Mainstream Antisemitismus

Shulamit Volkov und Monika Schwarz-Friesel zur Kulturgeschichte des Antisemitismus

„Paris. 1. April. 1933. Sonnabend. / Der abscheuliche Juden Boykott im Reich. Dieser verbrecherische Wahnsinn hat Alles vernichtet, was in 14 Jahren an Vertrauen und Ansehen für Deutschland wiedergewonnen worden war. Ich weiß nicht, ob man mit diesen strohdummen, bösartigen Menschen mehr Ekel oder mehr Mitleid empfindet.“ (Harry Graf Kessler in seinem Tagebuch, zitiert nach dem achten Band der 2009 bei Cotta erschienenen Gesamtausgabe)

„Mitleid“ oder „Ekel“? Oder nicht doch etwas Anderes? Und sind diese Menschen wirklich nur „strohdumm“ und „bösartig“? Diese Fragen ließen sich auch im Sommer 2022 stellen. Vor allem zwei Ereignisse böten ausreichend Anlass: die Debatten um die documenta fifteen und die vom Bundeskanzler unwidersprochen hingenommenen Relativierungen der Shoah durch den Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, den er dann zu allem Überfluss auch noch mit versöhnlich wirkendem Handschlag verabschiedete. In beiden Fällen ging es weniger um „Dummheit“ und „Bösartigkeit“, beteiligt waren Menschen mit – so sollten wir annehmen – hoher politischer und historischer Bildung, kultur- und kunstbeflissen.

Ein kultureller Code – ständig wiederholt und wiederholbar

Christina Morina, Professorin für Allgemeine Geschichte an der Universität Bielefeld, veröffentlichte am 26. August 2022 in der Süddeutschen Zeitung einen Gastbeitrag mit dem Titel „Sommer ‘22“ zu diesem Thema. Sie versucht zu erklären, wie es sein könne, dass man „im selbstaufgeklärten Deutschland anno ’22 nicht in der Lage ist, antisemitische Bildsprache ohne weiteres als solche zu erkennen“ und dass der „Interimsdirektor“ der documenta fifteen, der vormals immerhin eine*r der beiden Direktor*innen der Bundeskulturstiftung war, „Antisemitismus als ‚Vorurteil‘ missversteht“. Sie diagnostiziert eine „Erosion der Schlussstrichabwehr“ und erklärt „die diskursive Demontage des in den 1980er-Jahren etablierten Selbstverständnisses der Bundesrepublik als ‚gegen Auschwitz‘ gegründetes Gemeinwesen in der liberalen Mitte“ für „folgenreicher“ als alle revisionistischen Bestrebungen, wie sie eine Partei wie die AfD propagiere. Antisemitismus werde – ebenso wie Rassismus – notorisch „unterschätzt“.

Die Frage liegt auf der Zunge: wie ernst ist es unseren durchaus gebildeten Politiker*innen, Intellektuellen, den Medien mit ihrer Verurteilung von Antisemitismus oder ist alles nur „Pose“? Eine Antwort bietet Cas Mudde in seinem Buch „Rechtsaußen – ‚Extreme und RADIKALE RECHTE in der heutigen Politik weltweit‘“ (Bonn, Dietz Nachf., 2020, englischsprachiges Original „The Far Right Today“, Cambridge, Mass., Polity Press, 2019). Er verwendet den – in anderen Sprachen als im Deutschen ohnehin in der Regel nicht vorhandenen oder zumindest anders konnotierten – Begriff der „Mitte“ nicht, sondern spricht von „Mainstreaming“: „Die extreme Rechte ist nach wie vor weitgehend marginal und wird weiter marginalisiert. Dagegen hat die radikal populistische Rechte in den meisten westlichen Demokratien den Mainstream erreicht. Dieses Mainstreaming resultiert daraus, dass radikal rechtspopulistische Parteien und etablierte Altparteien in zunehmendem Maße dieselben Themen bearbeiten und dieselben Positionen vertreten.“ Offener Antisemitismus hat den Mainstream sicherlich (noch) nicht erreicht, wohl aber das aktuelle Einfallstor für antisemitische Rede, die sogenannte „Israelkritik“, die Leugnung, es gäbe nennenswerten Antisemitismus, sowie die Forderung, endlich einen „Schlussstrich“ unter die Shoah zu ziehen.

Es ist immer dasselbe Lied. Cem Özdemir formulierte am 20. Oktober 2022 in Berlin zum Abschluss seiner Dankesrede zur Verleihung des Leo-Baeck-Preises das Dilemma. Er beklagte, dass er fast nur über Antisemitismus geredet habe, jedoch nur wenig über Jüdisches Leben, was angesichts der eindrucksvollen Ergebnisse des Festjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ durchaus gerechtfertigt gewesen wäre. Er verwies auf die Wirklichkeit und sagte, er hoffe, dass zukünftige Preisträger*innen die Prioritäten ihrer Rede anders setzen könnten.

Antisemitismus ist und bleibt – in einer von der Berliner Linguistin Monika Schwarz-Friesel geprägten Formel – „die Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung“, unabhängig vom Bildungsstand. Antisemitismus ist eben nicht – dies eine August Bebel zugeschriebene Formel, deren Autor jedoch Ferdinand Kronawitter war – nur „der Socialismus der dummen Kerls“: August Bebel bemühte in einem Interview von Hermann Bahr eine Argumentationsfigur, aus der sich durchaus Verständnis für Antisemiten herauslesen ließe: „Die eigentlichen Träger des Antisemitismus, das kleine Gewerbe und der kleine Grundbesitz, haben von ihrem Standpunkte gar nicht so Unrecht. Ihnen tritt eben das Kapital hauptsächlich in der Gestalt des Juden entgegen. (…) Dadurch erscheinen alle schlimmen Wirkungen des Kapitalismus den Leuten immer in der Gestalt des Juden, und da ist es ganz natürlich, dass diese Schichten, die nicht gewohnt sind, viel über das kapitalistische System zu grübeln, sondern sich an die Formen und Erfahrungen halten, in denen es ihnen gegenübertritt, dem Antisemitismus verfallen.“

Ist dies nicht die Argumentationsfigur, die wir in Deutschland seit spätestens dem Jahr 2015 in der rhetorischen Figur der „besorgten Bürger“ erleben, deren „Sorgen“ die Politik „ernst nehmen“ solle? Reicht es, die sozialen Verhältnisse zu verändern, im Sinne von August Bebel den Kapitalismus durch den Sozialismus zu ersetzen, wie auch immer der aussehen mag, um auch den Antisemitismus erfolgreich zu bekämpfen? Erledigt sich Antisemitismus dank guter Sozialpolitik? Ist er der „Nebenwiderspruch“, der sich auflöse, sobald der „Hauptwiderspruch“ beseitigt wurde? In den Worten von August Bebel erleben wir gleichzeitig eine Distanzierung vom Antisemitismus und seine Verharmlosung im Gewande einer rational nachvollziehbaren Erklärung. Auch dies ist eine der Erscheinungsformen von Antisemitismus, die sich – so kann man sagen – seit Hunderten von Jahren immer wiederholt, ohne dass ihm die Grundlage entzogen werden kann.

