Faschismus

Archäologie einer Weltanschauung

„So gründlich wir die Befehlskette auch bis zu Hitler zurückverfolgen, der Faschismus war nicht einfach ein Regierungsprogramm, sondern ein auf Kooperation angewiesenes Vorhaben, an dem sich Millionen Menschen beteiligten, um sich ihre Mitmenschen zu unterwerfen und ihnen ihr Recht auf Freiheit zu verweigern.“ (Paul Mason, Das radikal Böse – die unheimliche Wiederkehr des Faschismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2022)

Und ihr Recht auf Würde, ihr Recht auf Leben – so ließe sich ergänzen. Millionen Menschen beteiligten sich an Massenmord, Genozid und Vernichtungskriegen der Nazis. Literatur über die Wiederkehr des Faschismus hat Konjunktur. Im Jahr 2018 veröffentlichte Madeleine Albright sel.A. gemeinsam mit Bill Woodward 2018 bei HarperCollins (New York) ihr Buch „Fascism – A Warning“. Es wurde ebenso wie Paul Masons Buch „How To Stop Fascism“ in die deutsche Sprache übersetzt, das Buch von Madeleine Albright erschien bei DuMont, das Buch von Paul Mason 2022 bei Suhrkamp. Mit dem eingangs zitierten Text bietet der Autor eine Zusammenfassung der Thesen seines Buches.

Gäbe es in den öffentlichen Medien eine Hitliste der in den 2020er Jahren als „Faschist“ bezeichneten Personen, läge Putin weit vorne. Doch ist Putin ein Faschist? Zumindest unterstützt er faschistische und post-faschistische Parteien in anderen Ländern, nicht zuletzt in der EU, auch finanziell. Über Putin schrieb Madeleine Albright: „Putin ist nur deshalb kein ausgewachsener Faschist, weil er es nicht nötig hat.“ Er ist kein Ideologe, er hat sich „niemals tiefer auf eine Ideologie oder eine Partei eingelassen.“ Auch Timothy Garton Ash nennt „das Russland von Wladimir Putin“ als ernsthaften Anwärter auf diese Bezeichnung“.

Inflation eines Kampfbegriffs

Nun ist es wohlfeil, sich zu streiten, ob Putin ein Faschist ist oder nicht. Das Phänomen des „ewigen Faschismus“ (Umberto Eco) lässt sich so nicht klären. Möglicherweise sollten wir weniger danach fragen, wer Faschist*in ist oder als solche*r handelt, sondern, welche Elemente faschistischer Ideologie politisches Handeln bestimmen und nicht zuletzt, wie weit die jeweiligen als „faschistisch“ bezeichneten Politiker*innen zu gehen bereit sind. Als Selbstbezeichnung hat „faschistisch“ weitgehend ausgedient, selbst dort, wo – wie in Italien – eine Partei regiert, die Außenstehende nicht müde werden, als „postfaschistisch“ zu bezeichnen.

Der „Merkur“ veröffentlichte in seiner Juni-Ausgabe 2023 einen Text von Michail Schischkin mit dem Titel „Der russische Uroboros“. Michail Schischkins Analyse: „Putin ist ein Symptom, die Krankheit ist er nicht.“ Die Krankheit benennt Schischkin mit klaren Worten: „Diktaturen entstehen nicht, wenn ein Diktator anklopft, sie entstehen aus dem Ordnungsbedürfnis der Menschen.“ Wer sich ein wenig mit Täterforschung (z.B. Christopher Browning, Harald Welzer) befasst hat, kann diesen Satz nachvollziehen. Ein solches „Ordnungsbedürfnis“ meinte Heinrich Himmler in seiner berüchtigten Posener Rede vom 4. Oktober 1943, als er sein Publikum, die Höheren Polizei- und SS-Führer (im Nazi-Jargon: HPSSF) lobte, sie wären bei der Erfüllung ihres Auftrags „anständig geblieben“.

Mariupol am 9. März 2022, Foto: Igor Smagliy.

Aber was hat die vorhandene oder nicht vorhandene Ideologie eines Putin oder anderer Autokraten wie Donald J. Trump oder Recep Tayyip Erdoğan mit Faschismus zu tun? Wie viel Faschismus finden wir in lateinamerikanischen, asiatischen oder afrikanischen Diktaturen? Und wie verhält es sich mit Vergleichen der Genozide und Vernichtungsfeldzüge unserer und vergangener Zeiten, nicht nur im aktuellen Fall der Ukraine, auch in vielen anderen Regionen des Planeten Erde, beispielsweise in Guatemala, Kambodscha, Ruanda, in der Ukraine.

