Mainstreamkompatibel

Über Affinitäten rechter und (nicht nur) konservativer Politik

„Bis vor wenigen Jahren ist diese konservative Revolution – und erst recht deren gesamteuropäischer Charakter – der Aufmerksamkeit der Historiker völlig entgangen. Ihr geistiger Gehalt ist so schwer fassbar, ihre politischen Manifestationen waren so vereinzelt, dass die Kraft und Reichweite dieser revolutionären Geisteshaltung nur selten erkannt worden sind. Gerade weil er so unlogisch ist, trifft der Ausdruck ‚konservative Revolution‘ genau den Kern der Sache, verkörpert doch die Bewegung in der Tat ein Paradoxon: ihre Anhänger wollten die von ihnen verachtete Gegenwart zerstören, um in einer imaginären Zukunft eine idealisierte Vergangenheit wiederzufinden. Sie waren enterbte Konservative, die nichts mehr zu bewahren hatten, waren doch die geistigen Werte der Vergangenheit größtenteils versunken und vergessen, und für das, was an konservativer Macht noch übriggeblieben war, interessierten sie sich nicht.“ (Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr – Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland)

Fritz Sterns Habilitationsschrift erschien in der amerikanischen Fassung bei der University of California Press in Berkeley unter dem Titel „The Politics of Cultural Despair“, die deutsche Ausgabe 1963 im Albert Scherz Verlag in Bern und Stuttgart, 1986 erschien bei dtv eine Taschenbuchausgabe. Gegenstand des Buches sind Paul de Lagarde (1827-1891), Julius Langbehn (1851-1907) und Arthur Moeller van den Bruck (1876-1925), die die alle drei maßgeblich konservative und rechtsextreme Strömungen der 1920er Jahre beeinflussten und durchaus als Wegbereiter des Nationalsozialismus betrachtet werden dürfen. Moeller van den Bruck veröffentlichte im Jahr 1923 das Buch, dessen Titel „Das dritte Reich“ auch Menschen, die sich von vornherein nicht unbedingt für die Nazis begeistern ließen, ein Stichwort bot, das sie dann nach dem 30. Januar 1933 zu vehementen Vertreter*innen der NS-Ideologie werden ließ.

Fritz Sterns Buch gehört meines Erachtens mit Kurt Sontheimers Buch „Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik (München, Nymphenburger Verlagshandlung, 1962 und 1968, als Taschenbuch 1992 bei dtv erschienen), zu den grundlegenden Werken, die die Verknüpfungen, Affinitäten und Interaktionen zwischen konservativen und rechtsextremistischen Positionierungen thematisieren. Einer der Kampfbegriffe war der der „konservativen Revolution“, die mal mehr, mal weniger radikal und gewalttätig gedacht war. Diese und andere Begrifflichkeiten haben viel mit irrationalen, vorbewussten Gefühlen zu tun. Fritz Sontheimer schrieb: „Die Ideologie der konservativen Revolution war politikfremd, weil sie mit Idealen, Träumen, großen Worten arbeitete, nicht aber mit einer detaillierten Kenntnis der politischen Verhältnisse und der in ihnen enthaltenen Möglichkeiten. Die Ideologen sehen nicht, dass sich die im geistigen Entwurf einer konservativen Revolution ausgearbeitete neue Weltanschauung im politischen Raume weniger geschlossen und weitaus roher ins Wer setzen musste. (…) Der revolutionäre Nationalismus war militanter, gewaltsamer, schonungsloser als der mit mehr Romantik und Seele durchsetzte konservative Nationalismus.“ Man könnten durchaus auch von einem politisierten Hooliganismus sprechen.

Attraktive Dämonie

Wenn wir heute über rechte Politik diskutieren, geht es immer wieder um die Frage der Gewalt. Die Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ veröffentlicht in mehr oder regelmäßigen Abständen einschlägige Themenhefte, zum Beispiel am 2. Dezember 2019 mit dem Titel „Rechtsterrorismus“, am 5. Dezember 2022 mit dem Titel „Rechte Gewalt in den 1990er Jahren“. Aber es geht nicht nur um Gewalt, die noch relativ leicht abzulehnen wäre, es geht um das rechte Grundrauschen, die Attraktivität rechter Parolen und Politikansätze, die noch nicht unbedingt zu Gewalt führen müssen, aber zumindest eine hohe Bereitschaft signalisieren, rechte Gewalt zu tolerieren und zumindest nicht einzuschreiten oder – wie inzwischen aufgrund mehrerer Untersuchungsausschüsse nachweisbar – rechtsextremistische Morde wie die Mordserie des sogenannten NSU nicht mit allem Nachdruck aufzuklären. Die eigentliche Frage lautet: was macht rechte Parolen anschluss- und mehrheitsfähig? Was bewegt Institutionen, die eigentlich dem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat verpflichtet sind, nicht so genau hinzuschauen, was Politiker*innen, den rechtsextremen Kern mancher ihrer Äußerungen nicht sehen zu wollen?

Auch zur Beantwortung dieser Frage hilft ein Blick in die 1920er Jahre, unbeschadet der Tatsache, dass der Teufel nie zwei Mal durch dieselbe Tür kommt. Konservative und Rechtsextremist*innen trafen sich in den 1920er Jahren in diversen Salons. Einer der bedeutendsten dieser Salons, vielleicht sogar der wirkungsvollste, lag in München am Karolinenplatz 5, ganz in der Nähe der späteren NSDAP-Zentralen. Wolfgang Martynkewicz portraitierte diesen Salon in seinem Buch „Salon Deutschland – Geist und Macht 1900 – 1945“ (Berlin, Aufbau Verlag, 2009). Gastgeber*innen war das Ehepaar Bruckmann. Elsa Bruckmann war eine geborene Prinzessin Cantacuzène, sie unterstützte Adolf Hitler in seiner Haft in Landsberg.