Die inzwischen emeritierte Historikerin Shulamit Volkov aus Tel Aviv prägte die Formel des Antisemitismus als „kultureller Code“. So auch der Titel eines Bandes mit zehn Essays der Autorin, der erstmals 1990 bei C.H. Beck erschien. Ihr Essay „Antisemitismus als kultureller Code“ erschien erstmals im Jahr 1978 im Leo Baeck Institut Yearbook XXIII. 44 Jahre später:

Im Sommer 2022 erschienen zwei Bücher, die mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätzen zum selben Ergebnis kommen: der Antisemitismus hat seine eigene Kontinuität in der Geschichte, seine eigene Kulturgeschichte. Die Motive, Bilder und Metaphern, in denen sich Antisemitismus äußert und mit denen er verharmlost wird, sind seit Jahrhunderten bekannt. Gerade darin liegt der „kulturelle Code“ begründet, dessen Ergebnis „die Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung“ ist. Es handelt sich um die Bücher „Toxische Sprache und geistige Gewalt“ von Monika Schwarz-Friesel (Untertitel: „Wie judenfeindliche Denk- und Gefühlsmuster seit Jahrhunderten unsere Kommunikation prägen“, erschienen in Tübingen bei Narr Francke Attempto) sowie „Deutschland aus jüdischer Sicht“ von Shulamit Volkov (Untertitel des Buches: „Eine Andere Geschichte – Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“, erschienen in München bei C.H.Beck). Während Monika Schwarz-Friesel diese These im Anschluss an vorangegangene Analysen mit den Mitteln der kognitiven Linguistik belegt, vollzieht Shulamit Volkov eine Chronologie von Anti-Judaismus und Antisemitismus in Deutschland seit den Tagen der Aufklärung.

Es wäre eigentlich müßig, an dieser Stelle weitere Monografien und Forschungsergebnisse zu nennen, denn die Plattitüde, dass die Fakten auf dem Tisch lägen, gilt gerade hier: Julia Bernstein, Micha Brumlik, Delphine Horvilleur, Hyam Maccoby, David Nirenberg, Samuel Salzborn, Ronen Steinke und viele andere mehr – in der Antisemitismus-Rubrik des Demokratischen Salons finden Sie diverse Essays, die die unterschiedlichen Zugänge und Ergebnisse dieser und anderer Autor*innen beschreiben – haben die Erscheinungsformen von Antijudaismus und Antisemitismus in der Geschichte mehr als deutlich beschrieben, sodass sich durchaus auch fragen ließe, ob all diese Darstellungen der diversen Erscheinungsformen von Antisemitismus nicht auch als eine andere Form der „Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung“ ermüden. Wer sich jedoch zu einer solchen Ansicht verstiege, wiederholt nicht mehr und nicht weniger als eine Spielart der im Antisemitismus üblichen Täter-Opfer-Umkehr. Nicht der Antisemitismus, sondern das Benennen von Antisemitismus wird als Problem verstanden, ganz im Sinne der Analyse von Christina Morina, im Sinne einer „Erosion der Schlussstrichabwehr“.

Eine weitere Plattitüde lautet, der Antisemitismus habe „die Mitte der Gesellschaft erreicht“. So lesen wir es in diversen Kommentaren zu den Bielefelder Mitte-Studien, den Leipziger Autoritarismus-Studien, den MEMO-Studien. Die „Mitte“ oder diejenigen, die sich als „Mitte der Gesellschaft“ verstehen, sollen sich bedroht fühlen. Das tun sie auch, nur scheint für sie nicht der Antisemitismus Ursache der Bedrohung zu sein. Manche entziehen sich der Verantwortung, indem sie vorrangig extreme Kreise als Urheber antisemitischer Rede und Taten identifizieren. Shulamit Volkov und Monika Schwarz-Friesel belegen jedoch, dass Antisemitismus schon immer in der Mitte der Gesellschaft gepflegt wurde, mehr noch: Antisemitismus hat seine Anhänger*innen und Apologet*innen in der gebildeten Mitte. Und er wirkt nach wie vor im Sinne des von Cas Mudde analysierten „Mainstreaming“.

Shulamit Volkov, Deutschland aus jüdischer Sicht – Eine andere Geschichte

Shulamit Volkovs Buch enthält zwölf Kapitel, die in vier Teile gegliedert sind, die Zeiten von 1780 bis 1840, von 1840 bis 1870, von 1870 bis 1930 und von 1930 bis 2000. Der Epilog trägt die einerseits beruhigende, andererseits jedoch zukunftsoffene Überschrift „Berlin ist nicht Weimar“. Entscheidend ist die jüdische Perspektive, Leitmotiv der jüdischen Sicht auf die Geschichte ist „Ambivalenz“. Jüdinnen und Juden waren immer wieder in der Situation, dass sie auf Anerkennung in der Gesellschaft hoffen konnten, obwohl sich diese Hoffnung immer wieder als Irrglaube entpuppte. Zeiten der Diskriminierung und der Verfolgung wurden immer wieder auch als Zeiten des Aufstiegs erlebt, bis dann in der Shoah die bedingungslose Vernichtung aller Jüdinnen und Juden in Deutschland Staatsziel wurde. Diese Zuspitzung der Ereignisse wurde in den meisten anderen Staaten letztlich ignoriert und verdrängt, bis sie sich nach Kriegsende nicht mehr leugnen ließ. Shulamit Volkov benennt für die jüdische Geschichte eine Parallele und zitiert Joan Wallach Scott („Gender and the Politics of History, New York 1999): „Die Gendergeschichte könnte durchaus als Modell für die Analyse der Marginalisierung der Juden in der Geschichtsschreibung dienen. Sie begann als Frauengeschichte, und das Ziel dieses neuen Forschungszweiges war vor allem, Frauen mit der Erzählung ihrer Geschichte vor dem Vergessenwerden zu bewahren. Man hoffte darüber hinaus, damit ‚die Art und Weise, wie Geschichte überhaupt geschrieben wird, zu verändern‘.“

