Liebe Freund:innen des Demokratischen Salons,
der Newsletter des Demokratischen Salons mit den zwischen Ende Oktober und Anfang Dezember 2025 veröffentlichten Texten ist online. Gewidmet sei diese Ausgabe des Demokratischen Salons Micha Brumlik sel. A., der am 10. November 2025 starb. Micha Brumlik stand für die Begegnung, das Gespräch, die argumentative Auseinandersetzung und für den Respekt mit Menschen, die anderer Meinung sind. Unter den vielen Nachrufen möchte ich den von Meron Mendel in der Dezemberausgabe 2025 der Blätter für deutsche und internationale Politik hervorheben: „Ein furchtloser Streiter für die Aufklärung“.

Kattowice / Kattowitz, Rynek. Foto: pixabay.
Als Editorial bietet Norbert Reichel in seinem Essay „Polen 2025 – Der lange Schatten einer traumatisierenden Geschichte“ eine Analyse der polnisch-deutschen Beziehungen und Gefühlslandschaften an. Grundlage sind aktuelle Publikationen des Deutschen Polen-Instituts zur Energiepolitik, zur Osteuropakompetenz in Polen, das deutsch-polnische Barometer 2025 sowie die Studie „Emotionale Nachbarschaft“. (Rubriken: Europa, Osteuropa)
Die weiteren neuen Texte befassen sich mit dem Demokraten Thomas Mann (Caren Heuer), Zukunftsvisionen von Reinventing Society (Lino Zeddies), Empfehlungen zur Aufarbeitung der Rolle der Kirchen in der DDR (Evangelische Nordkirche), dem 60. Jahrestag eines Briefwechsel zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen sowie dem polnischen Denkmal in Berlin (zwei Texte von Markus Meckel), georgischen Albträumen (Ana Margvelashvili), einer „Germanistik der radikalen Vielfalt“ (Jeannette Oholi), der Literaturwissenschaftlerin Sarah Colvin (Pavlo Shopin), der Romanautorin und Essayistin Gisela Elsner (Tanja Röckemann), den Bedingungen digitaler Souveränität (Donata Vogtschmidt MdB), der Sozialreformerin Lina Morgenstern (Gerhard J. Rekel), dem Science-Fiction Autor Jack DeVitt (Fritz Heidorn), junger chinesischer Science Fiction (Lukas Dubro) und der Theaterkultur in der Ukraine (Yuliia Dobronosova).
Leseempfehlungen und Hintergrundinformationen finden Sie zu folgenden Themen: Nachruf auf Micha Brumlik sel. A. (Meron Mendel), eine Analyse unserer Zeit aus dem Jahr 2017 (Micha Brumlik), ein Plädoyer für eine neue Realpolitik (Jürgen Trittin), eine Analyse des Dilemmas der Grünen (Lukas Beckmann), die gefährdete Zukunft der Bürgerräte (Jannis Koltermann), bedrohte Rechtsstaatlichkeit (Ernst Fraenkel), Meinungsfreiheit vs. Volksverhetzung (Ronen Steinke), Antisemitismus im Kulturbereich (Deutscher Bundestag), die Wahlen in den Niederlanden (René Cuperus), die Polarisierungsstudie der TU Dresden (Hans Vorländer), blockierte Wissenschaft und Politik (Martin Wagner und Sören Urbansky, mit einem Ausblick auf George Orwell), Femizide in Italien und in Deutschland, die Schicksale, eine Dunkelfeldstudie und Maßnahmen der Politik (drei Texte, unter anderem eine ZEIT-Dokumentation und eine Correctiv-Recherche), Bildung für nachhaltige Entwicklung (BMZ und KMK), Inklusion in der Literatur (Martina Süess über Flannery O’Connor), Alternative für Russland (Georg Maier), Zukunft in Syrien (zwei Texte: Thomas von der Osten-Sacken und Kristin Helberg), Verfassungsänderung in der Slowakei (Martina Winkler), 365 Tage tägliche Demonstrationen in Georgien (oc-media), Hamas-Terror in Deutschland (Michaela Dudley), Rechtsextreme Übergriffe in Gedenkstätten (Matias Kamp), die Berlin History App (Topographie des Terrors), die übersehene Ukraine (Martin Schulze Wessel), Putins Mission (Botakoz Kassymbekova und Annette Werberger), Menschenrechte in Algerien (Kamel Daoud), gute Aussichten für Teile des Aralsees (Leibniz-Institut für Gewässerökologie), sowie fünf weitere Übersetzungen von Beiträgen aus dem Demokratischen Salon ins Ukrainische (Drahomanov Universität Kyjiv).
Empfehlungen für den Besuch von Veranstaltungen und Ausstellungen finden Sie auf einer eigenen Seite, nach Orten sortiert.
Inhalte der neu veröffentlichten Texte:
- Caren Heuer stellt in „Demokratie heißt Humanität“ die von ihr kuratierte Ausstellung „Meine Zeit“ zum 150. Geburtstag von Thomas Mann vor. Thomas Mann erwies sich mit der Zeit als couragierter Verfechter der Demokratie, obwohl er zunächst glaubte, politische Äußerungen könnten seinem künstlerischen Anspruch schaden. (Rubriken: Liberale Demokratie, Kultur)
- Lino Zeddies, einer der Gründer:innen von Reinventing Society, stellt Ziele und Angebote des Think Tanks vor: „Visionen wagen“. Es gibt nicht die eine Lösung für die Krisen unserer Welt. Kommunen können den Think Tank engagieren, um gemeinsam Realutopien zu erdenken. (Rubriken: Liberale Demokratie, Utopien / Science Fiction)
- Die Evangelische Nordkirche veröffentlichte am 1. Oktober 2025 zum 35. Jahrestag der deutschen Einheit „Empfehlungen zur Aufarbeitung in den evangelischen Kirchen Deutschlands“, die im Demokratischen Salon durch Vermittlung von Markus Meckel im Wortlaut veröffentlicht werden. Sie plädieren – auch angesichts der aktuellen Ost-West-Debatten – für eine Aufarbeitung der gesamtdeutschen Kirchen. (Rubriken: Liberale Demokratie, DDR)
- Markus Meckel zieht in „Zukunft braucht Weisheit und Mut“, einem Vortrag vom 4. Oktober 2025 im polnischen Sejm, eine Bilanz von 60 Jahren Ostdenkschrift der EKD und dem Briefwechsel der polnischen und deutschen katholischen Bischöfe. Er kommentiert Gremien, Dokumente, Widerstände und Entwicklungen in den deutsch-polnischen Beziehungen. (Rubriken: Europa, Osteuropa)
- Markus Meckel fragt nach der Einweihung der (vorläufigen) Gedenkstätte für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkriegs: „Was fehlt dem polnischen Denkmal in Berlin?“ Er erinnert an immer noch nicht umgesetzte Beschlüsse des Deutschen Bundestages und schlägt vor, das Gedenken an die polnischen Opfer auf alle Opfer des deutschen Vernichtungskrieges zu erweitern. (Rubrik: Osteuropa)
- Ana Margvelashvili berichtet in „Georgische Albträume“ über die seit über einem Jahr andauernden täglichen Demonstrationen auf der Rustaveli in Tbilisi gegen die georgische Regierung, die zunehmenden Repressionen sowie die Chancen georgisch-deutscher Kulturbeziehungen. Sie stellt die Frage, ob Georgien tatsächlich ein „sicheres Herkunftsland“ (Rubriken: Europa, Osteuropa)
- Jeannette Oholi plädiert in zwei Büchern für eine „Germanistik der radikalen Vielfalt“. Sie erschließt gemeinsam mit anderen Autor:innen die Potenziale der vielstimmigen afropäischen und afrodeutschen Literatur. Die Grenzen zwischen literaturwissenschaftlichem und aktivistischem Engagement zerfließen. (Rubrik: Afrikanische Welten / Gender)
- Pavlo Shopin porträtiert in „Literatur gegen die epistemische Ungerechtigkeit“ die britische Germanistin Sarah Colvin. Mit der von ihr entwickelten Begrifflichkeit analysiert sie, wie literarische Formen selbst zum Ort von Widerstand werden. Gegenstand sind unter anderem Literaturen aus China, aus der Ukraine, aus Deutschland, aus den USA (Rubriken: Afrikanische Welten, Osteuropa, Kultur)
