzt. Meine Mutter befürchtete eine Re-Stalinisierung und plante von da an „generalstabsmäßig“ die Flucht, die in 1965 tatsächlich gelang. Die Schwester der Mutter war bereits seit 1956 in zunächst in Düsseldorf später in München.

Da meine Mutter in der pharmazeutischen Industrie arbeitete und Französisch und Italienisch sprach, konnte sie vielfach im wissenschaftlichen Auftrag ins Ausland fahren und verdiente zusätzliches Geld mit Übersetzungen von Fachtexten ins Ungarische. Dies tat sie mit dem Hintergedanken, dass sie irgendwann dableiben wolle. Um diese Absichten zu tarnen, ließ sie das Haus in Budapest, in dem die Familie wohnte, „für eine horrende Summe“ renovieren. 1965 beantragte sie für mich ebenfalls die Ausreise. Ich sollte sie auf einer Dienstreise begleiten. Die Behörden waren skeptisch, ließen sich jedoch überzeugen, dass die Renovierung des Hauses dagegensprach, dass hier jemand die Flucht aus Ungarn plante. In Österreich sagte sie mir dann: Wir fahren nicht mehr zurück. Es gelang meiner Mutter sogar, Geld nach Deutschland zu transferieren, sodass es in Deutschland bereits ein kleines Startkapital gab.

Norbert Reichel: Du bist Jurist und Anwalt. 33 Jahre hast du als Verwaltungschef der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf gearbeitet. Anfang des Jahres 2020 hast du diese Aufgabe an deinen Nachfolger, an Michael Rubinstein, übergeben. Was würdest du als deinen größten Erfolg betrachten und was als deinen größten Misserfolg? Und was hat Michael Rubinstein jetzt zu erwarten?

Michael Szentei-Heise: Aus meiner Warte würde ich über die drei Jahrzehnte die Öffnung der Gemeinde nach außen in die Stadtgesellschaft als einen großen Erfolg werten. Es ist in dieser Zeit gelungen, die jüdische Gemeinde Düsseldorf fest als Bestandteil der Stadtgesellschaft in unterschiedlichen Bereichen von der Wohlfahrt bis zu Kultur, ja, und sogar bis zum Karneval zu verankern. Auch wird sie politisch im Land NRW deutlich mehr wahrgenommen als zuvor. Des Weiteren ist in dieser Zeit gelungen, eine inzwischen hervorragend funktionierende jüdische Grundschule, die Yitzhak Rabin Schule, zu gründen, die nach nur 27 Jahren zu den besten Grundschulen der Stadt gehört. Darüber hinaus wurde vor über vier Jahren das jüdische Gymnasium, das Albert Einstein Gymnasium, in Düsseldorf gegründet, das sich jetzt in seinem fünften Betriebsjahr befindet. Dadurch wurde eine Infrastruktur für die nächste Generation geschaffen, die die jüdische Gemeinde Düsseldorf auf Dauer gesehen überlebensfähig machen wird.

Als Misserfolg betrachte ich die Tatsache, dass es mir in all diesen Jahren nicht gelungen ist, ein Zentrum plus für die jüdische Gemeinde Düsseldorf zu etablieren, eine von der Stadt mitfinanzierte Einrichtung der Seniorenarbeit, über die alle anderen Wohlfahrtsverbände verfügen, nur wir nicht.

Mein Nachfolger wird diese Institutionen weiterentwickeln und stabilisieren müssen, aber auch zunehmend wachsende Spannungen innerhalb der Gemeinde ausgleichen müssen.

Alija – in Frankreich Alltag, demnächst auch in Deutschland?

Norbert Reichel: Am 25. Juni 2019 haben wir uns in Bonn getroffen und in einer gemeinsamen Veranstaltung der Synagogengemeinde Bonn und der Heinrich Böll Stiftung NRW über den wachsenden Antisemitismus in Deutschland und in Europa diskutiert. Unser Fazit damals: „Antisemitismus ist Indikator Nummer Eins für den Grad der Bedrohung des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats. Die Lage ist bedrohlich, nicht nur in Deutschland.“ Ignatz Bubis hat nach seiner Amtszeit als Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland beklagt, er habe in Deutschland nichts erreicht. Wäre ein solcher Satz auch heute angebracht?

Michael Szentei-Heise: Ja, ganz gewiss, denn trotz der vielen Arbeit im Hinblick auf Öffnung der jüdischen Gemeinden, die als solche von den meisten Menschen positiv wahrgenommen wurden, ist der Antisemitismus in den vergangenen 5-6 Jahren massiv gewachsen. Aktuell und in Zusammenhang mit der Coronakrise wird von nahezu jedem Kommentator, der sich auf die Verschwörungstheoretiker bezieht, erläutert, dass auch an dieser weltweiten Krise wahrscheinlich die Juden wieder schuld sind.

Ich kenne zwar noch keine Juden, die das Land – wie in Frankreich – bereits verlassen haben, aber die Diskussion in den Gemeinden, wann es Zeit ist, zu gehen, hat schon längst begonnen.