Nicht alle, die sich bei ihr trafen, waren oder wurden zu Nazis. Wolfgang Martynkewicz schreibt: „Der Salon Bruckmann ist ein Skandalon. Wo sich die Künstler und Gelehrten trafen, gingen seit den zwanziger Jahren auch die Führer der nationalsozialistischen Bewegung ein und aus. Im Haus der Bruckmanns hatte Adolf Hitler seinen ersten Auftritt vor einem bildungsbürgerlichen Publikum, vor einer kunstsinnigen Elite, die ihn zunächst als eine bizarre Erscheinung wahrnahm: einen Mann mit Reitpeitsche, Velourshut und Trenchcoat, den Revolver im Gürtel, einen Mann, der so gar nicht in diesen bürgerlichen Salon zu passen schien und von dem doch – nach Meinung vieler Gäste – ‚eine Art Dämonie‘ ausging. Der erste Besuch fand am 23. Dezember 1924 statt, zu einer Zeit, als im Salon noch Hugo von Hofmannsthal, der Kulturphilosoph Rudolf Kassner und der Weltmann Harry Graf Kessler verkehrten. Schon bald gehörte Hitler mit Rudolf Heß und Alfred Rosenberg zu den Habitués.“

All dies ist etwa 100 Jahre her. Aber ein Motiv bleibt: die merk- und denkwürdige Affinität konservativ und bürgerlich gesinnter Menschen für Gedankengut, das sich auf der extrem rechts zu verortenden Seite der Politik befindet. Als Alexander Dobrindt zum Jahresanfang 2018 in einer deutschen Tageszeitung über eine „konservative Revolution der Bürger“ nachdachte, die der „linken Revolution der Eliten“ folgen würde, und sich und seine Partei zu ihrer „Stimme in der Politik“ erklärte, war dies nicht mehr und nicht weniger als eine Wiederbelebung dieses Topos, der in den 1920er Jahren und dann wieder in den 1950er Jahren propagiert wurde, beispielsweise von Armin Mohler, der zeitweise für Franz Josef Strauß Reden schrieb, aber sich vor allem mit seiner 1949 erschienenen Dissertation „Die konservative Revolution in Deutschland 1918-1932“ als intellektueller Vordenker einer Ideologie inszenierte, die den für den Nationalsozialismus durchaus empfänglichen Konservativismus der 1920er Jahre sozusagen entnazifizieren und für die neu gegründete Bundesrepublik Deutschland anschlussfähig machen sollte.

Ein „Testfall“ für diese Affinitäten war auch die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten von Thüringen. Der FAZ-Redakteur Patrick Bahners, ausgewiesener Experte des Rechtsextremismus, beschreibt den Kontext in seinem im Januar 2023 bei Klett-Cotta erscheinenden Buch „Die Wiederkehr – Die AfD und der deutsche Nationalismus“. Ein ausgewähltes Kapitel wurde in der Ausgabe des Merkur für Januar 2023 abgedruckt, Titel: „Testfall Thüringen – Mittagessen bei der Konkubine“. Patrick Bahners beschreibt die Geschichte von Verbindungen zwischen sich konservativ definierenden Politikern und der rechten Szene, darunter Steffen Heitmann, den Helmut Kohl noch für das Amt des Bundespräsidenten vorschlug, bis der potenzielle Kandidat sich selbst desavouierte, Alexander von Stahl und Rainer Zitelmann, beide FDP-Mitglieder, die „für einen Standort rechts von der Mitte“ warben, was auch immer das sein sollte, und versuchten, die deutsche Erinnerungskultur im Sinne der revanchistischen Flügel der Vertriebenenverbände zu okkupieren. Rainer Zitelmann hatte enge Beziehungen zu Karlheinz Weißmann, einem der Hauptapologeten der heutigen Neuen Rechten, dem er „den Auftrag verschaffte, für die Buchreihe Propyläen Geschichte Deutschlands den Band über die Zeit des Nationalsozialismus zu schreiben, obwohl es einen Verlagsvertrag mit Hans Mommsen gab“. Patrick Bahners: „Die ‚Pauschaldistanzierung von der NS-Vergangenheit‘ wollte der Autor hinter sich lassen; ‚eine Art volkserzieherischer Konsens‘ habe eine ‚Isolierung‘ der Epoche im Gesamtzusammenhang der Nationalgeschichte bewirkt.“

Ein weiteres Indiz bieten die Angriffe der AfD und ihrer Sympathisant*innen auf den Kulturbetrieb. Peter Laudenbach schrieb hierzu in der Augustausgabe 2022 der Blätter für deutsche und internationale Politik. Er verwendete als Titel eine in der AfD inzwischen zum Mainstream gewordene Formulierung: „Die Entsiffung des Kulturbetriebs“, im Untertitel schreibt er „Der rechte Angriff auf Kunst und Medien“. Urheber dieser Formel war im April 2016 der inzwischen aus der Partei ausgetretene Jörg Meuthen. Wie sich diese Formel an NS-Parolen orientiert, die alles, was nicht ihrem Denken entspricht, als krank, giftig, verseucht, verschmutzt darstellen und dies in dem an eine Geschlechtskrankheit erinnernden Wort „versifft“ demagogisch aggressiv zusammenfassen, hat Margarete Stokowski am 12. Februar 2019 im Spiegel prägnant bewertet. Sie empfiehlt, das nunmehr über 40 Jahre alte, aber nach wie vor aktuelle Buch „Männerphantasien“ von Klaus Theweleit wieder zu lesen.

Peter Laudenbach verweist in dem bereits genannten Essay der „Blätter“ auf Hunderte von verbalen und tätlichen Angriffen auf Theater, auf Kultureinrichtungen: „Einzelne Theater berichten, dass sie bei ihrer Spielplangestaltung die möglichen Reaktionen, zum Beispiel der lokalen AfD oder auch der lokalen Neonazi-Gruppen, einkalkulieren müssen: Wie viel Ärger kann sich das Theater leisten? Damit entwickelt das rechte Bedrohungspotential Wirkung, die ins Innere der Kultureinrichtungen reicht.“ Er spricht von einer „Feindbildmarkierung im Sinne der Polarisierung der Gesellschaft“. Zu dieser „Feindbildmarkierung“ gehört schließlich auch die Etablierung eigener Kulturformate, einer Art rechter Gegenöffentlichkeit, wie dies beispielsweise Susanne Dagen gemeinsam mit Ellen Kositza und verschiedenen Gästen, darunter Uwe Tellkamp und Martin Sellner, in ihrer Buchhandlung in Dresden-Loschwitz, dem „Buchhaus Loschwitz“, tut, das sich im Grunde als eine neue Art „Salon Deutschland“ präsentiert. Andreas Grafenstein hat die Arbeit dieses Salons 2022 am Beispiel der Debatten um Uwe Tellkamp in einem 90minütigen Film dokumentiert.

Man braucht schon eine Menge Zivilcourage, um zu widerstehen und sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen, sprich: Veranstaltungen aufgrund des Drucks und Terrors von rechts nicht abzusagen wie dies immer wieder geschieht, Am 19. September 2022 berichtete Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung, dass die Uraufführung der Theateradaption des Romans „Herscht 07769″ von László Krasznahorkai in Rudolstadt (Thüringen) unter Polizeischutz stattfinden musste. Gegenstand des Stücks ist eine Nazi-Gang. Intendant des Theaters ist Steffen Mensching, der schon in der DDR gemeinsam mit Hans-Eckardt Wenzel mit verschiedenen Programmen tourte, die sich kritisch mit dem Alltag der SED-Diktatur auseinandersetzten. Peter Laudenbach bezeichnet das Stück als eine „ratlose Tiefenbohrung in die kollektive Verunsicherung einer thüringischen Kleinstadt“. Schauspieler*innen werden auf der Straße angepöbelt, Scheiben werden eingeworfen, aber dennoch scheint es in der Stadt eine Art Konsens gegen neonazistisch motivierten Terror und dessen parlamentarischen Arm zu geben.