- Tanja Röckemann hat in ihrem Buch „Die Welt betrachtet ohne Augenlider“ Literatur und Politik im Werk von Gisela Elsner analysiert: „Die Realistin“. Gisela Elsner bewegte sich zwischen West und Ost, entschied sich für eine Mitgliedschaft in der DKP. Sie wehrte sich gegen die Etikettierung ihres Werks als „Frauenliteratur“ und irritierte nicht nur die bürgerliche Literaturkritik. (Rubriken: Kultur, Treibhäuser)
- Donata Vogtschmidt MdB ist Sprecherin der Bundestagfraktion der Partei „Die Linke“ für Digitalpolitik und Cybersecurity. Für sie gilt: „Die Freiheit ist konkret“. Sie formuliert ihre Hoffnungen auf das neue Digitalministerium und fordert in den Debatten um Datensicherheit und Bürokratieabbau digitale Souveränität, Medienkompetenz und Kontrolle der Plattformen. (Rubrik: Liberale Demokratie)
- Gerhard J. Rekel porträtiert die Sozialreformerin „Lina Morgenstern“ (1830-1909), Gründerin von Volksküchen, Feministin, Publizistin. Im Jahr 1900 wurde sie von einer englischen Zeitung zu einer der drei bedeutendsten Persönlichkeiten Berlins gewählt. Das Porträt ist ein guter Einstieg in die Lektüre ihrer sehr aufschlussreichen Biographie, die der Autor im Verlag Kremayr & Scheriau veröffentlichte. (Rubriken: Jüdischsein, Gender, Liberale Demokratie)
- Fritz Heidorn porträtiert in „Archäologie der Zukunft“ den 90jährigen Erzähler Jack McDevitt, der sagte: „Literatur soll es uns ermöglichen, imaginäre Erfahrungen zu durchleben.“ Reisen „zu den Sternen“ enthüllen in näherer wie in fernerer Zukunft Träume und Ängste der Menschheit und eröffnen philosophische Debatten. (Rubrik: Utopien / Science Fiction)
- Lukas Dubro stellt in „Ein philosophisches Genre“ die lebendige chinesische Szene junger Science-Fiction-Autor:innen vor. Im MaroVerlag erscheinen die „Kapsel“ und Erzählbände, mit Texten von Xia Jia, Regina Kanyu Wang, Gu Shi, Chi Hua. Sie bieten literarische „Gedankenspiele der Zukunft“ mit ihren utopischen und dystopischen Konflikten und Kontroversen. (Utopien / Science Fiction)
- Yuliia Dobronosova, Schriftstellerin, Philosophin, Autorin und Essayistin stellt in „Die Theaterkultur der Ukraine“ die einzigartige Studie von Olexander Klekovkin, Iuliia Bentia und Svitlana Kulinska zur 1.000jährigen Geschichte des ukrainischen Theaters mit vielen Hintergrundinformationen über Forschungslage, Quellen, Begriffe und Traditionen vor. (Rubriken: Kultur, Osteuropa)
Leseempfehlungen und Hintergrundinformationen:

Micha Brumlik und Teresa Bücker (Autorin, Netzaktivistin und Redaktionsleiterin EDITION F.), Foto: www.stephan-roehl.de, Heinrich Böll Stiftung. Wikimedia Commons
In Memoriam Micha Brumlik: Meron Mendel würdigt in den Blättern für deutsche und internationale Politik den großen Intellektuellen: „Ein furchtloser Streiter für die Aufklärung“: „Den Streit begriff Micha als intellektuelle Übung, niemals als persönliche Abrechnung, als engagierten Austausch von Argumenten und Gegenargumenten. Er war immer dafür offen, sich von den Argumenten der Gegenseite überzeugen zu lassen. Eine Eigenschaft, die heutzutage selten geworden ist – und derer wir doch so sehr bedürfen in den überhitzten Kulturkämpfen dieser Tage. Auch hier bleibt Micha, bleibt sein intellektuelles und menschliches Agieren, ein großes Vorbild.“
- Eine Analyse unserer Zeit aus dem Jahr 2017: Die Blätter für deutsche und internationale Politik druckten in Memoriam ihres Mitherausgebers Micha Brumlik dessen nach wie vor höchst aktuellen Essay aus dem Januar 2017 ab: „Vom Proletariat zum Pöbel: Das neue revolutionäre Subjekt“. Micha Brumlik belegt, wie hilfreich es sein könnte, Karl Marx und Friedrich Engels zu lesen, nicht als Handlungsanweisung, aber als Analyse. Er zitiert „Das Kommunistische Manifest“ (1848, MEW 4) und „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“ (1851, MEW 8). Im „18. Brumaire“ habe Marx das Trumpphänomen beschrieben, der „jeden Tag einen Staatsstreich en miniature“ schaffe und damit diejenigen gewänne, die ihn eigentlich aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit nicht unterstützen könnten. André Gorz habe dies in „Abschied vom Proletariat“ (1980) ebenso diagnostiziert wie Didier Eribon in „Rückkehr nach Reims“ (2016). „Heute müssen wir feststellen, dass die von Gorz verabschiedete Arbeiterschaft nicht mehr nur – was noch Marcuse beklagte – zu einem stabilisierenden Teil des eindimensionalen Wohlfahrtsstaates geworden ist, sondern dass sie ihr Heil zum Teil wieder in faschistischen Strukturen sucht.“ Auch die Linke sei in der Vergangenheit wenig hilfreich gewesen: „Heute werden sich die Reaktionen der Rechten und vieler (Traditions-)Linker immer ähnlicher.“ Es sei eine „Tragödie“, dass manche Linke sich „in das totalitäre Riesenreich des chinesischen Revolutionärs Mao Zedong“ hineinträumten, eine Strategie, wie sie heute auch AfD und BSW gegenüber Putin und Xi pflegen. Marx und Engels schrieben in ihrem Manifest: „Die Mittelstände, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker, der Bauer, sie alle bekämpfen die Bourgeoisie, um ihre Existenz als Mittelstände, vor dem Untergang zu sichern. Sie sind also nicht revolutionär, sondern konservativ. Noch mehr, sie sind reaktionär, denn sie suchen das Rad der Geschichte zurückzudrehen.“ Brumlik verweist auf Oliver Nachtwey, der unsere Zeit als „Abstiegsgesellschaft“ (2016) charakterisiert hat. Dort „lassen sich einige apathisch nach unten fahren, während anderer rücksichtslos in Panik nach oben zu rennen versuchen um dennoch unwiderruflich nach unten gefahren zu werden.“
- Plädoyer für eine neue Realpolitik: Am 13. November 2025 hielt Jürgen Trittin in Berlin die Rede „Jenseits von Utopie und Dystopie: eine neue Realpolitik“. Jürgen Trittin nennt zwei Erfolge deutscher Politik, die jedoch in der öffentlichen Diskussion nicht anerkannt würden: die Energiewende und die Einwanderungsgesellschaft. Er wendet sich gegen die „Retroversprechen“ des Wahlkampfes von CDU und CSU und fordert, dass Politiker:innen sich den Realitäten stellen müssen, weil diese Versprechen nicht erfüllbar seien. Dies habe beispielsweise Bundesaußenminister Johann Wadephul getan, als er in Syrien sagte, dass es angesichts der Zerstörungen nicht zumutbar sei, jemanden aus Deutschland nach Syrien zurückzuschicken. „Während Schwarz-Rot noch darüber grübelt, wie sie die kognitive Dissonanz zwischen Idee und Wirklichkeit auflösen soll, ist Donald Trump weiter. Er setzt darauf, mit der Idee die Realität gewaltsam zu zertrümmern.“ Er zerstöre bewusst und effizient nicht nur die Demokratie, sondern auch die Lebensgrundlagen des Planeten. Autokraten könne man jedoch nicht mit „Appeasement“ Eine „neue Realpolitik“ müsse „das Unmögliche“ fordern. Dazu brauchen wir „ein souveräneres Europa“. (Für den Hinweis auf die Rede danke ich dem Beueler Extradienst, die vollständige Rede ist unter dem oben angezeigtem Link frei verfügbar.)
