Parallele Welten – synergetisch gebrochen

Thomas Franke, Zeichner, Grafiker, Schauspieler und Regisseur

„Es ergibt sich, dass die Gegenstände der nicht-menschlichen Welt zum Teil als Verkörperungen der menschlichen Welt auftreten. Und hier wird denn die Auflösung der Logik zum System, das – gleichsam als einziges logisches Prinzip – das Werk beherrscht. Da niemand spricht, ist es auch niemals ganz sicher, wessen Traum der Leser nachzuträumen, wessen Visionen und Gedanken er zu verarbeiten hat.“ (Wolfgang Hildesheimer, Übersetzung und Interpretation einer Passage aus „Finnegans Wake“ von James Joyce, in: Wolfgang Hildesheimer, Interpretationen, Frankfurt am Main, edition suhrkamp, 1969)

Als ich das erste Mal Collagen von Thomas Franke sah, dachte ich an Anna Livia Plurabelle, die Hauptperson des achten Kapitels von Finnegan‘s Wake, das Wolfgang Hildesheimer zu übersetzen und zu interpretieren versuchte. Parallele Welten erschienen in jedem Wort. Jedes Wort spiegelte mehrere Welten. Der Katalog, den ich mir anschaute, dokumentiert eine Ausstellung: Im Jahr 2010 präsentierte Thomas Franke den Katalog einer Ausstellung mit dem sprechenden Titel „mundus parallelus“, dessen Untertitel die manche verwirrende, manche jedoch eher orientierende Vielfalt einer Sprache ahnen lässt, die der Wirklichkeit näher zu kommen versucht als es unsere Alltagssprache vermag: „Die Akademie der Wissenschaftler nach der Planetesimalen Phaetonischen Katastrophe“.

Fehlfunktionen der Großen Synsesosischen Zeitmaschine effektieren trotz konservaten Nachdenkens leblose Miniaturisierungen fromagierter Lebewesen auf Vespertischen, zurückschauend Chewbacca. Holzstichcollage 20,4×12,3 cm, 2007.

Der Katalog erschien im Bonner Holos Verlag (einige Exemplare sind noch über den Demokratischen Salon erhältlich). Er enthält „Holzstichcollagen als Ergebnisse parallelweltlicher Beobachtungen“. Ort der Ausstellung war eine Apotheke in Köln-Riehl, in der die Collagen vielleicht als Heilmittel für die im Namen des Helios-Sohnes Phaeton anklingende Katastrophe wirken mochten, eine Katastrophe, der wir uns im Jahre 2022 mit wachsender Geschwindigkeit nähern. Der Mensch scheint sich ungebremst immer weiter an die Sonne heranzubewegen und mit all seiner Technik das Schicksal des Phaeton geradezu herauszufordern.

Wolfgang Jeschke, Schriftsteller, Verlagslektor und Herausgeber von Buchreihen im Heyne Verlag, leitet den Katalog mit einem Hinweis auf Gustav René Hockes berühmtes „Manierismus“-Buch ein, ein „Reiseführer in einen Kontinent, der mich faszinierte und den zu entdecken ich mir vorgenommen hatte“. Auf einen solchen Kontinent verführt Thomas Franke Betrachter*innen wie Leser*innen mit seinen Collagen, die nicht nur im Bild, sondern auch in der Sprache brillieren. Ein Beispiel: „Zeitmaschine: ‚Fehlfunktionen der Großen Synsesosischen Zeitmaschine effektieren trotz konservaten Nachdenkens leblose Miniaturisierungen fromagierter Lebewesen auf Vespertischen, zurückschauend Chewbacca.“

Ich traf Thomas Franke das erste Mal im Mai 2022 im Bonner Restaurant „Schumann‘s“, in dessen Keller das „Theater die Pathologie“ wirkt, das im Leben von Thomas Franke eine Rolle spielt. In unseren Gesprächen durfte ich mich immer tiefer in die Welt eines Menschen hineinwagen, der Welten miteinander zu verbinden und gleichzeitig wieder zu dekonstruieren vermag. Bei ihm verbinden sich Max Ernst, Goya, Hieronymus Bosch mit Stargate, Star Wars, dem Marvel-Universum und dennoch entsteht etwas Authentisch-Eigenes, das sich in einem Leben zwischen Ost und West entfaltete. In diesen Rahmen passt vielleicht auch die im Oktober 2022 bei pmachinery erschienene und von Thomas Franke angeregte und von ihm illustrierte neue Ausgabe von Arno Schmidts „Die Gelehrtenrepublik“.

Kulturassoziativität

Norbert Reichel: In dem schönen Katalog zur Ausstellung „mundus paralellus“ haben Sie in Ihrem Selbstportrait Ihre Geburt beschrieben, die sich wohl kurz vor Mitternacht, in jener Zwischenwelt zwischen Werktagen und Sonntag, ereignete: „Am 15. Mai 1954 zwang mich ein namenlos gebliebener Gynäkologistiker mittels hinterhältiger Manipulationstechniken mit einer Geburtszangenmaschine in einem Köthener – heute wieder vorübergehend in Sachsen-Anhalt gelegen, damals im Bezirk Halle – staatlichen, da es zu DDR-Zeiten geschah, damals vermutlich schmutzigen, hinterwäldlerischen und unprofessionell verwalteten Krankenhaus ganz offensichtlich gegen meinen Willen ins Leben; – an einem Samstag, zwanzig später verfluchte Minuten, bevor der darauffolgende Sonntag anbrach, wie mir meine Mutter berichtete. Ansonsten wäre ich in den Genuss der Segnungen gekommen, die einem Sonntagskind zustehen.“ Sie haben ein Faible für solche Formulierungen, in denen Sie in einem Satz, oft in einem Wort mehrere Aspekte vereinen, im Grunde ein Markenzeichen guter kreativ-fantastischer oder sollte ich sagen fantasievoll-hintergründiger Literatur. Hatten Sie diese Vorliebe für Elemente fantastischer Literatur schon immer?