Der zivilgesellschaftliche Widerstand gegen diesen Terror findet jedoch bei Weitem nicht immer Konsens in den kommunalen Räten. Margarete Stokowski bringt die Gefahr auf den Punkt: Aber wenn man schon genau sein will, dann muss man auch sehen, dass heute Begriffe in die Alltagssprache sehr vieler Menschen übergegangen sind, die direkt aus dem Faschismus kommen und bei denen sich eine klare Linie zu Hitler ziehen lässt, die offensichtlicher ist, als viele sich wohl wünschen würden, die heimlich immer noch auf einen Führer warten, der sie an die Hand nimmt.“

Anschlussfähige Rechtsintellektuelle

Im Bonner Dietz-Verlag erschienen in letzter Zeit mehrere Bücher, die sich – durchaus in der Tradition der zitierten Analysen von Fritz Stern und Kurt Sontheimer – mit den Affinitäten konservativer und rechtsextremer Theorien befassten. Hervorheben möchte ich zwei Analysen: „Intellektuelle Rechtsextremisten“ vom in Brühl und in Bonn lehrenden Extremismusexperten Armin Pfahl-Traughber aus dem Jahr 2022 sowie „Rechtsaußen“ vom niederländischen Politikwissenschaftler Cas Mudde aus dem Jahr 2020 (die englische Originalausgabe „The Far Right Today“ erschien 2019, deutsche Übersetzung von Annie Emmert). Beide Bücher benennen in ihren Untertiteln das Thema der Anschlussfähigkeit, Armin Pfahl-Traughber beschwört das „Gefahrenpotenzial der Neuen Rechten“, bei Cas Mudde lesen wir: „Extreme und RADIKALE RECHTE in der heutigen Politik weltweit“ (Großbuchstaben im Original).

Das Buch von Armin Pfahl-Traughber bietet – nicht nur im ausdrücklich an Personen der rechten Intellektuellenszene orientierten vierten Kapitel – ein Who-is-Who der aktuell wirkenden rechtsintellektuellen Szene in Deutschland, er benennt historische sowie internationale Vorbilder und Netzwerke. In zehn Kapiteln mit jeweils zehn Unterpunkten präsentiert er in nüchternem Stil Erscheinungsformen, Institutionen, Publikationsorgane und Verlage, Positionen, Strategien und Kontroversen innerhalb der Szene. Es geht ihm um eine „Gruppe rechtsextremistischer Intellektueller, die an der Ideologie der ‚konservativen Revolution‘ orientiert ist und eine ‚Kulturrevolution von rechts‘ vorantreiben will.“ Die von ihm beschriebenen Personen „wollen einen politischen Umsturz ‚vordenken‘.“

Die vielleicht am häufigsten genannten Namen sind Carl Schmitt, Alain de Benoist, Armin Mohler, Götz Kubitschek und Karlheinz Weißmann. Carl Schmitt gilt „als politischer Klassiker“, der immer wieder zitiert wird, auch in konservativen Kreisen und ebenso häufig mit Zitaten von Antonio Gramsci, insbesondere mit dessen Hegemonie-These, verknüpft wird. Auch andere linke Intellektuelle werden von rechts vereinnahmt, so von Benedikt Kaiser, der „etwa mit seiner Auffassung einer ‚Revolution der Realpolitik von rechts‘ (…) Bestandteile dafür ausgerechnet von Rosa Luxemburg übernahm.“ Jürgen Elsässer, einer der Gründer des Netzwerks „Ein Prozent“ und Gründer des Magazins „Compact“, war ursprünglich auf der linken Seite zu Hause, hat sich jedoch dann zur rechten Seite bekehrt, ähnlich wie auch Horst Mahler oder Bernd Rabehl oder vor über 100 Jahren Benito Mussolini.

Hauptfeind aller ist der „Liberalismus“, abgestritten wird allerdings durchweg – abgesehen von einigen Hardlinern in rechtsextremistischen Kleinstparteien – ein irgendwie gearteter „Rassismus“, denn dieser wird durch den insbesondere von der Identitären Bewegung popularisierten, schon in den 1970er Jahren präsenten Begriff des „Ethnopluralismus“ ersetzt. „Nation“ und „Volk“ sind – so Martin Lichtmesz, ein anderer Akteur der Neuen Rechten – die mit dem „Ethnopluralismus“ positiv zu besetzenden Begriffe. In der „illiberalen Demokratie“ eines Victor Orbán wäre das durchaus anschlussfähig.

Screenshot aus „Unter Fremden – eine Reise zu Europas Neuer Rechten“ von Manuel Gogos. Nutzung nur mit Zustimmung von Manuel Gogos.

Manuel Gogos hat in seiner 2017 veröffentlichten Dokumentation „Unter Fremden – eine Reise zu Europas Neuer Rechten“ mit Vertreter*innen der Neuen Rechten in Deutschland und Frankreich gesprochen, darunter Götz Kubitschek, Martin Sellner, Renaud Camus, dem Erfinder des „grand remplacement“, und Joël Labruyère, dem ideologischen Kopf der Frauenband „Les Brigandes“. Der Franzose Pierre Larti fordert „eine neue Reconquista“, rechtsextreme Begriffe werden weichgespült, aus „Ausländer raus“ wird „Remigration“, aus „Volkstod“ der „Große Austausch“, alles – so Manuel Gogos möglichst „mainstreamkompatibel“. Dazu gehört auch die Übernahme linker Aktionsformen wie beispielsweise die Besetzung des Brandenburger Tors durch die Identitäre Bewegung, die an eine frühere Besetzung des Tores durch Aktivist*innen von Greenpeace erinnern sollte.

