Liebe Freund*innen des Demokratischen Salons,
in unserer Ausgabe vom Juni 2023 finden Sie acht neue Texte, die Dokumentation von zwei Gesprächen mit Sandra del Pilar über Malintzin, eine starke Frau der mexikanischen Geschichte und mit Karlheinz Steinmüller zur deutschen und internationalen Zukunftsforschung, den zweiten Teil des Tagebuchs von Nataliia Sysova aus Mariupol, acht Thesen von Paul Schäfer über Moral und linke Politik angesichts des Ukraine-Krieges, ein von Beate Blatz geschriebenes Portrait von Susan Sontag, Essays von Norbert Reichel über Faschismus, die Neue Rechte und das Elend des Konservatismus sowie eine Reise in die Welt der Science-Fiction.
Das Editorial befasst sich nicht mit Wärmepumpen, keine Sorge, aber mit der Art und Weise, in der über Wärmepumpen geredet und gestritten wird, denn diese gibt tiefe Einblicke in den Zustand der deutschen Politik.
Wie üblich finden Sie unsere Vorschläge für den Besuch von Ausstellungen und Veranstaltungen sowie unsere Empfehlungen für Lektüren, Podcasts oder Filme. In diesem Newsletter zeigen wir die Bilder der fünf am 29. Mai 1993 in Solingen ermordeten jungen Frauen der Familie Genç von Sandra del Pilar sowie das Portrait von Mevlüde Genç von Beata Stankiewicz. Die Bilder sind im Original in der aktuellen Ausstellung im Zentrum für verfolgte Künste, Solingen, zu sehen. Wir danken dem Zentrum für die Möglichkeit, diese Bilder hier zu zeigen. Die Texte zu den Bildern entnahmen wir dem zweisprachig gestalteten Katalog.
Das Editorial:
Es wäre sicherlich denkbar, die einhundertunderste Meinung zum deutschen Heizungsgesetz zu präsentieren, mit allen Details (nein, hier wird das Heizen nicht verboten, es ist ein Übergang, keine das Klima schützende Technologie wird ausgeschlossen, manche als Superlösung angepriesene Technologie ist in absehbarer Zeit nicht verfügbar oder pure Science-Fiction). Wer sich über die Fakten informieren möchte, hat genügend Gelegenheit dazu: GEO bietet „Sieben Mythen über Wärmepumpen im Faktencheck“ (Quelle: Correctiv), der Tagesspiegel informierte, was in anderen Ländern längst geschieht, nicht nur im oft zitierten Dänemark, das seine „Wärmewende“ wohl schon geschafft hat. Das ist die eine Seite der Geschichte.
Die andere Seite ist die Frage, wie von wem über das aktuelle Heizungsgesetz und damit auch über den Klimaschutz diskutiert wird. Diese Frage hat viel damit zu tun, wie hitzig oder erhitzt – man verzeihe die Metaphorik – Debatten in einer liberalen Demokratie geführt werden und wann sie diese beschädigen. Manchmal klingt es recht martialisch, so in der Überschrift des Textes von Peter Unfried in taz FUTURZWEI: „Wärmewende als Entscheidungsschlacht?“ Für die FDP offenbar schon, sonst hätte sie wohl kaum einen Tag nach dem Kabinettbeschluss, den sie mitgefasst hatte, öffentlichkeitswirksam 101 Fragen angekündigt, die dann doch nur 77 Fragen waren.
Johannes Hillje, Politik- und Kommunikationsberater, der 2014 den Europawahlkampf der Grünen organisierte, monierte zwei kritische Punkte: einerseits hätte Robert Habeck einkalkulieren müssen, dass der Gesetzentwurf durchgestochen wird (das ist nichts Ungewöhnliches!), sodass sich die BILD-Zeitung darüber hermachen konnte, andererseits hätte er vorbeugend in einer Pressekonferenz oder einem Interview offensiv für den Gesetzentwurf werben können. Stattdessen schwieg er. Den „Wendepunkt“ sieht Johannes Hillje jedoch bereits bei der verunglückten Debatte um die Restlaufzeiten der drei verbliebenen Atomkraftwerke. BILD und FDP schwiegen nicht und sorgten dafür, dass die Stimmung eskalierte. Die CDU zog nach, die AfD profitiert.
Man könnte dieses Verhalten als deutsche Neigung abtun, sich immer heftig aufzuregen. Roger de Weck schrieb am 13. Juli 1984 (erneut abgedruckt in der Sonderausgabe der ZEIT zu ihrem 77. Geburtstag), kurz nachdem er aus der Schweiz nach Hamburg kam, dass die Deutschen gar nicht so preußisch-unterwürfig wären wie sich das manche im Ausland vorstellten: „Nicht ihr Hang zu unbedingtem Gehorsam, sondern im Gegenteil ihre undemokratische Fähigkeit zu heller Empörung kennzeichnet die Menschen in der Bundesrepublik. (…) Jeder noch so laue Konflikt wird gleich als ‚Krieg‘ hochgespielt. Aussperrung, so war kürzlich auf Transparenten zu lesen, sei ‚Terror‘. Teilt die Presse harte Schläge aus, ist das ‚Hinrichtungsjournalismus‘. (…) Zunächst fiel mir auf, dass hierzulande unheimlich viel über Paragraphen gesprochen wird – darüber, wie jeder seine Interessen gegenüber dem Staat am besten wahrnehmen kann.“
Mein Haus, mein Auto, meine Heizung, meine Autobahn? Scheint so. Als Galionsfigur der Hetzvokabeln scheint sich Hubert Aiwanger wohlzufühlen. Er erntet Widerspruch, aber viele bejubeln ihn, als mutigen Kämpfer für alles, was immer schon so war und auch gefälligst so bleiben sollte. Hauptsache, es geht gegen die grüne „Verbotspolitik“, ihre „Bevormundung“ braver Bürger (ungegendert, alle aber mitgemeint), gegen die „Klima-Kleber“ (auch die bleiben ungegendert) und den „Heizungshammer“, all dies und mehr ist in den gängigen Medien nachlesbar und muss daher nicht näher ausgeführt werden.