Norbert Reichel: Vor wenigen Wochen hast du in der Jüdischen Allgemeinen mit Nora Goldenbogen darüber gestritten, ob deutsche Jüdinnen und Juden nach Israel auswandern müssten oder nicht. Du hast die These vertreten, dass die AfD 2025 an der Bundesregierung beteiligt würde und dass es dann für Jüdinnen und Juden erforderlich sei, Alija zu machen, nach Israel auszuwandern.

Michael Szentei-Heise: Wir erleben zurzeit, dass die bürgerlichen Parteien pulverisiert werden und dass es für sie immer schwerer werden wird, Mehrheiten zu bilden. Ich bin davon überzeugt, dass die AfD 2025 an der Regierung beteiligt werden wird, ob als Juniorpartner der CDU oder möglicherweise sogar führend lasse ich offen. So oder so, für Jüdinnen und Juden wird es dann in Deutschland gefährlich, denn die AfD ist eine antisemitische Partei.

Norbert Reichel: Nicht nur für Jüdinnen und Juden. Aktuelle Umfragen im Frühjahr 2020 sagen allerdings, dass die AfD an Zustimmung verliert. Die CDU gewinnt in den Umfragen deutlich. Ebenso deutlich gehen die Werte für die AfD zurück. Könnte es nicht sein, dass die offensichtliche Radikalität des sogenannten „Flügels“ inzwischen so offensichtlich geworden ist, dass sie gerade auch nach den Wirren um die Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen Menschen abschreckt, weiterhin AfD zu wählen?

Michael Szentei-Heise: Das liegt meines Erachtens nur am Krisenmanagement der CDU-geführten Bundesregierung in der Corona-Krise. Mit einer Einsicht in den wahren Charakter der AfD hat das nichts zu tun. Ich möchte das mit der Situation in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichen. Churchill war als Kriegspremier beliebt und wurde gefeiert. Kurz nach dem Krieg wurde er abgewählt. Der Höhenflug der CDU in den Umfragen des Frühjahrs 2020 ist nicht dauerhaft. In Krisen unterstützen die Bevölkerungen die Regierenden. Das kann und wird sich ändern.

Eigentlich müssten alle seit langem wissen, wes Geistes die AfD ist. Wir alle haben doch gesehen, was in Halle geschah, mit welch zynischen Kommentaren AfD-Politiker die Opfer verhöhnten, wie führende Vertreter der AfD in Chemnitz und anderswo Seite an Seite mit notorisch bekannten Rechtextremisten demonstrierten und mit welchen Parolen die AfD den Boden für solche Verbrechen wie in Halle und Hanau bereitet. Das betrifft nicht nur Jüdinnen und Juden. Ich glaube nicht, dass die Debatte um den „Flügel“ Menschen, die die AfD wählen, davon abhält, diese Partei zu wählen. Aus meiner Sicht ist das Teil eines grundsätzlich deutschen Problems. Die deutsche Bevölkerung war schon immer gegen Linksextremismus immun, gegen Rechtsextremismus nie. Immer wieder habe ich eine Verharmlosung des Rechtsextremismus erlebt.

Norbert Reichel: Diese Verharmlosung hat in der Tat eine lange Geschichte. Das geht bis in die Zeit der milden Urteile gegen rechtsextremistische Verbrecher, beispielsweise die Mörder von Matthias Erzberger, Walter Rathenau und Kurt Eisner zu Beginn der 1920er Jahre zurück. CDU / CSU haben den Rechtsextremismus erst als größte Bedrohung unserer Demokratie benannt, als am 2. Juni 2019 der Regierungspräsident von Kassel von einem Rechtsextremisten ermordet wurde. Aber das war ja nicht der erste rechtsextremistische Mord. Die ZEIT hat am 25. Februar 2020 alle 182 Menschen namentlich benannt, die seit dem 3. Oktober 1990 von Rechtsextremisten ermordet worden sind.

Hilfloses Europa

Michael Szentei-Heise: Diese Verharmlosung des Rechtsextremismus ist nicht nur ein deutsches Problem. Schauen wir in andere Länder, in denen Diktatoren herrschen, die sich in vielen Punkten offen rechtsextremistisch positionieren oder zumindest mit Rechtsextremisten paktieren. Ich denke an Ungarn, das Land, in dem ich geboren bin, aber auch an Weißrussland, das lange Zeit die einzige Diktatur in Europa war. Jetzt hat Lukaschenko Gesellschaft bekommen, in Ungarn, in der Türkei. Diese beiden Länder sind inzwischen ausgewiesene Diktaturen, Ungarn spätestens seit den Notverordnungen angesichts der Coronakrise…

Norbert Reichel: … die ich als „Ermächtigungsgesetz“ bezeichnen würde …

Michael Szentei-Heise: … was sie de facto und de jure auch sind. Ich nenne weitere Länder: Brasilien, die Philippinen, Polen, die Slowakei. Europa ist dabei auseinanderzubrechen, Demokratien auf der einen Seite, Entwicklungen zur Diktatur auf der anderen Seite, die in einigen Ländern schon so weit gediehen sind, dass sie nicht rückholbar erscheinen. Und in fast allen Ländern gibt es rechtsextremistische Parteien mit hohen Stimmenanteilen. Europa ist in höchster Gefahr. Europa kann sich gegen diktatorische Maßnahmen einzelner Regierungen kaum wehren.