- Das Dilemma der Grünen: Im ZEIT-Magazin vom 23. Oktober 2025 haben Bernd Ulrich und Volker Weidermann ein ausgesprochen lesenswertes Gespräch mit Lukas Beckmann veröffentlicht, der maßgeblich an der Gründung der Grünen vor 45 Jahren beteiligt war. 1991 wurde er Bundesgeschäftsführer. Er lebt heute in einem brandenburgischen Dorf mit 150 Einwohner:innen. Seine Diagnose: „Wenn es ein Problem gibt, dann ist die Lösung auch da. Entscheidend ist, ob man sie findet. Und ob man dann die Kräfte dafür freisetzt, die Lösungen zu ergreifen und umzusetzen. Das Wichtigste bei den Grünen für mich zurzeit ist, dass sie verstehen, dass sie sich nicht in einer politischen Krise befinden, sondern in einer geistigen.“ Lukas Beckmann erinnert an die bedeutende Rolle, die bei der Gründung der Partei Joseph Beuys und Petra Kelly Dazu gehörten die von Beuys initiierte Pflanzaktion von 7.000 Eichen auf der documenta 1982, auch die „politisch-administrative Erfahrung aus den USA“, die Petra Kelly mitbrachte. „Die Leute freuten sich, wenn wir kamen. Das ist eine Form von Energie, (…) die die Menschen selbst aufrichtet.“ Die heutigen Grünen und die Heinrich Böll Stiftung hätten es versäumt, „die fortlaufende Substanzbildung, bezogen auf die Zukunft“ zu gewährleisten. Stattdessen habe man sich im Klein-Klein des politischen Alltags verloren. So auch Robert Habeck, der zwar anders gesprochen, aber „nicht wirklich anders Politik gemacht“ habe. Als Beispiele nennt Beckmann die wissentliche Inkaufnahme der Verletzung des Grundgesetzes beim ersten Ampelhaushalt und den abrupten Stopp der Förderung von E-Autos. Man verliere sich in den sozialen Medien, aus einer „Angst, die von innen kommt: Man weiß, dass die inhaltliche Substanz fehlt, es ist Simulation von Substanz. Natürlich fürchtet man, dass das irgendwann auffliegt.“ Die Partei habe es schließlich nicht verstanden, langfristig stabile Bündnisse zu schaffen. In Gransee, dem nächst größeren Ort in der Umgebung von Beckmanns Wohnort, habe es im Januar 2024 gegen die von Correctiv veröffentlichen Pläne des Potsdamer Treffens einer Gruppe prominenter Teilnehmer:innen zur Deportation von Menschen, die nach deren Ansicht nicht zu Deutschland gehörten (Stichwort: Remigration) eine Demonstration mit etwa 600 Menschen gegeben, „die größte Demonstration dort seit 1989. Für mich war es allerdings trotzdem enttäuschend, weil da sofort Leute draufgesprungen sind mit der verkürzten Botschaft ‚Gemeinsam gegen rechts‘. Wenn man aber für die Werte unseres Grundgesetzes und für unsere Demokratie demonstriert, dann kann es nicht sein, dass man erst mal links sein muss, um überhaupt mitmachen zu dürfen.“
- Aus für Bürgerräte? Bürgerräte auf kommunaler Ebene sind recht erfolgreich wie die Initiative Mehr Demokratie e.V. Auf Bundesebene gab es bisher nur den Bürgerrat „Ernährung im Wandel“, der 2024 seine Ergebnisse vorgelegt hatte. Diskutiert wurden die Ergebnisse im Bundestag nicht. Der schwarz-rote Koalitionsvertrag sieht zwar die Fortsetzung „zivilgesellschaftlicher Bürgerräte“ vor, doch die zuständige Stabsstelle der Bundestagsverwaltung wurde von der Bundestagspräsidentin aufgelöst. Jannis Koltermann forderte am 28. November 2025 in der FAZ: „Unsere Demokratie muss sich reformieren“. „Bürgerräte sind daher keine Spinnerei der Ampelregierung, sondern der Versuch, Menschen an politischen Prozessen zu beteiligen, die sich sonst oft von ihnen ausgeschlossen fühlen, und sie im wechselseitigen Austausch Kompromisse finden zu lassen, wo der Parteienstreit eher die Polarisierung fördert. Dass der Bürgerrat zur Ernährung bislang kaum Gehör fand, spricht denn auch weniger gegen den Bürgerrat als gegen den Bundestag: Sowohl seine Funktionsweise als auch seine Ergebnisse sind von Wissenschaftlern positiv evaluiert worden.“
- Bedrohte Rechtsstaatlichkeit: Wie erkennt man, dass der Rechtsstaat Stück für Stück zerstört wird? Dieser Frage widmet sich Heinrich Wefing in der ZEIT in einem Porträt von Ernst Fraenkel (1898-1975) und seiner Analyse „Der Doppelstaat – Ein Beitrag zur Theorie der Diktatur“: „Wenn das Recht noch besteht, aber nicht mehr gilt“: „Fraenkel hatte in der Frühzeit des Nazi-Regimes miterlebt, dass die Diktatur den Rechtsstaat nicht auf einen Schlag zertrümmerte. Es gab kein rasches Umschlagen von Recht zu Willkür, es wurde kein Schalter umgelegt. (…) Doch in das System der hergebrachten Rechtsordnung, das Fraenkel den ‚Normenstaat‘ nennt, wurde etwas Fremdes, Bösartiges implantiert. Es entstanden Bereiche der Gesetzlosigkeit, Sphären der Willkür, die sich immer weiter ausdehnten. Hier die Gerichte, die routiniert Kaufverträge prüften, Ehen schieden, Baugenehmigungen versagten. Dort der Terror der Gestapo, die brennenden Synagogen und geplünderten Geschäfte – Zonen, wie Fraenkel schreibt, ‚der unbeschränkten Willkür und Gewalt‘. ‚Maßnahmenstaat“ nannte der Jurist diesen Bereich, in dem Richter nichts mehr zu sagen haben.‘ Heinrich Wefing verweist auf eine Diskussion in Polen über das Vorgehen der PiS als Regierungspartei und die aktuellen Entwicklungen in den USA, auf die der an der University of Chicago lehrende Jurist Aziz Huq in „The Atlantic“ Fraenkels Buch anwandte: „America Is Watching the Rise of a Dual State“. Heinrich Wefing referiert die Lebensgeschichte von Ernst Fraenkel und die abenteuerliche Geschichte, wie das Manuskript aus Deutschland herausgeschmuggelt und von seinem Autor in Chicago vollendet werden konnte.
- Meinungsfreiheit oder Volksverhetzung? Seit etwa 2020 – so Ronen Steinke am 26. Oktober 2025 in der Süddeutschen Zeitung in seinem Beitrag „Wann kommt wegen eines Tweets die Polizei?“ – verändert sich die Rechtsprechung und so manche – wie beispielsweise der US-amerikanische Vizepräsident und Elon Musk – meinen, dass man in Deutschland wegen eines Tweets verhaftet werden könnte. Ronen Steinke schildert den Fall des Publizisten Norbert Bolz, der die Schlagzeile der taz „AfD-Verbot und Höcke-Petition: Deutschland erwacht“ mit dem Satz „Gute Übersetzung von ‚woke‘: Deutschland erwache!“ Inzwischen gab es einen Freispruch, weil die Richter:in den offensichtlichen Sarkasmus seiner Verwendung einer Nazi-Parole erkannt hatte. In einem zweiten Fall verglich Jürgen Todenhöfer das Vorgehen Israels gegenüber den Palästinenser:innen mit dem Vorgehen der Nazis gegen Jüdinnen und Juden, so auch eine Gaza-Demonstrantin, die ebenfalls eine Strafanzeige erhielt. Verharmlosten sie damit die Shoah? Abtreibungsgegner:innen sprechen von „Babycaust“, Tierschützer:innen vom „Holocaust auf dem Teller“. Wo endet die Geschmacklosigkeit und wo beginnt die Strafwürdigkeit? Merkwürdigerweise gilt „Alles für Deutschland“ – siehe die Verurteilung von Björn Höcke – als NS-Parole, „Arbeit macht frei“ jedoch nicht. „Alles für Deutschland“ war auch schon ein „Instagram-Aufruf der Influencerin Cathy Hummels zu Beginn der Fußball-EM“. Ronen Steinkes Fazit: „Die neue, ziemlich ausufernde Interpretation des Volksverhetzungsparagrafen ist noch jung, sie ist fragwürdig, und womöglich wackelt sie auch noch. Für Todenhöfer gibt es bislang noch keinen Gerichtstermin. Im Fall der Gaza-Demonstrantin aber ist die Berliner Justiz kürzlich schon zurückgerudert. Eine Berufungskammer des Landgerichts Berlin I verwarf das Verbot von ‚Haben wir aus dem Holocaust nichts gelernt‘. Die Demonstrantin wurde freigesprochen.