Man könnte dies als „Krawallkonservatismus“ bezeichnen, so Liane Bednarz am 5. Juni 2023 in der ZEIT. Oder – wie Petra Pinzler am 26. Mai 2023 in ZEIT online – als „Scheinheiligkeit“: „Zwar halten die Menschen die Klimakrise für das größte politische Problem und wollen eine ehrgeizigere Klimapolitik. Gleichzeitig aber will eine überwiegende Mehrheit kein schnelles Verbot der Gasheizung. Sie will auch kein Verbrenner-Aus. Wie das zusammen geht? Gar nicht!“ Es nicht wie in dem schönen Goethe-Satz, dass man die Botschaft höre, aber der Glaube fehle. Die meisten Menschen glauben und wissen, dass die Überschwemmungen an der Ahr und der Erft, im Frühjahr 2023 in der Emilia Romagna, die Meldung, dass schon in etwa zehn Jahren die Arktis im Sommer eisfrei sein werde, eine Meldung, die in der zweiten Juniwoche 2023 es sogar in die zentralen Nachrichtensendungen schaffte. Einen Überblick über den weltweiten Verlauf des Temperaturanstiegs bietet ZEIT ONLINE: „Seit 111 Monaten zu warm“. Auch das wissen sie.
Aber ach was, wir tragen doch nur minimal zum Klimawandel bei, so Jens Spahn, der raisonnierte, das wären gerade einmal zwei Prozent. Also Augen zu und durch! Zum Vergleich: in Pakistan geht der Beitrag gegen Null. Ignoriert wird, dass die klassischen westlichen Industriestaaten, vor allem die Großindustrie und die Bestverdienenden und Wohlhabensten am meisten zur Erhitzung der Erdatmosphäre beitragen, man multipliziere die Zahl „zwei Prozent“ mit der Zahl der großen Industriestaaten.
Mag alles stimmen, aber hören will man es nicht. Bestraft wird der Überbringer der Nachricht und der heißt laut BILD und FDP: Robert Habeck. Die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte am 13. Juni 2023 ein Gespräch von Ulrike Nimz mit Ulrike Seemann-Katz, Fraktionsvorsitzende für die Grünen im Kreistag von Ludwigslust-Parchim (Mecklenburg-Vorpommern), mit dem vielsagenden Titel: „Wir sind jetzt alle Robert Habeck“. Eine Schlussfolgerung klingt paradox und ist es auch: „Natürlich schwant auch den Menschen im Nordosten, dass sich etwas ändern muss, weil die Wiesen schon im Juni verdorrt sind, weil das Moor brennt und das Meer voller Quallen ist. Aber bitte nicht schon wieder wir, nicht schon wieder hier. Die Politik soll sich kümmern, die Politik soll sich raushalten.“
Die FDP hat sich nach mehreren Wahlniederlagen völlig kubickisiert und die Grünen als Hauptgegner gesetzt. Wer solche Koalitionspartner hat, braucht keine Opposition. Allerdings profitiert in den Umfragen nicht die FDP, sondern die AfD. Auch die CDU profitiert nicht und ob CSU und Freie Wähler profitieren, ist nicht ausgemacht. Die Grünen sind zurzeit (noch) die einzige Partei der Bundesregierung, die die Ergebnisse der letzten Bundestagswahl in den aktuellen Umfragen erreicht. Aber auch das kann sich ändern, sie sollten sich nicht in Sicherheit wiegen, dass es keine grünen Wähler*innen gäbe, die zur AfD wechseln könnten. Andreas Speit hat in seinem Beitrag zum Sammelband „Rechte Ränder“ (Berlin, Verbrecher Verlag, 2023) das Wahlverhalten von Anhänger*innen der „Lebensreformbewegung“ analysiert. 2017 wählten aus diesem Milieu 23 Prozent die Grünen, 18 Prozent die Linke und 15 Prozent die AfD. Mit der Corona-Politik der Bundesregierung, die auch von den Grünen unterstützt wurde, hat sich dies grundlegend verändert: 27 Prozent wählten die AfD, 18 Prozent Die Basis. 50 Prozent der Ungeimpften wählten AfD.
Wir sagen, der Appetit kommt mit dem Essen. Vielleicht ist es so auch beim Wahlverhalten. Die Analyse von Roger de Weck passt auf die heutige Zeit, aber im Jahr 1984 fehlten noch die aktuellen Konsequenzen für das Wahlverhalten. Ein Appell, man möge zu sachlicher Argumentation zurückkehren, dürfte wirkungslos bleiben. Aber die bloße Hinnahme all der Unsachlichkeiten, weil man doch selbst sachlich bleiben wolle, ist auch keine Strategie. Heilige haben in der Regel kein langes Leben zu erwarten. Jana Hensel schrieb am 21. Mai 2023 in ZEIT Online: „Die Grünen müssen sich wehren lernen.“: „Es geht also um einen knallhart geführten Machtkampf von CDU und SPD gegen eine erheblich jüngere und auch strukturell kleinere Partei, die seit einigen Jahren dennoch versucht, den traditionellen Volksparteien ihren jahrzehntelang ersessenen Rang streitig zu machen.“ Die nächste Debatte steht an: der EU-Asylkompromiss. All dies könnte an eine der genialen Kurzsatiren von Heinrich Böll erinnern: „Es muss etwas geschehen.“ NR
Die neuen Texte im Demokratischen Salon:
- Rubriken Liberale Demokratie und Weltweite Entwicklungen: Der Zukunftsforscher und Science-Fiction-Autor Karlheinz Steinmüller versteht sich selbst als „optimistischer Skeptiker“, daher der Titel der Dokumentation unseres Gesprächs: „Der optimistische Skeptiker“. Er beschreibt die Verfahren, Fragestellungen und Beteiligungsformate in der Zukunftsforschung, in der es in der Regel um Szenarien für einen Zeitraum von etwa bis zu 30 Jahren geht. Zu unterscheiden sind Wunschträume von denkbaren realen Szenarien, ein Beispiel ist die Kernfusion, über die seit mehreren Jahrzehnten immer mit einem Zeitraum von etwa 30 Jahren bis zur Anwendungsreife spekuliert wird. Ein grundsätzliches Problem ist die Kommunikation von Szenarien, die höchst komplex sind, aber in den Medien vereinfachend rezipiert werden. Dies erschwert auch eine differenzierte Politikberatung. In der DDR hatte Zukunftsforschung angesichts des feststehenden Ziels des Kommunismus keine Grundlage, die kybernetisch definierte Prognostik wurde nach einer kurzen Phase in den 1960er Jahren wieder eingestellt. Karlheinz Steinmüller nennt unter Bezug auf Jim Dator vier Archetypen in Zukunftsstudien: „Der erste Archetypus: Business as usual, alles bleibt wie es ist. Der zweite Archetypus: die Katastrophe, der Zusammenbruch, die Dauerkrise. Der dritte: die Einschränkung, die Disziplinierung, Sammlung der Kräfte, um die Dinge zu beherrschen. Der vierte Archetypus ist die große Transformation: Durch einen radikalen Wandel wird eine gute Zukunft ermöglicht.“ Das vollständige Gespräch lesen Sie hier.
