Wir Manichäer

David Ranans Sammelband „Sprachgewalt“

Schüler: Doch ein Begriff muss bei dem Worte sein. / Mephistopheles: Schon gut! Nur muss man sich nicht allzu ängstlich quälen; / Denn eben wo Begriffe fehlen, / Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. / Mit Worten lässt sich trefflich streiten, / Mit Worten ein System bereiten, / An Worte lässt sich trefflich glauben, / Von einem Wort lässt sich kein Jota rauben.“ (Johann Wolfgang Goethe, Faust)

Ob Worte immer das bezeichnen, was diejenigen, die sie aussprechen, damit sagen wollen, ob Worte von denen, die sie hören oder lesen, zumindest annähernd so verstanden werden wie diejenigen, die sie verwenden, sie gemeint haben, oder ob es überhaupt möglich ist, sich auf die Bedeutung eines Wortes zu einigen, war schon immer Gegenstand diverser philosophischer Erörterungen und politischen Streits. Da wird ein Wort oft genug allein mit dem Ziel in die Debatte geworfen, um sich selbst von unliebsamen Zuschreibungen abzugrenzen oder jemand anderen so zu beeindrucken, dass es kein Widerwort mehr geben kann. Manche Worte werden verwendet, um jemanden zum Schweigen zu bringen, auch unabhängig von der Lautstärke, in der sie ausgesprochen oder gebrüllt werden. Es war und ist je nach politischer Konstellation wohlfeil, jemanden als was auch immer zu bezichtigen, um sich selbst in der Richtigkeit der eigenen Anschauung zu bestätigen und die so Bezichtigten zu demütigen.

Der rote Faden

David Ranan ist der Herausgeber des Sammelbandes „Sprachgewalt – Missbrauchte Wörter und andere politische Kampfbegriffe“, der im Jahr 2021 im Bonner Dietz-Verlag erschien. 30 Autor*innen äußern sich zu 28 Begriffen. Es geht nicht nur um diese Begriffe, sondern auch um die Einstellungen, die hinter den Begriffen zu finden sind, nicht nur darum, was ich sage, wenn ich jemanden beispielsweise als Extremisten bezeichne, sondern auch, welche Geschichte sich hinter einer solchen Bezeichnung verbirgt. Der Herausgeber formuliert in seiner Einleitung Ziele und Struktur: „Das Ziel dieses Buches ist, das Bewusstsein für eine Sprache zu schärfen, die irreführend sein kann und oft genug bewusst in die Irre führen soll. Es ist jedoch kein Lexikon, sondern eine Sammlung von Essays. Der Aspekt, der für die Auswahl des jeweiligen Begriffs entscheidend war, ist sein Framing – sein Bedeutungsrahmen, der entscheidenden Einfluss darauf nimmt, wie Menschen dieses Wort verstehen.“ David Ranan zitiert als Referenzen George Orwells Essay „Politics and the English Language“ aus dem Jahr 1946, Victor Klemperer Lingua Tertii Imperii“, die LTI, aus dem Jahr 1947 sowie diverse aktuelle Forschungen der kognitiven Linguistik, für die er stellvertretend Elisabeth Wehling nennt.

Das Buch kann als Standardwerk historisch-politischer Bildung gelesen werden, gerade weil mancher Essay bei allen zutreffenden Einsichten durchaus zu Ein- und Widerspruch reizt. Die Essays enthalten in der Regel eine historische Einordnung, oft auch etymologische Hinweise. Das Buch beginnt mit einem Essay über „Fake News“ (Jana Laura Egelhofer) und endet mit einem Essay über „Wahrheit“ (Michael Quante). Es gibt keine Unterkapitel, aber die in den Essays abgehandelten Begriffe haben eine durchaus einleuchtende Reihenfolge, aus der sich ein Bild bestimmter Diskussionszusammenhänge und deren Framing ableiten ließe. So folgen beispielsweise die Essays über „Antisemitismus“ (Amos Goldberg), „Rassismus“ (Christian Geulen), „Kolonialismus“ (Gesine Krüger), „Apartheid“ (Jonathan Alschech), „Zionismus“ (Yair Wallach) und „Islamismus“ (Meltem Kulaçatan) aufeinander.