- Antisemitismus im Kulturbereich nach dem 7. Oktober: Am 3. Dezember 2025 befasste sich der Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages in einem Fachgespräch mit den Deutsch-israelischen Kulturbeziehungen und Antisemitismus im Kulturbereich. Zum Fachgespräch lagen die folgenden schriftlichen Stellungnahmen vor: Hetty Berg, Deutscher Kulturrat, Stella Leder, Meron Mendel, Chaim Noll, Zentralrat der Juden in Deutschland, Zentrum für Antisemitismusforschung, TU Berlin, Monika Schwarz-Friesel. Eine diskutierte Grundlage war die Studie „Resonanzen“ des Instituts für Neue Soziale Plastik. Hintergrund sind zahlreiche Ausladungen, zum Teil schon in vorauseilendem Gehorsam, von israelischen sowie jüdischen nicht-israelischen Künstler:innen und Wissenschaftler:innen sowie von diese unterstützenden Personen. Meron Mendel sagte, die Zahl der Stellungnahmen und offenen Briefe sei inzwischen unüberschaubar. Die eskalierende Entwicklung fasste er in folgenden Sätzen zusammen: „Israelis und Palästinenser dienen als Projektionsfläche für Europäer (und US-Amerikaner). Als ob es den Streitenden vielmehr darum geht, symbolisch auf der absoluten moralischen Seite zu stehen, als sich mit einem 100 Jahre alten komplexen Konflikt auseinanderzusetzen.“ Grundsätzlich gelte jedoch, dass „die Kunstfreiheit ganz real besonders durch autoritäre und antidemokratische Bestrebungen bedroht ist.“ In diesem Kontext ist auch die Frage einer Antisemitismusklausel in der staatlichen Förderpolitik relevant. Meron Mendel zitiert den Verfassungsrechtler Christoph Möllers, der in einem Gutachten im Nachgang zur documenta fifteen geschrieben hatte, staatliche Stellen „dürfen nicht entscheiden, welche Stücke gespielt, welche Schauspieler besetzt, welche Personen zu Vorträgen eingeladen oder wessen Kunstwerke ausgestellt werden. Der Staat hat die öffentliche Einrichtung und deren Verfahren so auszugestalten, dass Kunstfreiheit in ihnen real ermöglicht wird.“ Der Zentralrat der Juden votiert für den folgenden Vorschlag des Tikvah-Instituts: „Die unantastbare Würde des Menschen zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Es ist Aufgabe des Staates, zum Erhalt von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) gerichtet sind, aktiv zu bekämpfen. Diese Prinzipien sind bei der Erfüllung bestimmter Zwecke durch die Stellen außerhalb der Landesverwaltung zu beachten. Insbesondere stehen antisemitische, rassistische und sonstige menschenverachtende Konzepte sowie Inhalte, die mit der Menschenwürde nicht vereinbar sind oder gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verstoßen, einer Zuwendung entgegen.“ (Bundes-/Landeshaushaltsordnung § 23 (Zuwendungen), Absatz 2 (neu) BHO/LHO, Hervorhebungen im Original). Der Stream der öffentlichen Sitzung des Ausschusses ist in der Mediathek des Bundestags verfügbar.
- Wahl in den Niederlanden: Der Wahlsieg der als linksliberal eingeschätzten D66 mit ihrem Spitzenkandidaten Rob Jetten und die deutliche Niederlage der PVV mit Geert Wilders lassen sich nach der Analyse des niederländischen Historikers René Cuperus einfach erklären: „Zum ersten Mal hatte jemand keine Angst“: „Jetten hat eine optimistische Kampagne geführt. Obama-like: ‚Yes, we can‘. Während Wilders mit Zynismus und Negativität vom Untergang der Niederlande redete, stellte sich Jetten mit einem positiven Patriotismus entgegen. In seiner Kampagne hat er die niederländische Flagge, zunehmend ein Protestzeichen der radikalen Rechten, für die politische Mitte zurückgewonnen. Er hat die Migrationspolitik seiner Partei nach rechts gerückt und damit hin zur Mitte verschoben. Die D66 haftete zuvor das Image einer Elite-Partei für ein akademisches Milieu an, ähnlich wie den Grünen in Deutschland. Jetten hat das geändert. Im Wahlkampf nutzte er die Macht moderner Kommunikation: Auf TikTok zeigte er sich staatsmännisch, aber zugleich locker, offen und mit seinem Partner.“ Kurz: Rob Jetten vermittelte Zuversicht und er hatte keine Angst vor der direkten Konfrontation mit Wilders. Die Angst vor der AfD überwinden – das wäre vielleicht auch in Deutschland ein erfolgversprechendes Konzept. Cuperus weist aber auch darauf hin, dass sich die AfD von rechtspopulistischen Parteien in anderen Ländern unterscheidet: Eine solche Nähe zu Neonazis gibt es nur in Deutschland und in Österreich. Vor allem aber sollten Politiker:innen Folgendes beherzigen: „Wenn Politiker nur noch Angst haben – vor den Medien, vor Wählern, vor Fehlern – dann spüren die Menschen das.“ Im Bonner Dietz-Verlag veröffentlichte René Cuperus 2021 das Buch „7 Mythen über Europa“, das im August 2022 im Demokratischen Salon rezensiert wurde: „Europäische Realpolitik“.
- Polarisierungsstudie TU Dresden: Das Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) TU Dresden hat unter Leitung von Hans Vorländer das Polarisierungsbarometer 2025 veröffentlicht. Befragt wurden 34.000 Personen in acht EU-Ländern, davon 4.400 in Deutschland. Inhaltlich ging es um „15 Sachfragen in den Themenfeldern Zuwanderung, Sicherheit, Klimawandel, Wirtschaft und Soziales sowie Wertvorstellungen. Zu jedem Feld wurden die Befragten nicht nur nach ihrer Position, sondern auch nach ihrer emotionalen Haltung gegenüber Andersdenkenden gefragt.“ Die Studie unterscheidet zwischen ideologischer und affektiver Polarisierung: „Ideologische Polarisierung ist bis zu einem gewissen Grad in Demokratien notwendig. Affektive Polarisierung hingegen kann den demokratischen Zusammenhalt schwächen, weil sie Verständigung blockiert und aus politischem Wettbewerb Feindschaft macht.“ Die höchste „affektive Polarisierung“ ist bei den Themen Zuwanderung und Ukraine zu finden. Eine emotionale Ablehnung Andersdenkender ist vor allem bei AfD-Anhänger:innen und Anhänger:innen der Grünen festzustellen. Es geht weniger um Parteien als um Themen. In der Dezemberausgabe 2025 von Politik & Kultur veröffentlichte Hans Vorländer den zusammenfassenden Essay „Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist nicht selbstverständlich“. Er schrieb: „Generell aber gilt, dass die politischen Ränder stärkere Polarisierungswerte aufweisen als die politische Mitte.“ Die vollständige Studie ist kostenfrei abrufbar.