Freiräume zur persönlichen Meinungsbildung im Computerstaat, Federzeichnung 15,0×18,9 cm, 1978

Thomas Franke: Nicht so ganz. Noch nicht so ausgeprägt. Anlagen gab es bestimmt, weil ich mich immer für das Fantastische interessiert habe, für Science Fiction, in der Worte geschaffen werden, neue Konstruktionen zusammengesetzt werden. Als ich dann ab 1984 im Westen lebte, habe ich entdeckt, dass die deutsche Sprache, die in der DDR gesprochen wurde, im Vergleich mit der im Westen gesprochenen kulturassoziativ eine ganz andere war. Inzwischen hat sich das angeglichen, aber ich war Ende März in meiner alten Heimat und habe festgestellt, dass sie sich dort immer noch nicht so entwickelt hat, wie man sie hier im Westen spricht. Diese kulturassoziative Unterschiedlichkeit hat sich in meinem Kopf so verquirlt, dass ich angefangen habe, Worte zu zerstören und neu zusammenzusetzen, so etwa wie bei „Gynäkologistiker“, Endungen bei anderen Worten zu stehlen, und sie an andere Wortstämme dranzusetzen. Ich schreibe ja auch Gedichte in diesem Stil.

Norbert Reichel: Wo ist aus Ihrer Sicht der Unterschied zwischen der Sprache in der DDR und in der BRD?

Thomas Franke: Das ist das Kulturassoziative. Man hat hier eine andere Kulturentwicklung gehabt als in der DDR. Nehmen wir mal – das ist etwas was mir anfangs am meisten auffiel – das Wort „Restaurant“. Wir hatten natürlich auch in der DDR von „Restaurants“ gesprochen, aber für uns war das etwas wo man einfach so hinging, wenn man unterwegs war. Oder gebratene Hähnchen, „Broiler“ hieß das, fand man überall, „Broiler“ halt, ein gebratenes Ding. Wir hatten keine unterschiedlichen Restaurants, russische Restaurants vielleicht, aber darüber hat man nicht geredet. Es hieß nicht „russisches Restaurant“ oder wir gehen jetzt „zum Russen“. Als ich dann in den Westen kam, sagte jemand zu mir, lass uns doch ins Restaurant gehen. Und ich sagte, nöö, das können wir auch hier kochen. Da meinte er nein, nein, nein, warst du schon beim Griechen oder magst du asiatisch? Diese Unterscheidungen der Restaurants kannte ich nicht.

Mutter Hudson selbdritt mit eine von ihre Kadsen, in der ausschauerlichen Geduld einer Kobra sich übend, im malodesten Bestiarium des Patamystikologen Dr. Kalle G. Aari. Holzstichcollage 31,1×21,9 cm, 2014.,

Ich habe da schon begriffen, dass diese Kulturassoziativität, die sich dahinter verbarg, eine andere war als die, die wir in der DDR lebten. Als Schauspieler war ich immer sensibel für Sprachdinge, dass sich hinter den gleichen Worten verschiedene kulturelle Verständnisse verbergen. Das hat mich dazu gebracht, erst einmal ein halbes Jahr nach meinem Wechsel aus der DDR in den Westen Deutschlands zu schweigen, eigentlich mit niemandem mehr zu reden außer mit meiner damaligen Frau. Nach einem halben Jahr habe ich damit angefangen, dass ich mir ein Wortgedussel gebaut habe, teilweise Englisch sprach, so ein verballhorntes Englisch, so ein Pidgin-Englisch, teilweise Russisch, teilweise Polnisch, alle Sprachen, die ich konnte.

Norbert Reichel: Sie waren multilingual.

Thomas Franke: Ja, da war auch ein bisschen Deutsch dabei. Aber mich hätte außer meiner Frau niemand verstanden, die das schon ein bisschen gewohnt war.

Norbert Reichel: So eine Art Privatsprache?

Thomas Franke: So eine Art Privatsprache, aber in den vier Sprachen, in denen ich mich auskannte.

Norbert Reichel: So eine multilinguale Privatsprache.

Thomas Franke (kichert diebisch): Und die ich dann später mit den Frauen, mit denen ich zusammen war, auch benutzt habe.

Astronomie und Musik

Norbert Reichel: Sie haben etwa 30 Jahre in der DDR gelebt. Sie waren Schüler, sie wollten studieren, sie wollten Astronaut werden.

Thomas Franke: Astronom!

Norbert Reichel: Da habe ich mir was falsch aufgeschrieben. Vielleicht auch etwas Kulturassoziatives.

Thomas Franke: Heute wollen vielleicht alle Astronaut werden, damals Astronom.

Norbert Reichel: Astronomie war in der DDR ja auch Schulfach. Eine Perle des DDR-Bildungssystems.

Thomas Franke: Dieses Fach war sogar Pflicht. War halt sehr allgemeinbildend, selbst noch in der Abiturstufe. Wir hatten Bildende Kunst, Zeichnen, Musik, Astronomie. Ich hatte Naturwissenschaften als hauptsächliche Gewichtung, dazu gehörte Astronomie. Ich wollte Astronom werden und dazu musste man Festkörperphysik studieren. Damals war‘s halt so. Ich bin leider nicht genommen worden. Mir wurde dann auch klar, man braucht halt nicht so viele Astronomen. Meine Euphorie für diesen Beruf, … das hat halt niemanden interessiert außer mir und meinen Eltern.

Orpheus ruht sich aus, Bleistiftzeichnung 10,9×8,3 cm, 1982.