Norbert Reichel: Und die EU erscheint hilflos. Aber wie bewertest du die Initiativen der europäischen Antisemitismusbeauftragten, Katharina von Schnurbein. Geplant ist ein Aktionsplan, der im Herbst unter der deutschen Präsidentschaft verabschiedet werden soll. An der EU-Arbeitsgruppe beteiligt sich auch Felix Klein, der deutsche Antisemitismusbeauftragte. Welchen Einfluss hat die EU im Dschungel der Zuständigkeiten der Mitgliedsstaaten?

Michael Szentei-Heise: Das ist sehr schwer zu sagen. Jedenfalls habe ich den Eindruck, als ob Antisemitismus als gesellschaftliches Problem bei den Institutionen der EU keinesfalls flächendeckend als Problem begriffen wird. Bei einzelnen Personen mag das teilweise anders sein, so auch sicherlich bei Frau von Schnurbein, aber in der Breite gibt es für dieses Problem kein Bewusstsein, denn nur eine verschwindend kleine Minderheit ist davon betroffen und das geht die allermeisten Menschen einfach nichts an, zumal ohnehin alle gewohnt sind. dass die Juden immer an allem schuld sind; das ist kein ausschließlich deutsches Phänomen.

Norbert Reichel: Vielleicht schauen wir einmal nach Frankreich. In der oben genannten Veranstaltung in Bonn sagte Dr. Margaret Traub, die Vorsitzende der Synagogengemeinde Bonn, Frankreich sei angesichts des dortigen Antisemitismus nicht mehr ihr Land. Und das sagte eine Frau, die mit Leib und Seele Französin ist. Mein Eindruck: Die Situation in Deutschland ist bei Weitem nicht so dramatisch wie die Situation in Frankreich.

Michael Szentei-Heise: Es gibt Unterschiede, aber wir steuern in Deutschland auf das dasselbe Ergebnis zu. In Frankreich hat etwa ein Drittel der Jüdinnen und Juden Frankreich verlassen. Der Grund: es gibt schon seit langer Zeit eine große Minderheit von Menschen aus Nordafrika, die aus den ehemaligen Kolonien gekommen sind, jetzt in zweiter, dritter, vierter Generation in Frankreich leben. Der Staat hat für diese Menschen nichts, gar nichts getan. Man hat diese Menschen in den Vorstädten sich selbst überlassen. Und jetzt werden die aggressiv, aber nicht allein gegen den Staat – siehe Gelbwesten – sondern gegen Juden. In Deutschland gibt es solche Entwicklungen noch nicht, aber sie zeichnen sich ab.

Verfehlte Integrationspolitik

Michael Szentei-Heise: Die Türken in Deutschland sind wegen der verfehlten deutschen Integrationspolitik unter den Einfluss von Erdoğan geraten und das wirkt sich auf die folgenden Generationen aus. Erdoğan agiert sehr geschickt. Er wird nicht müde, die Integrationsversäumnisse in Deutschland und anderswo zu benennen, wirbt mit der türkischen Identität seiner „Landsleute“ außerhalb der Türkei, macht in Deutschland Wahlkampf und niemand kann dies verhindern. Er hat in den letzten Jahren versucht, sich an die Spitze einer anti-israelischen Koalition zu setzen und eine Art Einheit der muslimischen Länder zu schaffen. Er spricht die Menschen mit türkischer Familiengeschichte als Türken und als Muslime an. Das hat viele junge türkischstämmige Menschen auch in Deutschland überzeugt. Und Israel eignete sich bei allen sonstigen Unterschieden als gemeinsamer Feind. Israel und Juden, das ist ihm alles eins.

Wir haben in Deutschland nichts dafür getan, die vielen Menschen, die seit den 1960er Jahren damals als „Gastarbeiter“ nach Deutschland gekommen sind, nachhaltig zu integrieren. Wir haben uns immer wieder selbst belogen, wenn wir sagten, dass sie alle wieder in ihr Herkunftsland zurückgehen würden. Stattdessen haben sie zum Ausbau unserer Wirtschaft beigetragen und daher verständlicherweise auch ihre Familien nach Deutschland geholt. Viele haben versucht sich zu integrieren, aber wir haben dieses Bemühen ignoriert.

Das ist in Frankreich schlimmer als in Deutschland, aber auch unsere verfehlte Integrationspolitik fällt uns jetzt auf die Füße, indem junge Menschen, vor allem die, deren Eltern oder Großeltern aus arabischen Ländern oder aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind, sich jetzt antisemitisch profilieren. Für sie ist der Islam das, was sie gemeinsam haben, und die Juden und Israel sind der gemeinsame Feind.