Schon sind wir dabei, verschiedene Begrifflichkeiten miteinander zu vermischen, nicht zuletzt mit dem Zweck, uns abzugrenzen. Genau dies tut Putin, wenn er die Ukraine als ein von Nazis beziehungsweise Faschisten regiertes Land bezeichnet und damit auch Deutsche, US-Amerikaner*innen und andere Europäer*innen als die aus seiner Sicht eigentlich Verantwortlichen die Schuld an dem Krieg gibt, den er „Spezialoperation“ nennt, der aber schlechthin nichts anderes ist als sein Vernichtungskrieg. „Faschismus“ und „Nazi“ – diese beiden Begriffe sind die ultimative Abgrenzung. Doch selbst Putin wird kaum glauben, dass er mit seiner Wortwahl die Regierungen des „kollektiven Westens“ wie er es nennt, NATO, EU oder die Ukraine beeindrucken könnte. Seine Wortwahl soll vor allem dafür sorgen, die russische Bevölkerung an den Großen Vaterländischen Krieg zu erinnern und auf sein Vorhaben, die Ukraine zu besetzen, möglichst zu annektieren und die dortige Regierung abzusetzen, einzuschwören. Die Zustimmung zu seinem Krieg soll aus der ständigen Mahnung des ewigen Gegners erwachsen und dieser Gegner ist – ganz im Sinne von Umberto Eco – „der ewige Faschismus“ („il fascismo eterno“).

Andererseits ist die Frage, ob Putin an seine eigenen Worte glaubt, genauso irrelevant wie die Frage, ob der Papst katholisch ist. Seine Propaganda mag einige, darunter auch manche vermeintlich Linke, im „Westen“ zu gewinnen, die Thomas Asseuer am 19. Juli 2022 in der ZEIT als Teil der „Querfront des Kreml“ identifiziert. Diese Querfront reicht in Deutschland von Kreisen der AfD bis hin zu Sahra Wagenknecht, die sich selbst für eine „Linke“ hält und Gerhard Schröder, der sich immer noch für einen Sozialdemokraten halten darf.

Nun macht es wenig Sinn, sich bei der Frage nach der faschistischen Gefahr an Putin abzuarbeiten. Putins Vorlieben für Alexander Dugin oder Ilja Iljin, die Thomas Asseuer zitiert, hat Timothy Syder seinem Buch „Der Weg in die Unfreiheit“ (deutsche Ausgabe: München, C.H. Beck, 2018) bereits ausführlich beschrieben. Aber es ist nicht unbedingt von Bedeutung, was Putin gelesen hat oder woran er glaubt. Ein Blick nach Butscha sollte genügen, denn – so Oksana Timofejewna in Lettre International 139 in ihrer psychoanalytisch inspirierten Analyse – „Butscha ist ein Spiegel“. Wie Michail Schischkin schrieb: „Putin ist ein Symptom, die Krankheit ist er nicht.“

Ebenso wenig hilft es, gebetsmühlenartig diverse Parteien wie beispielsweise die AfD in Deutschland, zumindest führende Personen dieser Partei, die FPÖ in Österreich, die Parteien Marine Le Pens, Giorgia Melonis und andere rechtspopulistisch bis rechtsextrem agierende Parteien in verschiedenen europäischen Ländern, pauschal als „faschistisch“ zu bezeichnen. Je öfter und undifferenzierter man dies tut, umso mehr nutzt sich der Begriff ab und die Gefahr, die von einem wiedergeborenen „Faschismus“ ausgehen soll, erscheint zunehmend harmloser. Wenn man den von der BILD-Zeitung am 23. Mai 2023 veröffentlichten Umfragen glauben möchte, kann sich fast die Hälfte der Deutschen vorstellen, einmal die AfD zu wählen. Dass die BILD-Zeitung ihre Umfrage mit der Meldung verbindet, dass etwa die Hälfte der Deutschen den Rücktritt von Robert Habeck fordert, ist geradezu infam und zeigt, wie stark die selbstverständlich legitime Debatte um einen das Klima schützenden Gesetzentwurf personalisiert und gleichzeitig genutzt wird, eine zumindest zutiefst illiberale und antidemokratische Politik zu hofieren. Vielleicht sollte auch die von BILD-Verleger Matthias Döpfner hofierte FDP darüber nachdenken, ob sie mit ihrer Kritik an der Regierung, an der sie beteiligt ist, möglicherweise schon zum Zauberlehrling geworden ist, der die Geister, die er rief, nicht mehr loswurde. Die FDP profitiert von ihren Invektiven gegen die Regierung, der sie angehört, in den Umfragen kaum, wohl aber die AfD. Umfragen Anfang Juni 2023 sehen die AfD bundesweit auf dem Weg zur 20%-Marke.

Im „Westen“, dem selbsternannten Hüter aller Menschenrechte, grassiert der Faschismus-Vorwurf. „Faschismus“ und „Nazi“ sind politische Kampfbegriffe geworden. Es gibt eine Reihe von sich selbst als links oder vielleicht auch als liberal bezeichnenden Aktivist*innen, die nicht müde werden, ihre Gegner*innen und nicht nur die AfD als „Faschisten“ oder „Nazis“ zu brandmarken. Gerade in Deutschland ist es wohlfeil, jemanden, der aus der Gemeinschaft der Demokrat*innen ausgeschlossen werden soll, als „Nazi“ oder als „Faschist“ zu titulieren. So beispielsweise geschehen, als Boris Palmer am 28. April 2023 in einer Migrationskonferenz das N-Wort verwendete und sich – leicht provozierbar wie er ist – nicht davon abbringen ließ, es mehrfach zu wiederholen. Der Chor rief „Nazis raus“.