Ich hätte dieses Strukturprinzip auch an anderen Beispielen beschreiben können, doch mögen die Leser*innen des Buches selbst entscheiden, in welcher Reihenfolge sie die Essays lesen. Ich habe die Essays nicht in der vorgegebenen, sondern in meiner eigenen Reihenfolge gelesen und dabei eine Menge an Einsichten gewonnen, die sich vielleicht in einer anderen Reihenfolge oder beim Wiederlesen wieder neu oder auch mit anderen Erkenntnissen erschließen ließen.

Ich werde versuchen, in dieser Rezension einen roten Faden anzudeuten, der die Essays miteinander verbindet. Andere Leser*innen mögen diesen roten Faden vielleicht anders fassen und Argumente entdecken, die in meinem Text zu kurz kommen, aber genau diese Option ist eine Stärke des Buches. Und sicherlich werden alle Leser*innen an weitere Kampfbegriffe denken, die sich zu analysieren lohnt, um diverse politische Debatten besser zu verstehen. Dazu gehören beispielsweise der „Unrechtsstaat“, der „Nationalismus“, der „Feminismus“ oder die „Mitte“. Ich erlaube mir, an diversen Stellen dieser Rezension meines Erachtens passende Texte zu verlinken, in denen ich über diese oder andere Phänomene geschrieben habe. Aber wie auch immer: David Ranans Buch reizt zum Weiterdenken, zu weiterer Analyse und Lektüre, auch dank zahlreicher bibliographischer Verweise, und es reizt mitunter zu Widerspruch. Was will man mehr?

Begriffe zum Fürchten

In allen Texten geht es um die Spanne zwischen „Zuschreibung“ und „Selbstbeschreibung“. Diese Begriffe nennt explizit Peter Linti in seinem Beitrag zum „Fundamentalismus“, „Fundamentalismus“ sei ein eigentlich im 19. Jahrhundert in evangelisch-evangelikalen Kreisen entstandener Begriff, der der „Selbstbezeichnung“ gedient habe, heute werde er als Kampfbegriff verwendet, vorwiegend gegen Muslim*innen. In den 1980er und 1990er Jahren wurde dieser Begriff in Deutschland verwendet, um eine damals noch junge Partei rhetorisch in sogenannte „Realos“ und „Fundis“ zu spalten und so als ganze zu diskreditieren. Da war die Diffamierung dieser Partei als Vertreterin einer neuen Spielart des „Kommunismus“ nicht weit. Ich erlaube mir Georg Kreisler (1922-2011) zu zitieren: „In der Bundeshauptstadt Bonn am Rhein fürchtet sich der Kommunist. Sollte man etwas weiter östlich sein, fürchtet sich, wer keiner ist.“

Gregor Gysi, Autor des Essays über „Kommunismus“, schreibt: „Jemanden als Kommunisten zu bezeichnen, heißt dann auch nichts anderes, als vor dem Unheil zu warnen, das von dem so bezeichneten Menschen mutmaßlich ausgehen wird. (…) In den USA reicht es oftmals, eine kleine Sozialreform anzustreben, und schon ist man ‚Kommunist‘. Die amerikanische Rechte sah in ‚Obamacare‘ bereits Kommunismus. Bei uns redet man nicht ganz so oft von ‚Kommunismus‘, wenn man einen Vorwurf machen will, sondern eher von ‚Planwirtschaft‘. Aber das läuft auf dasselbe hinaus. Von der Warnung zur Denunziation ist es indes nur ein kleiner Schritt.“ Gregor Gysi erinnert an den „McCarthy-Wahn“ in den frühen 1950er Jahren, dessen Tribunale wir in Deutschland nicht erlebten, dessen vergiftende Rhetorik wir aber durchaus kennen.