Als Kind habe ich mich in der DDR sehr wohlgefühlt. Das ist halt diese Aufbruchszeit gewesen, in den 1950er Jahren, Anfang der 1960er Jahre. Meine Eltern waren beide Lehrer, mein Vater war damals der Leiter eines sogenannten Pionierhauses. Das war ein Haus, wo junge Leute zusammengekommen sind, um Kultur zu machen und wo sie natürlich auch politisch gebildet wurden. Das gehörte immer dazu. Aber mein Vater war ein sehr offener Mensch und hat sich mehr für die Menschen interessiert als für die Politik, obwohl meine Eltern beide zu den Gründungsmitgliedern der SED gehörten, – was ich auch verstehe und was ich auch heute noch vertreten kann. Meine Mutter war die Tochter eines Tagelöhners und hatte durch das Entstehen der DDR die Möglichkeit zu studieren. Darauf hat sie immer viel Wert gelegt. Sie hatte Pädagogik in der Hochschule in Köthen studiert. Mein Vater war der Sohn eines Tischlers. Er hatte ab Mitte der 1930er Jahre eine Tischlerausbildung gemacht, dann aber im Krieg eine fürchterliche Verwundung am Arm erlitten, sodass er nur noch eingeschränkt als Tischler arbeiten konnte. So wurde er in der DDR Kulturhausleiter. Er konnte ein paar Musikinstrumente spielen. Das hat sehr auf mich abgefärbt. Ich habe auch einige Instrumente gelernt.

Norbert Reichel: Welche?

Thomas Franke: Zuerst das, was wohl alle lernen: Flöte. Mein Vater hat Schlagzeug und Akkordeon gespielt. Schlagzeug habe ich gelernt, hat mich aber nicht so sehr interessiert, Akkordeon gar nicht. Das war auch die Zeit, Anfang der 1960er Jahre, als die Rock-Musik aufkam. Ich habe angefangen, Klavier zu spielen, worüber meine Eltern sehr glücklich waren. Ich muss das auch sehr gut gemacht haben. Es hat mich dann aber plötzlich nicht mehr so interessiert, Bach, Beethoven, Mozart zu klimpern. Ich galt wohl als Hoffnung, aber mich hat plötzlich der Boogie-Woogie interessiert. Den habe ich dann auf dem Klavier gespielt und alle sind zusammengezuckt. (lacht)

Wir kriegten natürlich West-Radio. Da kamen die Beatles und die Rolling Stones … und dann war Schluss; ich habe das Klavier zugeklappt und in den Sommerferien gearbeitet, in einem Kaufhaus in Köthen, habe Geld verdient und mir eine Gitarre gekauft. Mein Vater war natürlich sofort begeistert, er sagte, er kenne da jemanden, der könnte mich das lehren. Der war aber Lautenlehrer. Eine Laute hat sieben Saiten, eine Gitarre sechs. Der hat die Akkorde schnell umgebaut, denn ich wollte ja nicht Laute, sondern Gitarre lernen. Und wieder war ich bei Bach, bei Mozart. Das wollte ich aber nicht, ich wollte eine ganz andere Musik machen. Ich war so etwa 15, 16 und habe festgestellt, dass ich den Blues im Blut habe. Also habe ich Bluesmusik, Bluesrock, in verschiedenen Bands gespielt und auch verschiedene Bands gegründet. Meine Haare waren ellbogenlang, der Bart wuchs bis zum Bauchnabel. Ich sah aus – bevor ich sie kannte – wie einer von ZZ Top. Ja, ich hatte auch mal Haare …

Norbert Reichel: Das geht uns älteren Männern allen so mit den Haaren, die werden eben weniger. (beide amüsieren sich über schwindende Haare)     

Thomas Franke: Meine Ausbildung – das ist alles eigentlich sehr flüssig abgelaufen. Das einzige Problem war, dass ich mich immer schon sehr kritisch geäußert habe, schon im Alter von 11 Jahren. Aber was ist schon nicht politisch in dieser Welt.

Norbert Reichel: 1965 – das Jahr des sogenannten „Kahlschlagplenums“.

Twiedeldie und Twiedeldumm diskutieren angesichts eines vorüber fliegenden sauren Herings das vielosofische Thema, ob Fische entgegen den naturgesetzlichen Einschränkungen tatsächlich über gewisse Flugfähigkeiten verfügen: „Fische gehören ins Aquarium“, sagt Twiedeldie, „du bist doch twiedeldumm!“ (Hommage an die Thomas Franke seelenverwandten Künschteler James Ensor (verstorben 1949) und José Hernández (verstorben 2013), Holzstichcollage, 22,8×27,8 cm, 2016.

Thomas Franke: Ich habe mich halt in der Schule – ich war in der fünften Klasse – mit einem Artikel beschwert, dass immer nur über Sport berichtet wurde und nicht über Kultur, den ich konspirativ an die Wandzeitung heftete. Da ist die Stasi auf mich aufmerksam geworden, aber das habe ich erst später festgestellt und nicht ernst genommen. Von da an bin ich beobachtet worden.

Bildungsbürger in der DDR

Norbert Reichel: Jedes Mal, wenn ich mir im ZDF die Nachrichten ansehe, sehe ich jemanden, der exklusiv über den Sport berichtet. Da sage ich mir jedes Mal: verdammt noch mal, warum immer der Sport und nicht die Kultur?  

Thomas Franke: Mich hat das als Kind schon aufgeregt, jedoch habe ich es damals nicht gemerkt, sondern erst dann, als ich in die Erweiterte Oberschule kam. Ich habe nach der achten Klasse die Schule gewechselt, weil mein Bildungsziel ja das Abitur war. Wir hatten in der DDR die Polytechnische Oberschule, die ging für mich bis zur achten, für die anderen bis zur zehnten Klasse. Dann haben die ihren Abschluss gemacht. Ich aber ging nach der achten Klasse in die Kreisstadt Köthen, wo ich an der EOS (Erweiterte Oberschule) mit neuen Mitschülern und Mitschülerinnen unterrichtet wurde. Dort war auch die gesamte Unterrichtsstruktur eine andere. Die waren intelligenter als die auf der Dorfschule.