Armin Pfahl-Traughber benennt die Übernahme linker Aktionsformen durch rechte Aktivist*innen, nicht nur bei der Identitären Bewegung. Diese treten jugendlich, modisch und mediengewandt auf, Springerstiefel und Glatzen gehören der Vergangenheit an, ebenso die Anleihen an die Musik des Death Metal. Stattdessen werden Rap, zum Beispiel vom Rapper Dissziplin, oder mit Anklängen an Girl-Bands oder die Tradition des französischen Chansons wie bei der inzwischen jedoch aufgelösten Band „Les brigandes“ gepflegt. Götz Kubitschek gründete 2007 eine „Konservativ-Subversive Aktion“: „Allein die Bezeichnung Konservativ-Subversive Aktion‘ erinnerte an die Subversive Aktion‘ der Vor-Achtundsechziger.“ Armin Pfahl-Traughber sieht allerdings wenig Erfolg bei diesen Aktionen, zumindest vorerst, versteht aber die Adapation linker Aktionsformen und Gedankenwelten als Versuch, eine Strategie zu entwickeln, die mehrheitsfähig werden könnte: „Es gibt eine Eindeutigkeit und Klarheit darüber, was abgelehnt wird, aber keine Eindeutigkeit und Klarheit darüber, was man stattdessen will.“ Aber vielleicht ist dieser diffuse Zugang sogar ein Vorteil. Letztlich dominiert eine vitalistische Definition von Begriffen wie „Gefühl“, „Leben“, „Kampf“ oder auch „Geschichte“. Götz Kubitschek verbindet dies mit Begriffen wie „Biologie“, „Elite“, „Hierarchie“, „Staat“ und „Familie“. Im Gespräch mit Manuel Gogos spricht Götz Kubitschek von dem „Zauber“, den er im Wort „Deutschland“ fühle, ein durchaus nostalgisch-anheimelnd-verführerisch wirkendes Vokabular.

Foto: Hans Peter Schaefer

Thomas Assheuer bietet eine ähnliche Analyse in seinem Essay „Rechte Systemsprenger: Die Politik mit dem Mythos“ (in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2023). Er spricht von einem „Wiederverzauberungskonzept“ und diagnostiziert die hohe Attraktivität eines „mythischen Recht(s) des Stärkeren“. Er schließt an Timothy Snyder an, der von einer „Politik der Ewigkeit“ spricht und sieht mit Roland Barthes einen wesentlichen Unterschied zwischen rechten und linken Träumen: „Der linke Mythos will Veränderung, der rechte will Unverantwortlichkeit – er entpolitisiert die Gesellschaft, verwandelt ihre Verhältnisse zurück in Natur und behauptet deren Ewigkeit“. In einer solchen Gesellschaft werden „Armut und Entzivilisierung mythisch kompensiert, denn im rechten Erzählkosmos gehören Not und Opfer zur Tragik des Daseins.“ Die als tragisch empfundene Dimension lässt sich an dem Kult um Märtyrer bei Nazis (sogenannte „Blutzeugen“) und anderen totalitären Diktaturen wie beispielsweise im Iran belegen.

Es geht um „konkrete Mythen“ statt um „abstrakte Verfahren“, wie sie die liberale Demokratie kennt, die auch deshalb der Hauptgegner ist, weil sie nicht zu faszinieren versteht. Die berüchtigt-ungeschickte Rede Philipp Jenningers vom 10. November 1988, in der er Botschaften und Wortwahl des Nationalsozialismus als „Faszinosum“ bezeichnete, lässt grüßen.

Aber wie gefährlich sind die Intellektuellen, die sich unter dem Arbeitsbegriff „Neue Rechte“ zusammenfassen ließen? Armin Pfahl-Traughber hält das „Gefahrenpotenzial der Neuen Rechten“ für „überschätzt“. So sieht er die Popularität und die Auflagenzahlen der Bücher von Thilo Sarrazin als Beleg, „wie wenig im Vergleich die Neue Rechte in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wird.“ Dieses Argument ließe sich jedoch auch umdrehen, denn die Rezeption von Thilo Sarrazin könnte auch als Indikator dafür gesehen werden, dass die weitgehend doch selbstreferentiell wirkenden Netzwerke im Milieu der Neuen Rechten so selbstreferentiell gar nicht sind, weil sie zumindest in manchen Items bereits mehrheitsfähig sind oder sich zumindest anschluss- und mehrheitsfähig zu inszenieren verstehen.

Vielleicht macht die Reportage von Johannes Grunert über den Erzgebirgskreis vom 21. Dezember 2022 in ZEITonline dies verständlich: „Die extreme Rechte ist hier so weit normalisiert und massentauglich, dass Neonazis heute in vielen Orten innerhalb kurzer Zeit zu Demonstrationen mobilisieren können. Sie bilden themenbezogen Allianzen mit unzufriedenen Bürgerinnen und Bürgern, ohne dafür ihre ideologischen Ziele aufgeben zu müssen. Ob es zuerst ein genuines Protestbedürfnis in der Bevölkerung gibt oder ob extrem rechte Netzwerke dieses erst schüren, ist nicht mehr zu unterscheiden – es macht auch insofern keinen Unterschied, dass Zivilgesellschaft und die extreme Rechte vielerorts gar keine Gegensätze mehr sind, sondern in Teilen deckungsgleich.“ Die örtlichen Vereine, nicht nur Heimatvereine, auch die freiwillige Feuerwehr, Sportvereine, Gesprächskreise jeder Art sind – so Johannes Grunert – „ein perfektes Beispiel für das, was der neurechte Vordenker Götz Kubitschek 2017 unter dem Begriff der Selbstverharmlosung zusammenfasste: den ‚Versuch, die Vorwürfe des Gegners durch die Zurschaustellung der eigenen Harmlosigkeit abzuwehren‘. Als Kubitschek das als Konzept formulierte, war es im Erzgebirge bereits jahrelange Praxis.“

Die Intellektuellen der Neuen Rechten fungieren in diesem Ambiente als Stichwortgeber, sie sorgen für den Code, den Bürger*innen – wie am Beispiel des Erzgebirgskreises beschrieben – beherrschen, wenn sie die Begriffe nur lange genug konsumierten. Die Begriffe kommen auch zunehmend harmloser daher. Kaum jemand, der sich nicht intensiver mit der Szene und ihrer Begrifflichkeit auseinandergesetzt hat, dürfte erkennen, was sich hinter dem auf den ersten Blick durchaus ansprechenden Begriff des „Ethnopluralismus“ verbirgt. Und nicht zuletzt wirkt die klare Richtung attraktiv, die sich in der ständigen Betonung der Worte „back“ und „again“ wiederfindet, die nach Trump’schem Vorbild oft auch in anderen Sprachen, nicht zuletzt im Deutschen, im englischen Original zitiert werden und so eine gewisse Weltläufigkeit vorgaukeln.