Nun ist Boris Palmer alles andere als ein „Nazi“, aber was sagen diese Rufe über die Mitglieder des Chores aus? Sie tragen zu einer weiteren Inflation der Begriffe bei und erreichen vor allem eines: sie verharmlosen den Völkermord der Nazis an den europäischen Juden, ihren Vernichtungskrieg, ihre Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Verharmlost werden auch die Regime, die Oppositionelle in Gefängnissen hielten, vertrieben oder hinrichteten wie beispielsweise das faschistische Italien oder das franquistische Spanien. Und Parteien wie die AfD werden auf diese Art entdämonisiert, sprich hoffähig gemacht. Selbst müssen sie nichts dafür tun. Da hatten es extrem rechte Parteien wie die italienischen Fratelli d’Italia oder der französische Rassemblement National schwerer. Dort brauchte die sogenannte „dédiabolisation“ – wie Marine Le Pen sie nannte – Jahrzehnte.

Anders gesagt: der Faschismus-Vorwurf zieht nicht, im Gegenteil: sein inflationärer Gebrauch führt dazu, dass es viele Menschen gar nicht mehr zu stören scheint, wenn führende AfD-Politiker*innen sich illiberal und antidemokratisch äußern oder gar – wie der Thüringer AfD-Vorsitzende – laut Gerichtsurteil auch als „Faschist“ bezeichnet werden dürfen. Manchen erscheint es eben schlimmer, wenn sich junge Leute an der Straße festkleben oder sich jemand für eine gegenderte Sprache einsetzt als wenn jemand – wie Björn Höcke – von „unschönen Szenen“ schwadroniert, die es geben werde, wenn seine Politik der „Remigration“ durchgesetzt werden könne. Oppositionelle in Gefängnissen? Das gibt es in keinem der EU-Mitgliedstaaten, wohl aber in den Staaten, die zumindest von Teilen der AfD hofiert werden. Angedroht wird es von diversen AfD-Politiker*innen immer wieder, durchaus mit ähnlichem Vokabular wie wir es im April und Mai 2023 im türkischen Wahlkampf hörten. Ein Blick nach Österreich zeigt, wie es der FPÖ immer wieder gelingt, allen Skandalen zum Trotz– zumindest in Umfragen – sich als stärkste Partei zu regenerieren und in einigen Bundesländern die ÖVP in Koalitionen zu zwingen.

Faschismus und Massenmord

In dem von David Ranan herausgegebenen Buch „Sprachgewalt“ (Bonn, Dietz, 2021) analysieren Michael Kohlstruck und Ruth Ben-Ghiat die Begriffe „Nazi“ und „Faschismus“. Es ist gut, dass die Begriffe in zwei verschiedenen Texten analysiert werden. Ein weiterer Text von Anton Weiss-Wendt zum Begriff „Völkermord“ folgt unmittelbar. Michael Kohlstruck hat eine einleuchtende Erklärung: „Über die Jahrzehnte hinweg, während der die Bundesrepublik ihre eigene politische Kultur entwickelte, festigte und fortentwickelte, ist ihre Selbstdefinition nominell nicht über den engen Bezug zum NS hinausgekommen – eben als das Gegenteil des Vorgängersystems.“ Anders gesagt: wer uns nicht zustimmt, ist ein „Nazi“. In der Frühzeit der Bundesrepublik Deutschland, in der man in Konrad Adenauers Worten „das schmutzige Wasser“ nicht wegschütten konnte, weil man kein „sauberes“ hätte und daher in allen Behörden und Positionen Menschen beschäftigte, deren NS-Vergangenheit offensichtlich war, wurde man schnell als „Kommunist“ gebrandmarkt, wenn man sich kritisch zur Regierungspolitik äußerte. Nun gibt es heute keine ernst zu nehmenden „Kommunisten“ mehr, die in Deutschland den inneren Frieden in Frage stellten, also bleibt nur der „Nazi-Vorwurf“ respektive der Vorwurf, man wäre ein „Faschist“. Natürlich macht sich „Nazi“ in Sprechchören besser.

Am 17. Juni 2023 jährt sich der Volksaufstand in der DDR zum 70. Mal. Daniela Münkel, Historikerin im Bundesarchiv, zitiert in der Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 15. Mai 2023 zum Jahr 1953 Berichte aus dem „Neuen Deutschland“ (ND) und dem Abschlussbericht des ZK der SED zum 17. Juni 1953. Im ND ist die Rede von „großen Gruppen faschistischer Jugendlicher aus Westberlin“, im Bericht vom „Versuch eines faschistischen Umsturzes“. Linke oder sich links wähnende Gruppierungen im Westen übernahmen diese Diktion, zunächst waren es nur wenige, mit der Zeit wurden es mehr und in der 1968er Zeit war der Faschismus-Vorwurf geradezu Teil linker Identitätsbildung.