Ich will niemanden diskreditieren. Ich habe auch auf dem Dorf Spaß gehabt. Ich war immer der Indianerhäuptling und habe die anderen in den Tod geschickt.

An der Erweiterten Oberschule war vieles anders. Ich habe Leute um mich gehabt, mit denen wir uns auch mehr für die kulturellen Dinge interessierten. Ich war in einer Klasse, in der ich verstärkt Russischunterricht hatte, auch Englisch – das war Pflicht – Naturwissenschaften, der Schwerpunkt lag bei Physik und das war ja auch mein Ziel. Ich hätte die EOS nach der zehnten Klasse verlassen, eine Prüfung für die Mittlere Reife machen können, habe mich aber entschieden, in die 11. und 12. Klasse weiterzugehen und habe dann nach der 12. das Abitur gemacht, allgemeinbildend, mit Astronomie.

In der 12. Klasse mussten wir uns an den verschiedenen Universitäten, wo wir studieren wollten bewerben. Ich bewarb mich halt für Festkörperphysik, ich weiß gar nicht mehr wo. Es ging auch bloß diese eine Bewerbung raus und dann kamen Leute, die auf die einredeten, die nicht an den Universitäten genommen worden waren, wo sie sich beworben hatten: dann werden Sie doch dieses oder jenes. Einige nahmen dann eine Fachschulausbildung auf statt eines Studiums an einer Universität. Mir haben sie eingeredet, werden sie doch Lehrer wie ihre Eltern. Mein Vater war über ein Fernstudium inzwischen auch Lehrer geworden und unterrichtete in demselben Dorf, in dem auch meine Mutter lehrte. Ich wurde also umgelenkt auf ein Lehrerstudium in Mathematik und Physik und sollte das in Halle an der Pädagogischen Hochschule studieren.

Ich fuhr dort jeden Tag nach meiner Armeezeit an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein vorbei. Damals lebte ich schon mit meiner ersten Frau zusammen. Sie sagte, ich kann dich nicht mehr jammern hören, steig doch aus, geh da rein, bewirb dich doch einfach mal. Ich bin also eines Tages auf dem Weg zur Pädagogischen Hochschule aus der Straßenbahn ausgestiegen, rein in die Burg Giebichenstein, in das Sekretariat, und ich habe gefragt: brauchen Sie nicht noch einen Kunststudenten? Das habe ich wirklich so gefragt. Die Sekretärinnen lachten, haben mir dann aber Unterlagen mitgegeben, weil die Bewerbungsfrist eine Woche später ablief. Ich musste alles ausfüllen und wurde wirklich eingeladen zu einer Eignungsprüfung mit zuerst einmal 1.499 anderen Leuten! Die dauerte drei Tage und sie war nicht die einzige. Insgesamt hatten sich 3.000 Leute beworben, und ich bin genommen worden. Insgesamt haben sie 30 Leute genommen. Die waren verteilt auf die Sparten Malerei und Grafik, Bildhauerei, was gabs noch? Töpferei – ich weiß nicht mehr wie man das im Künstlerischen nennt, Keramik?

Ich musste zittern bis zum letzten Moment, denn es gab die Einschränkung Sozialgruppe 5, zu der ich zählte, weil meine Eltern beide Lehrer waren. Wenn einer aus der Sozialgruppe 1, 2, 3, 4 dieselbe Punktzahl wie ich gehabt hätte, wäre der bevorzugt worden. War aber nicht der Fall. Ich habe dann Malerei und Graphik studiert.

Norbert Reichel: So wie ich das verstehe, war das eine Art bildungsbürgerlicher Weg in der DDR, der sich von vergleichbaren Wegen im Westen gar nicht mal so sehr unterschied.

Thomas Franke: Mit dem Unterschied, dass meine Eltern aus der Arbeiter- und Bauernschicht kamen.

Norbert Reichel: Im Westen waren die Aufstiegschancen deutlich schlechter.

Thomas Franke: Ich habe nichts zahlen müssen, ich habe sogar ein Stipendium bekommen.

Grenzgänger

Der Sieger, Bleistiftzeichnung 11,7×8,4 cm, 1982.

Norbert Reichel: Und im Westen ist nicht gleich die Stasi gekommen, wenn Sie Kultur für wichtiger hielten als Sport.

Thomas Franke: Ich weiß gar nicht, wann ich gemerkt habe, dass ich immer auf etwas gedrängelt wurde, was ich eigentlich gar nicht wollte. Das war als ich einen Fachrichtungswechsel machen wollte, als ich von der Pädagogischen Hochschule an die Kunsthochschule wechseln wollte. Das waren ein Hochschulwechsel und ein Fachrichtungswechsel. Ich glaube, ich bin der erste in der DDR gewesen, der es geschafft hat, das durchzusetzen. Aber die Erfahrung muss eine traumatische gewesen sein, weil ich mich nicht mehr gut daran erinnere, wie das abgelaufen ist. Ich weiß bloß noch, dass ich mich irgendwann ganz fürchterlich mit dem Rektor der Pädagogischen Hochschule gezankt habe. Ich weiß gar nicht mehr wie der hieß, er taucht höchstens noch einmal in einem Traum auf. Der wollte mich nicht gehen lassen, denn es war schon abgemachte Sache zwischen Hochschule und Stasi, dass ich als Nachfolger meines Vaters als Leiter dieses Pionierhauses in Köthen eingesetzt werden sollte. Das wurde mir ins Gesicht gesagt und da bin ich völlig ausgerastet, wohl auch handgreiflich geworden.