Christoph Gollasch dekonstruiert den Begriff des „Extremismus“. Die Grenze zwischen individueller und systematischer Gewalt, zwischen der Tat eines verwirrten einzelnen Menschen („Einzeltäter“) und einem Netzwerk oder Komplex mit einer Vielfalt unterstützender Strukturen, hinter denen immer Menschen stehen, auch wenn dies in manchen Berichten anders klingen mag, wird unscharf. Manche wehren sich dagegen, dass hinter An- und Übergriffen, hinter Morden eine solche „Struktur“ stehen könne, andere bezichtigen undifferenziert viele, die ähnliche Fragen stellen wie die jeweiligen Täter*innen pauschal der Mittäterschaft. Christoph Gollasch bringt dieses Dilemma auf die Formel „Kein Einschluss ohne Ausschluss“. „Zunächst das Nichtsehenwollen, zuletzt der Ausschluss von vulgären Gewalttätern als ‚Extremisten‘ – dies scheint nur eine Seite der Medaille zu sein. Auf der anderen steht der Einschluss beziehungsweise Freispruch der Mehrheitsgesellschaft.“ Die Schlussfolgerung: „Für seine kritische Verwendung sollte man die historischen Ambivalenzen des ‚Extremismus‘ kennen und um sein Missbrauchspotenzial wissen.“

Meltem Kulaçatan konstatiert ähnlichen Missbrauch in ihrem Essay zum „Islamismus“. Sie verweist darauf, dass das, was heute als Salafismus markiert wird, mit der Salafiya des späten 19. Jahrhunderts wenig zu tun habe. Die damalige Salafiya sei „im Sinne einer gemäßigten, bürgerlichen Reformbewegung“ zu verstehen. Es gehe bei der Definition von „Islamismus“ oder „Salafismus“, die heute in der Regel synonym verwendet werden, spätestens seit dem 11. September 2001 vorrangig um „sicherheitspolitische Kategorien und Definitionen“. Dies belege ihre Recherche im Internet. Und gemeint seien in der Regel auch gar nicht Muslim*innen, sondern schlicht und einfach alle Migrant*innen: „Rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien beflaggen ihre Programme und ihre Rhetorik bewusst damit, um diverse Feindbilder im Zusammenhang von Migration zu bedienen (…).“

Meltem Kulaçatan zitiert einen Text von Navid Kermani zu den Anschlägen in Paris und plädiert für eine deutliche Unterscheidung zwischen religiösen und sicherheitspolitischen Debatten: „Greifen Gelehrte und Gläubige auf die Fundamente ihrer Religion, die hermeneutische Auseinandersetzung mit dem koranischen Text, auf die Sunna des Propheten und die Hadithe zurück, so sind sie noch lange keine Extremisten oder Fundamentalisten mit gewaltsamen Absichten. Das Gegenteil ist oft der Fall: Die Konzentration auf die Fundamente des Islams bedeutet, sich den Traditionen, die der Geschichte des Islams innewohnen, bewusst zu sein und sich politischen Vereinnahmungen, die zu Unterdrückung und Gewalt führen, entgegenzustellen.“ Doch zurzeit diskutieren wir über den Islam leider im Modus der Moral Panic.

Gefühle dominieren die Bedeutung eines Wortes. David Ranan stellt zum Abschluss seines Essays über „Terrorismus“ fest, dass es weniger auf den verwendeten Begriff selbst ankäme, sondern darauf, wer ihn mit welchen Absichten verwende: „Es wäre wichtig, sich darauf zu konzentrieren, wer wen oder was als Terrorist oder Terrorismus bezeichnet und zu verstehen, was der Zweck dahinter ist. Was führt man mit der spezifischen Bezeichnung Terrorist im Schilde? Was genau wird erreicht und ist es nicht möglich, eine Handlung oder eine Organisation in einer präziseren und weniger gefühlsbetonten Sprache zu definieren?“

