Liebe Freund*innen des Demokratischen Salons,
in unserer Ausgabe für Januar 2023 finden Sie sieben Texte: die Dokumentation eines Gesprächs mit dem Bonner Osteuropahistoriker Martin Aust, das von Beate Blatz geschriebene Portrait eines der besten Kenner von Iran und Türkei Christopher de Bellaigue, die Vorstellung des wieder entdeckten jüdisch-deutschen Liederbuchs von 1912 durch die israelische Musikwissenschaftlerin Gila Flam, einen Reisebericht von Mostapha Boukllouâ nach Indonesien, einen Essay von Norbert Reichel zum rechtsextremistischen Mainstreaming auf der Grundlage verschiedener aktueller Bücher und Studien sowie Rezensionen der Bücher von Tilman Tarach zum Antisemitismus und des Sammelbandes „Frenemies“ der Anne-Frank-Bildungsstätte in Frankfurt am Main.
Wie üblich finden Sie unsere Hinweise auf Veranstaltungen, die nächste mit Beteiligung des Demokratischen Salons am 30. Januar 2023 in Bonn mit Katajun Amirpur, Fahimeh Farsaie und Vertreter*innen von Bonn4Iran sowie unsere Empfehlungen für Lektüren, Podcasts, Ausstellungen.
Das Editorial befasst sich mit der Frage, wie ein freiheitlich-demokratischer Konservatismus (und nicht nur dieser) rechtspopulistischen und rechtsextremistischen Versuchungen widerstehen könnte.
Das Editorial:
In der Nacht vom 31. Dezember 2022 auf den 1. Januar 2023 erlebten wir nach dem Jahreswechsel von 2015 auf 2016 mal wieder eine „Sylvesternacht“, die einen Politikwechsel bewirken könnte, wenn auch in die falsche Richtung. Es geschah damals in Köln, jetzt geschah es in Berlin, in einer Stadt, die sowieso schon viele für einen Failed State halten (ist sie natürlich nicht, um das mal klarzustellen!). Die Reflexe mancher Politiker*innen 2015 und 2022 ähnelten einander. Der erste war diesmal Jens Spahn. Aber nicht nur er deutete die Vorkommnisse in diese eine Richtung: schnell waren migrantische, zum überwiegenden Teil männliche junge Menschen als Täter ausgemacht.
Andererseits ernteten Jens Spahn und seine Mitstreiter*innen heftigen Widerspruch aus den eigenen Reihen. Das war diesmal anders als 2015. So distanzierte sich Serap Güler, heute MdB für die CDU, früher Integrationsstaatssekretärin in NRW, von Äußerungen ihres Parteikollegen: „Es sind vor allem Migranten selbst, die sich über solche Taten aufregen, weil viele keinen Bock haben, mit solchen Leuten in dieselbe Schublade gesteckt zu werden (…). Muss man wissen, wenn man daraus jetzt eine Integrationsdebatte machen will.“ Aber wer hat denn ein Interesse an der Neuauflage einer emotionalisierten und wenig sachgerechten Integrationsdebatte? Man könnte durchaus die üblichen Verdächtigen oder die interessierten Kreise nennen, denen daran gelegen ist, alles Migrantische pauschal zu verdammen. Dazu ist manchen jedes Mittel recht. Correctiv recherchierte, dass ein Video, das einen Angriff auf einen Rettungswagen in Neukölln zeigen sollte, in Wirklichkeit einen Angriff aus dem Jahr 2019 in Hongkong zeigte. Ein weiteres Video aus Berlin-Schöneberg ist vier Jahre alt.
Güner Balsi, Integrationsbeauftragte von Berlin-Neukölln, beschrieb ein Stimmungsbild nach der Sylvesternacht: „Einer will, dass ich mich entschuldige, bei allen Ost-Berlinern, die nie was gegen Einwanderer hatten, weil ich zu erwähnen wagte, dass gewaltbereite Jugendliche ohne erkennbaren Migrationshintergrund in Berlin-Hohenschönhausen vielleicht andere Hassobjekte haben als ein Hamoudi aus der Neuköllner High-Deck-Siedlung. Ich solle nicht über ‚Abgehängte‘ reden, nicht über ‚sozial Schwache‘, das sei diskriminierend, ich solle nicht über Migranten reden oder ich solle gefälligst nur von Migranten reden.“ Güner Balci verweist auch auf Hooliganismus bei Fußballspielen, beispielsweise auf Ausschreitungen bei einem Spiel von Dynamo Dresden am 16. Mai 2021 gegen Türkgüçü München mit 185 verletzten Polizist*innen, von denen 30 dienstunfähig wurden. Keiner der Täter hatten den sogenannten „Migrationshintergrund“. Julius Geiler berichtete im Berliner Tagesspiegel.
Der Kern der Debatte: manche Politiker*innen, nicht nur konservative, sind nach wie vor versucht, jede Gewaltdebatte in eine Migrationsdebatte zu verwandeln. Auch einige Zungenschläge der Bundesministerin des Inneren und der Regierenden Bürgermeisterin von Berlin lassen aufhorchen: steckt hinter ihren Äußerungen wirklich der ernstgemeinte Versuch, die Wogen zu glätten und für eine vernunftgeleitete Diskussion – die seit 2016 aussteht – zu sorgen, oder wird da, bei allem guten politischen Willen doch dem vermuteten Vorurteil bestimmter Wähler*innen gefolgt? Da werden Gipfel gegen Jugendgewalt und was auch immer angekündigt. Aber warum erst jetzt? Als die Fußballfans von Dynamo Dresden randalierten, verlangte niemand einen solchen Gipfel. Aber kaum sind Migranten (vor allem junge Männer, daher gendere ich nicht) dabei, kommt es wieder zu den üblichen Formeln: höhere Strafen, schnelle Aburteilung der Täter, von SPD und Grünen etwas variiert mit der Forderung nach mehr Sozialarbeit. Reichen die Gesetze nicht aus? Muss man sie nicht eben einfach nur auch mal konsequent anwenden? Und was ist mit einer Ausweitung der ohnehin schon bestehenden Verbote von Waffen einschließlich Schreckschusspistolen oder gar einem Böllerverbot?
Die Reaktionen von konservativer Seite ließen nicht auf sich warten. Es ist wie mit dem Tempolimit. Ein Recht auf Sylvesterböller, ein Recht auf Waffenbesitz ohne weitere Kontrolle, wenn man doch nur im Schützenverein damit schießt. Alles Einschränkung der Freiheitsrechte? Das ist ein Verbot von Sturmgewehren auch, und was damit geschieht, erleben wir fast täglich in den USA. Der brave Familienvater und seine brave Familie müssen doch ihre Böller abschließen dürfen, machen sie doch eh nur an Sylvester, das ist Brauchtum, weltweit! Und der Schützenverein, das ist Tradition, die Schützen darf ich doch nicht mit Kontrollen und Vorbedingungen schikanieren!