Norbert Reichel: Wie verfehlt diese Integrationspolitik in Frankreich war, belegt Gila Lustiger eindrucksvoll in ihrem nach dem Bataclan-Attentat geschriebenen Buch „Erschütterung – Über den Terror“ (München / Berlin, Berlin Verlag, 2016). Sie schreibt, dass wir unterschätzt haben, was geschieht, wenn wir diese jungen Leute ignorieren und abkanzeln, „diese Versager, Sozialhilfeempfänger, Schulabgänger (…) die in den Vororten das Kulturgut anzündeten, das wir so gnädig gewesen waren, ihnen zur nutzbringenden Weiterbildung zu überlassen.“ Im Grunde nicht nur verfehlte Integrationspolitik, sondern auch verfehlte Sozialpolitik. Aber das ist doch nicht zwangsläufig, dass eine verfehlte Sozial- und Integrationspolitik zu Antisemitismus führt?

Michael Szentei-Heise: Ja, aber der Kern dafür, sich wieder gegen Juden zu wenden, ist in jeder Gesellschaft in Europa seit Jahrtausenden vorhanden, für die Enttäuschten ist es dann ein Leichtes gemeinsam mit einer aktuellen politischen Agenda aus dem Nahen Osten das aufzugreifen. Da schließt sich der traditionelle europäische Antisemitismus mit dem aktuellen muslimischen Antiisraelismus zu einer unheiligen Allianz zusammen.

Norbert Reichel: Stellst du antisemitische Positionen auch bei Menschen fest, die aus Osteuropa nach Deutschland ein- und zugewandert sind?

Michael Szentei-Heise: Weniger. Der ukrainische Präsident ist Jude. Es gab und gibt immer wieder Absprachen zwischen Netanjahu und Putin, beispielsweise zum Vorgehen Netanjahus in Syrien. Es gibt Absprachen, die dazu führen, dass Putin Netanjahu Handlungsspielräume einräumt. Diese Kooperation spiegelt sich dann auch ein wenig in allgemeinen Einstellungen der dortigen Bevölkerung.

Das Land im östlichen Europa, das ich für höchst problematisch halte, ist Polen. Ich muss das so sagen: Aus meinen Erfahrungen ist Polen das antisemitischste Land der Welt, obwohl es dort heute kaum noch Jüdinnen und Juden gibt. Zum Vergleich: Die polnischen Gemeinden haben je nach Zählung etwa 8.000 bis 12.000 Mitglieder. Die Shoah überlebt haben etwa 180.000 Juden. Die meisten sind dann ausgewandert. Ermordet wurden in der Shoah etwa 3 Millionen polnische Jüdinnen und Juden. Und 1968 hat die damalige polnische Regierung unter Gomułka und später unter Jaruzelski Juden systematisch aus Polen vertrieben.

Ich nenne ein konkretes Beispiel für antisemitische Angriffe in Polen. Jedes Jahr gibt es am Yom Hashoah in Auschwitz den March of the Living. Dorthin sind wir früher auch aus Düsseldorf mit Bussen hingefahren. Es beteiligen sich viele jüdische Jugendliche. Einige tragen Kippa. Was diese Jugendlichen an Tankstellen, an Raststätten in Polen erlebt haben, belegt meinen Eindruck in erschreckendem Ausmaß.

Norbert Reichel: Und wie sieht es in Ungarn aus? Viktor Orbán verwendet bei seiner Kritik an George Soros eindeutig antisemitische Klischees: Soros ist der reiche Jude, der das Volk verführt.

Michael Szentei-Heise: Das geht nach dem Motto: „Never change a winning team.“ Wenn sich einmal eine Ideologie der Schuldzuweisung an eine Minderheit wunderbar bewährt hat, kann man das zukünftig unbegrenzt nutzen; genau das tut Viktor Orbán. Allerdings hat er in Ungarn ein noch leichteres Spiel als in manch anderen Ländern Europas, denn wenn ich die Polen für das antisemitischste Volk in Europa halte, halte ich die Ungarn für das dümmste.

Antisemitismus in der „Leitkultur“

Norbert Reichel: Der Kampf gegen den Antisemitismus gehörte offenbar nicht zu dem „Kulturgut“, von dem Gila Lustiger sprach. Stattdessen hat sich der Begriff der „Leitkultur“ etabliert, in seiner exkludierenden Version, wie sie meines Wissens erstmals von Friedrich Merz vertreten wurde, nicht in der ursprünglich inkludierend verstandenen Version von Bassam Tibi. Geschichtsvergessen finde ich offen gestanden, dass viele deutsche Politiker*innen und Journalisten dem Begriff der „Leitkultur“ das Attribut „jüdisch-christlich“ gaben, mit Bindestrich. Wie bewertest du diese Begrifflichkeit? Ich habe manchmal den Eindruck, dass es vorrangig darum geht, den Islam, die Muslime auszugrenzen.

Michael Szentei-Heise: Ja, das sehe ich ähnlich; es ist aber auch gleichzeitig der hilflose und unbeholfene Versuch, nach den schrecklichen Ereignissen des Holocaust den Juden ein kleines „Bonbon“ hinzuhalten, indem man anerkennt, dass die christlichen Traditionen tatsächlich aus dem Judentum stammen. Aber die Absicht ist tatsächlich, den Islam auszugrenzen.