Verwirrende Mischungen

Zu den Begriffen, die immer wieder in Frage gestellt werden, gehört der „Antisemitismus“. Es dürfte kaum jemanden geben, der sich selbst als „Antisemiten“ bezeichnen würde. Diejenigen, die sich antisemitisch äußern, wehren sich oft heftig dagegen, dass auch nur eine ihre Äußerungen antisemitisch verstanden werden dürfe. Dies gilt insbesondere für aktuelle Debatten um den israelbezogenen Antisemitismus. Fatal sind Opferkonkurrenzen, wie sie zurzeit angesichts der Debatten um die Folgen des deutschen (und nicht nur deutschen) Kolonialismus diskutiert werden. Amos Goldberg schreibt in seinem Essay zum „Antisemitismus“: „In der Holocaust-Erzählung sind die Juden das ultimative Opfer, und der Antisemitismus ist die mörderischste Weltanschauung. In der antikolonialistischen Erzählung sind nicht europäische Völker das ultimative Opfer, und der gegen sie gerichtete Rassismus ist die kriminellste Weltanschauung.“

Amos Goldberg hat im Jahr 2018 gemeinsam mit Bashir Bashir einen Sammelband mit dem Titel „The Holocaust and the Nakba: A New Grammar of Trauma and History“ herausgegeben. Gerade hier gilt die Frage, wer Aufmerksamkeit erreicht und wer nicht. Im Zuge der Staatsgründung Israels vertriebene Palästinenser*innen haben eine andere Aufmerksamkeit durchsetzen können als die in demselben Zeitraum aus arabischen Ländern vertriebenen Juden*Jüdinnen, deren Geschichte Nathan Weinstock in seinem Buch „Der zerrissene Faden – Wie die arabische Welt ihre Juden verlor 1947-1967“ dokumentierte (Freiburg / Wien, ça ira Verlag, 2019, die französische Originalausgabe mit dem Titel „Une si longue présence – Comme le monde arabe a perdu ses Juifs 1947-1967“ erschien 2008 bei Plon). Der israelbezogene Antisemitismus ist ein heikles Thema.

Die Frage ist berechtigt, ob Begrifflichkeiten wie „Antisemitismus“, „Kolonialismus“, „Rassismus“ oder auch „Zionismus“ und „Apartheid“ im Zusammenhang diskutiert werden können oder ob eine solche Vermischung eher vermieden werden sollte, sofern sie überhaupt vermeidbar ist. Meines Erachtens liegt die Gefahr vor allem in der binären Gegenüberstellung, beispielsweise in der Form „Kolonialismus“ vs. „Antisemitismus“ oder „Kolonialverbrechen“ vs. „Shoah“. Eine Analyse dieser Debatte sprengt den Rahmen dieses Textes. Die Existenz der Debatte belegt jedoch, wie wichtig es ist, die in der Debatte verwendeten Begriffe und Einstellungen genauer zu betrachten. Gesine Krüger fragt in ihrem Essay zum „Kolonialismus“, ob „Kolonialismus als Metapher“ verstanden werden könnte. In der Tat wird der Begriff in heutigen politischen Debatten auf so unterschiedliche historische Zusammenhänge bezogen wie die Kolonialisierung Afrikas im 19. Jahrhundert, die Integration der DDR in die Bundesrepublik Deutschland oder eben auch die Besiedlung Israels und Palästinas durch europäische Jüdinnen*Juden. Im Grunde wird der Begriff des „Kolonialismus“ bei einem solchen Vorgehen seiner eigentlichen Bedeutung und Geschichte beraubt.

Jonathan Alschech bringt diesen Gedanken in seinem Essay zur „Apartheid“ auf den Punkt: „Wenn man nun die Frage, ob Israel-Palästina ein Apartheid-Regime ist, nur als eine empirische und apolitische betrachtet, missbraucht man den Begriff Apartheid. Die Frage lautet nicht, ob plausibel nachgewiesen werden kann, dass die Situation in Israel-Palästina mit der Definition von Apartheid übereinstimmt, sondern ob es politisch klug ist, dies zu tun.“ Ich erlaube mir den Hinweis, dass die Zuschreibung von „Apartheid“ in diesem Fall nicht zutrifft. Dies ließe sich klären, wenn die Bereitschaft bestünde, sich von dem „Zirkelschluss“ zu verabschieden, den Christian Geulen in seinem Essay zum „Rassismus“ diagnostiziert: „Seit Hirschfeld (gemeint ist Magnus Hirschfeld, NR) besteht der antirassistische Konsens in der Auffassung, dass der Rassismus ein falsches Wissen sei, das nur der Ausgrenzung und Unterdrückung anderer dient. – So wenig man diese Aussage negieren mag, so wenig sagt sie faktisch aus. / Im Kern ist dieses Konzept von Rassismus ein Zirkelschluss: Das Wort Rassismus wird hier zu einer bloßen Chiffre, die nichts erklärt.“ So verhält es sich womöglich auch mit anderen Begriffen des Komplexes der sogenannten „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (Wilhelm Heitmeyer). Im Unterschied zu all diesen Begriffen führt die Bezichtigung einer Person mit dem Vorwurf des „Rassismus“ zu einer Verharmlosung dessen, was Rassismus ist: „Begriffe wie Phänome (sic!) des Rassismus werden hier jeglicher historischen Dimension beraubt und zur bloßen Chiffre für allgemeine Ungleichheit oder Ungleichbehandlung.“