- Blockierte Wissenschaft – ignorante Politik: Wissenschaftliche Studien könnten helfen, dass Politiker:innen gut begründete und begründbare Entscheidungen treffen. Dazu wäre es aber erforderlich, dass sie auch die erforderliche Infrastruktur bereitstellen. Martin Wagner und Sören Urbansky beklagen in einem Beitrag in der Dezemberausgabe 2025 der Blätter für deutsche und internationale Politik, dass dies nicht in ausreichendem Maße geschieht: „Wehrlose Wissenschaft: Die Bedrohung aus China und Russland verstehen“. Vor allem fehle es an wissenschaftlichen Instituten, „unter deren Dach China und Russland gemeinsam erforscht würden. Und einen Wissensort, an dem die chinesisch-russischen Beziehungen im Zentrum stünden sucht man hierzulande vergeblich.“ Es gibt lediglich einige wenige privat finanzierte Ausnahmen wie die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWF). Die Curricula für die Lehre an Hochschulen und an Schulen, sind und bleiben „eurozentrisch“. Das Plädoyer der beiden Autoren: „Es bedarf neuer Denkräume – institutionell wie intellektuell – und vielleicht sogar neuer Orte des Wissens. Denn die Auseinandersetzung mit Chinas und Russlands Kampf gegen unsere Ordnung gehört ins Zentrum unserer intellektuellen Selbstverteidigung. Wer die Bedrohung ernst nimmt, muss auch die Bedingungen überdenken, unter denen wir sie erlernen. Es ist an der Zeit, die Wissensproduktion über China und Russland neu zu denken.“ Ergänzen ließe sich ein Satz von George Orwell in „1984”: „Who controls the past controls the future; who controls the present, controls the past.” (zitiert nach Susan Neiman, Where Wokeness Went Wrong, in: New York Review of Books, 4. Dezember 2025)
- Femizide – eine (lückenhafte) Bestandsaufnahme: In der ZEIT veröffentlichten Elisabeth Raether, Annick Ehmann, Tamara Flemisch und Dana Hajek ihre Dokumentation „Und dann malt er ein Herz mit ihrem Blut ans Fenster“. 2024 wurden 104 Frauen von ihren Ehemännern oder Partnern getötet. Die Dokumentation beschreibt jeden einzelnen Fall. Sie diskutieren auch, was sich präventiv und interventiv tun ließe, nicht zuletzt, wenn Frauen aus ihrem Zuhause flüchten. Ein Dilemma besteht darin, dass die flüchtende Frau in einem Frauenhaus – sofern sie dort einen Platz findet – ihr eigenes Leben völlig neugestalten muss, während der sie bedrohende Partner sein Leben weitestgehend so weiterführen kann wie bisher. Für ihre Arbeit erhielten die vier Journalistinnen den Reporter:innenpreis 2025. Zum Thema lesenswert ist auch der Beitrag der Anwältin Asha Hedayati vom 25. November 2025 auf der Seite des Gunda Werner Instituts: „Sicherheit beginnt vor dem Gesetz“: „Unsicherheit entsteht dort, wo Neutralität die Täter schützt – und nicht die Betroffenen.“ Dies betrifft nicht zuletzt Familiengerichte, die bei Fragen des Umgangs- und Sorgerechts oft blind dafür sind, was es heißt, ein Kind einem gewalttätigen Vater auszuliefern. Es geht nicht nur um öffentlichen Raum, sondern auch um das Zuhause als dem Ort, an dem am häufigsten Gewalt gegen Frauen (und Kinder) geschieht.
- Femizide – Dunkelfeldstudie: Datenlage und Forschungslage sind lückenhaft. Katharina Roche und Samira Joy Frauwallner haben die Ergebnisse ihrer Recherche am 25. November 2025 auf der Plattform CORRECTIV veröffentlicht. Für die Dunkelfeldstudie LeSuBiA („Lebenssituation, Sicherheit und Belastung im Alltag“) haben Sozialwissenschaftler:innen von Juli 2023 bis Januar 2025 rund 15.000 Interviews durchgeführt. Anfang 2026 sollen die Ergebnisse vorgelegt werden. Ein Ergebnis wurde bereits mitgeteilt: Das Bundeskriminalamt geht von einer sehr hohen Dunkelziffer aus, weil nur wenige Fälle zur Anzeige gebracht würden. Roche und Frauwallner zitieren die bundesweite Frauenhaus-Statistik 2024, die festhält, dass im Jahr 2024 etwa 13.700 Frauen und 15.300 Kinder Schutz in einem der zurzeit bestehenden 400 Frauenhäuser gesucht haben. In einer weiteren Studie im „gaben die befragten Frauenhäuser für das Jahr 2022 an, dass sie 10.114 Frauen mit Kindern und 6.268 Frauen ohne Kinder aufgrund von Platzmangel abweisen mussten.“
- Femizide – Maßnahmen in Italien, Spanien, Deutschland: Das italienische Parlament hat beschlossen, einen eigenen Tatbestand des Femizids im Strafgesetzbuch einzufügen. Darüber hinaus wurde beschlossen, die Mittel für Frauenhäuser zu erhöhen. In Spanien gibt es inzwischen eigene Gerichte für Fälle der Gewalt gegen Frauen. Und in Deutschland? Müşerref Tanrıverdi, Leiterin der Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt des Deutschen Instituts für Menschenrechte, weist darauf hin, dass nur 14 Prozent der Schutzhäuser und nur knapp sieben Prozent der Beratungsstellen finanziell dauerhaft abgesichert gewesen seien. Erste Verbesserungen brachte das Gewalthilfegesetz, das der alte Bundestag kurz vor seiner Auflösung mit großer Mehrheit beschloss. Die SPD fordert einen eigenen Straftatbestand, allerdings halten sich Innenministerium und CDU/CSU mit einer abschließenden Stellungnahme noch zurück. Umso wichtiger ist eine öffentliche Debatte über die für Anfang 2026 angekündigte Dunkelfeldstudie.
- Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE): Grundlage einer Bildung für nachhaltige Entwicklung ist das Kapitel 36 der 1992 beschlossenen Agenda 21. In der Folgezeit wurde die Umsetzung konkretisiert, nicht zuletzt mit den 2015 von den Vereinten Nationen beschlossenen 17 „Sustainable Development Goals“ (SDG). In Deutschland arbeiten das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und die Kultusministerkonferenz (KMK) eng an einer Umsetzung im Bildungsbereich. Das BMZ hat den Bundesländern sogar angeboten, zusätzliches Personal für diesen Bereich zu finanzieren. Einigen Ländern haben dies genutzt. Die Begleitung erfolgt über Engagement Global in Bonn. Ein gemeinsam beschlossener Orientierungsrahmen enthält Hintergrundinformationen zu den SDG’s, fachspezifische sowie fächerübergreifende und -verbindende theoretische Grundlagen und konkrete Umsetzungsbeispiele, die in Lehrerbildung und Unterricht genutzt werden können. Im Herbst 2025 wurde der Orientierungsrahmen für die gymnasiale Oberstufe veröffentlicht. Dieser schließt an die bereits 2007 und 2016 veröffentlichten Vorläufer an. Am 13. Juni 2024 hat die KMK darüber hinaus Empfehlungen zur BNE Beteiligt hatten sich das BMZ, das Bundesbildungsministerium und die Deutsche UNESCO-Kommission.