Norbert Reichel: Rechte Parteien versuchen seit einigen Jahren, sich vom Antisemitismus abzusetzen. Die FPÖ in Österreich betonte ihre Unterstützung Israels. Nichtsdestoweniger hat die israelische Regierung jede Zusammenarbeit mit FPÖ-Minister*innen abgelehnt. Die AfD argumentiert ähnlich. Im März 2020 hat sie nach langen Debatten ein Mitglied aus Baden-Württemberg wegen seiner antisemitischen Äußerungen ausgeschlossen.

Michael Szentei-Heise: Selbst in der AfD will niemand Rassist oder Antisemit sein. Das halte ich für einen taktischen Schachzug. In Frankreich hat Marine Le Pen in Abgrenzung von ihrem Vater ihrer Partei, dem Rassemblement National, wie sie jetzt heißt, Antisemitismus-Entzug verordnet. Ob das die Einstellungen der Mitglieder dieser Partei verändert hat, ist eine andere Frage.

Und das ist in der AfD nicht anders. Wir brauchen nicht den ständigen Hinweis auf den „Flügel“, um in der Partei antisemitische Einstellungen zu finden. Merkwürdig ist auch die Gruppe „Juden in der AfD“, einige wenige Menschen, von denen wir noch nicht einmal wissen, ob sie wirklich Juden sind. Das sind Feigenblättchen einer im Grunde antisemitischen Politik,….

Norbert Reichel: …die sich immer wieder in Anträgen der Fraktionen in den Landtagen und im Bundestag zeigt, den Gedenkstätten an die Shoah die Zuschüsse zu entziehen.

Michael Szentei-Heise: Hinzu kommt, dass es nach 1945 zwar viele Menschen gab, die in Deutschland forderten: „Nie wieder“ und sich eindeutig vom Nationalsozialismus abgrenzten. Aber das waren eben bei Weitem nicht alle, denn andere Gruppen trugen den Antisemitismus und weitere Ansichten des Nationalsozialismus weiter in sich, hielten aber still. Ein Bekenntnis zu den nationalsozialistischen Verbrechen war eben in der Öffentlichkeit verpönt. Daran wollte man nicht erinnert werden. Und so waren nicht die Täter, sondern die Opfer die Schuldigen. Wir haben seit Jahrzehnten dieselben Ergebnisse von Forschung und Meinungsumfragen. Denen können wir entnehmen, dass antisemitische Einstellungen Zustimmungswerte von etwa 15 – 20 % erhalten. Fragt man nach Einschätzungen, ob Juden zu viel Einfluss hätten, ob sie die Politik von Regierungen oder Banken bestimmten, sind die Zustimmungswerte noch einmal deutlich höher. Und die Zahlen sind stabil. Sie steigen heute für manche Erscheinungsformen des Antisemitismus sogar noch.

Israelbezogener Antisemitismus

Norbert Reichel: Bei den 15 – 20 % antisemitischen Positionen Zustimmenden aus den diversen Umfragen handelte es sich mehr oder weniger um Deutsche. Der Antisemitismus ein- und zugewanderter Menschen aus arabischen Ländern und aus der Türkei wurde lange Zeit ignoriert. Wir haben eben schon angedeutet, dass Israel als gemeinsamer Feind eine zentrale Rolle bei deren Antisemitismus spielt. Israelbezogenen Antisemitismus gab es in der Bundesrepublik zwar auch schon gegen Ende der 1960er Jahre, in der DDR wurde Israel heftig angegangen.

Michael Szentei-Heise: Es hat sich eine Form der Kritik an Israel entwickelt, die sich nicht darauf beschränkt, die Politik der israelischen Regierung zu kritisieren. Das wäre legitim, aber aus allem, was in Israel geschieht, wird direkt eine weltweite jüdische Verschwörung gemacht. Über die Besatzungspolitik in Israel kann man viel streiten, aber im linken Antisemitismus, der sich als Antizionismus, Antikolonialismus oder als was auch immer tarnt, wird Israel mit dem untergegangenen südafrikanischen Apartheidregime oder sogar mit dem NS-Regime gleichgesetzt.

Norbert Reichel: Die BDS-Bewegung ist vielleicht das medienwirksamste Erscheinungsbild des israelbezogenen Antisemitismus. Du hast dich vor einigen Jahren aktiv gegen ein von Roger Waters in Düsseldorf angekündigtes Konzert engagiert.

Michael Szentei-Heise: Zunächst einmal muss ich sagen, dass mir bei meinem damaligen Aufruf selbst das Herz blutete. Ich bin mit Pink Floyd aufgewachsen und liebe Roger Waters’ Musik. Was der Sänger aber seit einigen Jahren aufführt, ist wirklich skandalös und ekelhaft. Das gesamte Bühnenbild weckt eindeutige Assoziationen an die Reichsparteitage der NSDAP. Waters tritt zudem im Ledermantel und mit schwarz-roter Armbinde auf. Zum Schluss des Konzerts wird dann auch noch ein Plastikschwein, auf das ein Davidstern projiziert ist, zum Abstechen freigegeben. Waters ist ein geistiger Brandstifter, für den es in keiner Stadt ein Forum geben darf.