Scheinbar einfache Geschichten

Zumindest verbirgt sich hinter dieser rechten Begrifflichkeit immer eine scheinbar einfache Geschichte, die Geschichte der bedrohten Identität. Armin Nassehi konstatiert im Gespräch mit Manuel Gogos, „dass wir offenbar keine gescheiten Geschichten über unsere Gesellschaft erzählen können und deshalb auf unsere alten Identitätschiffren zurückfallen.“ Es wird gefühlig, heimelig, und nicht zu unterschätzen ist das nicht nur für Konservative attraktive Potenzial in diesen Erzählungen. Natascha Strobl schreibt in ihrem Buch mit dem passenden Titel „Radikalisierter Konservatismus“ (Berlin, edition suhrkamp, 2021): „Im radikalisierten Konservatismus verschmelzen die Feindbilder (…). Das Wichtigste ist die Betonung der Differenz.“ Und: „Es geht den radikalisierten Konservativen nicht um das Lösen realer Probleme. Es geht darum, Leidenschaften zu bedienen.“ Als ein Beispiel für diesen radikalisierten Konservatismus nennt Natascha Strobl Sebastian Kurz. Man ist eben etwas Besonderes, wenn man sich rechts mit diffusen das eigene Herz erwärmenden Geschichten positioniert. Umso wichtiger ist das Fazit von Manuel Gogos: „Das Erzählen von Geschichten will ich nicht den Rechten überlassen.“

Dazu passt die folgende Analyse von Armin Pfahl-Traughber: „Zwar waren Nationalsozialisten auch Rechtsextremisten, doch gab es ebenso das ansonsten häufig ignorierte Phänomen eines nicht nationalsozialistischen Rechtsextremismus. Anhänger derartiger Auffassungen erkannten schnell, dass sie die Berufung auf den Nationalsozialismus öffentlich zu sehr diskreditierte. Deshalb bedurfte es einer formalen Distanz. Darüber hinaus gab es bei den Akteuren inhaltliche Differenzen zur nationalsozialistischen Ideologie – auch wenn ihre Weltsicht insgesamt rechtsextremistisch war.“ Anders gesagt: mit dem Neo-Nazi-Vorwurf erreicht man wenig, da es denjenigen, die so bezeichnet werden, nicht sonderlich schwerfällt, sich vom Nationalsozialismus zu distanzieren. Ähnlich funktioniert es mit dem Antisemitismusvorwurf. Die heutige Neue Rechte ist geschickter. Sie findet genügend Anknüpfungspunkte bei populären Politiker*innen, die ihre Begriffe verwenden, aber nicht zu ihnen gehören wie beispielsweise Thilo Sarrazin oder Alexander Dobrindt.

Dazu passt das schon seit mindestens zwei Jahrzehnten andauernde Carl-Schmitt-Revival. Was daraus noch werden könnte, belegt ein Blick nach Russland. Lange Jahre randständig bekannte intellektuelle Extremisten wie Ivan Iljin und Alexander Dugin haben heute den Segen des russischen Präsidenten und werden von ihm je nach Bedarf zitiert. Timothy Snyder beschreibt in seinem Buch „Der Weg in die Unfreiheit – Russland – Europa – Amerika“ (deutsche Ausgabe: München, C.H.Beck, 2018) ausführlich Ivan Iljins Wiederentdeckung und Rehabilitierung durch Putin, der ihn im Jahr 2005 ein zweites Mal bestatten ließ, „in einem Kloster, in dem die sowjetische Geheimpolizei die Leichen von Tausenden russischer Bürger während des Großen Terrors eingeäschert hatte.“

Mehr Symbolik ist kaum möglich. Putin muss sich Iljins Thesen nicht einmal unbedingt zu eigen machen, es reicht, ihn in den Vordergrund seiner Inszenierung neo-kolonialer Großmachtträume des „Russkij Mir“ zu präsentieren. „Iljin betrachtete den Faschismus als Politik für die Welt der Zukunft.“ Er bezog dies auf ein bestimmtes Bild des Christentums. Timothy Snyders Fazit: „Als die Sowjetunion den Krieg gewann und 1945 ihr Imperium nach Westen ausdehnte, schrieb Iljin für zukünftige Generationen von Russen. Er selbst charakterisierte sein Werk als den Widerschein einer kleinen Flamme in großer Dunkelheit. Damit haben die russischen Machthaber der 2010er Jahre einen Flächenbrand entfacht.“ So weit hat es Carl Schmitt noch nicht gebracht. Gibt es Anzeichen? Die Veröffentlichung der zahlreichen Briefwechsel von Carl Schmitt, zuletzt im Jahr 2022 bei Nomos sein Briefwechsel der Jahre 1953 bis 1984 mit Ernst-Wolfgang Böckenförde, bietet reichlich Material für seinen Beitrag zum nationalsozialistischen Terror relativierenden Rezensionen.

Wer ist eigentlich die so oft zitierte „Mitte“?

In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick in die Bielefelder Mitte-Studien sowie die Leipziger Autoritarismus-Studien. Die Zahl der Menschen mit einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild geht schon seit längerer Zeit zurück. Es gibt keinen Anlass zur Entwarnung und wir sollten darüber nachdenken, ob wir bei unseren Klagen über eine „verlorene Mitte“ nicht besser von einem „schleichenden Gift“ sprechen sollten. Im Mai 2019 schrieb ich in meiner Rezension der damals unter dem Titel „Verlorene Mitte – Feindselige Zustände“ erschienenen Bielefelder Studie, auch unter Einbeziehung der 2018 erschienenen Leipziger Studie mit dem Titel „Flucht ins Autoritäre – Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft“: „Nur 2,4 % sind rechtsradikal eingestellt, nur 13 % sehen Vorteile für Deutschland ohne die EU. Und aus Leipzig: 94 % der Befragten begrüßen die ‚Idee der Demokratie‘. / Das ist die eine Seite der Medaille, auf der anderen Seite stellen beide Studien einen Anstieg von Menschen mit ‚geschlossener Ausländerfeindlichkeit‘ sowie mehrheitsfähige Einstellungen gegen Asylbewerber*innen, Sinti und Roma und Muslime fest, laut Leipziger Studie in dieser Reihenfolge. Leipzig notiert in der ‚Mitte der Gesellschaft‘ etwas mehr als 50 % Zustimmung dafür, Sinti und Roma aus den ‚Innenstädten zu verbannen‘ und fast 50 % erreichende Werte dafür, Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland zu verwehren.“