Wir und die anderen

Marion Detjen sieht eine ähnliche Konstellation – nur in der Regel mit umgekehrten Vorzeichen – im Begriff des „Patriotismus“. Hier lautet der Vorwurf in der Regel, dass jemand „Patriotismus“ vermissen lasse. Diejenigen, die „Nationalismus“ ablehnen, sollen sich unter dem Banner des „Patriotismus“ versammeln können, nicht nur bei Fußballspielen. „Die begriffsgeschichtliche Perspektive, die dieser Sammelband vorgibt, (…) legt nahe, die übliche Argumentation umzudrehen, vom Kopf auf die Füße zu stellen: Gemeinschaften und auch Staaten brauchen die Einstellungen und Verhaltensweisen, die mit Patriotismus in Verbindung gebracht werden. Aber diese Patriotismus zu nennen, beruht auf einem Missverständnis oder tatsächlich auf Missbrauch. (…) Und es ist zu fragen, was eigentlich der semantische Mehrwert des Patriotismus-Begriffes ist – was fügt er diesen anderen Bezeichnungen hinzu, und wozu?“ Ein ähnlich konnotierter Begriff ist die „Mitte“, als deren Gegenbegriff oft „Extremismus“ genannt wird.

Die Bildung von Bündnissen unter dem Banner eines Begriffes ist eines der Ziele derjenigen, die bestimmte Begriffe in binären Paaren verwenden, die sich gegenseitig widersprechen und ausschließen. Diese Begriffe werden gelegentlich personalisiert, nach dem Muster des Satzes „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“ (Matthäus 12,30). Es ließe sich darüber nachdenken, warum die gegenteilige Äußerung „Wer nicht wider uns ist, der ist mit uns“ (Lukas 9,50 und Markus 9,40) es nicht in die Top 100 der populären Zitate des sogenannten „Neuen Testaments“ geschafft hat. Ruth Ben-Ghiat schreibt in ihrem Essay über „Faschismus“: „Der Angriff auf den Führer wird als Angriff auf die Nation gedeutet, und Kritiker des Herrschers sind Feinde der gesamten Nation oder gar Terroristen. Diese manichäische Denkweise, die Teil einer ‚Politics of Us and Them‘ ist (Jason Stanley), hat sich auch nach dem Ende des Faschismus erhalten und durchdringt heute die autoritär-populistischen Parteien des frühen 21. Jahrhunderts.“

Dabei gehört eine mehr oder weniger bewusste strategische Unschärfe. Jörg Retterath schreibt in seinem Beitrag zum Begriff „Volk“: „Mit dem mehrdeutigen Volksbegriff scheint es Pegida zu gelingen, sowohl unzufriedene Konservative als auch eingefleischte Rechtsextreme zu erreichen.“ Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff „Heimat“ (Markus Funck). Alles sehr gefühlig. Jörg Retterath: „Der Begriff (des Volkes, NR) wurde häufig eher unbestimmt verwendet. Jeder Sprecher glaubte für sich zu ‚fühlen‘, was das Volk war, doch standen rassistische und mystisch-metaphysische Vorstellungen innerhalb der ‚völkischen Bewegung‘ häufig unverbunden nebeneinander.“ Dann stellt sich sehr schnell auch die Frage, was „Wahrheit“ ist.