- Rubriken Opfer und Täter*innen und Kultur: Was geschah eigentlich vor über 500 Jahren, als Cortés mit 700 Soldaten und 18 Pferden ganz Mexiko eroberte? Aber was hat er eigentlich wirklich erobert? Es gibt so viele Ungereimtheiten, vor allem im Schicksal einer Frau, die in Mexiko nach wie vor als „Verräterin“ gesehen wird, Malintzin, despektierlich „La Malinche“ Sandra del Pilar hat eine andere, eine neue Geschichte aufgeschrieben, die auch unser Bild einer kolonialen Eroberung völlig verändern sollte. In ihrer Bilderserie „Los hijos de….“, die sie im Frühjahr 2023 in der Galerie Cristóbal in Mexiko City zeigte, präsentiert sie „Malintzin, Übersetzerin, Kriegerin, Politikerin“. Sie hat einen Codex aus der Sicht von Malintzin geschrieben und zeigt eine selbstbewusste Politikerin, die es schaffte, dass viele Völker gemeinsam und unter Nutzung der Spanier die Herrschaft des alle anderen schikanierenden und unterdrückenden Moctezuma beenden konnten. Malintzin war eine Adlige, sie beherrschte mehrere Sprachen, konnte schreiben und nahm an den Kämpfen persönlich teil. Sie lockte Cortés nach Tenochtitlan, indem sie ihm erzählte, dort wären die Straßen mit Gold gepflastert. Für ihre Bilderserie hat Sandra del Pilar ihre Technik (Öl auf Leinwand und transparenter Synthetikfaser) weiterentwickelt, sodass sich je nach Blickwinkel eine deutlich andere Perspektive ergibt. Das vollständige Gespräch lesen Sie hier. Sie sehen dort auch einige der Bilder, von Carlo Sintermann aus unterschiedlichen Perspektiven fotografiert.
- Rubriken Osteuropa und Treibhäuser: In seinem Essay „Der Krieg gegen die Ukraine“ präsentiert der Kölner Publizist Paul Schäfer, ehemaliger verteidigungs- und abrüstungspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Linken, acht Thesen über Moral und linke Politik. Paul Schäfer wendet sich gleichermaßen gegen aktuelle bellizistische und pazifistische Diskurse. Er fordert eine an Fakten orientierte Friedenspolitik, die „nicht der Propaganda des Aggressors auf den Leim gehen“ Eine zentrale Grundlage ist das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“, gerade auch im Hinblick auf die Tradition linker und pazifistischer Bewegungen der Vergangenheit. Daher bedarf es einer tiefgehenden Analyse der aggressiven Außenpolitik Putins und der Russischen Föderation. Unterwerfung und Kapitulation sind keine Optionen für die Ukraine und sollten daher auch von der Linken nicht in Betracht gezogen werden. Debatten über eine mögliche Friedensordnung nach dem Krieg sollten von NATO und EU nicht bis zu dessen Ende vertagt werden, sondern könnten heute bereits „ein wichtiger Anreiz für die Einleitung eines globalen Friedensprozesses“ sein. Dies bedeutet keineswegs, dass man damit dem Kreml entgegenkäme, im Gegenteil: solche Debatten verdeutlichen, welche Bedarfe auch angesichts der Kündigung in der Vergangenheit erreichter Abkommen ausgelöst haben. „Es geht um eine gerechte Lösung, die nicht zu weiteren Aggressionen und Völkerrechtsbrüchen anstachelt.“ Den vollständigen Essay lesen Sie hier.
- Rubriken Osteuropa und Treibhäuser: Mit der freundlichen Genehmigung des Jüdischen Echos Westfalen (J.E.W.) veröffentlichen wir den zweiten Teil des Tagebuchs von Mariupol, das Nataliia Sysova vor ihrer Flucht im Juli 2022 schrieb. Es beschreibt eine Woche im März, in der die russischen Streitkräfte – ein fast schon euphemistischer Begriff für den von diesen ausgeübten Terror – das Leben vieler Menschen, einer ganzen Stadt zerstörten. Mariupol ist ein Symbol dieses Terrors. Dieser Teil des Tagebuchs zeigt auch die durch die Presse berühmten Bilder des zerstörten Theaters und der aus der zerstörten Entbindungsklinik vorerst geretteten schwangeren Frau, die jedoch wenig später starb. Auch das Baby konnte nicht gerettet werden. Den vollständigen Text des Tagebuchs finden Sie hier.
- Rubrik Kultur: Eine der einflussreichsten Intellektuellen in Europa und in den USA war Susan Sontag (1923-2004). Beate Blatz hat ihr unter dem Titel „Dunkle Lady, scharfer Geist“ ein Portrait gewidmet, in dem sie die beiden umfangreichen Biographien von Benjamin Moser und Daniel Schreiber auswertete, aber sich auch im Detail mit mehreren grundlegenden Essays auseinandersetzt. Dazu gehören die „Notes on Camp“, der Essay über die Fotographie, die Essays über Krankheiten und Epidemien, insbesondere zu AIDS und der Krankheit, der sie erlag, dem Krebs. Susan Sontag schaffte es, sich aus einer lieblosen Kindheit zu befreien, als Studentin in Berkeley, dann in den Intellektuellenszenen von New York und Paris zu etablieren, in denen sie zu einer Ikone wurde, dank ihrer Intellektualität und ihres Scharfsinns, aber auch dank ihrer glamourösen Persönlichkeit. In ihren Essays, ihren Erzählungen und in ihren Interviews warb sie für eine Sprache, die die Dinge so nimmt wie sie sind, eben auch Krankheiten, und sie nicht in Metaphern und Allegorien verklärt oder verfremdet. Sie reiste überall hin, wo Widersprüche zu erwarten waren, so auch mit ihrer denkwürdigen Inszenierung von „Warten auf Godot“ in das belagerte Sarajevo. Der Beitrag schließt mit Leseempfehlungen von Texten von und über Susan Sontag. Das vollständige Portrait lesen Sie hier.