Die 2022 erschienene elfte Autoritarismus-Studie belegt diesen Trend. Es gibt kaum noch Menschen mit einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild, so ist aber die Zahl derjenigen deutlich gestiegen, die sich „manifest ausländerfeindlich“ äußern, Im Osten fühlen sich 40 %, im Westen 23 % der Befragten „durch die vielen Ausländer überfremdet.“ Gestiegen sind auch antifeministische Einstellungen und Schuldabwehrantisemitismus. Die Autor*innen des Kapitels zum Antifeminismus (Fiona Kalkstein, Gert Pickel, Johann Niendorf, Charlotte Hocker und Oliver Decker) bezeichnen den „Antifeminismus als Brückenideologie für rechtsautoritäre und rechtsextreme Akteure“, dies sei auch bei vielen Frauen feststellbar, fast jede*r Vierte vertritt die Ansicht, Feminismus störe „die gesellschaftliche Harmonie und Ordnung“, etwa 27 % fordern, dass Frauen sich auf ihre Rolle „als Frau und Mutter“ konzentrieren sollten: „Im Antifeminismus kommen autoritäre Wünsche, ein durch Härte bestimmtes Männlichkeitsbild, eine paranoide Weltsicht, in der überall Verschwörungen bestehen, zur Vorstellung einer von Dominanzhierarchien geprägten Gesellschaft und eines dogmatisch-religiösen Antifeminismus zusammen.“

Wie sich antifeministische Akteur*innen unter dem Deckmantel der Familienfreundlichkeit, sprich: konservativer Familienwerte inszenieren, hat Simon Schick in seinem Buch „Rechte Gefühle“ (Bielefeld, transcript, 2021), dort vorwiegend mit einer Analyse digitaler Ausprägungen in Deutschland und in den USA, belegt. Aus diesem Grund ist der Begriff der „Mitte“ auch so gefährlich, weil er nichts Inhaltliches markiert, sondern lediglich einen Mainstream behauptet, der glaubt, es wäre gut, wenn alles so wäre wie in einem mythischen Es-war-einmal.

Man mag mit den Autor*innen der Bielefelder Mitte-Studien schließen, die „Mitte“ erodiere, klarer wird die Analyse, wenn man mit der Leipziger Autoritarismus-Studie über die Politisierbarkeit beziehungsweise die Entpolitisierung einer ohnehin schon „unpolitischen Mitte“ als Charakteristikum von Menschen nachdenkt, die sich einer wie Welt zugehörig fühlen, die sie auch gerne mit dem Attribut „bürgerlich“ versehen. Es gibt in der Tat so etwas wie eine heimliche Sehnsucht nach der Rückkehr sogenannter Familienwerte. Auch der Heimat-Begriff spielt in diesem Kontext eine nicht zu unterschätzende Rolle, die schnell auch in völkisches Gedankengut umkippt, ohne dass dies jemand aufmerken lässt. Es gibt so eine Sehnsucht nach „politischer Restauration“, die auch die DDR-Diktatur als Vertreterin bürgerlicher Familienwerte einbezieht. Wer einmal auf entsprechenden Buchvorstellungen in Thüringen oder in Sachsen war, weiß, was ich meine. Die Wahl der AfD ist dort unbeschadet extrem radikaler Äußerungen ihrer Vertreter*innen attraktiv und es entsteht ein „Quartett von rechter ideologischer Überzeugung, Verschwörungsmentalität, Muslimfeindlichkeit und Antifeminismus als Grund für die AfD-Wahl erkennbar.“

Natascha Strobl entdeckt ein ähnliches Konglomerat im Vorkriegsösterreich, das offensichtlich reaktivierbar ist: „rabiater Antisemitismus, Deutschnationalismus, völkischer Autoritarismus und Korporatismus sowie Antimodernismus bzw. eine antiaufklärerische Haltung.“ Ihre Analyse entspricht Analysen zum österreichischen Antisemitismus, der nicht nur in Ehemaligenverbänden, Burschenschaften und FPÖ eine Heimat hat. Die ständige Verharmlosung in Medien und demokratischen Parteien, AfD- beziehungsweise FPÖ-Wähler*innen wären doch keine Nazis, hilft nicht weiter. Stattdessen wäre zu fragen, ob nazi-affine Parolen die Wähler*innen dieser Partei stören. Offenbar nicht.

Die „Kulturkampflogik“ – so Natascha Strobl – funktioniert. Verbunden wird sie mit einem moralischen Anspruch: „Die neoliberale Spielart eines manichäischen Weltbilds ist die Einteilung in die Fleißigen und die Faulen“. Ein- und Zugewanderten wird in diesem Weltbild grundsätzlich unterstellt, sie kämen nur nach Deutschland oder nach Österreich, weil sie von den dortigen Sozialsystemen profitieren wollten. Die Parolen plakatieren rechtsextremistische Parteien und konservative Politiker*innen werden nicht müde, sie in der ein oder anderen Variante abzukupfern, zuletzt der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz, als er sich über Flüchtende aus der Ukraine mokierte, die angeblich ein Geschäft aus der Pendelei zwischen Deutschland und der Ukraine gemacht hätten. Am nächsten Tag musste er sich für diese Bemerkung entschuldigen, aber niemand käme auf die Idee, einen solchen Verdacht auszusprechen ohne ihn nicht doch im tiefen Herzen zumindest für eine mögliche Motivation zu halten, sich aus einem Kriegsgebiet in Sicherheit zu bringen.

Normalität heute

Cas Mudde bietet in „Rechtsaußen“ („The Far Right“) einen plausiblen Erklärungsansatz für die Gefahr rechten und rechtsextremen Gedankenguts: „Die Wahl Donald Trumps illustriert gleich in mehrfacher Hinsicht, worum es in diesem Buch geht: Die äußerste Rechte und insbesondere der radikale Rechtspopulismus erreichten im 21. Jahrhundert den Mainstream und werden zur Normalität.“ Cas Mudde spricht von vier Wellen von rechts und sieht uns zurzeit in der vierten. Er fasst seine Analyse im zehnten und letzten Kapitel des Buches in „Zwölf Thesen zur vierten Welle“ zusammen. „Weder reine Abgrenzung noch völlige Einbindung sind hier die Lösung: Durch Ausgrenzung wird der liberaldemokratische Raum eingeengt, durch Inklusion die liberale Demokratie von innen geschwächt. Man hört oft, der beste Ansatz sein eine Mischung aus beidem (Vereinnahmung). Man grenzt die Gruppierungen aus, nimmt aber ihre Ideen auf.“

Dies hat – so Cas Mudde – in Belgien und in Frankreich nicht funktioniert. Auch nicht in Österreich, auch nicht in diversen deutschen Wahlen, als sich konservative und auch andere Politiker*innen meinten, Erfolge der AfD durch einen möglichst migrationsfeindlichen Kurs zu verhindern. Die einzige Ausnahme ist vielleicht Dänemark, wo inzwischen fast alle Parteien die migrationsfeindlichen Positionen der Rechten übernommen und umgesetzt haben, sodass sich dort diese Frage offenbar gar nicht mehr stellt. Troels Heeger hat diese Frage in seinem Kommentar „Dänemark: Eine Sozialdemokratie für das 21. Jahrhundert?“ (in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2023) untersucht. Sein Fazit: „Die dänischen Wähler sind sich weitgehend einig, dass eine strikte Einwanderungspolitik eine Voraussetzung für das Überleben des Wohlfahrtsstaates im Zeitalter der Massenmigration ist.“ In den Wahlen des Jahres 2022 spielte die Einwanderungspolitik keine Rolle mehr, anders gesagt: die Rechte hatte ihr Ziel erreicht. Die dänischen Sozialdemokrat*innen wurden von deutschen Parteifreund*innen für ihren Ansatz sogar ausdrücklich gelobt, weil sie glaubten, auf ähnlichem Wege ebenso erfolgreich wirken zu können. Einen Konsens über diese Einschätzung gab und gibt es glücklicherweise in der SPD (noch) nicht.