- Inklusion in der Literatur: Die Literaturwissenschaftlerin Martina Süess fragt in einem ihrer Projekte danach, „mit welchen narrativen und stilistischen Mitteln Eltern schwerbehinderter Kinder ihre Erfahrungen und ihr Wissen literarisch verarbeiten und zugänglich machen“. Ergebnisse hat sie in einem Beitrag in dem Internetportal „Geschichte der Gegenwart“ vorgestellt: „Behinderung als ‚Bereicherung‘ für alle?“ Sie kritisiert die in der Frage enthaltene Vermutung (die in ähnlicher Form auch in Bezug auf ein- und zugewanderte Menschen, auf verschiedene Minderheiten in diversen Mehrheitsgesellschaften formuliert wird): Denn „die Aussage ist nicht nur falsch, sondern hochproblematisch. Sie gründet nämlich ebenfalls auf einem im Kern ableistischen Denken, bei dem Menschen mit Behinderungen nur in Bezug auf die Vorteile für die Nichtbehinderten und nicht in Bezug auf ihre eigenen Rechte und Ansprüche betrachtet werden.“ Die Frage lautet, ob das in der These von der „Bereicherung“ enthaltene Versprechen überhaupt eingelöst werden kann. Ständig drohen Widerstände gegen die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, wie wir sie in den deutschsprachigen Ländern erleben. Die US-amerikanische Schriftstellerin Flannery O’Connor (1925-1964) hat sich in ihren Erzählungen diese Problematik literarisch gestaltet. Eine Auswahl ist unter dem Titel „Keiner Menschenseele kann man noch trauen“ (Arche Verlag, 2018) lieferbar. Martina Süess stellt mehrere der Erzählungen vor: „Sie weisen darauf hin, dass selten wirklich ‚alle‘ von einer erhofften Bereicherung profitieren – und dass gerade das oberflächliche Interesse, die Fetischisierung, die scheinbare Faszination für Menschen mit Behinderungen häufig eine besondere Gefahr darstellen: Sei es, weil eine Form von (symbolischer und materieller) Ausbeutung stattfindet, oder weil die Betroffenen als ‚Inspiration-Porn‘ missbraucht werden.“ Es geht letztlich auch hier um die Schaffung von Strukturen, in denen die Teilhabe behinderter Menschen möglich ist, um in unserer Gesellschaft ihr Recht wahrnehmen zu können, „dabei zu sein, mitzuwirken und zu lernen, ihren Platz innerhalb der Gesellschaft zu finden.“ Als Subjekte, nicht als Objekt einer patriar- oder matriarchalischen Politik, die eben regelmäßig diskriminiert!
- Alternative für Russland: Zurzeit wird aufgrund eines Hinweises des Thüringischen Innenministers Georg Maier (SPD) diskutiert, ob die AfD Kleine Anfragen in Bundestag und Landtagen dazu verwendet, um Informationen über die kritische Infrastruktur herauszubekommen, die dann von Russland verwendet werden könnten. Dies war am 5. November 2025 Thema einer Aktuellen Studie im Bundestag. Über die Russlandbeziehungen und -sympathien der AfD hatte CORRECTIV schon vor etwa zwei Jahren recherchiert. CORRECTIV weist darauf hin, dass die Russlandnähe der AfD möglicherweise auch in einem Verbotsverfahren gemäß Art. 21 GG relevant sein könnte. Beim Verbot der KPD war die Nähe zur Sowjetunion 1956 einer der Gründe.
- Zukunft für Syrien: Am 8. Dezember 2024 verließ der Diktator Bashar Al-Assad Syrien nach Moskau, wo er nach wie vor lebt. Thomas von der Osten-Sacken konstatiert am 22. November 2025 auf der Plattform mena-watch: „Europa hat von seinen Fehlern in Syrien nichts gelernt.“ Die Krisen im Sudan und in Mali belegten dies. Man könne auch noch nicht davon reden, dass in Syrien „ein stabiler Frieden herrscht“. Die Regierung kontrolliert nur Teile des Landes. Die deutschen Regeln verhindern, dass Syrer:innen aus Deutschland zu Erkundungsreisen oder zu temporärer Hilfe nach Syrien reisen könnten. Sie hätten nur die Wahl zwischen dauerhafter und endgültiger Rückkehr und dem Verbleiben in Deutschland. Das größte Versäumnis der westlichen Welt sei die trotz Obamas Ankündigung ausgebliebene Reaktion auf den Giftgasangriff Assads auf die eigene Bevölkerung im Jahr 2013 gewesen. Sinnvoll wären – so Thomas von der Osten-Sacken – eine Art Marshall-Plan für Syrien, die Stärkung der Zivilgesellschaft und die „Unterstützung föderaler Modelle, die den Bedürfnissen von Kurden, Drusen, Sunniten und Alawiten Rechnung tragen.“ Inzwischen liegen Fotografien und Dokumente vor, die detailliert belegen, wie das Assad-Regime folterte und mordete. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 4. Dezember 2025. Die Bundesanwaltschaft prüft, ob sie diese Fotos und Dokumente – wie auch bereits vorliegende in der Vergangenheit – in Gerichtsverfahren gegen Angehörige des gestürzten syrischen Regimes nutzen kann.
- Rückkehr nach Syrien? In der Dezemberausgabe 2025 der Blätter für deutsche und internationale Politik befasst sich Kristin Helberg mit der Zukunft syrischer Geflüchteter: „Win-win statt one-way“. Die „patriotische Pflicht“ zur Rückkehr, die Jens Spahn nach Deutschland zugewanderten Menschen aus Syrien nahelegte, die Stadtbild-Äußerung des Bundeskanzlers wirken ebenso unangebracht wie die gängige Praxis der Integration, insbesondere aufgrund der „hohen Hürden des deutschen Arbeitsmarktes“: „Aber statt syrische Mathe- oder Englischlehrerinnen ins hiesige Schulsystem zu integrieren, wo sie Schüler:innen mit Arabisch als Herkunftssprache besonders gut helfen könnten, besteht man darauf, dass sie zunächst ein zweites Fach studieren – in Zeiten von tausenden unbesetzten Lehrerstellen ein echtes Eigentor.“ Fakt ist, dass die Beschäftigungsquote der Syrer:innen, denen es gelingt, einen Arbeitsplatz zu erhalten, sich der der deutschen Bürger:innen angleicht. Sie zahlen Steuern, Versicherungsbeiträge, werden eingebürgert. „Wer als Syrer die Chance bekommt, Deutsch zu lernen und sich weiterzubilden, arbeitet am Ende nicht nur wie die Deutschen, sondern wird auch deutsch.“ Auf die Frage, wo schulpflichtige Kinder im zerstörten Syrien in die Schule gehen können, haben diejenigen, die ihre sofortige Rückkehr propagieren, keine Antwort. Kristin Helberg verweist auf die Antworten von Syrer:innen auf die Frage, was ihnen helfen würde: „Direktflüge nach Damaskus, Aleppo und Qamishli, die Möglichkeit von Geldüberweisungen auf syrische Bankkonten, deutsche Schulen für ihre bislang auf Deutsch lernenden Kinder und flexiblere Aufenthaltsregelungen, die all jenen, die einen befristeten Schutzstatus haben und keine Sozialleistungen beziehen, zunächst ein Pendeln ermöglichen würden.“ (Post Scriptum: all dies gilt in leicht abgewandelter Form auch für geflüchtete Menschen aus der Ukraine und aus manch anderem Land.)
- Slowakei: Martina Winkler hat im Demokratischen Salon das Vorgehen Robert Ficos bei den jüngsten Verfassungsänderungen in der Slowakei als „Drehbuch zur Demontage der Demokratie“ Die EU-Kommission hat Mitte November gegen die Slowakei wegen dieser Verfassungsänderungen ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Die Slowakei hat zwei Monate Zeit sich zu äußern.
- Ein georgisches Jahr: Eine Chronologie von 365 Tagen ununterbrochener Proteste seit November 2024 auf der Rustaveli, der ständig wachsenden Repression von Seiten des georgischen Staates und der Polizei, der immer härteren Urteile gegen Demonstrierende hat die Plattform oc-media zusammengestellt. Demonstriert wird jeden Tag gegen die wachsende Repression und für ein demokratisches Georgien in einem demokratischen Europa. Die Chronologie enthält neben Beschreibungen der Ereignisse und der Würdigung der demonstrierenden Menschen zahlreiche Fotografien, die einen Eindruck wiedergeben, welcher Mut dazu gehört, sich der staatlichen Repression zum Trotz für die Demokratie und für Europa zu engagieren. Die Plattform oc-media bietet eine Fülle weiterer Informationen, Reportagen und Hintergrundberichte zu Entwicklungen in der Kaukasusregion.