Bei aller Problematik solcher Analogiebildungen, die leicht missbraucht werden könnten, um die Einzigartigkeit der Shoah in Frage zu stellen, liegt ein methodischer Vergleich durchaus nahe: „Man wollte sie (d.h. die Frauengeschichte, NR) in das allgemeine Narrativ integrieren und dieses Narrativ auf diese Weise transformieren. Seine Voraussetzungen, seine Methoden und seine allgemeine Ausrichtung sollten erneuert werden.“ Dies reichte jedoch nicht aus, erforderlich war eine „Wende zur Kulturgeschichte“. „Doch erst die Kombination beider (Narrative, NR) veränderte grundsätzlich die Geschichtsschreibung. Auch die jüdische Geschichtsschreibung ändert sich jetzt allmählich.“ Letztlich geht es um einen Perspektivwechsel: so wie sich Geschichte aus Sicht der Frauen und von Frauen lesen ließe, müsste Geschichte aus jüdischer Perspektive gelesen werden. Einige versierte Autor*innen habe ich eben genannt. Andererseits reicht es nicht aus, Gendergeschichte hauptsächlich von weiblichen Wissenschaftlerinnen, die jüdische Perspektive fast ausschließlich von jüdischen Wissenschaftler*innen betonen zu lassen. Antisemitismus ist ebenso wie der Hass auf Frauen und auch Rassismus ein gesellschaftliches Problem, das alle betrifft.

Shulamit Volkov verweist darauf, dass in der deutschen Geschichtsschreibung nach 1945 die Shoah nur ein Randthema war, so in den Publikationen von Karl Dietrich Bracher zum Nationalsozialismus. Sein 1969 erschienenes Buch „Die deutsche Kultur“ erwähnt die Shoah auf 12 von 550 Seiten. Das war auch in anderen Ländern nicht besser. Shulamit Volkovs Schlussfolgerung: „In den ersten Nachkriegsjahren blieb die jüdische Erfahrung während der NS-Zeit bestenfalls ein separates Thema; fast nie wurde sie zum integralen Teil dieser extensiv und intensiv erforschten Periode.“ Andererseits wäre es auch nicht angemessen, jüdische Geschichte ausschließlich als Opfergeschichte zu schreiben, die in der Shoah gegipfelt habe, zumal sich dann leicht schließen ließe, dass Antisemitismus mit dem Jahr 1945 ein Ende gefunden habe.

Kern der jüdischen Geschichte ist der ständige Wechsel zwischen Emanzipation und Exklusion. Juden und Jüdinnen waren immer die Anderen, sie waren nie ganz Teil der deutschen (oder europäischen) Geschichte als Deutsche (oder als Europäer*innen). In ihrer Einleitung – Überschrift: „Ein jüdischer Blick – Plural und Singular“ – schreibt Shulamit Volkov: „Schließlich war die biblische Auffassung, dass die Hebräer ein Volk seien, tief im Bewusstsein der Juden und des christlichen Europa verankert.“ So „waren sie immer sowohl eine Religionsgemeinschaft als auch eine Nation.“ In diesem Raster bewegten sich die jeweiligen Politiken gegenüber Jüdinnen und Juden, so im 19. Jahrhundert nach 1815: „Die jüdische Emanzipation nahm einen Verlauf, den man als Zickzackkurs bezeichnen kann, und er verlief parallel zum Zickzackkurs von Fortschritt und Rückschritt bei der Reform Deutschlands insgesamt.“ Anders gesagt: Jüdinnen und Juden waren stets Objekt von Politik und Geschichte, nur selten Subjekt.

Shulamit Volkov spricht von einer „nur halb geöffnete(n) Gesellschaft“. Der Wiener Kongress entlarvte die gesamte Schwäche des Systems in einer marginalen Änderung: „Im Durcheinander der letzten Tage des Wiener Kongresses bemerkten nicht alle Parteien, dass die Formulierung ‚in den einzelnen Bundesstaaten‘ zu ‚von den einzelnen Bundesstaaten‘ abgeändert wurde.“ Das war nicht nur ein Erfolg deutscher Kleinstaaterei, es ist letztlich ein gängiges Prinzip, dass jeder noch so kleinen politischen Einheit die Macht gibt, die eigene Bevölkerung in Gruppen aufzuteilen, einzelne Gruppen zu separieren, zu schikanieren, von politischer und gesellschaftlicher Mitwirkung auszuschließen. Kern ist der Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit Minderheiten. Eine ähnliche Debatte – ich erlaube mir den Hinweis – erleben wir zurzeit in den USA mit getroffenen und absehbaren Entscheidungen des Supreme Courts, der offenbar nicht nur in der Abtreibungsfrage, sondern auch in der Bewertung von Wahlergebnissen die Zuständigkeit der einzelnen Bundesstaaten aus der Verfassung herauszulesen geneigt ist.