Viel interessanter wäre meines Erachtens jedoch jenseits solch reflexartiger Skripte, die jede*r Journalist*in schon vor den jeweiligen Ereignissen aufschreiben könnte, die Frage, ob es nicht Wege gäbe, einmal unabhängig von Gewaltereignissen darüber nachzudenken, wie man – vielleicht gar nicht in böser Absicht – eine solche Migrantisierung einer Gewaltdebatte wieder einfängt und vielleicht sogar dafür sorgt, dass die Zahl derjenigen sinkt, die das Gewaltereignis nutzen, um ihre Vorbehalte gegen Migrant*innen und andere, die anders ausschauen als sie selbst, umso lauter in die Welt zu pusten.
Ein gutes Vorbild für eine solche alternative Strategie bietet Sepp Müller, Vorsitzender der Landesgruppe Sachsen-Anhalt in der Bundestagsfraktion der CDU. In einem Gastbeitrag für die ZEIT (der Beitrag wurde am 8. Juni 2022 aktualisiert) formulierte er den Vorschlag, die Menschen in Schwedt (Brandenburg), dessen Wirtschaft in hohem Maße von der Verarbeitung russischen Öls abhängt (das inzwischen nicht mehr zur Verfügung steht), an der notwendigen Umsteuerung direkt zu beteiligen und damit auch aus der nicht zuletzt durch die Erfahrungen der 1990er Jahre mit der Treuhand bedingten Opferrolle herauszuholen: „Mit dem verabschiedeten Energiesicherungsgesetz ist zumindest die Grundlage geschaffen worden, die Besitzstruktur zu verändern. Diese Chance muss jetzt genutzt werden, um die Beschäftigten der Raffinerie dazu zu befähigen, noch mehr Verantwortung zu übernehmen. Nun kann man eine alte Idee in die Tat umsetzen: Produktivkapital in Arbeitnehmerhand zu geben. Wir würden damit auch der Vermögensungleichheit begegnen. Insbesondere der Osten unserer Bundesrepublik kann hier wieder eine Vorzeigerolle einnehmen. Vermögen in alle Schichten unserer Gesellschaft zu verteilen ist die große Chance in dieser Krise.“
Eine solche Beteiligung der Bürger*innen ginge erheblich weiter als bekannte deliberative Formen wie sie beispielsweise eine „Planungszelle“ mit ihren zufällig ausgewählten Mitgliedern bietet. Sie geht an den Kern dessen, was Bürger*innen in ihrem Alltag wichtig ist, macht Sozial- und Wirtschaftspolitik für jeden spürbar. Denn Politik ist kein Selbstzweck und sollte sich nicht auf die Produktion neuer Regelungen beschränken, Politik sollte den Mut haben, neue Wege einzuschlagen statt sich in populistischen Phrasen und Lobbyismus selbst zu blockieren.
Ein negatives Beispiel, durchaus den Problemlagen in Schwedt vergleichbar, erlebten wir in Italien. Dort musste aufgrund europäischer Vorgaben unter der Regierung von Mario Draghi ein Gesetz geschaffen werden, dass die Vergabe der Betreibung von Stränden europaweit ausgeschrieben werden müsse. Dies entzog vielen Familien die Existenzgrundlage, die seit Jahrzehnten Strände pflegten und wirtschaftlich betrieben. Für die Fratelli d’Italia war es ein Leichtes, gegen Brüssel zu agitieren und die Stimmen dieser Kleinunternehmer*innen zu gewinnen. Gegen solche Entwicklungen könnte Sepp Müllers Vorschlag wirken, allerdings nicht zuletzt unter der Bedingung, dass das Elend der europaweiten Ausschreibung für alles und jedes verstanden und beseitigt würde und lokale Unternehmen wieder ein Prä bekämen. Das ist kein Nepotismus. Wer meint, Nepotismus durch europaweite Ausschreibungen zu bekämpfen, die große Konzerne begünstigen, erntet Sympathien für antieuropäische Hetze.
Am 22. Dezember 2022 veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung ein Interview mit Sepp Müller, in dem er forderte: „Die CDU muss sozialer statt nationaler auftreten.“ Die an die AfD – und an andere rechtspopulistische und rechtsextremistische Parteien verlorenen Stimmen – könnten von den demokratischen Parteien nur wiedergewonnen werden, wenn sie sich von der Illusion verabschiedeten, mit gefühligen nationalen Parolen punkten zu können. In Sepp Müllers Wahlkreis landete die AfD auf dem dritten Platz: „Ich kann nur sagen, mit was wir in meinem Wahlkreis erfolgreich waren. Wir haben uns zum Beispiel mit Fridays for Future zusammengesetzt – ein Ergebnis war, dass wir mittlerweile mehr als 60.000 Bäume gepflanzt haben. Wir haben uns selbstverständlich auch mit der muslimischen und der jüdischen Gemeinde getroffen. Und wir haben uns darum bemüht, mit den jungen Menschen auf Augenhöhe über die Themen zu sprechen, die sie beschäftigen. Außerdem mache ich jedes Vierteljahr ein Praktikum in meinem Wahlkreis. Ich war Fährmann, ich war im Gesundheitsamt, im Pflegeheim und bei der Müllentsorgung.“
Vielleicht ist das ein Weg, dem rechten Mainstreaming eine demokratische Erzählung entgegenzusetzen. Dazu gehört auch, ehrlich zu sagen, dass es keine Patentlösungen geben kann und auch nicht geben sollte. Dazu gehört – so Cas Mudde in seinem Buch „Rechtsaußen“ (Bonn, Dietz Nachf., 2019) – dass „wir besser erklären, warum die liberale Demokratie das beste politische System ist, das es derzeit gibt, und dass es alle Unzufriedenen schützt. Dafür müssen wir uns der Spannungen, die dem System innewohnen, stärker bewusst sein, besonders zwischen Mehrheitsregierung und Minderheitsrechten.“ Vielleicht wäre das eine aktuelle Version des Brecht’schen Diktums von der „Sache, die so einfach, doch so schwer zu machen ist“. Und reflexartige Reaktionen auf Krawalle, die alles und jedes migrantisieren, gehören vielleicht doch irgendwann der Vergangenheit an. NR
Die neuen Texte im Demokratischen Salon:
- Rubrik Osteuropa: Mit dem Osteuropahistoriker Martin Aust hat Norbert Reichel über die Geschichte und die neuen Herausforderungen des Fachs „Osteuropäische Geschichte“ gesprochen. Martin Aust hat sich intensiv mit den Entwicklungen in den mittel- und osteuropäischen Ländern befasst und wendet sich gegen den in Deutschland immer wieder virulenten Russozentrismus, den Gerd Koenen in seinem Buch „Der Russlandkomplex“ seziert hatte. Diese Fixierung auf Russland löst sich zurzeit nach und nach auf und die Länder, die vormals dem sowjetischen Machtblock beziehungsweise dem Zarenreich unterworfen waren, werden nicht nur als Mitglieder der Europäischen Union und der NATO ausführlicher erforscht. Die Politik hat dies noch nicht in ausreichendem Maße nachvollzogen, obwohl der Krieg um die Ukraine diese Entwicklung deutlich beschleunigt und manche auch gerade erst einmal aufgeweckt hat. In dem Gespräch plädiert Martin Aust für eine neue Mittel- und Osteuropastrategie. Hilfreich wäre beispielsweise die deutliche Aufwertung des „Weimarer Dreiecks“, in dem sich Deutschland, Frankreich und Polen begegnen. Martin Aust bietet in dem Gespräch einen ausführlichen Überblick über die deutschen und internationalen Organisationen der Osteuropaforschung und ihre Themen. Dazu gehört auch ein neuer Blick auf die Vielfalt und die Konflikte der Erinnerungskulturen, wie sie Katja Makhotina Das vollständige Gespräch lesen Sie hier.