- Hamas-Terror in Deutschland: Auf der Plattform mena-watch berichtete Michaela Dudley am 18. November 2025 über einen „Mordversuch gegen Hamas-Kritiker“ in Berlin. Es geschah am Freitag, dem 15. November 2025 in einer U-Bahn-Station in Berlin-Neukölln. Ein mit einer roten Kufiya bekleideter Mann versuchte Hudhaifa al-Mashhadani, Rektor der Deutsch-Arabischen Sprachschule Ibn Khaldun und Generalsekretär des Deutsch-Arabischen Rates, vor einen einfahrenden Zug zu stoßen: „Dass die Kufiya des Tatverdächtigen rot und nicht schwarz gewesen sei, ist insofern interessant, als das ikonische schwarz-weiße Muster weltweit als Symbol palästinensischer Identität fungiert, die rote hingegen, auch Shemagh genannt, traditionell eher von Beduinen und Haschimiten sowie in den Golf-Staaten getragen wird. (…) Auch Linke mit ‚europäischem Aussehen‘ bzw. westliche Anhänger der propalästinensischen Bewegung bedienen sich ostentativ der roten Kufiyas als einer gewollten politischen Aussage, ist die rote Farbe des Tuchs im Kontext mit der palästinensischen Causa doch mit einer Dringlichkeit und dem Ausdruck eines höheren Grads an revolutionärem Geist verbunden.“ Bereits mehrfach wurden nach dem 7. Oktober 2023 Hamas-Mitglieder in Berlin festgenommen. Michaela Dudley weist darauf hin, dass Menschen, die sich öffentlich für Israel und gegen die Hamas und vergleichbare Gruppierungen aussprechen, inzwischen nicht mehr ohne Polizeischutz auskommen. Hinzu kommt, dass aus der linken, vermeintlich migrantenfreundlichen Szene der Hinweis auf islamistischen Antisemitismus als Rassismus markiert wird. „Während sich die Free-Palestine-Bewegung als Opfer angeblicher Polizeigewalt inszeniert und linke Leitmedien gefühlt bei jeglicher kritischen Nachfrage routiniert das Alarmwort ‚Islamophobie‘ ausspielen, wächst ein Klima, in dem nicht die Gefährder, sondern die Gefahrenmelder in die Defensive geraten.“ (Links im Zitat von mena-watch)
- Rechtsextremistische Übergriffe in Gedenkstätten: Ist es einfach nur Provokation oder steckt eine gefestigte rechtsextremistische Einstellung dahinter, wenn Schüler:innen in einer KZ-Gedenkstätte den Kolleg:innen der Gedenkstätte demonstrativ den Rücken zukehren, die NS-Verbrechen bewusst bezweifeln oder gar mit rechtsextremen Pöbeleien oder entsprechender Kleidung oder dem Hinterlassen von entsprechenden Stickern bis hin zu Hitlergrüßen auffallen? Matias Kamp veröffentlichte in der Süddeutschen Zeitung eine Reportage über die zunehmenden Provokationen von Schüler:innen beim Besuch von KZ-Gedenkstätten, beispielsweise in Buchenwald und Sachsenhausen. Er sprach mit Jens-Christian Wagner, dem Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora: „Neben der Respektlosigkeit nimmt auch die Sympathie für rechte Ideologien zu.“ Eine bundesweite Erfassung solcher Vorfälle gibt es nicht, ebenso wenig einheitliche Kriterien, was als „Vorfall“ zu zählen sei, aber durchaus Hinweise aus einzelnen Gedenkstätten. „In der Gedenkstätte Sachsenhausen ist in den vergangenen zwei Jahren die Anzahl der Vorfälle von 14 im Jahr 2022 auf 31 im Jahr 2023 und 52 im Jahr 2024 gestiegen – mitgerechnet werden auch Pöbeleien im Netz und Schmierereien in der direkten Umgebung.“ Solche Zwischenfälle sind vor allem bei Schulklassen aus dem ländlichen Raum aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen festzustellen. Die Lehrkräfte wirken mitunter hilflos, manche ziehen sich ins Café zurück und überlassen den Mitarbeiter:innen der Gedenkstätte die Aufsicht. Dennoch gebe es auch Schüler:innen, die sich respektvoll verhalten, aber selbstverständlich ist dies offensichtlich nicht (mehr).
- Neues Angebot der Stiftung Topographie des Terrors: In Kooperation mit dem Verein berlinHistory e. V. präsentiert die Stiftung Topographie des Terrors ein neues digitales Angebot: Die BerlinHistory-App wurde um den Themenbereich „Zentrale Haftorte der Gestapo in und um Berlin 1933–1945“ ergänzt. Claudia Steur, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung, hat 18 zentrale Haftstätten der Geheimen Staatspolizei dokumentiert. Die Haftanstalten befanden sich ganz oder teilweise in der Zuständigkeit der Gestapo, was dieser die uneingeschränkte Kontroll- und Verfügungsgewalt über die dort Inhaftierten sicherte. Einige dieser Orte befanden sich mitten in belebten Wohngebieten – etwa die Frauengefängnisse in der Kantstraße und der Barnimstraße. Zu jedem der 18 Orte erhalten Nutzer:innen Informationen zur Geschichte und Nutzung der jeweiligen Haftanstalt sowie zu den ehemaligen Insassen. Historische Fotografien, Grundrisse und Lagepläne veranschaulichen die Darstellung. Ausgewählte Täter- und Häftlingsbiografien sowie weiterführende Literaturhinweise ergänzen die Präsentation. Nach den Gestapo-Haftorten erarbeitet die Stiftung Topographie des Terrors für die BerlinHistory-App derzeit einen weiteren Themenbereich „Haftorte der SA in Berlin 1933–1934“. Die Veröffentlichung ist für 2026 geplant. (Quelle: Pressemitteilung der Stiftung Topographie des Terrors vom 6. November 2025.)
- Übersehene Ukraine: Das neue Buch von Martin Schulze Wessel trägt den Titel „Die übersehene Nation“. Erschienen ist es bei C.H. Beck. Der Münchner Osteuropahistoriker referiert faktenreich und bestens belegt die unterschiedlichen Sichtweisen deutscher Politik in den vergangenen 150 Jahren zur Ukraine. Fatal ist die Fixierung auf Russland. Die Ukraine hingegen spielte nur dann eine Rolle, wenn sich ukrainische Politiker:innen und Freiheitskämpfer:innen für deutsche Zwecke instrumentalisieren ließen. Höchst treffend beschreibt Martin Schulze Wessel den fatalen Einfluss des Bestsellers „Die Schlafwandler“ von Christopher Clark auf Angela Merkel. Dieses Buch bekräftigte nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im Jahr 2014 eine Politik der „Deeskalation“. Verhindert werden sollte ein weiteres Hineinschlittern in einen Krieg wie im Jahr 1914. Es wäre hilfreicher gewesen, sich auf das Jahr 1938 und das Münchner Abkommen zu beziehen, mit dem die Westmächte Großbritannien und Frankreich Hitler die Macht über Teile der damaligen Tschechoslowakei zusprachen. Anschließend besetzte Hitler die verbleibenden Teile Tschechiens, schloss mit Stalin einen Pakt, der ihm den Einfluss über Ost-Polen garantierte und überfiel schließlich Polen. Schulze Wessel begründet, dass ein „Containment“ 2014 die bessere Strategie gewesen wäre. Wolfgang Schäuble habe dies bereits 2014 thematisiert. Auch heute noch argumentieren westliche Politiker:innen, sie könnten bei Erfüllung bestimmter Forderungen Putins weitere Aggressionen verhindern. Martin Schulze Wessel sprach am 10. November 2025 mit Moritz Baumstieger und Jens-Christian Rabe für die Süddeutsche Zeitung über die Thesen seines Buches. Auch Putin müsste eigentlich merken, welchen Fehleinschätzungen er erlegen ist: „Er hat nicht gemerkt, dass die Ukraine inzwischen zu einer politischen Nation geworden war, in der unabhängig von regionalen und sprachlichen Unterschieden ein Konsens in Bezug auf die Eigenstaatlichkeit herrscht. Diese Ukraine heute ist politisch geeinter, als sie es bei ihrer Entstehung war. Und eine völlig andere, als sie in sowjetischer Zeit war.“ Sein Geschichtsbild ist aber offenbar zu fest gefügt, um dieser Einsicht Taten folgen zu lassen. Daher sei es erforderlich, „die Ukraine finanziell und durch Waffenlieferungen so zu unterstützen, dass sie Russlands Vormarsch stoppen kann.“ Nur wenn Putin eines Tages merken sollte, dass er mehr verliert als gewinnt, ist eine Lösung absehbar.