- Rubriken Weltweite Entwicklungen und Treibhäuser: Der Vorwurf „Faschismus“ hat sich inzwischen zu einer Art Allzweckwaffe in der politischen Auseinandersetzung entwickelt. Norbert Reichel versucht in seinem Essay „Faschismus“ die „Archäologie einer Weltanschauung“. Er stellt mehrere Bücher vor, die sich mit der Frage befassen, was eigentlich hinter dem Begriff des „Faschismus“ steckt, beispielsweise das im Verbrecher-Verlag kürzlich neu aufgelegte Buch von Zeev Sternhell „Faschistische Ideologie“ und den im selben Verlag zum 70. Geburtstag von Sternhells Übersetzer Volkmar Wölk entstandenen Sammelband „Rechte Ränder“. All dies im Kontext des Essays „Der ewige Faschismus“ von Umberto Eco und des von David Ranan im Dietz-Verlag herausgegebenen Buchs „Sprachgewalt“. Faschismus ist eine „Religion der Exklusion“. Der Faschismus ersetzt das Distinktiv „Klasse“ durch „Nation“, die Nazis fügen – und das unterscheidet sie von klassischen Faschisten – den Begriff der „Rasse“ als zusätzliches Distinktiv hinzu. Die Frage lautet schließlich – so Ruth Ben-Ghiat – wie weit Politiker*innen, die sich vom historischen „Faschismus“ inspirieren lassen, zu gehen bereit sind, bis zum „Massenmord“? Faschismus ist jedoch nicht erst gefährlich, wenn es zu Genozid und Terror kommt. Gemeinsam ist jedoch allen Parteien der Neuen Rechten, in Deutschland wie in anderen Ländern, der inhärente „Autoritarismus“. Den vollständigen Text lesen Sie hier.
- Rubriken Weltweite Entwicklungen und Treibhäuser: Auf dem eben genannten „Faschismus“-Essay baut der Essay „Rechtsgedreht – Die autoritäre Versuchung des Konservatismus“ Es geht um die Frage, warum und wie konservative Parteien Positionen der Rechten übernehmen. Die eigentliche Gefahr liegt weniger in einem neuen „Faschismus“, sondern in „Autoritarismus“ und „illiberaler Demokratie“. Beispiele finden wir in Ungarn, Polen, in den USA und in Israel. Der alte Universalfeind Kommunismus verschwand, also müssen neue Feinde definiert werden: ein Dauerbrenner ist die Migrationspolitik, Erfolge verspricht ein kulturkämpferischer Anti-Wokism, verbunden mit einem rechts-konservativen Familienbild. „Ressentiments“ bestimmen die politische Praxis, wie Eva Illouz am Beispiel der Politik der aktuellen israelischen Regierung beschreibt. Thomas Biebricher analysiert an drei Fallstudien für Frankreich, Italien und Großbritannien, wie die dortigen konservativen Parteien in weiten Teilen Positionen ihrer rechten Konkurrenzparteien übernahmen oder sich damit überflüssig machten. In Italien und in Frankreich sind die Parteien von Giorgia Meloni und Marine Le Pen inzwischen die stärkste Kraft der ehemals konservativen Seite, in Großbritannien wurde mit dem Brexit eine weiter rechtsstehende Partei zwar obsolet, allerdings näherten sich die Konservativen auch in anderen Positionen der Rechten an. Konservative Parteien gerieten in den vergangenen 40 bis 50 Jahren in die Hand schillernder Persönlichkeiten, die die Partei als ihren persönlichen Besitz führten. In Deutschland gilt dies für die CDU bisher (noch) nicht, Ansätze gibt es jedoch in der CSU, ungeachtet ihrer nach wie vor starken Abgrenzung zur AfD. Den vollständigen Essay lesen Sie hier.
- Rubrik Kultur: Was ist Science-Fiction? Norbert Reichel beschreibt die diversen Erscheinungsformen von Science-Fiction anhand der Einführungen von Isabella Hermann und Sascha Mamczak. Der Essay „Reisen in die Welt der Science-Fiction“ bietet darüber hinaus Einblicke in die Welt von Star-Trek, in der sich aktuelle politische Debatten, Entwicklungen und Konflikte spiegeln. Sascha Mamczak beschreibt Science-Fiction als „kulturelles Phänomen“ und als „Milliardengeschäft“. Die Politikwissenschaftlerin Isabella Hermann versteht Science-Fiction als eine politische Literaturgattung und belegt ihre Sicht an den Beispielen der Künstlichen Intelligenz, der Sehnsucht zur Erforschung beziehungsweise Eroberung des Weltraums und der ökologischen Herausforderung des Klimaschutzes. Beide Autor*innen analysieren Science-Fiction mit Hilfe der rhetorischen Figuren der „Allegorie“ (Mamczak) und der „Metapher“ (Hermann) und erklären auf diese Weise den jeweiligen Gegenwartsbezug. Beide referieren Vorläufer heutiger Science-Fiction in der europäischen und – für das 20. Jahrhundert – US-amerikanischen Literatur- und Filmindustrie. Wie universell ist das Universum, wie verhalten sich die Interessen von Produzent*innen und Publikums zueinander? Eine Antwort findet sich vielleicht bei Siegfried Kracauer in „From Caligari to Hitler“: Produktion und Rezeption wirken wechselseitig. Gerade Star Trek bietet ein ausgesprochen vielfältiges Beispiel für diese These, hat aber – wie eine Serie der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit belegt – einen durchaus emanzipatorischen Anspruch. Den vollständigen Essay lesen Sie hier.
Veranstaltungen mit Beteiligung des Demokratischen Salons:
- Karlrobert Kreiten: Am August 2023, 18 – 20 Uhr, gibt es im Bonner Leoninum eine von der Theatergemeinde Bonn und dem Demokratischen Salon gemeinsam vorbereitete Veranstaltung zum Gedenken an den 80. Jahrestag der Hinrichtung des jungen Pianisten Karlrobert Kreiten durch die Nazis in Plötzensee. Zu seinem Gedenken spielt Knut Hanßen Stücke seines letzten wegen seiner Verhaftung nicht mehr gespielten Konzerts. Susanne Kessel wird zwei eigens zu diesem Anlass komponierte Klavierstücke von Ursel Quint und David Graham uraufführen. Dazu gibt es Diskussionen mit den Künstler*innen und mit Expert*innen der historisch-politischen Bildung. Die Bonner Oberbürgermeisterin Katja Dörner wird eröffnen. Oliver Hilmes stellt sein 2023 erschienenes Buch „Schattenzeit“ vor, in dem er die Geschichte Karlrobert Kreitens ausführlich beschreibt. Die Veranstaltung wird von der Landeszentrale für politische Bildung NRW gefördert. Karten zum Preis von 15 EUR (8 EUR für Studierende, Schüler*innen und Inhaber*innen des Bonn-Ausweises) können bei der Theatergemeinde vorbestellt werden: info@tg-bonn.de, Tel. 0228-915030. Weitere Informationen auf der Seite der Theatergemeinde Bonn.