Norbert Reichel: Und die Freiheit der Kunst?

Michael Szentei-Heise: Vermutlich ist das, was er tut, von der Kunstfreiheit abgedeckt. Gerade in Deutschland geht die Freiheit der Kunst sehr weit. In einem Prozess könnte man indes zumindest – und sollte es vielleicht auch – über diese Frage streiten.

Norbert Reichel: Die Verwendung nationalsozialistischer Symbole ist strafbar. Aber ich habe den Eindruck, dass manche Künstler, die mit dem Antisemitismus kokettieren, sehr genau wissen, wie weit sie gehen können. Ich nehme an, sie lassen sich auch juristisch beraten. Aber ist es nicht auch ein gutes Zeichen, dass die Performance von Kollegah, Xavier Naidoo oder Ramstein in der Öffentlichkeit immer wieder diskutiert wird und auch Reaktionen erfolgen, indem Konzerte abgesagt, Preise aberkannt, zumindest aber deutliche Kritik geübt wird?

Michael Szentei-Heise: Ja, das ist in der Tat sehr erfreulich aber das kommt eigentlich nur zustande, wenn couragierte Personen, wie ein Campino, bei so einer Performance anwesend sind und ihre Kritik auch verbalisieren. Als Martin Walser seinerzeit in Anwesenheit von Ignatz Bubis von der „Auschwitzkeule“ fabulierte, gab es keinen der Anwesenden, der Kritik geübt hätte, obwohl die Crème de la Crème der bundesdeutschen Gesellschaft anwesend war.

Norbert Reichel: Es gibt inzwischen mehrere Städte, die BDS-Aktivist*innen keine Räume mehr zur Verfügung stellen, wenn sie eine Veranstaltung durchführen wollen. Meines Wissens waren München und Frankfurt am Main die ersten Städte, die dies taten. Wäre eine aktive Auseinandersetzung nicht besser?

Michael Szentei-Heise: Meine Meinung: Keine Toleranz für die Intoleranz. Welchen Sinn kann außerdem eine Auseinandersetzung mit Menschen machen, die eigentlich die Vernichtung des Staates Israel fordern? So eine Auseinandersetzung betrachte ich als verlorene Zeit.

Antisemitische Koalitionen

Norbert Reichel: In ihrem Hass auf Israel treffen sich Linke, Rechte und Muslime. In der Zeit vor den Morden und Mordversuchen am Jom-Kippur-Fest 2019 in Halle wurde in den Medien intensiv über muslimischen beziehungsweise arabisch-türkischen Antisemitismus berichtet. Mitunter hatte ich den Eindruck, als ginge es bei juden- und israelfreundlichen Äußerungen der rechtsextremistischen Parteien nicht um Freundlichkeiten gegenüber Juden und Israel, sondern ausschließlich darum, Muslime grundsätzlich als Antisemiten hinzustellen, die wir in Deutschland nicht brauchen könnten. In Österreich lief die Debatte durch den Einfluss der FPÖ ähnlich. Die Antisemiten auf der rechten und linken Seite wurden und werden mehr oder weniger ignoriert.

Karl Lagerfeld sagte mal, die Bundeskanzlerin hätte 2015 in Deutschland „die schlimmsten Feinde der Juden eingeladen“. Mein Eindruck: Jüdinnen und Juden, Israel werden von rechten Kreisen instrumentalisiert, um eine anti-islamische, fremdenfeindliche Stimmung zu verbreiten. Davon versprechen sich die rechten Parteien Zustimmung auch in bürgerlichen Kreisen, zumal sie sich selbst für bürgerlich halten. Und viele, die den bürgerlichen Parteien nahestehen, fallen darauf herein. Karl Lagerfeld möchte ich nicht unterstellen, dass er mit rechten Parteien sympathisierte, aber ihre Parolen hatte er verinnerlicht.

Michael Szentei-Heise: Antisemitische Koalitionen haben eine lange Tradition. Ich denke an die Zusammenarbeit zwischen Hitler und dem Großmufti von Jerusalem Mohamed Amin Al-Husseini. Eine solche Koalition finden wir heute auch auf den Al-Quds-Märschen, mit Verstärkung von rechts wie von links: Arabisch, türkisch, muslimisch, gemeinsam mit deutschen Rechts- und Linksextremisten. Angefangen hat das nach dem „Sechs-Tage-Krieg“.

Zu Karl Lagerfeld: Diejenigen, die in Berlin an dem sogenannten „Al-Quds-Marsch“ teilnehmen, sind nur in Ausnahmefällen die Menschen, die 2015 als Flüchtende nach Deutschland gekommen sind. Das sind auch nicht die vor fünfzig oder sechzig Jahren eingewanderten Menschen, die inzwischen alle im Rentenalter sind. Das sind deren Kinder, Enkel, Urenkel, die alle deutsche Schulen besucht haben und jetzt antisemitisch hetzen. Das macht das nicht besser, sondern eben sogar schlimmer. Es sind junge Leute, die es eigentlich besser gelernt haben sollten.