Es ließe sich sogar die These wagen, dass der Faschismus-Vorwurf sich inzwischen als der politische Vorwurf schlechthin durchgesetzt hat, mit dem politische Gegner*innen oder auch ganze Länder delegitimiert werden können. Auf weltpolitischer Ebene eher wirkungslos, in der innenpolitischen Variante wird es schwieriger. Aber an ihren Taten könnt ihr sie erkennen, unabhängig von jeder Ideologie. Belarus, China, die Islamische Republik Iran, Kuba, Myanmar, Nicaragua, Nordkorea, die russische Föderation, Venezuela – die Liste ließe sich fortsetzen. Genozid und Staatsterror gibt es auch ohne Faschismus.

Michael Kohlstrucks Fazit: „Die Notwendigkeit, zu einer positiv ausgerichteten politischen Selbstdefinition zu kommen, wird überspielt, indem man in den neuen Problemen überwiegend nur die alten erkennen will. Die sprachliche Gegenwartsverleugnung simuliert die 1960er Jahre und tut so, als hieße der Bundeskanzler immer noch Kurt-Georg Kiesinger.“ Ähnlich funktionieren Begriffe wie „Kalter Krieg“ und die ständige Verwechslung der von Putin beherrschten Russischen Föderation mit der Sowjetunion, die letztlich auch dazu führt, dass der russische Kolonialismus der vergangenen Jahrhunderte ignoriert wird, an dessen Wurzeln aus der Zeit Peter des Großen und Katharina der Großen Putin anknüpft.

Ruth Ben-Ghiat zitiert die von Robert Paxton in seinem 2004 erschienen Buch „Die Anatomie des Faschismus“ (DVA) enthaltene Definition von „Faschismus“: „Faschismus kann als eine Form politischen Verhaltens definiert werden, die gekennzeichnet ist durch die zwanghafte Beschäftigung mit Niedergang, Erniedrigung oder Opferbereitschaft der Gemeinschaft einerseits und kompensatorischen Kulten der Einheit, Energie und Reinheit andererseits, in denen eine Massenpartei aus militanten Nationalisten, in einer unbequemen, aber effektiven Zusammenarbeit mit den traditionellen Eliten steht, demokratische Freiheiten aufgibt und mit einer als erlösend verklärten Gewalt und ohne ethische oder rechtliche Einschränkungen Ziele der inneren Säuberung und äußeren Expansion verfolgt.“ Der Reinheitsgedanke („innere Säuberung“) dürfte als entscheidender Gedanke gelten: er beantwortet die Frage, wie weit eine faschistische oder faschistische Elemente zumindest nicht ablehnende wenn nicht sogar für sie aufgeschlossene Partei zu gehen bereit ist. Ruth Ben Ghiat schließt ihren Beitrag zum „Faschismus“ in David Ranans „Sprachgewalt“ mit dem Satz: „Je mehr der Autoritarismus in allen möglichen Ländern Fuß fasst und viele sich fragen, ob der Faschismus in anderer Form zurückkehrt, sollte man sich daran erinnern, was Faschismus bedeutet: Massenmord.“

Faschismus und Postfaschismus

Umberto Eco hat in seinen Texten mehrfach vom „Urfaschismus“ gesprochen. Die italienischen Ausgaben mit den Titeln „Il fascismo eterno“ (ein Vortrag aus dem Jahr 1995) und „Migrazioni e intolleranza“ (ein Vortrag aus dem Jahr 1997) erschienen 2018 und 2019 in Mailand beim Verlag La nave di Teseo, eine deutsche Ausgabe wurde vom Carl Hanser Verlag 2020 in der Übersetzung von Burkhart Kroeber veröffentlicht. Sie enthält ein Vorwort von Roberto Saviano. Umberto Eco beschreibt, wie er als Zehnjähriger im Jahr 1942 an den Ludi Juveniles, einem freiwilligen Pflichtwettbewerb für junge italienische Faschisten“ teilnahm und sich begeistern ließ. Ein Jahr später – so schreibt er – „entdeckte ich die Bedeutung des Wortes Freiheit. (…) Damals bedeutete Freiheit noch nicht Befreiung.“ Er beschreibt – ich erlaube mir den altbacken klingenden Begriff – eine Art Lernprozess, der sich auch aus dem Kontakt mit den Protagonisten der Resistenza und Schwarzen US-GI’s ergab. Er schreibt über die unterschiedlichen Haltungen zur Resistenza bei den verschiedenen Parteien der Nachkriegszeit und sucht nach einer Erklärung für das, was in den 1990er Jahren als „faschistisch“ oder „postfaschistisch“ angesehen wird.