Norbert Reichel: Keine Konsequenzen?!

Thomas Franke: Nein. Ich durfte mich dann exmatrikulieren. Zwischen der Exmatrikulation und dem Beginn des Studiums an der Kunsthochschule lag noch etwa ein halbes Jahr. Da habe ich gearbeitet. Das war das erste Mal, dass ich gemerkt habe, dass die Stasi versucht hat, in mein Leben einzugreifen.

Norbert Reichel: Ich versuche einmal, die Parallelen Ihres Lebens und der Entwicklung der Kulturpolitik in der DDR zusammenzufassen. Gegen Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre gab es so etwas wie Aufbruchstimmung, parallel zur sogenannten „Tauwetterperiode“ in der Sowjetunion, dann kam 1965 das berüchtigte „Kahlschlagplenum“, wo alles wieder zurückgedreht wurde, beispielsweise ein Film wie „Die Spur der Steine“ auf Jahrzehnte in der Versenkung verschwand. Nur Christa Wolf protestierte. Sie wurden nun 1984 – wie Jutta Reucher und Jutta Baden in dem Katalog schreiben, aus dem wir schon eingangs zitiert haben: „zu Recht aus der DDR hinausgeworfen“. Ihr Kunststudium hatten Sie 1975 aufgenommen, aber Sie waren ja immerhin noch neun weitere Jahre in der DDR.

Thomas Franke: Wie gesagt, ich habe das eine Studium abgeschlossen, dann ein zweites Studium angefangen, nämlich die Ausbildung als Schauspieler in Berlin und in Moskau. In Moskau herrschte damals Aufbruchstimmung. In Polen rebellierte die Solidarność herum, was ich hautnah erlebte, weil meine erste Frau ja Schlesierin war. Sie hatte ihre Familie da. Und in Moskau gab es die ersten Bewegungen des Glasnost. Ich pflegte während des Studiums in Moskau auch Kontakt zu Freunden, die Schriftsteller waren.

Norbert Reichel: Auflösungserscheinungen im Breschnew-Regime?

Thomas Franke: Ja, genau. Und sehr hoffnungsvolle.

(Cherub IV) Gevatter Hein, diskret in eine häusliche Dimension materialisierend, schaut mitleidig dem Treiben und Locken der kindlich luziferischen Mutter Hudson zu und interpretiert die Konstellation mit folgendem Gleichnis: ihre Kadsen schleichen tot auf knochnen Tatzen. Holzstichcollage 11,5×18,7 cm, 2014.

Ich habe mich eigentlich nie eingeschränkt gefühlt in dem, was ich künstlerisch gemacht habe. Wäre ich nicht so scheißkritisch gewesen und hätte nicht immer bloß Freiheiten gefordert – künstlerische, das andere hat mich nicht so kausal interessiert – und wäre nicht eingeschränkt worden von außen, dann wäre vielleicht für mich einiges anders gelaufen. Ich wäre in der DDR vielleicht viel früher künstlerisch wahrgenommen worden. So hat man meine Sachen immer mit Abstand betrachtet. Meine Lehrer standen zu mir, da freue ich mich heute noch drüber, aber sie haben ihre Ansichten nicht durchsetzen können, sodass ich weiterhin observiert wurde.

Norbert Reichel: Aber Sie hatten Ausstellungen in der DDR.

Thomas Franke: Durch die Freunde organisiert. Wissen Sie, ich habe keine Angst gehabt vor der Staatssicherheit, ich hatte nie Angst vor der Staatssicherheit. Ich hatte die interessantesten Diskussionen geführt mit den Leuten, die mich observierten. Man hat mir schließlich auch keine blöden Säcke auf die Fersen geschickt. Das waren schon intelligente Leute.

Norbert Reichel: Was waren denn das für Leute?

Thomas Franke: Das kann ich nicht sagen. Die hatten ja auch keine Klarnamen, sondern irgendwelche ausgedachten Namen. Ich habe mir das nirgendwo notiert. Das war die Voraussetzung, als ich aus der DDR hinausging, dass ich alle Unterlagen, alle Korrespondenzen mit staatlichen und regionalen Institutionen, alles was ich geschrieben hatte, vernichtete. Ich wollte meiner damaligen Frau keine Probleme machen. Wenn ich alleine gewesen wäre, wäre es vielleicht anders gewesen. Ich bin nicht feige. Aber ich hatte eine Frau, die ich sehr liebte, und da dachte ich, das kannst du nicht machen, diese Unterlagen aufzubewahren oder gar mitzunehmen. Und meine Eltern …, sie waren Lehrer.

Ich hatte ja schon relativ früh für Verlage im Westen gearbeitet. Ich habe Ende der 1970er Jahre angefangen, für den Suhrkamp-Verlag zu arbeiten, habe die „Phantastische Bibliothek“ gestaltet, mit 50 Bänden, nicht heimlich, diese Arbeit war staatlich genehmigt. Es gab ein Büro für Urheberrechte, das war in Berlin hinter dem Checkpoint, direkt hinter der Grenze, in der Leipziger Straße. Die Leute von der NVA, die an dem Checkpoint arbeiteten, die kannten mich schon, denn ich war relativ oft beim Büro für Urheberrechte (verspricht sich mehrfach bei diesem Wort) – das ist ein schwieriges Wort. Dort arbeiteten Leute, die sehr kulant waren. Es hieß zuerst, ich müsste mir jeden Auftrag genehmigen lassen.

Norbert Reichel: Einzeln?