- Rubrik Levantinische Aussichten: Einer der besten Kenner des Mittleren und Nahen Osten, der Türkei wie des Iran, ist Christopher de Bellaigue, der diese Länder nicht nur bereiste, sondern dort auch lange Zeit lebte. Beate Blatz portraitiert ihn und seine Bücher in ihrem Essay „Hinter den Spiegeln“. Christopher de Bellaigue, literarisch und wissenschaftlich hoch gebildet, ist investigativer Journalist, aus eigener Anschauung ein hervorragender Kenner der Regionen, über die er schreibt, und als Autor ein exzellenter Zuhörer gegenüber den Menschen, denen er begegnet. Er kennt die Geschichte der Region ebenso wie die Geschichte des Islam. Der Essay zeichnet an fünf Büchern de Bellaigues entlang die Wege und Irrwege in den von ihm bereisten Ländern in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten nach. Die Debatten um den Genozid an den Armeniern, um das Scheitern Mohammed Mossadeghs, die diversen iranischen Diktaturen unter dem Shah und unter dem Regime der Ajatollahs werden verständlicher, wenn wir Europäer*innen uns auch unseren kontinuierlichen Fehldeutungen stellen. Wer eine freiheitliche Demokratie, beispielsweise im Iran, unterstützen möchte, sollte wissen, was er oder sie selbst dazu beiträgt, demokratische Entwicklungen zu be- oder zu verhindern. De Bellaigue geht offen auch mit eigenen früheren Fehleinschätzungen um, beispielsweise im Hinblick auf Konflikte in der Türkei. Den vollständigen Essay lesen Sie hier.
- Rubrik Weltweite Entwicklungen: Indonesien ist ein Land, über das wir im Westen Europas nicht sehr viel wissen. Doch ist Indonesien – auch als Gastgeber der letzten G20 – einer der wichtigen Akteure im internationalen Geschäft, politisch wie wirtschaftlich. Mostapha Boukllouâ hat Indonesien bereist und berichtet von zahlreichen Begegnungen, die die Vielfalt der indonesischen Gesellschaft zeigen, die Vielfalt der Sprachen, der Ethnien, der Religionen, die differenzierte gesellschaftliche Entwicklung, die nicht zuletzt auch von Migration geprägt ist, die seit Jahrhunderten aus unterschiedlichen Gründen stattfand und zeigt, wie die Menschen in den südostasiatischen Ländern in ständigem Austausch leben. Auf seiner Reise ist er Menschen begegnet, die sich in der Vielfalt des Landes, oft auch unter prekären wirtschaftlichen Verhältnissen, versuchen zu orientieren. Vielen gelingt dies. Das Land kennt diverse Entwicklungen zum Positiven wie Fehlentwicklungen, gerade auch im ökologischen Bereich, und es ist nicht einfach, das Erbe der Diktaturen zu bewältigen. Das Land kann sicherlich (noch) nicht als freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat bezeichnet werden, zumal vor allem die Rechte von Minderheiten nach wie vor bedroht sind, aber wer Indonesien verstehen will, sollte genau hinschauen. Den vollständigen Reisebericht lesen Sie hier.
- Rubrik Kultur: Im Jahr 1912 wurde das von Abraham Zvi Idelsohn geschaffene jüdisch-deutsche Liederbuch veröffentlicht. Das Liederbuch sollte damals in Schulen und Kindergärten verwendet werden. Heute gibt es nur noch sechs Exemplare. Unter Leitung der israelischen Musikwissenschaftlerin Gila Flam wurde das Liederbuch neu transkribiert. Das Projekt wurde im Rahmen des Festjahres „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“ gefördert und steht nun auch dank der Zusammenarbeit mit dem Deutschen Chorverband interessierten Chören zur Verfügung. Das Besondere des Liederbuches liegt darin, dass es in hebräischer und in deutscher Sprache vorliegt. Die hebräischen Lieder sind von rechts nach links notiert, für Musiker*innen, die dies nicht gewohnt sind, durchaus eine Herausforderung. Aufgrund der Vermittlung durch Thomas Spindler, Arche Musica, dürfen wir im Demokratischen Salon eine Darstellung der Genese und des Inhalts dieses einzigartigen Werks aus der Feder von Gila Flam veröffentlichen. Den vollständigen Text lesen Sie hier.