Weitere Veranstaltungen, Ausstellungen und Wettbewerbe:
- Solingen ‘93: Am frühen Morgen des 29. Mai 1993 wurden in Solingen Gürsün İnce (*4. Oktober 1965) Hatice Genç (*20.November 1974) Gülistan Öztürk (*14. April 1981) Hülya Genç (*12. Februar 1984) und Saime Genç (*12. August 1988) ermordet. Das Zentrum für verfolgte Künste erinnert mit einer Ausstellung und Veranstaltungen bis zum 17. September an den 30. Jahrestag des Brandanschlags. Sandra del Pilar hat Portraits der fünf ermordeten Menschen eigens für die Ausstellung geschaffen, Beata Stankiewicz schuf ein Porträt der 2022 verstorbenen Mevlüde Genç. Es gibt einen zweisprachig gestaltenten Katalog mit zahlreichen Hintergrundinformationen, ein gleichzeitig künstlerisches und historisches Dokument, das auch an die Opfer weiterer Mordtaten gegen ein- und zugewanderte Menschen in Deutschland erinnert. Es war nicht nur Solingen. Weitere Informationen zur Ausstellung finden Sie hier.
- Rechte Gewalt: Bis zum August 2023 ist im ELDE-Haus in Köln eine gemeinsame Ausstellung des NS-Dokumentationszentrums und der Bundeszentrale für politische Bildung zu sehen; Titel „Un-Sichtbarer Terror – Orte rechter Gewalt in Deutschland“. Der Fotograf Mark Mühlhaus hat mehr als 30 Orte in ganz Deutschland aufgesucht, an denen Rechtsterroristen, Neonazis, Skinheads und andere gewaltbereite rechte Jugendliche rassistische oder antisemitische Taten verübten. Ein eigener Ausstellungsbereich, der von Schüler*innen und Studierenden gestaltet wurde, dokumentiert in Köln verübte Gewalttaten. Weitere Informationen finden Sie hier.
- Opposition in der DDR: Die Bundesstiftung Aufarbeitung, die Stiftung Berliner Mauer und die Robert Havemann Gesellschaft laden zu Lesung, Gespräch und Musik am Juni 2023 um 18:00 Uhr in die Gedenkstätte Berliner Mauer, Bernauer Straße 119, 13355 Berlin, ein. Titel der Veranstaltung: „Gegen die Angst, seid nicht stille. Ein geheimes Tonband und die DDR-Opposition in West-Berlin“. Die Autorin Doris Liebermann führt gemeinsam mit Christian Kunert durch den Abend, in dessen Zentrum Liebermanns im Titel der Veranstaltung genanntes Buch sowie Musik von Christian Kunert und Salli Sallmann stehen werden. Um Anmeldung an anmeldung@stiftung-berliner-mauer.de wird gebeten.
- Jüdischsein in Deutschland: Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V., Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus (BAG K+R) laden am 28. Juni 2023 um 18 Uhr im Rahmen des Kompetenznetzwerks Rechtsextremismusprävention ein zum digitalen Salon „Sicher sind wir nicht geblieben: Jüdischsein in Deutschland“ mit Laura Cazès und Hannah Peaceman. Laura Cazés hat zwölf jüdische Autor*innen gebeten, ihre Sicht auf das Leben in Deutschland und das „Jüdischsein“ zu beschreiben. Sie werden aus ihren Texten „Sicher sind wir nicht geblieben“ und „Um Demokratisierung ringen“ vorlesen. In der Ankündigung schreiben die Veranstalter*innen: „Wenn über jüdisches Leben in Deutschland gesprochen wird, dann vor allem bezogen auf die Schoah und Antisemitismus. Damit aber werden Juden*Jüdinnen zu Objekten von Themen, die zwar untrennbar verbunden sind mit dem Land, in dem sie leben. Ihr eigenes Leben mit all seinen Realitäten taucht in gesellschaftlichen Diskursen allerdings kaum auf. Die Autor*innen nehmen einen wichtigen Perspektivwechsel vor, indem sie die Vielfalt jüdischer Positionen aus ihrer Sicht aufzeigen.“ Zur Anmeldung geht es hier.
- Protest und Aufstand: Am 6. Juni 2023 startete die sechsteilige Vortrags- und Diskussionsreihe „Mut/Wut! Protest, Aufstand und politischer Aktivismus in Diktatur und Demokratie“. Sie ist ein gemeinsames Projekt der Berliner Landeszentrale für politische Bildung, der Deutschen Gesellschaft e. V. und der Bundesstiftung Aufarbeitung. Anlass ist der 70. Jahrestag des Volksaufstands vom 17. Juni 1953. Einbezogen werden jedoch auch Aufstände und Protestformen in anderen Ländern, beispielsweise im Iran. In der ersten Veranstaltung ging es um Symbole des Protestes (beispielsweise Kerzen, Regenschirme, abgeschnittene Haare). Die weiteren Termine: Juli 2023 („Stadt, Land, Netz“), 5. September 2023 (Zwischen Recht und Repression“), 10. Oktober 2023 (Demokratischer (Un-)Wille? Der Umgang mit antidemokratischem Protest“, 7. November 2023 („Vergessene Aufstände und marginalisierter Protest“ und 5. Dezember 2023 („Protest und Emotion“). Alle Veranstaltungen finden in den Räumen der Bundesstiftung oder – am 7. November 2023 – in der Berliner Landeszentrale statt. Alle Veranstaltungen sind auf dem Youtube-Kanal der Stiftung im Livestream und anschließend verfügbar.
- „Flashes of Memory“: Diese Ausstellung zur Fotografie im Holocaust ist bis zum 20. August 2023 im Museum für Fotografie, Jebensstr. 2, 10623 Berlin zu sehen. Weitere Informationen, auch zum Begleitprogramm, finden Sie hier.