Thomas Franke: Einzeln. Aber ich sagte, der Suhrkamp Verlag schickt mir halt drei Textseiten und da muss ich dann in spätestens drei Wochen abliefern. Wenn ich mir das jetzt genehmigen lasse, dann warte ich vier Wochen, da soll das Buch längst gedruckt sein. Da meinten die in dem Büro für Urheberrechte: fassen Sie das einfach zusammen, schicken Sie uns das einmal im Monat, dann genehmigen wir das im Nachhinein. Ich habe diesbezüglich nie Probleme gehabt. Wir haben oft miteinander Kaffee getrunken. Das waren keine Stasi-Leute, das waren Verwaltungsangestellte.

Das Bedürfnis nach Wahrheit

Norbert Reichel: Da hätten Sie doch auch in der DDR bleiben können. Aber Sie waren so „scheißkritisch“ – so nannten Sie das.

Thomas Franke: Ja, hätte ich, wäre ich auch am liebsten. Ich habe dann den Hinauswurf passieren lassen, weil ich relativ früh begriffen habe, dass es weniger die Stasi war, sondern meine Mitmenschen, die mir das Leben schwer gemacht haben. Oder (lacht etwas sarkastisch, spricht lauter) es haben alle für die Stasi gearbeitet! Meine Mitmenschen haben mich gemobbt. Und wir erleben das ja auch heute oder haben es in den letzten zwei Jahren mit Corona erlebt. Da gibt es viele, die sagen, das ist alles richtig, was der Staat macht, und hinterfragen nicht kritisch. Und ich habe Ihnen ja auch erzählt, dass ich, bevor ich herausgeworfen wurde, ein Jahr Arbeitsverbot hatte. Dem schloss sich ein Hausarrest an, und in dieser Zeit wurden mir die Fenster eingeschmissen, von Drecksäcken aus dem Dorf, die nicht für die Stasi gearbeitet haben, und die nach dem Mauerfall die ersten waren, die das DDR-Emblem aus den Fahnen herausgeschnitten haben und geschrien haben. Das eine Jahr war eigentlich die schrecklichste Zeit, weil mich meine Mitmenschen gequält haben. Das hat dann meine ambivalente Haltung zu diesem Mauerfall ausgelöst.

Norbert Reichel: Aber was war der Anlass?

Die Wissenschaftler: Die Wagemutantigen des apokalyptischen Ordens „Ritter der ewigen Wiederkunft“. Auf dem Bildnis ist ein Ritter der Wagemutantigen zu sehen, madistischer Dschinn in der stirn-, schneide- und weisheitszahnräderigen Machinery des Tellurischen Kabinetts, aus Livermorium, Magenta, Darmstadtium, Armorium und Beinum bestehend zwischen dualen Magnetitten organisiert, singularischer Berserker, Kämpfer für die Durchdringung der Soziospäre und des menschlichen Körpers mit Technik mit dem Cielium, den Menschen in einen Datensatz zu konvertieren. Er ist der Vollzieher der Idee des nackten Verstandes, des Menschen als Reaktor oder Laboratorium. Aber vieles liegt im Argon wie das Captcha beweist, denn können aber nicht wollen – das ist der Wesenszug der Machinae. Holzstichcollage 22,9×13,9 cm, 2021.

Thomas Franke: Ich bin gefragt worden, weil ich mit einer polnisch-stämmigen Frau verheiratet war, was ich denn von der Solidarność hielte. Ich habe ja die Verwandtschaft meiner Frau in Polen oft besucht, und da kamen eines Tages die Leute von der Stasi und fragten, ja Herr Franke, hätten Sie nicht Lust, einen Bericht zu schreiben, was Sie da erleben, welche Haltung Ihre Freunde zur Solidarność haben, zur Volksrepublik Polen. Ich habe zuerst gesagt, nein, das mache ich nicht. Dann habe ich überlegt und habe gesagt, ich mache das, wenn ich einen Koffer voll Nahrungsmittel mitnehmen darf und an der Grenze nicht kontrolliert werden. Da haben die gesagt, wir geben Ihnen noch Geld dazu und bezahlen Ihnen die Fahrt (freut sich diebisch). Da habe ich‘s gemacht.

Es ist halt traurig gewesen. Wir haben zwei riesige Koffer mit Nahrungsmitteln nach Polen geschleppt und als das auf dem Tisch lag, war es ein Häufchen; (spricht sehr angefasst) ich hab gedacht, wir packen da aus bis zum geht nicht mehr. Es sah so wenig aus. Für eine Familie – zwei Koffer ist wenig. Wir hätten ein Auto vollpacken müssen. Das rührt mich heute noch, weil ich gehofft habe, dass der ganze Tisch überquillt, und ich wurde mit so wenig konfrontiert.

Norbert Reichel: Sie wurden mit Armut konfrontiert, die Sie so aus der DDR nicht kannten?

Thomas Franke: (spricht sehr langsam) Ich weiß nicht, ob es das war. Es ist so, dass man helfen möchte und dann erkennt, dass man so viel gar nicht helfen kann wie man helfen möchte. Das hat mich schockiert. Belastet mich auch heute noch.

(spricht wieder in der üblichen Geschwindigkeit) Dann bin ich zurückgekommen und habe natürlich etwas geschrieben. Sie wissen ja, wie fantasievoll ich bin. Ich habe etwas geschrieben und sie damit alle zu Kommunisten gemacht. Aber ungelogen, das haben sie leider rausgekriegt, bei der Stasi. Ich weiß gar nicht, wie es rausgekommen ist. Ich habe nicht geredet. Aber es ist rausgekommen und dann wurde ich einbestellt und fertiggemacht. Dann gab es halt die ersten Androhungen. Über die Solidarność habe ich natürlich gesagt, ich finde das richtig, was die machen. Ich finde den Sozialismus klasse, aber ich will ihn demokratisch. Ich will nicht, dass bestimmte Dinge unter den Tisch gekehrt werden. Ich will diese Bigotterie nicht, dass alles immer gleich am obersten politischen Level gemessen wird und das immer in einer bigotten Form. Das war für mich nicht tragbar, das habe ich nicht hinnehmen können.