- Rubrik Treibhäuser: In diversen Studien wird seit längerer Zeit immer wieder beklagt, dass Rechtsextremist*innen mit einigen ihrer Thesen die sogenannte „Mitte“ der Gesellschaft erreicht hätten. Andererseits gibt es nur noch eine kleine einstellige Prozentzahl von Menschen, die ein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild haben. Anlass zur Entwarnung ist das nicht. Cas Mudde spricht von einem rechtsextremen beziehungsweise rechten Mainstreaming, das erstaunlich gut funktioniere. In dem Essay „Mainstreamkompatibel – Über Affinitäten rechter und (nicht nur) konservativer Politik“ benennt Norbert Reichel diverse Strategien der Neuen Rechten, die neben Cas Mudde Armin Pfahl-Traughber und Natascha Strobl ausführlich analysiert haben. Armin Pfahl-Traughber beschreibt rechtsintellektuelle Personen und Organisationen, die von einer „konservativen Revolution“ träumen, wie sie für die Weimarer Zeit Fritz Stern und Kurt Sontheimer Manuel Gogos hat Rechtsintellektuelle und diverse Akteur*innen in Deutschland, Frankreich und in Österreich besucht und in einem Film dokumentiert. Anti-migrantische und nicht zuletzt anti-feministische Erzählungen dominieren. Begrifflich sind Rechtsextremist*innen erheblich geschickter als sie das in früheren Zeiten waren. Sie erzählen scheinbar einfache Geschichten, sodass sich auch die Frage stellt, welche Geschichte(n) eine freiheitliche Demokratie erzählen sollte? Den vollständigen Essay lesen Sie hier.
- Rubrik Antisemitismus: Eigentlich gibt es schon so viele Bücher zum Themenkreis des Antisemitismus, dass doch eigentlich alles Wissenswerte verfügbar sein müsste? Doch dies ist nicht der Fall. Die beiden Monographien von Tilman Tarach beeindrucken durch die Vielfalt der ausgewerteten und vorgestellten Materialen. Wir empfehlen beide Bücher in unserer Rezension „2000 Jahre und kein Ende“. Sie ergänzen die vorhandenen Monographien und Studien zum Antisemitismus mit einer ausführlichen Darstellung der christlichen Traditionen des Antijudaismus und Antisemitismus, mit zahlreichen Zitaten antisemitischer historischer Figuren sowie mit Zitaten zum Teil noch aktiver Politiker*innen verschiedener Nationalitäten, auch in Deutschland, die es eigentlich besser wissen müssten. Der heute oft als Antizionismus getarnte Antisemitismus beeinflusst die Politik der Vereinten Nationen, nach wie vor werden Hetzschriften wie „Die Protokolle der Weisen von Zion“ in vielen Ländern gedruckt, verteilt und gelesen, auch in Schulen im Iran und in arabischen Ländern, in den palästinensischen Autonomiegebieten. Gleichwohl wird auch der dortige Antisemitismus maßgeblich von den Motiven des christlichen Antisemitismus geprägt. Die vollständige Rezension lesen Sie hier.
- Rubriken Treibhäuser und Antisemitismus: Die Anne-Frank-Bildungsstätte in Frankfurt am Main hat im Jahr 2022 im Berliner Verbrecher Verlag den dritten Band einer Reihe von Sammelbänden veröffentlicht, die sich mit den Kontroversen und Debatten sogenannter Identitätspolitik auseinandersetzen. Nach „Triggerwarnung“ und „Extrem unbrauchbar“ erschien jetzt „Frenemies“, ein Band, der schon bei der Vorbereitung zeigte, wie schwierig es ist, Allianzen gegen Diskriminierung, gegen Antisemitismus und Rassismus zu schaffen. Gerade beim Thema „Antisemitismus“ gibt es immer den „Elefanten im Raum“, den Nahostkonflikt. Solidarität mit Minderheiten ist eine Sache, Allianzen sind eine andere Sache. Daher der Titel der Rezension: „Fragile Allianzen“. Der Band enthält kontroverse Positionen zum Feld des Antisemitismus, des Rassismus, vergleicht, wechselt die Perspektive, gerade auch im Kontext der Erinnerungskultur, nicht zuletzt anhand der Debatte zur Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands. Opferkonkurrenzen und Täterkonkurrenzen behindern gleichermaßen eine ehrliche Debatte. Der Band stellt die Frage, wer in welchem Maße von solchen Kontroversen profitiert. Letztlich die alte Frage Lenins: „Wer wen?“ Beispiele aus den USA, aus Israel, Frankreich und Südafrika ergänzen den Blick auf die deutsche Debatte und den verhängnisvollen Hang zur Binarisierung. Die vollständige Rezension lesen Sie hier.
Veranstaltungen mit Beteiligung des Demokratischen Salons:
- „Transitional Writing“ mit Ines Geipel, Iryna Herasimovich und Michal Hvorecký. Die Aufzeichnung der Veranstaltung vom 5. Dezember 2022 ist jetzt auf der Seite der Landeszentrale für politische Bildung NRW verfügbar. Im Demokratischen Salon finden Sie Interviews mit allen drei beteiligten Autor*innen.
- Iran – Frau, Leben, Freiheit: Die erste Veranstaltung mit Beteiligung des Demokratischen Salons im Jahr 2023 findet am 30. Januar 2023 um 18.30 Uhr im Gustav-Stresemann-Institut in Bonn (GSI) zum Thema „Eine feministische Revolution? Hoffnungen auf eine freiheitlich-demokratische Wende im Iran“ statt. Partner sind neben dem GSI der Verein Wissenskulturen e.V. und die Theatergemeinde Bonn. Gesprächspartnerinnen sind die Kölner Professorin Katajun Amirpur, u.a. Autorin der Bücher „Reformislam – Der Kampf für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte“ und „Khomeini“ (demnächst erscheint „Iran ohne Islam“) und die Kölner Journalistin und Autorin Fahimeh Farsaie, Autorin u.a. von „Nassrins Öst-westliche Nacht“, „Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden“ und „Die gläserne Heimat“. Homayoun von der Initiative frauenlebenfreiheit_bonn wird die Aktivitäten zur Solidarität mit den Menschen im Iran vorstellen, die dort für einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat eintreten. Petra Kalkutschke wird Texte von iranischen und iranischstämmigen Autor*innen vortragen, darunter Azar Naifisi „Lolita lesen in Teheran“. Weitere Informationen und Anmeldemöglichkeiten auf der Seite des Gustav-Stresemann-Instituts.
- Offene Debatte: Am Februar 2023, 18 Uhr, diskutiert Norbert Reichel mit interessierten Bürger*innen in der Volkshochschule Bornheim / Alfter über Ziele, Beiträge und Perspektiven des Demokratischen Salons. Die Leiterin der Volkshochschule verschickt zur Vorbereitung die Newsletter der Monate November und Dezember 2022 sowie Februar 2023. Je nach Beteiligung wird die Veranstaltung in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen wiederholt. Weitere Informationen und Anmeldeformular finden Sie hier. Das VHS-Gebäude liegt direkt an der Haltestelle der Straßenbahnlinie 18 „Bornheim / Rathaus“.