- Charlotte Salomon: Das Münchner Lenbachhaus zeigt bis zum 10. September 2023 das Lebenswerk der 1942 in Auschwitz im Alter von 26 Jahren ermordeten Künstlerin. Die 769 Blätter, die sie zu dem „Singespiel“ „Leben? oder Theater?“ in drei Akten zusammenfasste, entstanden nach ihrer Flucht aus Berlin in Südfrankreich. Die Ankündigung des Lenbachhauses beschreibt Struktur, Inhalt und Bedeutung ihres Werks: „Die Illustrationen und Texte fügen sich wie Szenenbilder einer Theaterinszenierung oder eines Drehbuchs zusammen und nehmen gleichzeitig den hybriden Charakter aus Text- und Bildebene von Graphic Novels vorweg. Die Figuren des Werks beruhen auf Salomons persönlichem Umfeld, sind von ihr jedoch subjektiv herausgearbeitet und somit zu fiktiven Charakteren abstrahiert.“
- BNE-Festival 2023: Das diesjährige Festival findet unter dem Motto „Lernen – Handeln – Wandeln“ am und 15. September 2023 in der Volkshochschule Essen statt. Veranstalter sind das nordrhein-westfälische Umweltministerium und die Stiftung Umwelt und Entwicklung (SUE) in Bonn. Angeboten werden Informationen, Workshops, Materialien und vieles mehr aus der „BNE-Familie“ in NRW, die sich auch über weitere Mitglieder freut. Weitere Informationen finden Sie hier.
- Einwanderung in Deutschland: In der Bonner Bundeskunsthalle ist bis zum 8. Oktober 2023 die Ausstellung „Wer wir sind – Fragen an ein Einwanderungsland“ zu sehen. In der Ankündigung werden die Ziele der Veranstaltung beschrieben: „Migration ist kein Sonderfall – sie ist der Normalzustand, zu jeder Zeit und überall auf der Welt. Die Menschen, die nach Deutschland kamen, kämpften seit jeher darum, Teil der Gesellschaft und ihrer Geschichte zu sein. Erfahrungen von Rassismus und Diskriminierung sind bis heute Alltag für Menschen, denen die Zugehörigkeit zum ‚Wir‘ abgesprochen wird, ob mit oder ohne Migrationsgeschichte. Ihre Wege sind gekennzeichnet von Widerständen, aber auch von Erfolgen.“ Die Ausstellung zeigt Werke von 50 Künstler*innen. Kurator*innen sind Johanna Adam, Lynhan Balatbat-Helbock und Dan Thy Nguyen. Beteiligt haben sich unter anderen das Team von DOMiD und Manuel Gogos.
Kurznachrichten und weitere Empfehlungen:
- Digitale Bibliothek verbrannter Bücher: Manche kennen vielleicht das Buch von Volker Weidemann „Das Buch der verbrannten Bücher“ (Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2008). Darüber hinaus gibt es ein digitales Angebot, das am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien vom damaligen Direktor Julius H. Schoeps initiiert und von den beiden Bibliothekarinnen Karin Bürger und Ursula Wallmeier redaktionell betreut wird. Die Seite bietet Informationen über Autor*innen, ihre Biographien und ihre Bücher, in vielen Fällen auch mit einem Link auf digital verfügbare Bücher. Die Seite wird ständig ergänzt. Die Seite finden Sie hier.
- 1953: Der 17. Juni 1953 ist eines der Daten, die die Bundeszentrale für politische Bildung zum Anlass ihrer Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 15. Mai 2023 genommen hat. Neben Essays zum Kalten Krieg (Christian F. Ostermann), zur Aufarbeitung des 17. Juni (Daniela Münkel) und zur frühen DDR-Gesellschaft (Ralph Jessen) finden wir Hintergrundinformationen zur westdeutschen Gesellschaft 1953 (Sonja Levsen), zu Stalins Tod (Martin Wagner) und der Oberschicht der damaligen Sowjetunion (ein Reprint aus dem Jahr 1953 von Herman F.Achminow) owie zum iranischen „Schicksalsjahr“ 1953, dem Sturz des einzigen demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Mohammad Mossadegh unter Mithilfe der USA und Großbritanniens (Katajun Amirpur).
- Afghanische Autorinnen – Deutscher Kulturförderpreis 2022/2023 für „Untold Literatures“: Am 1. Juni 2023 wurde die KfW Stiftung vom Kulturkreis des BDI in Düsseldorf für das von der KFW Stiftung initiierte Programm „Untold – Weiter Schreiben Afghanistan“ ausgezeichnet, das in Kooperation mit dem Literaturportal „Weiter Schreiben“ und „Untold Narratives CIC“ literarische Texte und Briefe afghanischer Autorinnen veröffentlicht. Seit 2020 bietet das Projekt digitale Schreibwerkstätten für afghanische Schriftstellerinnen an. In Kooperation mit dem Literaturportal Weiter Schreiben des Vereins WIR MACHEN DAS und der Londoner Initiative Untold Narratives CIC veröffentlichen afghanische Autorinnen Anfang 2022 ihre Erzählungen sowie literarische Briefwechsel mit renommierten Schriftstellerinnen“. Briefe und Erzählungen erscheinen von Exil-Künstler*innen illustriert im Original und in Übersetzung. Aus den Texten der afghanischen Autorinnen spricht die Verzweiflung über die dramatische Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen und Perspektiven seit der Machtübernahme der Taliban. Doch ebenso deutlich sind Widerstandsgeist und Mut der Frauen Afghanistans, ihre Träume und Sehnsüchte und die Weigerung, sich erneut zum Schweigen bringen zu lassen. Den Auftakt machte die Veröffentlichung der literarischen Korrespondenzen zwischen Freshta Ghani & Daniela Dröscher, Maryam Mahjube & Ilma Rakusa sowie Batool & Marica Bodrožić. Die Briefwechsel begannen im Sommer 2021, noch vor dem Abzug der USA und ihrer Verbündeten. Über die Dauer des Jahres bezeugten sie die dramatischen Veränderungen in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban. Ab September 2022 kamen drei weitere Autorinnen aus Kabul, Herat und der nordafghanischen Provinz Balkh zu Wort. Es schrieben sich Maliha Naji & Dilek Güngör, Raha Mozaffari & Elke Schmitter sowie Fatema Key & Svenja Leiber. Aus Sicherheitsgründen publizierten die afghanischem Autorinnen unter Pseudonym.