Die Bewertung postfaschistischer Parteien hängt durchaus davon ab, wie man auf die Geschichte und Selbstdarstellung des historischen Faschismus schaut: „Gründete sich Mussolinis Faschismus auf die Idee eines charismatischen Führers, auf den Korporativismus, auf die Utopie der ‚schicksalhaften Bestimmung Roms‘, auf einen imperialistischen Willen zur Eroberung neuer Gebiete, auf einen rabiaten Nationalismus, auf das Ideal einer ganzen Nation im Schwarzhemd, auf die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie und auf den Antisemitismus, so habe ich keine Schwierigkeiten zuzugeben, dass heute die italienische Alleanza Nazionale, die aus de faschistischen Nachkriegspartei MSI hervorgegangen und gewiss eine Partei der Rechten ist, nur noch wenig mit dem alten Faschismus zu tun hat.“

Das ist die eine Seite, die sich auch auf die Fratelli d’Italia Giorgia Melonis anwenden ließe. Die andere Seite beschreibt Umberto Eco in 14 „Archetypen des Ur-Faschismus“. Er nennt unter anderem einen „Kult der Überlieferung“, der über üblichen „Traditionalismus“ hinausgeht, die „Ablehnung der Moderne“, den „Kult der Aktion um der Aktion willen“, den „Appell an die frustrierten Mittelklassen“, den „Machismo“, der die nicht vorhandenen Kriege simuliert, und nicht zuletzt „Newspeak“. Dieser „Newspeak“ könnte die größte Gefahr bilden: „Alle nazistischen oder faschistischen Schulbücher bedienten sich eines verarmten Vokabulars und einer versimpelten Syntax, um das Instrumentarium für komplexes und kritisches Denken zu begrenzen. Aber wir müssen uns bereithalten, auch andere Formen von Newspeak zu identifizieren, selbst wenn sie die unschuldige Form einer populären Talkshow annehmen.“ Gerade der Hinweis auf die modernen Medien, die sich im Italien der 1990er Jahre – 1994 bis 1995 war Silvio Berlusconi zum ersten Mal Ministerpräsident Italiens – zunehmend auf die Bedürfnisse eines Konzerns beziehungsweise eines Mannes zuschneiden ließen, lässt sich auch in den 2020er Jahren anwenden, nicht nur in Italien. „Der Ur-Faschismus ist immer noch um uns, manchmal in gutbürgerlicher-ziviler Kleidung.“

Faschistisches Gedankengut, faschistische Rede, faschistische Politiker*innen sind heute nicht einfach zu erkennen. Umberto Eco hat jedoch einige Kriterien genannt, die zu beachten wären, um Gefährdungen der liberalen Demokratie zu stoppen, die eine faschistische Regierungsform provozieren könnten. Der israelische Historiker Zeev Sternhell hat in seinem Buch „Faschistische Ideologie – Eine Einführung“ (2019 im Berliner Verbrecher Verlag in der Übersetzung von Volkmar Wölk neu aufgelegt, das Original erschien 1976) den Faschismus als „Ideologie des Ausschlusses“ beschrieben, schreibt allerdings auch, dass es „noch immer keine allgemein anerkannte oder eine als gültig angesehene Definition des Faschismus“ gibt. Sternhell beschreibt Vorstufen aus den Zeiten, in denen es zwar noch nicht das Wort, wohl „aber das Phänomen“ gab, vorwiegend unter Verwendung französischer und italienischer Theoretiker sowie des spanischen Ideologen José Antonio. Deutsche Vordenker des Faschismus analysierte die grundlegende Dissertation von Fritz Stern „The Politics of Cultural Despair“ (deutsche Fassung: „Kulturpessimismus als politische Gefahr“, Erstauflage 1961, mehrfach wiederveröffentlicht), die Sternhell als „die beste Abhandlung über Langbehn, Lagarde und Moeller van den Bruck“ bezeichnet. Er grenzt den Faschismus deutlich vom Nationalsozialismus ab, denn dessen „Betonung des biologischen Determinismus schließt alle Bemühungen aus, ihn als solche (d.i. Variante des Faschismus, NR) zu betrachten.“

Zum Faschismus gehören Antisemitismus, Antiparlamentarismus, Anti-Intellektualismus, die „Aktion um der Aktion willen“, ein „Kult der Jugend, der Brutalität und der Gewalt“. „Totalitarismus ist der eigentliche Kern“: „Für seine Ideologen war der Faschismus im Grunde (…) ein Entwurf des Lebens, eine totale Konzeption des nationalen, politischen, ökonomischen und sozialen Lebens.“ Der Faschismus war eine „Bewegung, die sich selbst als eine neuer Menschen sah.“ „In der Vorstellung seiner Führer war der Faschismus vor allem eine Revolte der jüngeren Generation.“ In diesem Punkt trifft sich das Personal des italienischen und französischen Faschismus durchaus mit dem des deutschen Nationalsozialismus. Die NS-Zeit wurde vorwiegend von etwa 30-40jährigen Männern vorbereitet und gestaltet, die Michael Wildt in seiner Studie über das Personal des Reichssicherheitshauptamtes „Generation des Unbedingten“ (Hamburger Edition, 2022) ausführlich charakterisierte. Zeev Sternhell: „Der Barbar, der Faschist, sah sich also als derjenige, der die Welt vom bürgerlichen Geist befreit und eine Sehnsucht nach Reaktion und Wiedergeburt weckt, die gleichzeitig und physisch, moralisch, sozial und politisch sein sollte.“