- Religion im Alltag: Am März 2023, 18 Uhr, findet im Bad Godesberger Trinkpavillon die dritte Veranstaltung dieser trialogischen Reihe statt. Nachdem in den Veranstaltungen der Jahre 2021 und 2022 Lehrer*innen und Schüler*innen aus Judentum, Christentum und Islam miteinander diskutierten, sind diesmal Eltern die Gäste. Thema: „Mein Alltag als Mutter oder Vater“. Motto: Zusammenleben braucht Verständnis braucht Begegnung. Die Fragen: Welche Hilfe gibt die eigene Religion im Alltag? Welchen Herausforderungen begegnen religiöse Eltern im Alltag, welchen Schwierigkeiten, aber auch welchen Angeboten und Möglichkeiten? Veranstalter sind wie bisher die Christlich-Jüdische Gesellschaft in Bonn sowie ANqA – Verein für transkulturelle Bildung. Die Moderation erfolgt wieder durch den Demokratischen Salon. Weitere Informationen finden Sie hier.
Weitere Veranstaltungen, Ausstellungen und Wettbewerbe:
- Digitalisierung: Am Januar 2023, 19 Uhr liest Wolfgang Huber, Bischof i.R. und ehemaliger Dechant des Domstifts Brandenburg, im Wissenschaftszentrum zu Berlin (Reichpietschufer 50, 10785 Berlin) aus seinem Buch „Menschen, Götter und Maschinen – eine Ethik der Digitalisierung“. Er diskutiert anschließend mit Benjamin Minack, Gründer und Geschäftsführer der ressourcenmangel GmbH, es moderiert Tagesspiegel-Herausgeber Stephan-Andreas Casdorff. Anmeldung wird über freiheitspreis@dom-brandenburg.de erbeten.
- Ruth Weiss: Am Januar 2023, 11.00 Uhr ist auf Einladung des Förderkreises des Museums Zentrum für verfolgte Künste Ruth Weiss, 98 Jahre alte Zeugin des letzten Jahrhunderts, einer Matinee im Museum zu Gast. Sie überlebte die Shoah durch Flucht in Südafrika. Im Jahr 2005 wurde sie für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. In der Begründung hieß es: „Eine beispielhafte Biografie des 20. Jahrhunderts: Ruth Weiss wird 1924 in eine jüdische Familie in Deutschland geboren. Im Jahr 1936 kommt sie mit ihrer Familie nach Südafrika und erlebt die Entwicklung der Apartheid. Mit ihrer Schreibmaschine trotzt sie in Südafrika, Simbabwe, Sambia und Europa dem System, leise, aber entschlossen. Sie recherchiert, berichtet, schließt Freundschaften, beteiligt sich an Projekten zur Überwindung des Rassismus. Ihre stärkste Eigenschaft: Sie hört zu. Zuhören ist die Grundlage für Verständnis, Verständnis ebnet den Weg zur Versöhnung – ein weltweit anwendbares Friedensmodell.“ Weitere Informationen auf der Internetseite von Ruth Weiss sowie auf der Seite des Museums für verfolgte Künste.
- Oscar Zügel im Museum für verfolgte Künste: Bis 5. Februar 2023 zeigt das Museum das vielfältige Oeuvre von Oscar Zügel (1892-1968). Ein Teil des Nachlasses konnte 2017 durch Mittel der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien angekauft werden. Das aus über 350 Aktenordnern bestehende, sogenannte „Oscar-Zügel-Archiv“ gelangte im Jahr 2018 durch die testamentarische Verfügung der Tochter Katja Zügel nach Solingen. Inzwischen gibt es dank der Unterstützung des nordrhein-westfälischen Kulturministeriums im Museum eine eigene Stelle für die Erschließung dieses Nachlasses. In der Ankündigung heißt es: „Für das Museum für verfolgte Künste ist Oscar Zügel (1892-1968) mit seinem bewegten Leben und seiner antifaschistischen Haltung ein wichtiger Vertreter der Sammlung mit dem sich das Haus bereits seit einigen Jahren intensiv beschäftigt.“ Weitere Informationen finden Sie auf der Seite des Museums, Informationen über die Sammlung Gerhard Schneider im Gespräch von Norbert Reichel mit dem Direktor des Museums Jürgen Kaumkötter lesen Sie hier.
- Schultheater gegen Rassismus: Anlässlich des dritten Jahrestages der Morde vom 19. Februar 2020 in Hanau werden am Februar 2023 um 18 Uhr in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin Schultheatergruppen aus ganz Deutschland Szenen zu Antirassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus aufführen. Diese Theateraufführung findet im Rahmen eines vom 6. bis 8. Februar währenden bundesweiten Schultheatertreffen statt, zu dem Kulturstaatsministerin Claudia Roth und die Initiative kulturelle Integration in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Theater in Schulen und dem Deutschen Theater eingeladen haben. Weitere Informationen finden Sie hier, Tickets erhalten Sie hier.
- Konstantin-Andok-Literaturpreis: Das Soli Netz lobt den Konstantin-Andok-Literaturpreis aus. Gefragt sind Feuilletons, Reportagen, wissenschaftliche Analysen und Interviews, Lyrik oder andere kurze literarische Stücke zu aktuellen grundsätzlichen und strittigen Fragen der Demokratie. Beispielhafte Fragestellungen werden im Internetauftritt zur Auslobung des Preises Der Beitrag muss nicht eigens für die Ausschreibung gefertigt worden sein, er kann beispielsweise einer wissenschaftlichen Hausarbeit entspringen, sollte aber nicht viel älter als ein Jahr sein. Umfang: etwa 16 DIN-A-4-Seiten, dazu eine etwa zehn Zeilen lange Zusammenfassung. Die Ausschreibung sollte vor allem für Studierende und Schüler*innen interessant sein. Bewerbungen sind bis zum 10. Februar 2023 im pdf-Format an folgende Adresse möglich: preis@soli-netz.blog.
- Brandenburger Freiheitspreis: Bis zum Februar 2023 können Sie Einzelpersonen oder Institutionen für den Brandenburger Freiheitspreis vorschlagen. Der Preis wird vom Domstift Brandenburg vergeben. Die Preisträger*innen sollten möglichst Bezüge zu Berlin und / oder Brandenburg haben, Bedingung ist dies jedoch nicht. In diesem Jahr lautet das Thema „Die Freiheit in der digitalen Welt“: ausgezeichnet werden sollen Personen und Institutionen, die „in vorbildlicher Weise Wege der Nutzung digitaler Freiheiten bei Wahrung der persönlichen Freiheit und Selbstbestimmung sowie des Respekts anderen Menschen gegenüber“ aufgezeigt haben. Die Frage lautet nicht, ob wir Digitalisierung bejahen oder ablehnen, sondern, wie wir mit ihr umgehen, sie nutzen und wie wir verhindern, dass anonyme Maschinen und Algorithmen über unser Leben und über die Staatsform, in der wir leben, entscheiden. Es geht darum sicherzustellen, dass der Mensch die Hoheit behält, wann, zu welchem Zweck und in welchem Maße wir die Instrumente der Digitalisierung einsetzen?