Cas Mudde arbeitet, anknüpfend an David Goodharts 2017 erschienenes Buch „The Road to Somewhere: The Populist Revolt and the Future of Politics“, als zentralen Gegensatz die Dichotomie zwischen „Volk“ und „Elite“ heraus. Das „Volk“ wäre „authentisch“, „moralisch“, die „Elite“ hingegen „kosmopolitisch“ und „korrupt“. „Das ist natürlich (noch) nicht das beherrschende Narrativ, aber es ist, auch in der Wissenschaft, bereits tief in konservative und liberale Kreise vorgedrungen.“ Entsprechend ist der „Liberalismus“ der „Hauptgegner“. Unter seinem Namen wird alles subsummiert, was in irgendeiner Weise einer wahlweise ein Land, eine Nation, ein Volk verbindenden Ideologie im Wege steht, die dann natürlich nicht „Ideologie“ genannt wird, denn „Ideolog*innen“ sind immer die Anderen, sondern mit gefühligen Begriffen wie „Heimat“ oder „Familie“ konnotiert wird, hinter denen aber immer eine Art „White Supremacy“ steckt. Nun unterscheidet Cas Mudde unterschiedliche Ausprägungen der Rechten: „Während sich die extreme Rechte als revolutionär versteht, ist die radikale Rechte eher reformistisch.“

Die extreme Rechte hat zurzeit sicherlich (noch) nicht ihren Lenin gefunden, obwohl Carl Schmitt und die bereits genannten Apologeten neo-russländischer Großmachtfantasien Ivan Iljin – wenn er noch lebte – und Alexander Dugin durchaus eine solche Rolle spielen könnten. Putin wäre sozusagen der gewalttätige politische Arm dieser Bewegung, ein Viktor Orbán hingegen die reformistische Version. Cas Mudde differenziert ferner mit Norberto Bobbio zwischen dem linken Bestreben, Ungleichheit zu beseitigen und dem rechten Bestreben, Ungleichheiten zu belassen. Soziale Ungleichheit wird irrelevant, wenn es eine diese überschreibende nationale Identität gibt, die wiederum diverse Nationalitäten einander gegenüberstellt, sodass der „Ethnopluralismus“ zum Modell einer Ungleichheit in einem Wechselspiel zwischen Inklusion und Exklusion wird, die einander immer notwendig bedingen. Es gibt in diesem Modell keine Inklusion ohne Exklusion, keine Identität ohne „Ver_Anderung“ (Julia Reuter). Faschismus wirkt dann – so Natascha Strobl – als „geistiges Versprechen“ und Liberale und Linke müssen sich fragen, ob sie bei aller Berechtigung ihrer identitätspolitischen woken Anliegen nicht der weiteren Polarisierung Vorschub leisten und der Rechten in die Hände spielen. Damit meine ich nicht, dass diese identitätspolitischen Anliegen aufgegeben werden müssten, ganz und gar nicht, erforderlich ist jedoch ein Strategiewechsel, der die genannte „Kulturkampflogik“ aushebelt.

Cas Mudde bietet einen historischen Überblick, der die internationalen Entwicklungen seit 1945 mit ihren jeweiligen historischen Vorbildern darstellt, nicht nur in Europa, auch in Israel mit dem Kahanismus, in den USA mit dem Ku-Klux-Klan, in Australien mit der One Nation Party, und in Indien mit der BJP, die aus zwei Parteien entstand und seit einiger Zeit den Premierminister stellt. Zurzeit lässt sich eine Stabilisierung der Wahlergebnisse feststellen. Auch wenn das mittlere Wahlergebnis rechtspopulistischer beziehungsweise rechtsextremistischer Parteien in den Jahren 2010-2018 in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union bei etwa 7,5 % lag, gibt es mehrere Länder, in denen diese Parteien mehrheitsfähig sind, zum Teil mit Koalitionspartnern wie in Polen oder neuerdings in Schweden und in Israel, zum Teil auch mit ideologisch sehr ähnlichen Parteien wie zurzeit in Italien oder auch – wie in Ungarn und in den USA – durch entsprechende Veränderungen des Wahlrechts ohne Bedarf für weitere Partner.

Mehrheiten in der Bevölkerung hat keine rechte Partei, aber rechte Parteien besetzen wesentliche Positionen vom Antifeminismus über die Migrationsfeindlichkeit bis zu einem „Our Country First“, das sich auch als ein „Our Country Only Counts“ fassen ließe und das sich dann in einer durchgehenden Demontage des Rechtsstaats zugunsten einer sich selbst zur „Mehrheit“ erklärenden extremistischen Partei äußert. Cas Mudde: „Charakteristisch für die vierte Welle ist, dass die äußerste Rechte anders als in der dritten Welle den Mainstream erreichte.“ Und: „Mit dem Übergang der äußersten Rechten in den Mainstream – bezogen auf Ideologie, Politik und Organisation –, der die vierte Welle charakterisiert, verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen der radikalen Rechten und der etablierten Rechten, in einigen Fällen wie in der Tschechischen Republik und Dänemark auch der etablierten Linken.“

Auf der linken Seite wäre die Entwicklung des französischen Parteiensystems mit der dominierenden populistischen Partei „La France insoumise“ ein treffendes Beispiel. Die Partei des Jean-Luc Mélenchon präsentiert sich gekonnt als Opfer im ewigen Kampf um Gerechtigkeit mit ähnlichen Formeln wie der Rassemblement National der Marine Le Pen auf der rechten Seite. Auf der rechten Seite finden die traditionellen Konservativen ebenso wenig ein eigenes Profil wie auf der linken Seite Sozialisten und Grüne. Gefühlte Nähe wird zu Vereinnahmung bis hin zum Verschwinden gemäßigter und differenzierender Positionen. Dort wo es noch Brandmauern zwischen Konservativen und Rechtsextremisten gibt, bleibt die Frage offen, wie lange diese halten.