Viele prä-, kryptofaschistische und genuin faschistische Positionen werden auch von damaligen Linken geteilt, allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied. Während Faschisten sich zunehmend als Nationalisten verstanden, verstanden sich Sozialisten und Kommunisten als Internationalisten. Mit der „Bekehrung“ Mussolinis vom Sozialisten zum Faschisten „wurde der Nationalismus der formelle Mythos des Faschismus und von diesem Augenblicke an wurde der Kampf gegen den Marxismus aufgenommen.“ Zeev Sternhell zitiert Marcel Déat, ebenso ursprünglich Sozialist, der sich im Vichy-Regime mit der nationalsozialistischen Besatzung arrangierte, mit dem 1940 in seiner Schrift „L´Evolution du Socialisme“ enthaltenen Satz: „Wir haben uns vom Begriff der Klasse zu dem der Nation bewegt.“

Religion der Exklusion

Die Thesen von Zeev Sternhell inspirierten die Autor*innen des 2023 im Verbrecher Verlag erschienenen Buches „Rechte Ränder – Faschismus, Gesellschaft und Staat“. Herausgeber sind Gideon Botsch, Friedrich Burschel, Christoph Kopke und Felix Korsch. Der Band ist eine Festschrift zum 70. Geburtstag von Volkmar Wölk, der unter anderem dafür sorgte, dass Zeev Sternhell in Deutschland bekannt wurde. Der erste von 17 Texten ist folgerichtig ein Text von Zeev Sternhell in der Übersetzung von Volkmar Wölk, Titel: „Von der Aufklärung zum Faschismus und Nazismus“. Im Vorwort des Bandes beziehen sich die Herausgeber auf das Stichwort der „konservativen Revolution“ und seiner Affinitäten zum Faschismus: „Mit Sternhell zeigt Wölk, dass sie weder als rein deutsche Erscheinung aufgefasst werden sollte, noch dass die Suche nach einer ideologischen Synthese im Neofaschismus je aufgegeben worden wäre.“

Zeev Sternhell nennt den Faschismus vor allem ein kulturelles Phänomen“. Diese Formel erinnert an Shulamit Volkov, die den Antisemitismus als „kulturellen Code“ verstand (neu aufgelegt und erweitert: Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code – zehn Essays., München, Beck‘sche Reihe, 2000, Erstauflage 1990). In Deutschland und in Frankreich – so Zeev Sternhell – habe es eine enge Verknüpfung von Antisemitismus und Faschismus gegeben, da dort „die Emanzipation der Juden das eigentliche Symbol der Aufklärung“ gewesen sei, die man habe rückgängig machen wollen. Allerdings gibt es hier auch einen wesentlichen Unterschied zwischen Nazismus und Faschismus: „Nur der Nazismus betrachtete die Vorstellung vom menschlichen Wesen, wie sie uns seit der jüdischen und der griechischen Antike überliefert ist und vom frühen Christentum aufgegriffen wurde, als Angriffsziel. Nur der Nazismus griff die menschliche Gattung insgesamt an.“

Der Faschismus war eine „Revolte der Gefühle und Instinkte, der Energie, des Willens und der Urkräfte, diese Suche nach neuen Werten, die die Unversehrtheit der Gemeinschaft sichern sollten (….).“ Ziel war eine Einheit der Gefühle, denn der „Faschismus sprach die Vorstellungswelt der Menschen an, weil er sich mit einem wirklichen Problem befasste, mit der Natur der sozialen Beziehungen.“ Gefährlich wurde der Faschismus, als seine „Revolte gegen das Erbe der Aufklärung sich auf das Niveau der Straße begab (….)“.

Sternhell leitet die Anfänge des Faschismus aus der Krise der Zivilisation im späten 19. Jahrhundert ab. Ein wesentlicher Apologet avant la lettre war in Deutschland Johann Gottfried Herder – in Frankreich formulierten Hippolyte Taine und Ernst Renan etwa ein Jahrhundert später an Herder gemahnende Thesen. Herders „Vorstellung einer Vielfalt von nationalen Charakteren“ ähnelt durchaus – auch hier avant la lettre – den Thesen des „Ethnopluralismus“, den heute die Identitäre Bewegung oder Götz Kubitschek vertreten. Auf der Strecke bleibt „die Idee einer universellen, auf der Vernunft beruhenden menschlichen Natur.“

Zeev Sternhell warnt davor, Kommunismus und Faschismus als „Zwillingsbrüder“ zu betrachten und verwehrt sich explizit gegen Ernst Noltes Thesen, die dann zum sogenannten „Historikerstreit“ führten. Noltes Auffassung „stellt nicht nur eine Banalisierung des Faschismus und des Nazismus dar, sondern vor allem eine völlige Verwischung der tatsächlichen Natur der europäischen Katastrophe dieses Jahrhunderts.“ Allerdings ließen sich Sozialisten und Kommunisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts vom Aktionismus des Faschismus verführen. Die Revolution war in Deutschland und in Frankreich gescheitert: „All jene, die Revolutionäre blieben, aber ihren Glauben an die Logik der marxistischen Ökonomie verloren hatten, mussten eine andere revolutionäre Kraft finden“. Mit ihrem Ziel, „den Konflikt als solchen ausschalten“ gewannen sie auch die Zustimmung der eher konfliktscheuen bürgerlichen Kreise, schufen sogar in ihrem Kampf gegen „Materialismus, Demokratie, Liberalismus und Sozialismus“ eine Art Religionsersatz. Faschistische Führer wurden als Heilsbringer promotet.