- Putins Mission: Putin hat in seinen Reden und Aufsätzen immer wieder betont, dass er in seinem Vorgehen eine historische Mission sieht, die er – je nach Bedarf – auch quasi-religiös begründet. Die beiden Osteuropahistorikerinnen Botakoz Kassymbekova (Universität Zürich) und Annette Werberger (Viadrina Frankfurt an der Oder) haben in ihrem Essay „Russland führt einen ideologischen Krieg“ (in: Geschichte der Gegenwart) begründet, dass es gefährlich sei, diesen ideologischen Faktor zu übersehen und Putins Russland nur als ideologiefreien Mafia-Staat zu sehen: „Eine Verteidigung des Volkes vor diesen autoritären Zumutungen durch eine wohlmeinende russische ‚Intelligenzija‘ bleibt halbherzig ohne die Analyse nationalistischer Mythen – gerade auch in der Bevölkerung und in der eigenen Zunft. Solange man die russischen Mythen nur als Teil einer vergangenen russischen Ideengeschichte oder als alternatives Wertesystem verharmlost und nicht als politisches Modell der Dominanz wahrnimmt, wird man Russland nicht verstehen. Das ist auch nicht die Absicht der Ideologen. Sie wollen nicht verstanden, sondern gefürchtet und bewundert werden. Wer das tut, hat verloren.“
- Algerien: Ist Algerien ein „sicheres Herkunftsland“? Wer eine Antwort sucht, lese den von der FAZ am 26. Oktober 2025 veröffentlichten Gastbeitrag des in Frankreich lebenden algerischen Schriftstellers Kamel Daoud: „Das vom Rest der Welt abgeschottete Land“. Inhaftierungen von Oppositionellen ohne Gerichtsverhandlung und damit auf unbestimmte Dauer sind an der Tagesordnung, es gibt ein mehr oder weniger offenes Bündnis zwischen Nationalisten und Islamisten: „Der Raï-Sänger Cheb Hindi und die Tiktok-Influencerin Dounia Staïfia wurden der ‚Ausschweifung‘ für schuldig befunden und müssen für viele Jahre ins Gefängnis. Am 16. November 2024 wird der Schriftsteller Boualem Sansal am Flughafen von Algier verhaftet. Aufgrund seiner Aussagen zur Grenze mit Marokko klagt man ihn an, die territoriale Integrität des Landes zu untergraben. Dem achtzigjährigen, an Krebs erkrankten Sansal wird das Recht auf Verteidigung genommen, man macht ihn zu einer politischen Geisel und signalisiert den Islamisten Entgegenkommen, die die fortschrittlichen und universalistischen Eliten bekämpfen.“ Die früher reichhaltige Medienlandschaft wurde gleichgeschaltet, seit Juni 2025 gilt ein „Gesetz der allgemeinen Mobilmachung“. Grundlage sind Verschwörungserzählungen über angebliche Bedrohungen aus allen Himmelsrichtungen, durch „Marokko“, aus dem „Sahel“, durch „Frankreich“ oder durch „Palästina“ (sic!). Eine denkwürdige Rolle spielt eine eigene Interpretation des auf Frantz Fanon zurückgehenden Antikolonialismus: „In ihrem aufgeputschten Hypernationalismus bezeichnen die Islamisten ihren Kampf von nun an als religiösen ‚Gegenkreuzzug‘, richten ihre fremdenfeindliche Rhetorik gegen den französischen Laizismus sowie auf die Infiltration der maghrebinischen Einwanderergemeinschaften in Frankreich und bestehen auf Frankreichs Entschuldigung für die Kolonialisierung. Das alles hilft ihnen, die Erinnerung an den Bürgerkrieg und die von ihnen begangenen Verbrechen auszulöschen.“ Kamel Daoud beschreibt die algerische Geschichte der vergangenen 70 bis 80 Jahre und vergleicht die Situation in Algerien mit der in der DDR der 1980er Jahre. Ob dieser Vergleich trägt, ist schwer zu beurteilen, aber eines dürfte klar sein: Die Menschen, von denen die algerische Regierung und ihre Organe den Eindruck gewinnen, sie äußerten sich gegen sie, müssen damit rechnen, auf unbestimmte Zeit in einem Gefängnis zu verschwinden, es sei denn, es gelänge ihnen ins Ausland zu fliehen. In der ZEIT berichtete Katharina Teutsch Ende Oktober 2025 über ein Treffen mit Kamel Daoud: „Messer an der Kehle“. In dem Gespräch ging es auch um seinen neuen Roman „Huris“ (Prix Goncourt 2024, deutsche Übersetzung 2025 bei Matthes & Seitz), das algerische Trauma aus den 1990er Jahren und die Warnung von Boualem Sansal, nicht nach Algerien zu reisen. Kamel Daoud kritisiert die doppelten Standards westlicher Kritik: „Wenn ein Okzidentaler einen Muslim tötet, dann nennt ihr das einen Krieg, aber wenn ein Orientale einen anderen Orientalen tötet, dann ist euch das egal.“ Immerhin gibt es einen Lichtblick. Am 10. November 2025 wurde Sansal auf Betreiben des deutschen Bundespräsidenten aus dem Gefängnis entlassen.
- Der nördliche Aralsee erholt sich: Der Aralsee war zu 90 Prozent ausgetrocknet. Inzwischen ist jedoch eine Erholung sichtbar. Das Leibniz-Institut für Gewässerökologie (IGB) berichtete: „Um Teile des Sees zu retten, wurde ein Damm gebaut. Dank dieser Maßnahme hat der nördliche Aralsee einen ähnlichen Zustand erreicht wie vor seiner Austrocknung.“ Der Bericht enthält auch Hintergrundinformationen zu Gründen des Austrocknens, Perspektiven einer Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands sowie den durch den Klimawandel drohenden Gefahren. (Hinweis dank Correctiv)
- Demokratischer Salon in der Ukraine: Auf dem Portal Experiment wurden fünf weitere Beiträge aus dem Demokratischen Salon in ukrainischer Sprache veröffentlicht. Die Übersetzer:innen sind Studierende an der Drahomanov-Universität in Kyjiv unter Leitung von Pavlo Shopin. Übersetzt wurden die kurze Geschichte der Science Fiction in der DDR von Karlheinz Steinmüller, der Beitrag von Markus Meckel „Was fehlt dem polnischen Denkmal in Berlin?“, die beiden Texte von Fritz Heidorn zum Gitarrenbau „Zart, leicht und doch unglaublich kraftvoll“ sowie „Eine kurze Geschichte des Gitarrenbaus“ und der Beitrag von Clara Marz über die Ausstellung „Frauen im geteilten Deutschland“.
Der Newsletter des Demokratischen Salons erscheint in der Regel etwa alle acht Wochen. Die nächste Ausgabe erhalten Sie gegen Ende Januar / Anfang Februar 2026. Neue Beiträge werden selbstverständlich wie bisher laufend veröffentlicht.
Es bleibt mir, Ihnen allen frohe, entspannende und motivierende Festtage zu wünschen: Chanukka Sameach und Frohe Weihnachten sowie einen zuversichtlichen Übergang in das Jahr 2026. Ich freue mich, wenn Sie in dieser Zeit vielleicht in diesem Newsletter, den Beiträgen im Demokratischen Salon, den Leseempfehlungen und Hintergrundinformationen oder auch beim Besuch einer der empfohlenen Ausstellungen die ein oder andere neue Perspektive entdecken, die Zukunft unserer Demokratie zu gestalten.
Mit den besten Grüßen verbleibe ich
Ihr Norbert Reichel
P.S.: Sollte jemand an weiteren Sendungen meines Newsletters nicht interessiert sein, bitte Nachricht an info@demokratischer-salon.de. Willkommen sind unter dieser Adresse natürlich auch wertschätzende und / oder kritische Kommentare und / oder sonstige Anregungen.
(Internetzugriffe in diesem Newsletter zuletzt zwischen dem 1. und 9. Dezember 2025.)