Norbert Reichel: Ich kann mich noch gut an den „Sechs-Tage-Krieg“ erinnern. Es war ein heißer Sommer, ich war Schüler und der Junge, der eine Bank vor mir saß, hörte heimlich Radioberichte über den Kriegsverlauf. Einmal drehte er sich um und sagte: Wir haben drei Panzer gewonnen.“ Damals gab es noch eine hohe Identifikation mit Israel. Der Schüler in der Bank vor mir war Katholik. Verbreitet war Philosemitismus. Dafür standen Namen wie Ephraim Kishon, Abi und Esther Ofarim. Politiker wie Moshe Dayan und Golda Meir hatten in Deutschland eine gute Presse. Als ich dann in den 1970er Jahren in Bonn studierte, war das vorbei. Für die linken politischen Gruppen war Israel nichts anderes als ein Ableger der USA, böses kapitalistisches und imperialistisches Ausland.

Michael Szentei-Heise: Die Sympathie für anti-israelische Positionen hat auch damit zu tun, wer welche Medien konsumiert. Aljaseera oder TRT (Türkiye Radyo ve Televisyon Kurumu) predigen immer wieder Verschwörungstheorien, die letztlich einen antisemitischen Kern haben. Das ist anschlussfähig an das, was Rechtsextremisten vertreten. Verschwörungstheorien nach dem Muster „Israel ist an allem schuld“ werden dann schnell verbreitet und populär. Und wir haben in den Schulen, in den Medien das lange ignoriert. Jetzt bekommen wir die Quittung.

Norbert Reichel: Und Liberale und Linke lesen Zeitungen wie die taz oder Le monde diplomatique, dessen deutsche Ausgabe es als Beilage der taz gibt. Ich hatte – auch aus Frankophilie – Le monde diplomatique lange abonniert. Die Zeitung hatte immer schon eine merkwürdige Sympathie für Fidel Castro. Das habe ich wegen vieler anderer guter Berichte noch hingenommen, aber ich habe sie dann abbestellt, als die Zeitung sich immer mehr auf die Seite von BDS schlug.

Michael Szentei-Heise: Zum linken Antisemitismus: Ursprünglich war die Linke israelfreundlich. Das hat sich inzwischen geändert, nicht erst seit gestern, sondern abgesehen von den Sympathien im Linksextremismus für diverse palästinensische Terror-Organisationen seit zwei bis drei Jahren. Politische Entscheidungen in Israel und in den USA machen es uns nicht leicht. Ich denke beispielsweise an die Debatte um die Verlegung der US-amerikanischen Botschaft durch Trump nach Jerusalem. Das war nicht sonderlich hilfreich, auch wenn es eigentlich kein großer Akt sein sollte. Manche Freunde sind mitunter schlimmer als die Feinde. Umstritten ist ja auch die sogenannte „Siedlungspolitik“. Was es aber heißt, wenn Menschen in Israel ständig mit Bomben aus Gaza oder aus dem Libanon angegriffen werden, ständig Attentate befürchtet werden müssen, können sich viele in Deutschland nicht vorstellen.

Norbert Reichel: Der israelbezogene Antisemitismus wird in der offiziellen Definition des Antisemitismus durch die IRHA (International Holocaust Remembrance Alliance) ausdrücklich benannt. Ich darf zitieren: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und / oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“ (Quelle der deutschen Übersetzung: Internetseite des Auswärtigen Amtes.)

Michael Szentei-Heise: Das steht auf der Habenseite. Entscheidend ist der letzte Satz, bei aller Zurückhaltung in den Formulierungen. Im Begriff „jüdisches Kollektiv“ ist all das angesprochen, was landläufig unter „jüdische Weltverschwörung“ gemeint ist, von den sogenannten „Protokollen der Weisen von Zion“, die heute noch manche für echt halten, bis hin zu Umfrageergebnissen, in denen Menschen Jüdinnen und Juden großen Einfluss auf Kapitalmärkte, Banken und Weltpolitik zusprachen. Dies spielte auch bei den Debatten um den Antisemitismus in der britischen Labour Party und ihres ehemaligen Vorsitzenden Jeremy Corbyn eine zentrale Rolle.

Beleidigungen und Angriffe – die Vorstufen zum Mord

Norbert Reichel: Die Süddeutsche Zeitung hat im Oktober 2019 antisemitische Anschläge und Morde dokumentiert. Ich nenne einige Daten, die ich der Süddeutschen Zeitung entnommen habe, meine Liste ist nicht vollständig:

  • 12.1959: Schmierereien u.a. an der Synagoge in Köln,
  • 2.1970: sieben Tote bei einem Attentat auf ein Münchener Altenheim,
  • September 1972: Attentat auf die israelische Nationalmannschaft während der Olympiade, zehn Tote,
  • August 1975: Paketbombenanschlag auf Heinz Galinski, den damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland,
  • Dezember 1980: Mord an Schlomo Lewin und Frida Poeschke in Erlangen,
  • 2.1982: Mord an Bianka Zmigrod in Frankfurt am Main,
  • 1.2010: Anschlag auf das Haus der Demokratie im brandenburgischen Zossen während einer Ausstellung zum jüdischen Leben,
  • 5.2010: Anschlag auf die Wormser Synagoge,
  • 8.2010: Anschlag auf eine Totenhalle des jüdischen Friedhofs in Dresden,
  • 10.2010: Anschlag auf die Mainzer Synagoge,
  • 1.2011: Anschlag auf das Haus eines Israelis im brandenburgischen Gosen,
  • Oktober 2019: Anschlag auf die Synagoge in Halle

Einige dieser Anschläge und Morde konnten bis heute nicht aufgeklärt werden. Nicht enthalten ist in der Liste der Anschlag auf die Synagoge in Wuppertal vom 28.7.2014. dieser Mordanschlag wurde überregional bekannt, weil das Gericht die Tat der drei jungen Männer mit palästinensischem Hintergrund, als „nicht judenfeindlich“ einstufte, da es sich nur um eine Aktion gegen Israel gehandelt habe. Dies haben Rabbiner Abraham Cooper, Associate Dean und Rabbiner Yitzchok Adlerstein, Direktor für interreligiöse Angelegenheiten beim Simon Wiesenthal Center, im Berliner Tagesspiegel kommentiert.

Ich darf auch aus einem Newsletter von Irene Mihalic vom April 2020 zitieren, der innenpolitischen Sprecherin der Grünen Bundestagsfraktion: „Im Jahr 2019 sind in der polizeilichen Kriminalitätsstatistik 2032 antisemitische Straftaten aufgeführt, davon 1896 von rechts. Im Vergleich zum Vorjahr stellt dies einen Anstieg um 13 Prozent dar (…) Auch die Tatsache, dass zum Stichtag des 31. Dezember 2019 insgesamt 892 Rechtsextremisten und damit 100 mehr als im Vorjahr über eine oder mehrere waffenrechtliche Erlaubnisse verfügen ist besorgniserregend.“

Michael Szentei-Heise: Antisemitische Beleidigungen, Angriffe und Morde geschehen in immer engeren Abständen. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu früheren Zeiten. Und Beleidigungen und Angriffe sind die Vorstufe zum Mord. Insofern sind die Morde und Mordanschläge nur die Spitze des Eisbergs.

Antisemitische Angriffe, welcher Art auch immer, werden viel zu wenig verfolgt und viel zu wenig geahndet. Es ist beschämend, wenn der antisemitische Hintergrund einer Tat nicht gesehen oder vielleicht sogar bewusst ignoriert wird. Erschreckend ist auch, wie sehr sich Strafverfolgungsbehörden zieren, eine rechtsextremistische oder muslimische Motivation antisemitischer Straftaten zuzugeben.

Norbert Reichel: Angriffe auf Männer, die eine Kippa tragen, haben zu Solidarität mit Jüdinnen und Juden geführt. „Berlin trägt Kippa“, „Bonn trägt Kippa“ und so fort.

Michael-Szentei-Heise: Als Josef Schuster 2015 erstmals öffentlich sagte, dass er für problematisch erachte, in bestimmten Berliner Stadtbezirken mit hohen Anteilen muslimischer Bevölkerung eine Kippa zu tragen, wurde ich gefragt, ob ich das für Düsseldorf ebenso sähe. Ich habe damals gesagt, dass ich dieses Problem in Düsseldorf nicht sähe. Heute würde ich das anders sehen. Heute gibt es überall in Deutschland Gegenden, in denen das Tragen einer Kippa für den Träger gefährlich sein kann. Juristisch ist das, was da geschieht, zumindest versuchte Körperverletzung. Vor einiger Zeit haben aber zwei Staatssekretäre aus der Landesregierung bei uns jeweils eine Kippa ausgeliehen, um damit zwei Wochen lang öffentlich aufzutreten; zu der Zeit jedenfalls sind die beiden nicht angegriffen worden.

Norbert Reichel: Der Prenzlauer Berg in Berlin, die meisten Düsseldorfer Stadtteile oder der Hofgarten in Bonn sind nun keine sozialen Brennpunkte, und besonders viel muslimische Bevölkerung gibt es da auch nicht. Josef Schuster hat nach dem Angriff vom Prenzlauer Werk im April 2018 seine Warnung wiederholt. Am Beispiel Frankreichs hatten wir darüber gesprochen, dass Antisemitismus durch verfehlte Integrations- und Sozialpolitik begünstigt wurde und wird. Die genannten Angriffe scheinen dem zu widersprechen. Antisemitische Angriffe sind nicht auf Brennpunkte beschränkt.

Michael Szentei-Heise: Nein, der Antisemitismus ist inzwischen massiv in der Mitte der Gesellschaft und damit auch im Bildungsbürgertum angekommen, wenn er denn jemals überhaupt wirklich weg war. Und wie gesagt, es sind eben nicht nur Muslime, sondern auch die Rechten, die aktiv werden; von linken Schlägern, die Juden angegriffen hätten, habe ich allerdings noch nichts gehört.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2020, alle Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)