- Hinrichtungen im Iran (Auszug aus einer Pressemitteilung von frauenlebenfreiheit_bonn vom 20. Mai 2023): „Die Islamische Republik (IR) Iran richtet immer weiter hin. Nun auch die drei Protestierenden für Freiheit in Iran. Sie hatten es vor wenigen Tagen geschafft, einen Brief aus dem Gefängnis rauszuschmuggeln, mit der Aufforderung: ‚Lasst nicht zu, dass sie uns töten!‘ (…) Saleh Mirhashemi, Majid Kazemi und Saeed Yaghoubi hatten ihr ganzes Leben noch vor sich. Die Hinrichtungen hätten verhindert werden können (bisher über 200mal in 2023), denn das Regime testet, wie groß die Menschenrechtsverletzungstoleranz des Westens ist und es liegt großen Wert auf ihre Außenwirkung. (…). Die Bundesregierung und die Europäische Union lassen die Menschen in Iran und die Menschen im Exil erneut vollständig im Stich, obwohl insbesondere Deutschland diese katastrophale Situation mit der IR mit verursacht hat. Wir möchten daran erinnern, dass Deutschland den Militärmachtapparat der Revolutionsgarden der IR massiv aufgebaut hat und auch der erste war sowie bis heute der einflussreichste westliche (Handels-)Partner des Regimes ist. (…). Obwohl im Iran unzählige Frauen und Andersdenkende gejagt, gefoltert und hingerichtet wurden. (…). Wir rufen die Mitglieder der Parteien SPD, Grüne und FDP auf, in ihren Reihen zu protestieren, wenn sie an eine (…) feministische (Außen-)Politik glauben und dafür einstehen möchten. (…) Der kanadische Premierminister macht dies seit Monaten öffentlich vor. Mitleid und Beileidsbekundungen der deutschen und europäischen Politik reichen nicht mehr!“
- Todesstrafe für Homosexualität in Uganda: Am 2. Juni 2023 schrieb Carolin Emcke in der Süddeutschen Zeitung über ein Thema, über das sie eigentlich nicht mehr schreiben wollte, weil sie hoffte, es wäre nicht mehr erforderlich, Titel ihres Statements: „Diese Schande in Uganda“. In Uganda können Homosexuelle jetzt mit dem Tode bestraft werden. Bestraft wofür? Dass sie sind was sie sind. Carolin Emcke hinterfragt allerdings auch die öffentliche Berichterstattung, in der von „Aktivisten“ die Rede ist. „Vielleicht beginnt der Fehler schon hier. Warum sind das automatisch ‚Aktivisten‘? Warum ist das nicht nüchterner Universalismus? Warum wird der Einspruch gegen die Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten nur dann als Einspruch gegen die Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten gedeutet, solange es nicht um LGBTIQ geht? Dann wird aus dem universalistischen Einspruch auf einmal ‚Aktivismus‘, und dieser ‚Aktivismus‘ wird delegiert an diejenigen, deren Rechte verletzt werden. Als wäre das allein die Aufgabe von ‚Betroffenen‘, und als wäre es eine Nische, ein special interest, oder, mutmaßlich noch verwegener, Identitätspolitik. Aber Menschenrechte kennen keine Nischen. Wer sie schützen will, muss sie immer und gleichermaßen schützen. Ob es die eigenen Sehnsüchte und Freiheiten sind, die beschränkt werden oder die anderer.“
- Ausgesetzt: Die New York Times berichtete, wie am 12. April 2023 in Griechenland zwölf Geflüchtete, darunter auch Kinder, in einem Van verschleppt und auf hoher See auf ein unmotorisiertes Schlauchboot gezwungen wurden. So viel zur Ankündigung eines „strengen, aber fairen Umgangs mit den Schutz-Suchenden“ von Seiten der griechischen Regierung. (Quelle: Correctiv am 22. Mai 2023).
- Antisemitische Gewaltdynamiken: Am 26.04.2023 erschien im Neofelis Verlag der achte Band der Buchreihe „Jalta. Positionen zur jüdischen Gegenwart“, „Nachhalle“. Darin veröffentlichten Marina Chernivsky und Friederike Lorenz-Sinai: „Antisemitische Gewaltdynamiken in und jenseits extremer Gewalt“. Sie zeigen, was Antisemitismus als sozialer Prozess bedeutet und worin die Schwierigkeit besteht, ihn als Gewaltverhältnis einzuordnen. Die Autorinnen stellen sich in ihrem Artikel Fragen wie nach der Wirkungsweise antisemitischer Gewalt jenseits von extremen physischen Übergriffen, nach alltäglichen Mikroaggressionen, verbaler antisemitischer Gewalt und extremer Gewalt im Erleben von Jüdinnen*Juden sowie nach den Schwierigkeiten, antisemitische Gewalt als eine der Post-Shoah-Gesellschaft inhärente Gewaltdynamik zu verstehen. Romina Wiegemann schreibt in „Are the kids alright?“ über die Folgen des Anschlags von Halle aus der Perspektive jüdischer Familien. Es geht einerseits um die eigene Sicherheit und die Sicherheit der Kinder, anderseits um die Frage nach einer altersgerechten Vermittlung der Erscheinungsformen von Antisemitismus in der Schule. Eltern erleben leider auch, dass ihr Wunsch nach einer Thematisierung dieser Erfahrungen im Unterricht von manchen Lehrkräften ignoriert wird, ungeachtet der Beschlusslage der KMK, die aber viele Lehrkräfte offensichtlich noch nicht erreicht hat.
- Friedhofsschändung in Geilenkirchen: Die im Jahr 2022 gegründete Einrichtung RIAS NRW hat ihre erste Fallstudie veröffentlicht, Titel: „‚Konsequente Rechtsprechung sieht anders aus‘ – Die Schändung des jüdischen Friedhofs in Geilenkirchen und der anschließende Gerichtsprozess.“ Die Studie enthält eine detaillierte Darstellung der Geschehnisse von der Tat bis zum Prozess. Ein Manko des Prozesses lag in der fehlenden Berücksichtigung jüdischer Perspektiven, problematisch war auch die lange Dauer des Prozesses. Zwei Monate nach der Urteilsverkündigung waren weitere Schändungen zu berichten, die Täter*innen wurden bisher nicht gefasst. Die Verfasser*innen schlagen einen Leitfaden vor, der Polizei- und Justizangestellte Kriterien und Handlungsoptionen vermittelt. Eine wichtige Maßnahme ist auch der Betroffenenschutz. Die Studie kann auf der RIAS-Seite heruntergeladen werden.
- Henry Kissinger – 100. Geburtstag: Höchst umstritten, Friedensnobelpreisträger, wie man so sagt mit allen Wassern gewaschen, Pragmatiker und Betreiber diverser Putsche in Ländern, in denen er und die damalige USA glaubten eingreifen zu müssen, um dem Kommunismus zu begegnen, manche nennen ihn einen „Kriegsverbrecher“. Aus der übergroßen Sammlung von Essays, Interviews, Portraits zu seinem 100. Geburtstag am 27. Mai 2023 eine kleine Auswahl: Stephan-Andreas Casdorff und Anja Wehler-Schöck im Gespräch mit Joschka Fischer im Berliner Tagesspiegel, ein Interview mit Henry Kissinger in der ZEIT von Heinrich Wefing und Matthias Naß, ein Portrait in der Jüdischen Allgemeinen von Sebastian Moll.