Missbrauch der Aufklärung

Wer sich gegen die Diskriminierung von Minderheiten ausspricht, reduziert mitunter aus eigenem Antrieb seine Wirksamkeit, nicht zuletzt auch unter dem Eindruck staatlicher Zensur. Dies erlebten – so Shulamit Volkov – auch Immanuel Kant und Moses Mendelssohn mit ihren Beiträgen zum Thema „Was ist Aufklärung“ in der Berlinischen Monatsschrift von 1784: „Beide hatten die Absicht, die Missstände ihrer Zeit zu kritisieren, doch sie konnten die Schwächen des derzeitigen Regimes nicht attackieren. Beide wollten Vorurteile, Aberglauben und Fanatismus bekämpfen, achteten jedoch sorgfältig darauf, die gesellschaftliche Ordnung nicht zu gefährden.“

Moses Mendelssohn nennt den Grund. Er unterscheidet die „Bestimmung des Menschen als Mensch“ von der „Bestimmung des Menschen als Bürger“: „Menschenaufklärung kann mit Bürgeraufklärung in Streit kommen. Gewisse Wahrheiten, die dem Menschen, als Mensch, nützlich sind, können ihm als Bürger zuweilen schaden.“ Moses Mendelssohn warnt vor „Mißbrauch“: „Mißbrauch der Aufklärung schwächt das moralische Gefühl, führt zu Hartsinn, Egoismus, Irreligion, und Anarchie. Misbrauch der Kultur erzeuget Ueppigkeit, Gleißnerei, Weichlichkeit, Aberglauben und Sklaverei.“ (zitiert nach einer Faksimile-Ausgabe, hg. von Norbert Hinske 1977 für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Originalorthographie beibehalten).

Ob solcher „Mißbrauch“ im Sinne von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der Aufklärung bereits angelegt ist, somit das Ergebnis einer „Dialektik der Aufklärung“ wäre, ließe sich erörtern. Auf der phänomenologischen Ebene reicht die Erkenntnis, dass solcher „Mißbrauch“ zu Gewaltausbrüchen führen kann und führte, beispielsweise bei den Hep-Hep-Unruhen im Jahr 1819 oder bei den Bücherverbrennungen während des Wartburgfests im Jahr 1917, die Heinrich Heine 1821 zu der Aussage veranlassten (zitiert nach Shulamit Volkov): „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“ Ob die NS-Pogrome und Boykottmaßnahmen, beispielsweise der erste Boykott jüdischer Geschäfte vom 1. April 2022, den Harry Graf Kessler in der eingangs zitierten Tagebuchnotiz kommentierte, sich aus einem instrumentellen Verständnis von Aufklärung ableiten lassen, ist jedoch eine müßige Frage. Die Konsequenz, mit der die Nazis vorgingen, zeugt von technologischer Kompetenz, hat jedoch mit den in der Aufklärung propagierten Werten der Menschenwürde nichts zu tun, selbst wenn man offenlässt, wie man Menschenwürde versteht. Der „Mensch als Mensch“ galt den Nazis nichts, der „Mensch als Bürger“ hatte Rechte nur als willfähriges Mitglied der von den Nazis propagierten Fiktion einer „Volksgemeinschaft“. Letztlich bleibt die Frage, ob Menschenwürde universell verstanden wird oder ausschließlich auf eine bestimmte Gruppe bezogen wird, andere Gruppen jedoch ausgeschlossen werden. Das ist der Kern von Antisemitismus, so funktioniert und wirkt Antisemitismus.

Verständnis vorspielende Begründungen für Antisemitismus sind wohlfeil. Sie entschuldigen nichts. Gerne herangezogen werden soziale Missverhältnisse, um Antisemitismus oder Rassismus zu erklären, aber ohne eine grundlegende entsprechende Einstellung arten soziale Unruhen nicht in Gewalt gegen Menschen aus, die als „anders“, als „Andere“, als „Fremde“ gelesen werden, die eben nicht als gleichberechtigte Menschen, nicht als Bürger*innen gesehen werden. Aber wenn Staatsspitzen Spielräume für eine solche Lesart lassen, ist Antisemitismus und Rassismus Tür und Tor geöffnet. Dann wirken vorhandene und gefühlte soziale Schieflagen als Brandbeschleuniger, während der Hep-Hep-Krawalle wie während der Weimarer Republik. „So genügte offensichtlich die Kombination von mangelnder Entschlossenheit an der Spitze und sozialen Unruhen von unten, um einen Flächenbrand zu entfachen. Die Erfahrung eines Fortschritts bei der Gleichberechtigung und eines damit zusammenhängenden wachsenden Antisemitismus war für diese Jahre charakteristisch.“

Fremd und daheim zugleich

Jüdische Hoffnungen, sich in die Mehrheitsgesellschaft einzufinden, erfüllten sich im 19. Jahrhundert nicht. Die Integration gelang weder, wenn man sich zur Mehrheitsgesellschaft, zur deutschen Nation bekannte und seine jüdische Identität in Religionsfragen bewahrte, noch, wenn man die jüdische Religion weitestgehend aufgab. Auch Erklärungen aus der Mehrheitsgesellschaft gegen Antisemitismus gab es immer wieder, so die Notabeln-Erklärung von 1880: „Der Antisemitismus wurde trotzdem wieder salonfähig, wie im frühen neunzehnten Jahrhundert, aber deutlich anders als in den Jahren unmittelbar nach 1848.“

Shulamit Volkov zitiert als Zeugen für die Zeit des Kaiserreichs Stefan Zweig: „Wie Stefan Zweig neigten die meisten Juden jedoch dazu, die Anzeichen der Gefahr zu ignorieren. Für die jüdische Minderheit blieb das Kaiserreich ein gelobtes Land – trotz der düsteren Vorzeichen“, die „die Straßen der Stadt unsicher machten.“ Auch in diesem Kontext sieht Shulamit Volkov Parallelen zur „Frauengeschichte“: „Zur selben Zeit begannen bürgerliche Frauen, die in der Öffentlichkeit, laut Zweig, nicht einmal ihre Fesseln zeigen durften, Gleichberechtigung einzufordern. Sie artikulierten ihren Protest, es kam zu Auseinandersetzungen und manchmal zu heftigen Konflikten.“ Und in der Tat sind Antisemiten in der Regel auch Frauenfeinde. Diese Kombination prägt auch in den 2010er und 2020er Jahren noch Denken und Verhalten von Antisemit*innen, nur mit dem Unterschied, dass sie den Vorwurf, sie seien Antisemit*innen, weit von sich weisen. Wer jetzt auch an den heutigen Iran denkt, liegt nicht falsch.