- Wanderausstellung „Der Tod ist ständig unter uns“ – Die Deportationen nach Riga und der Holocaust im deutsch besetzten Lettland: Die von der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen kuratierte Ausstellung ist vom 13. Februar bis zum 7. April 2023 an der Hochschule Düsseldorf zu sehen. Es gibt ein umfangreiches Begleitprogramm. Weitere Informationen über den Erinnerungsort Alter Schlachthof.
- Ausstellung „Zurück ans Licht“: Die Ausstellung ist bis zum 17. April 2023 im Jüdischen Museum Frankfurt am Main zu sehen. In der Ausstellung werden vier jüdische Frankfurter Künstlerinnen vorgestellt, Rosy Lilienfeld (1896-1942), Amalie Seckbach (1870-1944), Ruth Cahn (1875-1966) und Erna Pinner (1890-1987). Laura Vollmers schrieb in der Jüdischen Allgemeinen vom 5. Januar 2023: „Insgesamt beeindruckt die Ausstellung mit einer gelungenen Gratwanderung zwischen der Erzählung der Geschichten und Schicksale der vier Künstlerinnen und der kunsthistorischen Würdigung ihrer Werke. Vor allem wird auch ei Bewusstsein für die Einschnitte geschaffen, die der Nationalsozialismus nicht nur ins Werk dieser Künstlerinnen gerissen hatte, sondern auch in den Kanon der Kunstgeschichte.“
Kurznachrichten und weitere Empfehlungen:
- Festjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland: Das Festjahr wurde mit großem Erfolg beendet und die in diesem Jahr entstandenen Projekte sind auf der Internetseite des Festjahres verfügbar. Highlights zeigt ein Video. Eine lohnende Zusammenstellung vieler Hintergrundinformationen, eine Zeittafel, Testimonials und vieles mehr bietet das Buch „Wir sind da! 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, herausgegeben von Uwe von Seltmann, das 2021 in Erlangen im Homunculus- Verlag erschien. Insgesamt gab es über 2.400 Veranstaltungen. Über 850 Projektpartner*innen sorgten für eine große Vielfalt. Die Ergebnisse liegen politischen Entscheidungsträger*innen vor, im Bildungsbereich der Kultusministerkonferenz, die beschlossen hat, ihre gemeinsame Arbeitsgruppe mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland weiterzuführen, gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben.
- Geschichtspolitik: Wer neue Texte von Katja Makhotina lesen möchte, dem empfehlen wir den Essay „Archäologie der Empathie – Das Trauma als Entstehungsmythos und Projektion“ sowie die Rezension des Buches „Memory Crash“ von Georgiy Kasanov. Beide Texte zeigen, wie zentral „Erinnerungskonflikte“ in der politischen Theorie und Praxis wirken. Wer sind die Opfer, wer die Täter*innen, wer die Held*innen? Diese Fragen beantworten Menschen, Gruppen, Regierungen jeweils im Kontext der von ihnen gepflegten Gefühle und Frames, die sich oft schneller und stärker als vermutet zu einer unwidersprochenen „Geschichtspolitik“ entwickeln, die gelegentlich sogar juristisch kodifiziert wird, mitunter im Hinblick auf unerwünschte Akzente auch strafbewehrt. Katja Makhotina zitiert Reinhart Kosellek (1923-2006): „Wo alle Opfer sind, sind keine Täter.“
- Anstieg des Meeresspiegels: In seinem Buch „Move“ hat Paragh Khanna beschrieben, was geschieht beziehungsweise geschehen müsste, um mit der Desertifikation großer Flächen unseres Planeten bei einer Erderwärmung um vier Grad Celsius zu überleben (deutsche Ausgabe 2021 bei Rowohlt in Berlin). Gigantische Migrationsbewegungen werden erforderlich und könnten helfen. Christof Gertsch und Mikael Krogerus haben am 6. Dezember 2023 im Online-Angebot der Süddeutschen Zeitung einen Text – ich möchte ihn eine Reportage nennen – veröffentlicht, der sich mit den Folgen des Abschmelzens des Thwaites-Gletschers in der Westantarktis befasst. Dass dies geschieht, ist sicher, offen ist die Frage, wann es geschieht und wann welche Folgen spürbar werden, in diesem Jahrhundert oder erst in späteren Jahrhunderten. Bilder zeigen, was in London, in New York City, in Venedig, in Amsterdam oder in Bangladesh geschehe. Die Reportage dokumentiert anschaulich und verständlich die Forschungen zur Antarktis vor Ort und zeigt, warum gerade dieser Gletscher so wichtig ist.
- Armut in Deutschland: Die Bundeszentrale für politische Bildung hat eine Fülle von Daten und Fakten zur Armut in Deutschland und im internationalen Vergleich, zusammengestellt. Das Fazit verwundert eigentlich niemanden: Armut wächst in Deutschland. Armutsrisiken bestimmter Bevölkerungsgruppen, vor allem von Frauen, nicht ausreichend zielgerichtete sogenannte „Entlastungspakete“, Inflation, eine ungerechte Vermögensverteilung, die Corona-Pandemie – all dies lässt sich aus den Übersichten entnehmen und dürfte für diejenigen, die sich mit dem Thema befassen, eine Fundgrube sein, die die regelmäßig erscheinenden Berichte, beispielsweise des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, fundiert ergänzt. Die Übersicht finden Sie hier.
- Polizei und Justiz gegen Antisemitismus: Am 21. September 2022 fand der vom Anne-Frank-Zentrum und vom Kompetenzzentrum Prävention und Empowerment durchgeführte Fachtag „Polizei, Justiz und Strafvollzug: Wie erfolgreich ist der Rechtsstaat im Kampf gegen Antisemitismus?“ Die Dokumentation mit allen Programmpunkten ist jetzt verfügbar.