- Einwanderungsland Deutschland: ZEIT Online dokumentierte am 30. Mai 2023 die verschiedenen Einwanderungsphasen nach Deutschland, die Zeit der Anwerbung von Gastarbeiter*innen mit folgendem Familiennachzug, die Zeit nach dem Zerfall der kommunistischen Diktaturen in Ost- und Südosteuropa, die EU-Osteuropa-Erweiterung und die Fluchtbewegungen aus dem Mittleren und Nahen Osten, vor allem aus Afghanistan und Syrien, der Krieg in der Ukraine. Es folgt ein von sieben Autor*innen gemeinsam gestalteter Essay über die historischen und andauernden Schwierigkeiten, sich in Deutschland als „Einwanderungsland“ zu verstehen, ungeachtet der längst gegebenen Realitäten. Der Essay enthält weitere Statistiken über die Menschen, die einwanderten, ihre Herkunft, ihre neuen Heimaten in Deutschland, auch gegliedert nach Herkunftsländern und nach Kreisen. Deutschland ist ein für Menschen aus anderen Ländern attraktiv und ohne Einwanderung dürfte die deutsche Infrastruktur in vielen Lebensbereichen zusammenbrechen. Einwanderung sichert Wohlstand.
- Nahostlexikon: Wer sich über den Nahen Osten oder die einzelnen Länder in der Region, die dortigen Entwicklungen, die Konflikte und zukünftigen Perspektiven informieren möchte, findet alles was man dazu braucht im Mena-Watch-Lexikon, das von dem Wiener Think-Tank „Mena Watch“ aufgebaut und ständig weiterentwickelt wird. Es lohnt sich im Übrigen auch, den jeweils Donnerstag erscheinenden Newsletter zu abonnieren, der stets aktuelle Berichte von ausgewiesenen Expert*innen enthält.
- Türkische Wahlen: Über die Wähler*innen Erdoğans in Deutschland wird in den Medien viel spekuliert. Stefan Reinicke veröffentlichte am 30. Mai 2023 online in der taz ein differenziertes Interview mit dem Soziologen Özgür Özvatan. Dieser weist darauf hin, dass Erdoğan und seine Partei oft in Deutschland präsent gewesen sei, Vertreter*innen der Opposition jedoch nicht. Eine Rolle habe auch das „Gewand des Antikolonialen“ gespielt, das Erdoğan vermittelte: „Er erweckt den Eindruck, die Türkei von den Fesseln des Westens zu befreien und endlich auf Augenhöhe zum Westen zu sprechen.“ Es wäre jedoch falsch, seine Unterstützer*innen größer erscheinen zu lassen als sie sind. Jede Äußerung, gegenüber ihm und der Türkei härtere Saiten aufzuziehen, bestätige seine Unterstützer*innen nur in ihrem Gefühl, von der deutschen Politik nicht beachtet zu werden. Ob „Rassismuserfahrungen“ zur Wahlentscheidung beigetragen hätten, ließe sich allerdings nicht mit Daten belegen.
- Bürgerräte vs. Nicht-Regierungsorganisationen? Einen Bürgerrat fordert die „Letzte Generation“. Der Deutsche Bundestag hat einen Bürgerrat zum Thema „Ernährung im Wandel“ beschlossen. 160 Bürger*innen wurden aus einer Gruppe von 20.000 Personen gelost. Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats kommentierte dieses Verfahren am 26. Mai 2023 in seinem Wochenrückblick: „Das, was auf den ersten Blick nach mehr Demokratie aussieht, ist in Wirklichkeit ein Frontalangriff auf die organisierte Zivilgesellschaft.“ Während Verbände nach dem „Repräsentanzprinzip“ funktionieren“, seien Bürgerräte „ausgeloste Einzelpersonen, die den Politikprofis im Parlament und den Ministerien in vielen Fällen nicht gewachsen sein werden“. Wer über die Zukunft unserer Demokratie nachdenkt, sollte auch diesen Standpunkt einbeziehen. Möglicherweise besteht die Lösung darin, das eine zu tun und das andere nicht lassen. Ein Bürgerrat konnte beispielsweise in Irland die Akzeptanz für die Ehe für alle durchsetzen. Es gibt auch weitere gute Beispiele. Aber wie Bürgerräte arbeiten, was ihr Auftrag sein sollte und könnte, welche Rolle sie neben den etablierten Nicht-Regierungs-Organisationen spielen, das sollte mit den bekannten und bewährten Organisationen der Zivilgesellschaft sicherlich besprochen werden. Das eine darf das andere nicht aushebeln und letztlich entscheidet selbstverständlich das Parlament.
- Rentnerinnen: Die jüngste Debatte um die Anhebung der Altersgrenze für den Renteneintritt geht – so Udo Knapp am 6. Juni 2023 in der taz – an der Sache vorbei. Eine Lösung für das Fachkräfteproblem ist eine solche Anhebung nicht. Ein höchst kritischer Punkt ist schließlich die Altersarmut von Frauen, die aus verschiedenen Gründen, vor allem der Kindererziehung, aber auch der Pflege von Eltern oder gegebenenfalls ihres schwer erkrankten Ehemannes, die erforderlichen 45 Beitragsjahre nicht erreichen. Familien- und Erziehungsarbeit wird nach wie vor bei der Berechnung von Renten nicht berücksichtigt. Es bleibt bei der männlichen Normalbiographie. Selbst die grüne Vorsitzende Ricarda Lang habe nur das Problem möglicher Rentenkürzungen für Männer im Blick, nicht jedoch das Problem der Altersarmut von Frauen. Ähnliches gilt für Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil.
In etwa vier Wochen melden wir uns wieder.
Wir grüßen Sie alle herzlich.
Ihre Beate Blatz und Ihr Norbert Reichel
(Alle Internetzugriffe erfolgten zwischen dem 6. und 14. Juni 2023.)
P.S.: Sollte jemand an weiteren Sendungen meines Newsletters nicht interessiert sein, bitten wir um Nachricht an info@demokratischer-salon.de. Willkommen sind unter dieser Adresse natürlich auch wertschätzende und / oder kritische Kommentare und / oder sonstige Anregungen.