Theodor Herzl schloss aus der Zurückhaltung der Staatsspitzen, die zwar die ein oder anderen Juden akzeptierten so wie Bismarck seinen Bankier Gerson von Bleichröder, über deren Verhältnis Fritz Stern die nach wie vor lesenswerte Monographie „Gold und Eisen“ vorlegte (1977 bei Alfred A. Knopff in New York, 1978 bei Ullstein in Frankfurt am Main erschienen), aber letztlich nur wenig geneigt sind, auf die Option zu verzichten, im Zweifel in (den) Juden Schuldige für diverse Missstände zu finden, „dass Assimilation ein hoffnungsloses Unterfangen war.“

Die Weimarer Zeit ist Gegenstand im vierten Teil des Buches von Shulamit Volkov: „Im Schicksal der Juden der Weimarer Zeit spiegelt sich in mancher Hinsicht das Schicksal der gesamten Republik“. Auch diese Aussage ließe sich verallgemeinern. Dies tut Shulamit Volkov im letzten Absatz des zwölften Kapitels: „Sie bleiben fremd und daheim zugleich. Nachdem sich Juden über zweihundert Jahre lang um Anerkennung und Gleichberechtigung bemüht haben, ist die alte Ambivalenz noch da, sogar verstärkt, und auch zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts spiegelt diese Ambivalenz die allgemeine Situation in Deutschland wider.“

Dies gilt letztlich durchweg für die Mehrheitsgesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland mit den ständigen Versuchungen, sich als Deutsche als die eigentlichen Opfer der Vergangenheit zu sehen. Etwas anders verlief es in der DDR, die erst in höchster Not im Jahr 1988 ihre offen anti-zionistische und antisemitische Politik relativierte, indem sich Erich Honecker mit Siegmund Rotstein und Heinz Galinski traf. Bis zu diesem Zeitpunkt waren in der DDR eigentlich nur die kommunistischen Widerstandskämpfer*innen Opfer, die allerdings auch zu Held*innen wurden. Jüdinnen und Juden fanden in der DDR-Erinnerungspolitik nicht statt. Es ließe sich letztlich als Ironie der Geschichte verstehen, dass der 9. November nicht nur der Tag des Pogroms von 1938, sondern auch der Tag des Mauerfalls von 1989 ist. Shulamit Volkov zitiert Frank Stern, der im Winter 1991 in der Zeitschrift New German Critique geschrieben hatte: „Für die Zukunft bleibt es eine entscheidende Frage, ob das Datum des 9. November im deutschen historischen Bewusstsein prinzipiell mit dem Fall der Mauer oder mit dem Pogrom von 1938 verknüpft wird.“

Auch hier im Ergebnis die üblichen Ambivalenzen. Auf der einen Seite steigt – so Shulamit Volkov – das Interesse an Büchern und Filmen zur nationalsozialistischen Vergangenheit, auf der anderen Seite steigt die offensive Abneigung gegen alles Fremde, nicht zuletzt und in Stellvertretung aller anderen gegen „die Juden“ – mit bestimmtem Artikel und im Plural formuliert. Wer sich der Erinnerung an die Shoah entledigen möchte, sucht heute seine alternativen Gräuel, sei es in Gestalt der Kritik an der nicht aufgearbeiteten Kolonialvergangenheit, sei es in Gestalt der Kritik an Israel. Der Satz John Mc Cloys, den Shulamit Volkov aus Presseberichten zitiert, gilt nach wie vor: „Die Einstellung der Deutschen zum Juden bedeute die Feuerprobe der deutschen Demokratie“. Und dieses Feuer brennt heutzutage, im Jahr 2022, lichterloh.

Monika Schwarz-Friesel, Toxische Sprache und geistige Gewalt

Monika Schwarz-Friesel hat in den vergangenen 20 Jahren mehrere Bücher veröffentlicht, in denen sie die Sprache der Antisemit*innen eindrucksvoll analysiert und dokumentiert. Sie ist Autorin des Lehrbuchs „Sprache und Emotion“ (2007 und – in zweiter Auflage – 2013 bei Francke), der Monographien „Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert“ (mit Jehuda Reinharz, bei de Gruyter 2013 erschienen), „Metaphern der Gewalt (mit Jan-Henning Kromminga, 2014 bei Narr Francke Attempto) und „Judenhass im Internet“ (2019 bei Hentrich & Hentrich, seit 2020 auch über die Bundeszentrale für politische Bildung beziehbar). Dies nur als Auswahl. Darüber veröffentlichte es zahlreiche Aufsätze und Vorträge, nicht nur in Deutschland, auch in Österreich und in Israel. Sie hat sich engagiert und klar in den Debatten zur Verteidigung von Felix Klein, um Achille Mbembe positioniert.

Es sind nicht nur Beleidigungen, mit den Jüdinnen und Juden angegriffen werden. In „Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert“ schreibt Monika Schwarz-Friesel: „Das Gewalt- und Diskriminierungspotenzial der Sprache artikuliert sich aber auch über Sprechakte, in denen Juden belehrt und ermahnt werden. Sie werden (insbesondere von akademischen Schreibern) als unmündige Personen behandelt, die auf die Ratschläge von Nicht-Juden angewiesen sind. Dadurch wird Juden die Fähigkeit abgesprochen, selbst in der Lage zu sein, kritisch oder intelligent zu urteilen und menschlich zu fühlen.“ Grundlage dieser Analysen ist ein Konvolut von Mails und Briefen aus über 20 Jahren an den Zentralrat der Juden und die Israelische Botschaft in Berlin, die Monika Schwarz-Friesel, Jehuda Reinharz und ihre Mitarbeiter*innen ausgewertet haben. Das Buch „Judenhass im Internet“ bietet darüber hinaus die Auswertung von Bildern, Zeichnungen und Internetquellen. Die Bücher von Monika Schwarz-Friesel lassen sich fast an jeder Seite aufschlagen und die Leser*innen finden Dokumente und Belege für den aktuellen Antisemitismus, der zurzeit vor allem in israelbezogenen Äußerungen, sogenannter „Israelkritik gipfelt. Ein ähnlich umfangreiches Konvolut an Dokumenten hat neben Monika Schwarz-Friesel auch Julia Bernstein vorgelegt, beispielsweise in „Israelbezogener Antisemitismus“ (2021) sowie „Antisemitismus an Schulen in Deutschland“ (2020, beide bei Beltz Juventa erschienen).