Israel: Michael Brenner nannte die neue Regierung in Israel am 29. September 2022 in der Süddeutschen Zeitung „eine unheilige Mischung“. In der Tat gefährden an dieser Regierung beteiligte rechtsextremistischen und teilweise offen rassistische Minister*innen die demokratische Zukunft des Landes. Die Jüdische Allgemeine stellt das israelische Kabinett vor, Sabine Brandes kommentiert kritisch die ersten Gesetzesvorhaben, die die in einer Demokratie unerlässliche Gewaltenteilung auszuhebeln drohen, durchaus vergleichbar bekannter Praxis aus Ungarn und Polen. Gleichzeitig wächst die Gefahr, dass diejenigen, die BDS und vergleichbare Organisationen unterstützen, fragwürdige Entscheidungen der neuen Regierung zur Begründung missbrauchen, um neue Anhänger*innen zu gewinnen. Umso wichtiger ist es, dass Israel sich auf unsere Solidarität verlassen kann. Michael Brenner fordert uns alle dazu auf: „Während die deutsche Regierung weiterhin mit ihren offiziellen Partnern in Israel im Dialog bleiben muss, ist die deutsche Zivilgesellschaft gefragt, die liberalen demokratischen Kräfte, also die sehr bunte Opposition in Israel nicht im Stich zu lassen. Tatsächlich hängt das Überleben der israelischen Demokratie derzeit auch von der Unterstützung ihrer Freunde im Ausland ab.“ Vielleicht ist das in Gründung befindliche Deutsch-Israelische Jugendwerk eine Chance!
- Zwei-Staaten-Lösung: Dazu äußerte sich der neue israelische Botschafter in Berlin, Ron Prosor. Am 9. Januar 2023 sagte er im Tagesspiegel: „Ein funktionierender Rechtsstaat sollte aber eine Minimalforderung an die Palästinenser sein. Nur so kann Frieden erzielt werden. Wir hatten gehofft, wenn wir aus Gaza abziehen, entsteht dort ein stabiles Staatengebilde. Diese Hoffnung hat sich als Illusion erwiesen.“ Anders gesagt: solange es keine Demokratie auf der palästinensischen Seite gibt, ist auch die in Deutschland gebetsmühlenartig beschworene Zwei-Staaten-Lösung eine Illusion.
- Ukraine: In der Winterausgabe 2022/2023 von Lettre International sind mehrere sehr lesenswerte Texte rund um die Ukraine zu finden, darunter der exzellente Text des französischen Historikers Philippe Videlier „Stelldichein in Kiew“. Dieser Essay bietet eine detaillierte Beschreibung der Geschehnisse, Invasionen, Besetzungen, Kriegsverbrechen in und rund um Kyiw in den Jahren 1917 bis 1920, auch zur Rolle Trotzkis, Lenins, Angelica Balabanoffs, Petljuras u.v.m., die sich damals verbündeten, bekämpften, niedermachten, auch gut geeignet, um Putins Narrativ zu Lenins angeblicher Verantwortung der Unabhängigkeit der Ukraine zu kontern. Einen weiteren Beitrag schrieb der Literaturwissenschaftler Georg Witte, „Das Verhör“ in Form eines fiktiven Protokolls des Gesprächs zwischen einem deutschen Radiojournalisten mit einer ukrainischen Autorin, die sich ihm gegenüber ständig rechtfertigen muss, dass sich die Ukraine gegen Putins Truppen verteidigt. Eine hervorragende Satire, die viel Realität widerspiegelt. In der Einleitung schreibt Georg Witte: „Eine paradoxe Form des Zynikers tritt in Erscheinung – des Zynikers im Gewand des Moralapostels.“ Und eine Ukrainerin muss lernen, wie man die Gefühle der deutschen Öffentlichkeit nur ja nicht verletzt, ihr „wird beigebracht, wie man sich an die Affektverbote politischer Diskussion zu halten hat.“ Auf der Internetseite von Lettre International finden Sie auch nVerweise auf weitere Texte zum Thema Russland und Ukraine, die in den vergangenen Jahren in dieser Zeitschrift veröffentlicht wurden. Von 2003 bis 2006 verlieh die Zeitschrift den Ulysses Reward for the Art of Reportage, den 2003 Anna Politkowskaja für ihre Reportage über „Tschetschenien – Die Wahrheit über den Krieg“ Diese Reportage wurde in Lettre International sowie 2003 bei DuMont und 2008 als Taschenbuch bei Fischer veröffentlicht.
- Deutschland und Polen: Auf der Seite des Deutschen Poleninstituts zu finden ist ein Aufruf der Kopernikus-Gruppe, die „Krisen gemeinsam zu überwinden.“ Titel des Aufrufs: „Deutschland und Polen – Das Vertrauen wieder erlangen“. Das von Waldemar Czachur, Warschau, und Peter Oliver Loew, Darmstadt, gezeichnete Papier benennt die Chancen, die die gegenseitige Unterstützung der beiden Länder für Europa und für die Demokratie eröffnen könnte: „Unsere beiden Länder können einander auf denjenigen Gebieten, auf denen die Glaubwürdigkeit des Nachbarn lädiert ist, helfen: Deutschland versteht sich als einer der Schlüsselstaaten der Europäischen Union und hat die Gemeinschaften seit ihrer Gründung mitgeprägt. Es wäre in der Lage, Polens Rückkehr auf die Grundlage der Verträge zu erleichtern. Polen versteht sich als einer der wichtigsten Unterstützer der Ukraine. Es wäre in der Lage, Deutschland dabei zu helfen, seine Position als verlässlicher Sicherheitspartner in der Region wiederzufinden.“ Von deutscher Seite gehören dazu die Aufarbeitung „deutscher Russlandpolitik“, von polnischer Seite eine Klärung des Verhältnisses zum „Rechtsstaat“ im Geiste der europäischen Verträge. Das Papier plädiert für eine „Achse Berlin-Warschau“, die auch die Aufnahme der Ukraine in die Europäische Union vorbereiten und unterstützen könnte. Die Kopernikus-Gruppe ist ein Projekt des Deutschen Polen-Instituts und der Stiftung Kreisau für europäische Verständigung.