Das haben meine Eltern in mich hineingepflanzt, dieses Bedürfnis nach Wahrheit.

Moskau

Norbert Reichel. Moskau war liberaler?

Thomas Franke: Viel liberaler. Liberaler als die DDR. Zumindest habe ich das so empfunden. Ich hatte ein gutes Verhältnis zu meinen Professoren. Die Grundausbildung habe ich in Berlin gemacht, an der Ernst-Busch-Akademie. Ich bin dann sofort nach Moskau delegiert worden, als Austauschstudent, und habe dort das Charakterfach gehabt, bei Leuten, die kennt hier keiner. Sergei Fjodorowitsch Bondartschuk – die anderen Namen weiß ich nicht mehr. Bondartschuk ist halt in meinem Gedächtnis geblieben, er ist auch im Westen ein bisschen bekannt, er war der härteste Professor.

Norbert Reichel: Inwiefern hart?

Thomas Franke: In der Ausbildung. Er hat mir nichts durchgehen lassen. Ich durfte kein Wort Deutsch sprechen. Er sagte, Herr Franke, wenn Sie ein Wort Deutsch sprechen, setze ich Sie in das Flugzeug und Sie fliegen zurück. Also habe ich nur Russisch gesprochen. Dann sagte er: und nun sitzen Sie jeden Morgen da unten auf der Bank vor der Hochschule. Dort ist ein wunderschöner Park. Ich sollte da am Morgen um fünf auf der Bank sitzen oder herumstehen und mir die Leute angucken. Und wenn der Unterricht losginge, sollte ich ihm vorspielen und erzählen, was für Leute ich da gesehen habe und was sie – nach meinem Dafürhalten wie ich sie beobachtet habe – für eine Lebensgeschichte haben.

Norbert Reichel: Schauspieltraining.

Thomas Franke: Ja. Sich reinversetzen. Ich sollte natürlich nachspielen, was ich beobachtet hatte. Das ist ein harter Stoff.

Als Austauschstudent wurde ich fast jeden Tag von einer anderen Familie der Professoren eingeladen und musste saufen. Und morgens um fünf wieder aus dem Bett raus. War eine harte Zeit. Ich musste trinken. Wenn ich nicht mitgetrunken hätte, wäre das eine Beleidigung gewesen. Das gehört da zur Kultur. Es gehörte zur Kultur und es gehörte für mich dazu das zu akzeptieren. Egal wie intelligent sie waren, sie tranken und tranken. Ich war ja auch im Winter da und weiß warum das so ist. Wenn man sich im Winter nicht wodkaisiert, dann hält man das nicht durch. Wissen Sie, ich habe das wirklich erlebt: Ich hatte einen Bart, der war etwas voluminöser als heute, den Kragen hochgestellt, aber wenn ich ausatmete, konnte ich die Barthaare abbrechen, weil der Atemhauch an den Barthaaren gefror.

Vogelfrei

Norbert Reichel: 1984 sind Sie in die Bundesrepublik übergesiedelt. Wie würden Sie die Unterschiede zwischen der Zeit davor und der Zeit danach beschreiben?

Thomas Franke: Im Westen Deutschlands war das für mich von Anfang an ein Zustand: Augen zu und durch. Die existenziellen Notwendigkeiten, das Geld, das man hier braucht, um sich am Leben zu erhalten, gesund zu bleiben, medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen, … das ist alles so teuer gewesen wie wir uns das in der DDR nie hätten vorstellen können. Die Versteuerung meiner Einnahmen ebenso. Ich habe in München im Schauspielhaus angefangen und bin vom Herrn Dieter Dorn über den Tisch gezogen worden. 2.500 D-Mark verdienen Sie, hat er gesagt. Ich habe gedacht: wow ist das viel Geld. Dann habe ich meine Abrechnung bekommen und es sind 1.250 D-Mark übriggeblieben …

Norbert Reichel: Steuern, Versicherungen.

Thomas Franke: … davon habe ich gerade einmal die Miete für meine Wohnung bezahlen können. Meine Frau war auch Lehrerin, aber ihre Berufsausbildung wurde nicht anerkannt. Deswegen habe ich noch in München in „Schumann’s American Bar“ gearbeitet. Ich habe gelernt, wie man Cocktails macht, habe dort gearbeitet bis früh um vier, um fünf, hab ein paar Stunden geschlafen und bin zur Probe ins Schauspielhaus gegangen. Ich bin nur noch somnambul herumgelaufen. Ich war permanent müde, habe es aber geschafft, uns über Wasser zu halten.

Die Art im Schauspielhaus in München gefiel mir nicht. Ich habe gedacht, vielleicht finde ich im Westen ein Schauspielhaus, wo das anders gemacht werden kann, wo man anders mit den Schauspielern umgeht, sie nicht als Leibeigene behandelt. Heiner Müller hat damals in Bonn gearbeitet, mit dem Eschberg zusammen, ich weiß nicht mehr, was sie gemacht haben. Müller sagte, kommen Sie mal nach Bonn, ich stell Sie dem Eschberg vor. Eschberg hat mich genommen, bezahlt, aber dasselbe Spiel. Ich wollte das irgendwann nicht mehr. Ich habe angefangen, freiberuflich als Schauspieler zu arbeiten. Da ging es mir etwas besser. Ich war natürlich auch vogelfreier, denn ich hatte keine regelmäßigen Einnahmen. Aber ich bin über die Runden gekommen. Zeichnen wollte ich nicht mehr. Aber das ist eine andere Geschichte.

Norbert Reichel: Warum?

Ein Exemplar der Gattung Troglodytes rittershausea bleiwenheimi. Holzstichcollage 15,3×21,3 cm, 2013.