Kerne faschistischen Denkens, Orte des Heils – so ließe sich sagen – sind Sternhell folgend die Familie, die soziale Gruppe, die Nation, „Faschismus war eine Vision eines Zusammengehörens und einigen Volkes“, zugrunde liegt eine „organische Sicht der Nation“. Hier treffen sich auch Nationalismus und Sozialismus, so beispielweise bei Sir Oswald Mosley, ein weiterer „Bekehrter“. Enge Bande sollten die Mitglieder einer Volksgemeinschaft, einer Nation schließen und sie definierten sich vor allem durch diejenigen, die sie ausschlossen. Alle Faschismen sind Religionen der Exklusion, daher auch die ständigen Invektiven gegen das Gendern, gegen Frauenrechte, gegen Minderheiten bis hin zum Antisemitismus und zur Billigung sexualisierter Gewalt gegen Frauen. Gerade dieser Punkt ist bei rechtsextremen Parteien programmatisches Allgemeingut.

Was ist eigentlich „rechts“?

Der Band „Rechte Ränder“ verwendet mit guten Gründen den Plural. Im Grunde müsste man heute auch von „Faschismen“ sprechen und nicht von „Faschismus“ im Singular. Es gibt sicherlich – ähnlich wie beim Begriff „rechts“ – Gemeinsamkeiten, die jedoch auch nur heuristisch wirken. Sebastian Friedrich versucht in einer Anmerkung seines Essays über die Frage, wie sich der „Aufstieg der Rechten begreifen“ ließe, die Definition einer solchen Gemeinsamkeit: „Unter ‚rechts‘ soll hier allgemein eine Politik verstanden werden, die Ungleichheit ins Zentrum rückt. (…) So geht Norberto Bobbio davon aus, dass unterschiedliche Einstellungen zum Gleichheitsideal das entscheidende Kriterium ist (sic!), um rechts und links voneinander zu unterscheiden“.

Damit ist noch nicht geklärt, ob sich „Gleichheit“ oder „Ungleichheit“ über soziale oder über nationale Kriterien definieren ließe. Viele „rechte“ Parteien formulieren neoliberale Programme, wie beispielsweise die Verbindung zwischen Hayek und Pinochet, aber nicht nur diese, zeigen, einige formulieren jedoch ausgeprägt soziale Thesen, wollen aber Sozialpolitik ausschließlich auf autochthone, in der Regel weiße Anteile der Bevölkerung begrenzen, sodass aus der Bevölkerung schnell ein „Volk“ wird. Weitere Elemente sind die ewige Migrationsdebatte, die Tendenz zum Vorrang repressiver Polizeipolitik und nicht zuletzt ein aggressiver „Geschichtsrevisionismus“. Die AfD habe – so Sebastian Friedrich – nicht unrecht mit ihrer Behauptung, dass ihre Positionen zu früheren Zeiten in die CDU gepasst hätten. In gewisser Weise profitiert die AfD von der Liberalisierung der CDU, die sich die liberalen Errungenschaften der 1970er Jahre und der folgenden Jahrzehnte zu eigen gemacht hat.

Friedrich Burschel dokumentiert die Entwicklungen einer „revisionistischen Geschichtspolitik“, die zurzeit gerne vor allem am Beispiel der Reden Putins untersucht wird. Sie ist „jedoch beileibe kein russisches Phänomen“. Beispiele findet Friedrich Burschel in so unterschiedlichen Ländern wie China und Polen. Auch Deutschland ist alles andere als unschuldig, so beispielsweise Heiko Maas, Bundesaußenminister a.D. und Saarländer, der – darüber schreibt Erich Später – die Saarländer*innen wegen ihrer wechselvollen Geschichte zwischen Deutschland und Frankreich von jeder historischen Verantwortung für den Nationalsozialismus, die Shoah und die NS-Vernichtungskriege freisprach. „Das Saarland sei im vergangenen Jahrhundert im Zuge von zwei Weltkriegen zwischen Deutschland und Frankreich hin und her gereicht worden. Als hätten die Saarländer*innen als politisch handelnde Bürger*innen nicht zweimal die Wahl gehabt.“