Afghanistan: Die Bundeszentrale für politische Bildung hat „Die Afghanistan Papers“ von Craig Whitlock als Sonderausgabe veröffentlicht. Das Buch erschien erstmals bei Simon & Schuster in New York unter dem Titel „The Afghanistan Papers – Secrets, Lies and America’s Longest War“, in deutscher Übersetzung 2021 bei Ullstein in Berlin. Die Unkenntnis der amerikanischen Führung und vieler von ihnen entsandter sogenannter Expert*innen beschreibt ein Oberstleutnant der Army, der längere Zeit im NATO-Hauptquartier in Kabul stationiert war, mit einem Sketch von Monty Python, „in dem der König an einem Bauern vorbeireitet, anhält und sagt ‚Ich bin der König‘. Worauf sich der Bauer umdreht und fragt: ‚Was ist ein König?‘“ Craig Whitlock belegt mit Methoden der Oral History die Fehleinschätzungen vor, während und nach dem Einsatz, das Fehlen jeder strategischen Planung, die katastrophale Vorbereitung, das unbedachte Aufpfropfen des US-Präsidialsystem in einem Land, das von Aus- und Verhandlungsprozessen, dem immer wieder neu herzustellenden Gleichgewicht zwischen verschiedenen Gruppen lebt. Unklar war oft genug, wer eigentlich der Gegner war, wie selbst Notizen von Donald Rumsfeld (die „Snowfklakes“) belegen. Zu Beginn wurden auf dem Petersberg bei Bonn die Taliban nicht beteiligt, durch Fehleinschätzungen, beispielsweise beim Kampf gegen den Opiumanbau, wurden sie wieder gestärkt, schließlich hatten sie in Doha eine mehr oder weniger exklusive Position, als die afghanische Regierung nicht mehr beteiligt wurde. Die schlechte Bezahlung der Polizei kam hinzu, aus Polizisten wurden Schutzgelderpresser. Die Katastrophe wurde nicht nur von den USA, sondern auch von anderen NATO-Partnern, auch von Deutschland mehr oder weniger sehenden Auges herbeigeführt. Das Buch belegt eindrucksvoll, wie man eine Terrorgruppe für große Kreise der Bevölkerung attraktiv macht. Heute stellt sich die Frage, ob und wie viel der sogenannte „Westen“ aus dem Desaster in Afghanistan für andere Regionen dieser Welt gelernt hat, allen voran das mehr als instabile Pakistan.
- Journalist*innen in Haft: Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ veröffentlichte am 14. Dezember 2022 die „Jahresbilanz der Pressefreiheit 2022: „So viele Journalisten in Haft wie nie zuvor“. Mehr als die Hälfte der 533 inhaftierten Journalist*innen ist in China, Myanmar, Iran, Vietnam und Belarus inhaftiert. Hinzu kommt die um ein Vielfaches höhere Zahl der Journalist*innen, die für eine kurze Zeit verhaftet, schikaniert, drangsaliert, gefoltert oder vertrieben wurden. Etwa zwei Drittel der Inhaftierten sind ohne Gerichtsverfahren und ohne Urteil in Haft. Erheblich gestiegen ist auch die Zahl der inhaftierten Journalistinnen, alleine im Iran zurzeit 18 Frauen. 57 Journalist*innen wurden bei ihrer Arbeit getötet, 65 entführt, die Mehrzahl außerhalb von Kriegsgebieten: „Besonders gefährlich waren, wie schon in den Vorjahren, Recherchen zu den Themen organisiertes Verbrechen und Korruption.“ „Reporter ohne Grenzen“ nennt auch Namen, zu denen nicht zuletzt Julian Assange gehört. (Die hier genannten Zahlen geben den Stand vom 14. Dezember 2022 wieder!)
- Bücherverbrennungen: Die Internetseite „Verbrannte Orte“ bietet einen Onlineatlas der nationalsozialistischen Bücherverbrennungen von 1933. Träger des Projekts ist der Verein „Verbrannte Orte e.V.“, der sich über Spenden und Fördergelder finanziert. An vielen Orten ist nicht mehr sichtbar, was dort geschah. Die Leitfrage des Projekts: „Wie sehen diese Orte heute aus und betrachten wir sie anders, mit dem Wissen um die historischen Ereignisse?“ An einem Ort steht heute ein Schwimmbad, ein anderer war und ist ein Marktplatz, an dem nichts mehr an den 10. Mai 1933 erinnert. Die Materialien des Vereins stehen Schulen und anderen Bildungsinstitutionen zur Verfügung, es gibt Präsentationen auf Messen, in Vorträgen und in Ausstellungen.
- Lebensgeschichten, die Mut machen: In Berliner U-Bahnen, auf den Berliner Straßen verkaufen bedürftige Menschen die Zeitschrift „Karuna Kompass“, die sich als „Zeitung aus der solidarischen Zukunft“ präsentiert, die sich immer zu erwerben lohnt und auch abonniert werden kann. In der 46. Ausgabe ging es um Lebensgeschichten, die Mut machen, beispielsweise von einer Behindertenwerkstatt ins Arbeitsleben, den Weg von Lena Werner aus der Südeifel in den Bundestag und der Unterstützung durch „Brand New Bundestag“, die Arbeit des Vereins „Gefangene helfen Jugendlichen“ in Schulen. Die Ausgabe wurde von Ashoka Deutschland Vielleicht ist gerade ein Plädoyer wie das von Lena Werner das, was wir heute brauchen: „Sobald der innere Kompass die Richtung anzeigt, geht es darum, aus Überzeugung aktiv zu werden und am Ziel anzukommen. Aber vor allem ist wichtig: Traut euch! Springt über euren Schatten, wenn es sein muss, und steht für eure Überzeugungen ein.“
- Letzte Generation: Der Berliner Tagesspiegel veröffentlichte am 29. Dezember 2022 ein Gespräch mit Gregor Gysi. Gesprochen wurde über sein Mandat zur Verteidigung eines Aktivisten der „Letzten Generation“, die seiner Ansicht zu wenig ambitionierte Klimapolitik der Bundesregierung, den aktuellen Zustand der Linken, die sich zurzeit zu 90 Prozent nur mit sich selbst beschäftige, seine Bemühungen, eine Spaltung der Partei zu verhindern und nicht zuletzt die Unverhältnismäßigkeit der medialen und juristischen Debatten um Aktivist*innen der Letzten Generation im Vergleich zu anderen Menschen, die Gesetze übertreten, gerade auch in Hinsicht auf das sogenannte Präventivgewahrsam in Bayern. Gregor Gysi forderte Bundeskanzler und Bundesregierung auf, mit den jungen Leuten der „Letzten Generation“ zu sprechen, auch um zu verhindern, dass sich einige weiter radikalisieren und dann tatsächlich das werden, was einige ihrer Kritiker*innen bereits jetzt wahrgenommen haben wollen.
In etwa vier Wochen melden wir uns wieder.
Wir grüßen Sie alle herzlich.
Ihre Beate Blatz und Ihr Norbert Reichel
(Alle Internetzugriffe erfolgten zwischen dem 8. und 15. Januar 2023.)
P.S.: Sollte jemand an weiteren Sendungen meines Newsletters nicht interessiert sein, bitten wir um Nachricht an info@demokratischer-salon.de. Willkommen sind unter dieser Adresse natürlich auch wertschätzende und / oder kritische Kommentare und / oder sonstige Anregungen.