„Am Anfang war das Wort“: Diesen Satz zitiert Monika Schwarz-Friesel in der Überschrift des vierten Kapitels, denn: „Die Sprache brachte den Judenhass in die Welt.“ Der Antisemitismus ist – so fährt sie fort – „Bestandteil der westlichen DNA, des europäischen Genoms“, sodass sich darüber debattieren ließe, was zuerst erschien, die antisemitische Wirklichkeit oder die Sprache, in der sich Antisemitismus verbreitet: „Weil Sprache Realität nicht nur abbildet, sondern sie auch maßgeblich erzeugt“. Monika Schwarz-Friesel bezieht sich auf Shulamit Volkov, auf Victor Klemperers „LTI“ und auf die Semiotik Umberto Ecos, die Philosophie Karl Poppers. „Sprache ist Tor zur Welt und auch Straße in den Geist. (…) Sie lenkt den Blick auf die Welt. Sprachliche Strukturen erlauben uns Einblicke in die Einstellungen, Gefühle und Gedanken von Menschen, weil sie Spuren der kognitiven Aktivität sind. Aus sprach- und kognitionswissenschaftlicher Perspektive stellen wir daher nicht die Frage, ob jemand ein Antisemit ist oder nicht.“

Die antisemitische Grundierung ist nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Es geht um die Zwischentöne, die sich „oft unbemerkt in den Kopf schleichen“, „die Zwischen-den-Zeilen-Botschaften“, das „Gift zwischen den Zeilen“, all die Sprachbotschaften, die das Unbewusste sichtbar werden lassen, all die Sprechakte, die oft so unvermittelt und gut getarnt daherkommen, ohne dass die Sprechenden sich dessen bewusst zu sein scheinen, was sie da eigentlich aussprechen, die sie aber zumindest für systematisch propagierten Antisemitismus empfänglich machen, auch wenn sie ihn letztlich mit dem Hinweis abtun, es wäre ja nicht so gemeint, oder mutmaßen, es wäre ja vielleicht doch etwas an den Vorwürfen gegen Juden und Jüdinnen dran, die so in Umlauf gebracht wurden und werden. Auch dies sind Erscheinungsformen des von Cas Mudde analysierten „Mainstreaming“, das – dies wäre zu ergänzen – nicht nur rechtsextremen Antisemitismus charakterisiert.

Entkontextualisierung ist eine weitere Methode, Antisemitismus zu verbreiten. Dies geschieht über „Kofferwörter wie ‚Embryocaust‘ oder ‚Babycaust‘“ wie sie „bei radikalen Abtreibungsgegnern“ gängig sind. Ähnlich argumentierten Bischof Walter Mixa und andere Vertreter der katholischen Kirche. Der notorische Holocaustleugner David Irving popularisierte den in rechtsextremen Kreisen nach wie vor gängigen Begriff des „Bombenholocaust“ beziehungsweise „Holocaust of Dresden“. Die Äußerungen des Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde in einer Pressekonferenz mit dem deutschen Bundeskanzler vom 16. August 2022 gehören ebenfalls in die Reihe dieser Entkontextualisierungen, die die Shoah beziehungsweise den Holocaust wenn nicht leugnen so doch zumindest in die hinteren Reihen der zu pflegenden Erinnerungskultur(en) verweisen wollen.

Sprache ist Ausdruck von Kenntnis, die zur unwiderlegbaren Erkenntnis hochgestuft werden kann: „Die Sprache ist das bei allen individuellen Unterschieden und subjektiven Ausrichtungen menschlicher Existenzen in einer Gemeinschaft von allen geteilte und benutzte, überindividuell verstandene Kenntnissystem.“ Antisemitismus wird zum „Glaubenssystem“, zum „Weltdeutungssystem“, weil „gruppenbezogen“ verallgemeinerbar und verallgemeinernd, weil anschlussfähig an schon Gedachtes und Gesagtes, man könnte sogar sagen, zu einer Art Religion mit all den Mutmaßungen und Mythen, die zu einer Religion gehören mögen, gespickt mit Wirklichkeiten und Wahrheiten, einer pervertierten Art „kulturelles Gedächtnis“ im Sinne von Maurice Halbwachs. Die Eloquenten wissen, wie man solche Prozesse triggert, Antisemitismus wirkt durch seine spezifische Art von Schein-Bildung. „Die lange Geschichte der Judenfeindschaft zeigt: Es waren und sind stets die Gebildeten aus der Mitte, die besonders einflussreich und nachhaltig als Vordenker und geistige Giftmischer agieren.“

Abstrakter Antisemitismus

Antisemitismus bezieht sich selten auf eine bestimmte, konkrete Person, obwohl diese natürlich Adressat*in und Opfer des jeweiligen verbalen oder körperlichen Gewaltaktes ist. „Das Denken von Antisemiten zeichnet sich generell durch seine Abstraktheit aus: Es sind Hirngespinste des Hasses.“ Eine treffende Definition fand ich in einem Essay von Ulrike Marz („Moderner Antimodernismus“, in: Stephan Grigat, Hg., Iran – Israel – Deutschland, Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2017): „Der moderne Antisemitismus ist ein Welterklärungsversuch, der eine spezifische Weise der Interpretation gesellschaftlicher Realität darstellt. Er nimmt eine Personalisierung abstrakter gesellschaftlicher Verhältnisse vor.“ Es geht nie um eine konkrete Person, immer nur um das, was diese konkrete Person für den Blick des Antisemiten bedeutet: „Eine meta-ideologische Konstante des Antisemitismus ist die Vorstellung der Unterwanderung oder Zersetzung der Gemeinschaft durch die infiltrierenden Juden, die mit der Konstruktion der Juden als absoluter Feind zusammenhängt.“ Ulrike Marz formulierte ihre Analyse angesichts des Antisemitismus im Iran, doch lässt sie sich durchaus auf so gut wie jeden beliebigen Ort des Antisemitismus anwenden.