Wahrheit oder Unwahrheit – ist das hier die Frage?

Es wäre interessant zu erforschen, wer mit welcher Absicht Pontius Pilatus die Frage, was Wahrheit sei (Joh. 18,38), in den Mund gelegt hat. Eine antisemitische Absicht kann nicht ausgeschlossen werden. Michael Quante benennt in seinem Essay zur „Wahrheit“ ausgehend von der Pilatusfrage „vier Arten der Politisierung des Wahrheitsbegriffs“: Zum „Streit um die Fakten und ihre Interpretation“ gehört die Frage nach den „besten Ratgeber(n)“, nach Orientierung in den „sich widersprechenden Expertengutachten“. Es geht um „die Vormachtstellung der Deutung und des Expertenstatus“. Die Antwort auf diese Frage wird mit der Frage nach der Glaubwürdigkeit der Expert*innen verbunden: „Das mühsame Geschäft, sich zu informieren und Fakten zu überprüfen, wird ersetzt durch den Anspruch, authentisch für die gute Sache zu streiten. An die Stelle guter Information tritt die richtige Gesinnung.“ So „geraten ganze Arten von Wissen oder Wahrheitsansprüchen unter Generalverdacht“. Die vierte Phase ist dann das „derzeit beobachtbare Reden vom Postfaktischen“. Und diese Phase ist dann auch die Stunde der Kampfbegriffe.

Wer sich den sich postfaktisch inszenierenden selbst ernannten Expert*innen anvertraut, leugnet die „Möglichkeit, Wissensansprüche in rationaler Form zu erheben und nachvollziehbar zu begründen“. Michael Quante beschreibt das daraus entstehende Dilemma: „Mit der Politisierung der Wahrheit können wir in demokratischen Verfahren umgehen. Gegen demagogische Machtübernahmen dagegen können wir uns nur zur Wehr setzen.“ Er schließt mit einem Appell: „Dies sollten wir im Namen von Selbstbestimmung und Wahrheit mit aller Entschiedenheit tun.“ Damit sind alle, die sich auf wissensbasierte Fakten berufen, grundsätzlich in der Defensive. Siegen letztlich doch die Manichäer, siegt der binäre Code?

Vielleicht ist das nur allzu menschlich? David Ranan zitiert in seiner Einleitung den amerikanischen Philosophen, Logiker und Mathematiker Charles Sanders Peirce (1839-1914) mit dem Satz: „Wir klammern uns beharrlich daran, nicht nur zu glauben, sondern das zu glauben, was wir glauben.“ Es ist einfach bequemer, sich auf das zu verlassen, auf das man sich schon immer verlassen hat, denn die Alternative scheint zu sein, dass man – mir sei das Wortspiel erlaubt – in dieser Welt verlassen ist. „Anstatt die gesamte Bandbreite der verfügbaren Informationen zu untersuchen, glauben wir lieber genau das weiter, was wir bereits glauben.“ Diese Erkenntnis ließe sich durchaus auf die deutsche Politik anwenden. Wie lange dauerte es, bis ein Bundesinnenminister bereit war, den Rechtsextremismus als die größte Bedrohung unserer freiheitlichen Demokratie zu bezeichnen? Aber jetzt tat er es und so besteht Hoffnung.

Letztlich läuft es immer wieder auf die andere mehr oder weniger gewaltsam ausschließende Aussage hinaus: „Wir sind die Guten, ihr nicht“. Und wenn wir nicht vorsichtig mit unserer Sprache umgehen, werden wir alle Manichäer*innne. Eva Berends, Saba-Nur Cheema und Meron Mendel haben die Gefahren einer voreiligen, unreflektierten und unlauteren Verwendung von Kampfbegriffen in ihrem Sammelband „Triggerwarnung – Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen“ (Berlin, Verbrecher Verlag, 2019) ausführlich benannt. Es lohnt sich, dieses Buch und den Sammelband von David Ranan im Zusammenhang zu lesen.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Dezember 2021, alle Internetzugriffe zuletzt am 26.11.2021)