Cas Mudde bietet ein Instrumentarium, mit dem sich die diversen Strömungen der Rechten, mal weniger, mal mehr radikal oder extremistisch, in ihrem Wechselspiel mit konservativen und zum Teil auch sozialdemokratischen Bewegungen beschreiben ließen. Begriffe wie „Faschismus“, „Korporatismus“ oder „Nativismus“, die Cas Mudde auch nach ihren jeweiligen regionalen und nationalen Spielarten differenzierend analysiert, werden definierbar, gerade auch in ihren antisemitischen, islamophoben oder rassistischen Anteilen. Rechte Parteien sind anders als oft dargestellt keine Ein-Themen-Parteien, auch wenn sie sich oft auf wenige Themen konzentrieren: „Zuwanderung, Sicherheit, Korruption und Außenpolitik.“ Ich würde Anti-Feminismus und jede Art von Anti-LSBTIQ*-Politik hinzufügen. Mit diesen Elementen werden bestimmte Akteur*innen gebrandmarkt, die für den Niedergang des Landes, der Familie, der Heimat verantwortlich gemacht werden. Der Begriff des „Gayropa“ ist nicht nur in Russland populär. Außenpolitisch geht es um eine völkerrechtswidrige Revision von Grenzen, in Ungarn, in der Türkei, in Russland, oder um den martialischen Schutz der vorhandenen Grenzen wie in den USA oder in Schweden und Dänemark. Mitunter wird dies mit einem spezifischen Verständnis der Religion verknüpft, so mit dem Hinduismus in Indien, mit ultra-orthodoxen Versionen des Judentums in Israel, mit dem Islam in der Türkei, mit dem Christentum in Ungarn und in Polen und nicht zuletzt auch in Russland und im Iran.

Die Sache, die so einfach, …

Rechtsextremistische beziehungsweise radikal rechte Politiker*innen berufen sich gerne auf „die Sorgen der Bürger“ (in der Regel mit bestimmtem Artikel, gleichwohl aber unspezifisch benannt), die diese noch gar nicht mal äußern müssen, weil sie geradezu als Avantgarde diese „Sorgen“ kennen und stellvertretend formulieren bis ihr Publikum glaubt, dass es diese „Sorgen“ auch tatsächlich habe. Cas Mudde: „Insgesamt jedoch beeinflusst die äußerste Rechte die öffentliche Meinung indirekt über die Themensetzung, je nachdem, ob der politische Mainstream (Medien und Politik) Themen und Deutungsraster unkritisch übernimmt.“

Frauen werden vereinnahmt, indem fremde, in der Regel südländisch gelesene Männer zur Ursache jeder Gewalt von Frauen erklärt werden. Andererseits haben Frauen in der rechten Bewegung ihren Platz: „In der Weltsicht der äußersten Rechten sind Männer von Natur aus politisch aktiv. Für Frauen gilt das nicht generell. Deshalb rechtfertigen Frauen politischen Aktivismus häufig mit ihrer Eigenschaft als Mutter.“ Thea Dorn hat in diesem Sinne am 28. September 2022 in der ZEIT die Selbstinszenierung von Marine Le Pen und Giorgia Meloni als „Löwenmutter“, als „Mütter der Nation“ beschrieben, die alles tun, um ihre Kinder, die Bürger*innen des von ihnen vertretenen Landes, vor allem Unbill zu beschützen, das natürlich nie von innen, sondern immer von außen kommt.

Foto: Hans Peter Schaefer

Die Bücher von Armin Pfahl-Traughber und Cas Mudde sollten im Zusammenhang gelesen werden. Natascha Strobl bietet einen Rahmen, mit dem sich das rechte Mainstreaming erklären lässt, die weiteren zitierten Essays und Studien ergänzen das Bild. Während sich Armin Pfahl-Traughber auf die Intellektuellen der Neuen Rechten konzentriert, beschreibt Cas Mudde, die „äußerste Rechte“ im Großen und Ganzen als „offen antiintellektuell“. Gleichwohl beschreibt auch er die Initiativen zur Gründung rechter Think-Tanks. Es geht letztlich um die Diversifizierung der Anschlussfähigkeit an konservativ denkende und fühlende Menschen und Gruppierungen, die mit einzelnen Items – vom Gendersternchen bis zur Asylpolitik – für die Ziele rechtsextremistischer Politik gewonnen werden können. Welches Kraut gegen die Eroberung des Mainstreams gewachsen ist, können beide Autoren nicht beantworten. Cas Mudde warnt aber vor einer „Einschränkung von Redefreiheit oder Demonstrationsrecht“, wie sie oft diskutiert wurde, beispielsweise während der Corona-Pandemie, denn dieses „schwächt die liberaldemokratische Ordnung“, weil „repressive Maßnahmen gegen eine Gruppierung später oft auch gegen andere eingesetzt werden, auch solche, die weder radikal noch rechts sind.“

Dies ist eine Erfahrung, die sich nach den Gesetzgebungen in Folge von 9/11 schon bestätigt haben dürfte. Die im Jahr 2022 virulente in Bayern bis zu 30 Tage mögliche und auch praktizierte Präventivhaft gegen Vertreter*innen der „Letzten Generation“ wurde ursprünglich gegen islamistische sogenannte „Gefährder“ gedacht. Ob sie aber irgendwo auch einmal gegen militante Rechtsextremist*innen angewandt wurde, wäre interessant zu erfahren.

Was bleibt? Dem rechten Mainstreaming müssen wir eine demokratische Erzählung entgegensetzen. Dazu gehört, klar und ehrlich zu sagen, welche Konflikte es gibt, dass es keine Patentlösungen gibt und auch nicht geben sollte. Letztlich geht es um die Frage des Verhältnisses zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten, um die Vorteile und die Unabdingbarkeit des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates, der unverhandelbar ist und unverhandelbar bleiben muss. Wir müssen – so Cas Mudde –„besser erklären, warum die liberale Demokratie das beste politische System ist, das es derzeit gibt, und dass es alle Unzufriedenen schützt. Dafür müssen wir uns der Spannungen, die dem System innewohnen, stärker bewusst sein, besonders zwischen Mehrheitsregierung und Minderheitsrechten.“ Ob Erklärungen reichen? Aber vielleicht ist das die heute zeitgemäße Version des Brecht’schen Diktums von der „Sache, die so einfach, doch so schwer zu machen ist“.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Januar 2023, Internetzugriffe zuletzt am 29. Dezember 2022.)