Jüdinnen und Juden werden schikaniert, deportiert, ermordet, weil sie etwas repräsentieren, das die Akteur*innen der Schikanen, Deportationen, Morde zutiefst hassen und deshalb aus der Welt schaffen wollen. Monika Schwarz-Friesel zitiert beispielhaft Inge Deutschkron, die „in ihren Memoiren (beschrieb), wie sie plötzlich nicht mehr als Person, sondern nur noch als Jüdin gesehen wurde.“ Sie vergleicht die durch Sprache, durch Text, durch Zuschreibungen, Framing und Priming erzeugte Wirklichkeit des Antisemitismus mit fiktionalen Personen der Literatur wie Moriarty, Voldemort und Dracula. „Wenn jemand sagt ‚Juden beherrschen die Welt‘, dann ist das so, wie wenn jemand sagen würde ‚Dracula ist real, er lebt wirklich!‘“ Das glaubt kaum jemand und deshalb kam auch niemand auf die Idee, ein politisches Programm zu formulieren, das forderte, systematisch Vampire oder transsylvanische Adlige auszurotten.

Die reale Existenz von Jüdinnen und Juden, unabhängig davon, ob sie in der Nachbarschaft leben oder in einem fernen Irgendwo, reicht angesichts der propagierten Bilder der beziehungsweise des Juden als des grundsätzlich Bösen aus, um ein solches Programm aufzuschreiben und – sobald die Macht da ist – umzusetzen. Die „Rhetorik des Hasses“ auf Juden und Jüdinnen lässt sich vom Johannesevangelium und Paulus über die Kirchenväter und Philosophen wie Blaise Pascal, Voltaire, Hegel oder auch Immanuel Kant bis zu Benedikt XVI. und seiner Version der Karfreitagsliturgie verfolgen. Das junge Christentum musste sich in der Konkurrenz zum Judentum behaupten, obwohl das Judentum nie missionierte, es meinte, seinen Konkurrenten diffamieren zu müssen, um Anhänger*innen zu gewinnen und zu erhalten. „Die dunkle Seite des viel beschworenen christlichen Abendlandes ist die zunächst religiöse, und dann säkulare, allumfassende Dämonisierung des Judentums.“ Muslime übernahmen die christliche Rhetorik.

Monika Schwarz-Friesel überzeugt in „Toxische Sprache und geistige Gewalt“ wie in ihren anderen Publikationen durch zahlreiche konkrete Beispiele des Antisemitismus. Sie systematisiert antisemitische Sprache in 17 Kapiteln, deren Überschriften schon zeigen, mit welchen mehr oder weniger bewussten Strategien Menschen versuchen, sich selbst von einer antisemitischen Haltung freizusprechen. Als Beispiele zitiere ich die Überschriften der Kapitel 9 bis 12: „Indirekte Sprechakte: Jemand sagt X, meint aber erkennbar Y“, „Schweigen und Verschweigen als antisemitische Sprachhandlungen“, „‚Es ist doch nur so dahingesagt und nicht böse gemeint‘: Du Jude! als Schimpfwort und andere alltagstaugliche Antisemitismen“, „Israelbezogener Antisemitismus und das Mantra seiner Strohmann-Abwehr“, „Euphemismen und ihre Verschleierungsfunktionen“.

Eine verbreitete Variante unbewusster Antisemitismen sind sprachlich geschaffene Oppositionen, vor allem der scheinbare Gegensatz zwischen Juden und Deutschen, eine „Differenzkonstruktion“, die im Grunde belegt, wie treffend Shulamit Volkov das Verhältnis zwischen der jüdischen Minderheit in der deutschen Mehrheitsgesellschaft im Verlauf der Geschichte analysiert und beschrieben hat. Virulent ist auch die Rede von „jüdischen Mitbürgern“ und „Menschen jüdischen Glaubens“. Die Gegenprobe entlarvt den antisemitischen Urgrund, denn niemand spricht von „Menschen christlichen Glaubens“ oder „christlichen Mitbürgern“. Die sind einfach Christen, Bürger und Deutsche. Auch auf Israel bezogen grassieren solche „Differenzkonstruktionen“. Monika Schwarz-Friesel verweist auf einen „ostdeutschen Ministerpräsidenten“, der am 10. Januar 2021 in ihrer Sendung die erfolgreiche Impfkampagne in Israel mit den Worten kommentiert habe: „anders als in Israel muss bei uns eine Rechtsberatung erfolgen (…). Wir haben einen Rechtsstaat.“ Diese Ministerpräsidentin (nach meiner Recherche muss es sich um Manuela Schwesig gehandelt haben) sprach damit – möglicherweise ohne darüber nachgedacht zu haben – Israel die Rechtsstaatlichkeit ab, obwohl sie hätte wissen müssen, dass Israel der einzige demokratische Rechtsstaat der gesamten Region ist. Sie würde sicherlich abstreiten, dass sie Israel im Sinne des von Natan Scharanski im Jahr 2003 erstmals vorgestellten 3-D-Tests habe delegitimieren wollen.

Auf jeden Fall gelten für Israel und andere Länder – dies ein zweites Element des 3-D-Tests – doppelte Standards. Ich weiß nicht wie oft und von wem alles darauf verwiesen wurde, dass zwar der Begriff der „Israelkritik“ in vieler Menschen Munde geführt werde, jedoch kein anderer Staat mit der Partikel „-kritik“ verbunden werde, auch nicht – wie es angesichts der aktuellen Entwicklungen angezeigt sein könnte – der Iran. Den Begriff der „Irankritik“ gibt es nicht. Zuletzt verwies Cem Özdemir in seiner Rede zum Erhalt des Leo-Baeck-Preises am 20. Oktober 2022 auf dieses Missverhältnis (Auszüge nachlesbar in der Jüdischen Allgemeinen, die gesamte Preisverleihung auf youtube). Allenfalls gibt es eine Parallele mit dem Begriff der „Islamkritik“.

Es ließen sich noch andere höchst kritikable Staaten nennen, denn es gibt auch keine „Russlandkritik“, keine „Myanmarkritik“ oder „Chinakritik“, manche hängen sich mit dem Begriff ein wissenschaftliches Mäntelchen um, als wäre „Israelkritik“ so etwas wie eine eigene wissenschaftliche Disziplin. Es gibt auch keine BDS-Bewegung gegen den Iran, die aktuellen Demonstrationen außerhalb des Irans werden hauptsächlich von Exil-Iraner*innen organisiert. Monika Schwarz-Friesel dekonstruiert den Missbrauch des Begriffs der „Kritik“: „Kritik ist ein Sprechakt, der eine problemlösungsorientierte Beanstandung gibt. Kritik schlägt dann um in ein geistiges Giftgebräu, wenn der Kritisierte gar keine Chance erhält, wenn er in seiner Existenz negiert und verdammt wird.“ Der Vollständigkeit halber: hartnäckig hält sich das Gerücht, der Deutsche Bundestag habe die BDS-Bewegung mundtot machen wollen. Monika Schwarz-Friesel stellt klar, dass es in dem Beschluss nur um den (nicht rechtswirksamen) Ausschluss einer Finanzierung von BDS aus öffentlichen Mitteln gehe, nicht jedoch um ein „(Rede-)Verbot“.