Das, was heute als „Faschismus“ gelten könnte oder an ihn anklingt, hat mit dem historischen Faschismus Mussolinis wenig zu tun, ist jedoch nicht weniger gefährlich. Hinzu kommen verschieden extreme und extremistische Ausformungen, beispielsweise in Frankreich. Bernard Schmid beschreibt die Lage in Frankreich, wo neben Marine Le Pen bei der letzten Präsidentschaftswahl Eric Zemmour kandidierte. Der ursprünglich von Marine Le Pen geförderte Florian Philippot verließ den Rassemblement National: „Florian Philippots frühere Partei, der RN, profitiert unterdessen von dem Anwachsen einer lautstarken und pöbelnden außerparlamentarischen extremen Rechten, gegenüber der sich die Partei als vergleichsweise moderat darstellen kann.“

Sebastian Friedrich verweist auf die Gefahr antifaschistischer Politik als „Ein-Punkt-Politik“: „Der Erfolg der AfD ist also nicht zwingend als Ergebnis einer Ausbreitung rechten Denkens zu verstehen, sondern kann auch als Ausdifferenzierung des rechten bis rechtsradikalen Spektrums interpretiert werden.“ Es entsteht sozusagen eine Art scheinbar bürgerlicher Flügel, zumindest als Anspruch. Im Vergleich zu Parteien wie III. Weg oder Die Rechte klingt dieser Anspruch fast schon plausibel.

Mit Zeev Sternhell und Bernard Schmid nähern sich 15 weitere Autor*innen dem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven. Gideon Botsch befasst sich mit dem „elitären und autoritären Geist“ in in den frühen 1960er Jahren entstandenen Jugendbewegungen, die – so das Zitat einer der dort verbreiteten Reden „das ‚Geheimnis‘ der geschlossenen Gruppe“ pflegten. Eine solche Keimzelle des heutigen Rechtsextremismus, nicht zuletzt verbunden mit dem „Rückzug von der urbanen Zivilisation“, ist heute das Institut für Staatspolitik in Schnellroda. Eine Keimzelle aus den frühen 1960er Jahren, die „Gefährtenschaft“, formulierte das Ziel, „sich des Staates durch formale Bejahung seiner demokratischen Verfasstheit zu bemächtigen, ihn völkisch-nationalistisch auszudeuten, in seinem demokratischen Charakter zu entkernen und dann durch Elitenbildung im autoritären Sinne umzugestalten.“ Attraktiv sind die Schriften von Carl Schmitt und – rechts gewendet – von Antonio Gramsci. Man könnte sogar den Avantgarde-Begriff Lenins auf die Strategiebildung der Neuen Rechten anwenden. Ernst nehmen sollte man allerdings die Abgrenzungen gegenüber dem Nationalsozialismus, denn sonst verpasst man die Gelegenheit herauszufinden, wo die eigentliche Gefahr liegt: in einem antidemokratischen und antiliberalen Autoritarismus, in dem eine „Gefährtenschaft“ schneller als man denkt eine umfassende Gefolgschaft findet, mit der der Autoritarismus – einmal mehrheitsfähig geworden – ins Totalitäre kippt.

Felix Korsch präzisiert die Anwendbarkeit des Avantgardebegriffs mit einem historischen Rückblick auf die Narodniki, eine „Intellektuellenbewegung“ als Avantgarde. Dort fand sich einerseits eine „paternalistische Zuwendung einer Intelligentsia“, andererseits bedeutete die Kontaktaufnahme nicht mehr, „der Landbevölkerung eine sozialistische Idee anzutragen, sondern umgekehrt die dort vorgefundenen Ideale zur Grundlage eines revolutionären Programms zu machen.“ In einem Essay von Volker Weiß erfahren wir von der Bedeutung Ernst Jüngers und seiner Definition des „Arbeiters“, seine Gemeinsamkeit mit Autoren wie Gabriele d’Annunzio oder Giovanni Gentile, die sich im Erlebnis des „Rausches“ fassen ließe.

In diesen Kontext passen auch der Essay von Richard Gebhardt zum „Hooliganismus“ die Thesen von Andreas Speit, der die „Corona-Leugnungs-Bewegung als Strömung der Lebensreformbewegung“ beschreibt und Andrea Röpke, die über die Aktivitäten von Rechten in Schulen, vor allem über „freie Einrichtungen wie die Waldorfschulen“ und die extensive Freude über das Homeschooling mit all seinen Affinitäten zur Anastasia-Bewegung schreibt. Im Unterricht soll es „keine ‚Tabus‘“ mehr geben: „Alle Antworten seien möglich – auch zu Themen wie dem Holocaust.“ Und damit sind wir wieder bei der Warnung von Ruth Ben-Ghiat. Wie weit würden sie gehen?

Ob ihre Gegner*innen sie als „Faschisten“ – hier gendern die Gegner*innen der Faschist*innen übrigens nicht – oder als „Nazis“ mehr oder weniger laut beschimpfen, ändert da nichts. Es ist allenfalls ein hilfloser Versuch, sich in einem vielfältigen Feld autoritätsgläubiger und Autorität heischender politischer Ansätze zurechtzufinden und die eigene Identität, die eigene moralische Überlegenheit zu bestätigen.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juni 2023, Internetzugriffe zuletzt am 9. Juni 2023, Titelbild: Arina Nâbereshneva, „Submissive Chain Swallowing Artist“, Rechte bei der Künstlerin.)