Monika Schwarz-Friesel nennt Kriterien, wann Kritik an Israel als antisemitisch eingeordnet werden könne und wann nicht: „Nein, berechtigte Kritik am israelischen Vorgehen wird nicht reflexhaft als Antisemitismus abgewehrt. Ja, unter dem Vorwand politische Kritik zu artikulieren, wird oft lupenreiner Antisemitismus verbreitet.“ Sie zitiert Amos Oz: „Wenn ich Israel durch die Brille deutscher Medien kennenlerne, muss ich den Eindruck gewinnen, dass 70 Prozent der Bevölkerung Soldaten sind, 29 Prozent verrückte, fanatische Siedler in der Westbank und ein Prozent wunderbare Intellektuelle, die sich für den Frieden einsetzen.“

Entgiftung?

Monika Schwarz-Friesel überzeugt durch die Vielzahl der Beispiele antisemitischer Sprechakte, die in der Menge und im Status der Sprecher*innen deutlich machen, dass Antisemitismen keine Einzelfälle, keine Ausrutscher oder Unachtsamkeiten sind, sondern dass ein System dahintersteckt, möge es den Sprecher*innen nun bewusst sein oder nicht. Die „Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung“, die sie in ihren Vorträgen immer wieder anprangert, liegt im Gegenstand, nicht in der Darstellung, sie manifestiert sich in so gut wie allen gesellschaftlichen Bereichen und zeigt, „dass Judenfeindschaft kein Vorurteil unter vielen ist, keine Fremdenfeindlichkeit und kein Rassismus nur ‚der dummen Kerls‘, sondern ein Denk- und Gefühlsmuster, ein kultureller Habitus.“

Doch wie geht man mit antisemitischen Zeugnissen der Vergangenheit um? Der Berliner Antisemitismusbeauftrage Samuel Salzborn hat auf der Grundlage eines Gutachtens bei 290 Straßennamen in Berlin antisemitische Bezüge festgestellt. Ich halte es auch für unerträglich, dass es immer noch zahlreiche Gymnasien gibt, die nach Ernst-Moritz Arndt benannt sind. Darüber, ob alle Straßen umbenannt werden sollten oder ob Bücher von antisemitischen Autor*innen nicht mehr gelesen oder gegebenenfalls überarbeitet werden sollten, wird – oft sehr emotional – gestritten. Diese Debatte betrifft nicht nur antisemitische Stereotype, lauter ist sie allerdings im Hinblick auf andere Minderheiten, zurzeit vor allem auf solche, deren Vorfahren Opfer des deutschen und europäischen Kolonialismus waren. Aber wie geht man mit antisemitischen Passagen in den Texten eines Theodor Fontane, eines Immanuel Kant, eines Voltaire und anderer bedeutender Autoren und Philosophen um? Monika Schwarz-Friesel formuliert eine eindeutige Position: „Soll man diese Bücher nun umschreiben und damit entgiften? Nein, denn es handelt sich um historische Zeugnisse, aus denen man ersehen und lernen kann, wie tief verankert Judenfeindschaft war. Kritische Kommentare im Vor- oder Nachwort sind sicher sinnvoll. Aber eine Cancel Culture der Textbeschneidungen: bitte nicht! Denn diese Werke mahnen uns, in der Gegenwart wachsam zu bleiben und dafür Sorge zu tragen, dass Judenhass nicht noch einmal Normalität wird.“

Es kann nicht darum gehen, wer Antisemit*in oder was antisemitisch ist. Kaum jemand, der sich antisemitisch äußert oder möglicherweise sogar als Antisemit*in verhält, wird sich im Sinne der Anklage für schuldig erklären, im Gegenteil. Wenn wir jedoch die „Praxis des Wegschauens und Abwiegelns“, das „Achselzucken und Leugnen“ beenden und Antisemitismus wirksam bekämpfen wollen, müssen wir unsere Strategie verändern: „Wir benötigen keine am Anfang beginnende Grundlagenforschung zur Frage, was Antisemitismus ist. Wir benötigen vielmehr weiterführende Untersuchungen, warum die Leugnung und Abwehr der bisherigen Forschung so ausgeprägt ist, welche Funktionen die Verdrehung von Fakten und Analysen insbesondere bei der dominanten Variante des israelbezogenen Judenhasses vor allem im links-intellektuellen Milieu hat, und warum auch hohe Bildung und das Wissen um die Gräueltaten in der NS-Zeit nicht notwendigerweise zur Vermeidung verbal-antisemitischer Äußerungen führen und wieso die Kluft zwischen dem ‚Nie-wieder-Credo‘ des Staates und dem ‚Immer-wieder-und-jetzt-erst-recht-Antisemitismus‘ der Bürger immer größer wird.“

Erste Ansätze einer solchen Forschung gibt es. Die Jenaer Philosophie-Professorin Andrea Marlen Esser leitet zurzeit ein Projekt, in dem untersucht wird, „wie viel Judenhass in der deutschen Philosophie steckt“. In einem Gespräch mit Lilly Wolter, das am 18. August 2022 in der Jüdischen Allgemeinen veröffentlicht wurde, sagte sie: „Wir meinen: Ja, die Werke dieser Philosophen sind ambivalent. Wie die Personen selbst einzuschätzen sind, interessiert uns dabei weniger. Wir fragen: Was ist in den Werken? Wir müssen verstehen, dass es den einen Kant gibt, der den Würdebegriff, die Gleichheit stark gemacht hat, den kritischen Kant. Und es gibt den Kant – in dem kritischen Kant – mit hochproblematischen Passagen, die übrigens nicht immer so trivial zu erkennen sind. Es ist manchmal sehr subtil. Damit müssen wir umgehen, statt zu streichen.“

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2022, Internetzugriffe zuletzt am 31. Oktober 2022.)