Thomas Franke: Ach je. Ich habe doch von den bösen Leuten erzählt, in der DDR, die mich fertigmachen wollten, die nicht zur Stasi gehörten und eigentlich ganz normale Pfeifen waren. Die holten mich eines Tages aus unserer Wohnung ab. Da war jemand von der Polizei dabei, aber nicht jeder Polizist hat für die Stasi gearbeitet. Die haben mich in den Wald im Saalkreis gebracht, natürlich unter Androhung von Gewalt. Dort gab es Waschrampen, wo man Autos von unten abspritzen konnte. Die Autos kann man über Radführungen auf die Rampe hochfahren. Dort hat man mir die Arme draufgelegt. Vorne fuchtelte der Polizist mit seiner Waffe herum und hinten ist mir jemand mit einem Geländemotorrad über die Hände gefahren. Die waren dann kaputt. Und als ich vor Schmerzen kreischte, sind sie abgehauen (erzählt diese Geschichte langsam, mit Pausen, sehr angefasst).

Norbert Reichel: Sie konnten nicht mehr zeichnen.

Thomas Franke: Ja. Die Stasi hat deswegen einen Riesenschreck bekommen und mich ins Krankenhaus bringen lassen. Daran kann ich mich auch nicht mehr richtig erinnern, ich war zusammengebrochen, habe die Besinnung verloren. Damit haben die Pfeifen aus dem Dorf nicht gerechnet. Es gab aber auch andere Drohungen. Im Anschluss. Man hat mir die Hände wieder ganz ordentlich zusammengebaut, aber die Sensibilität fehlt.

Norbert Reichel: Das Verhalten von Hooligans.  

Thomas Franke: Deshalb habe ich über meine ehemaligen Mitmenschen in der DDR auch keine gute Meinung.

Norbert Reichel: Zumindest über diese nicht. Und wie Sie schon sagten: auch die ersten, die das Staatswappen aus der Fahne herausschnitten.

Thomas Franke: Ich bin halt in dem Jahr, in dem die Mauer umgeschubst wurde, mit einem Freund noch mal in dem Ort gewesen, in dem ich zum Schluss gewohnt habe. Die Menschen dort feierten Silvester. Ich machte die Saaltür von der Kneipe auf – jede Kneipe in der DDR hatte einen Saal. Es war ein Riesenlärm und plötzlich wurde es still, so still, dass man eine Nadel zu Boden hätte fallen hören können. Und ich schaute in den Saal und hinten standen welche, die hielten eine Fahne hoch – das waren die, die mich gequält hatten – und schnitten das Emblem aus der Fahne raus. In dem Moment, in dem sie mich sahen, hörten sie natürlich auf. Da habe ich die Tür ganz schnell zugemacht und bin wieder abgehauen. Ich wollte mich mit den Leuten nicht mehr einlassen. Ich bin heute froh, dass ich das nicht gemacht habe.

Viele Menschen in der DDR tun heute so, als wären sie Helden gewesen, – das waren sie nicht. Was sie angezogen hat, war die D-Mark. Sie haben gedacht, sie kriegen den Sozialismus mit vollen Regalen. Und das hat halt nicht geklappt. Eine politische Bewegung war das nicht. Dafür lasse ich mir die Hände noch mal überfahren.

Norbert Reichel: Es zeigte sich meines Erachtens auch darin, dass die Leute, die die „Helden“ waren, eigentlich eine kleine Minderheit waren. Das zeigte sich auch in den Wahlergebnissen nach dem Fall der Mauer.

Thomas Franke: Ich habe halt früher auch dazugehört, das kam über die Künstlerszene zustande. Da war man entweder drin oder man war auf Seiten der SED.

Norbert Reichel: Das war ja auch eine heterogene Szene. Es gab die Bürgerrechtler, es gab aber auch diejenigen, die wie Sascha Anderson oder Manfred „Ibrahim“ Böhme ihre Kolleginnen und Kollegen bei der Stasi angezeigt haben. Das sind schon heftige Biografien.

Thomas Franke: Nachdem die Mauer gefallen war und ich in die Runde des ehemaligen Freundeskreises geschaut habe, bin ich schon zusammengezuckt, wer da alles über mich geschrieben hatte.

Norbert Reichel: Sie haben Ihre Akte gelesen.

Thomas Franke: Ich habe den Anfang gelesen. Ich überlege, ob ich noch mal hineinschaue. Aber das ändert ja nichts. Und den Leuten, mit denen ich heute noch zu tun habe, habe ich verziehen. Die sich vor mir verstecken, wissen nicht, dass ich ihnen verziehen habe, es gibt so zwei oder drei Leute, die sich vor mir verstecken. Der eine hat jetzt einen Verlag. Es war halt damals so. Du wolltest hoch, ich wollte auch hoch, wir wollten Kunst machen…

Sowjetlokal GUM

Norbert Reichel: Als Freiberufler im Westen hatten Sie in Bonn auch einmal das „Sovjetlokal GUM“, in der Sterntorbrücke 7.

Thomas Franke: Ich bin froh, dass ich es nicht mehr habe.

Norbert Reichel: Ich bin traurig, dass es das nicht mehr gibt.

Thomas Franke: Aber vielleicht hätte man heute Molotowcocktails da rein geschmissen. 

Norbert Reichel: Wie kamen Sie denn auf die Idee?

Thomas Franke: (auf Russisch) Я думаю, что очень хорошо говорю по-русски. (Wieder auf Deutsch) Ich denke, dass ich sehr gut Russisch spreche.

Die Gelehrtenrepublik, Andruck.

Ich will nicht angeben, das gehört zu meinem Leben. Ich habe sehr lange Russischunterricht gehabt: das fing in der fünften Klasse an und hat halt 1982 aufgehört, als ich von Moskau zurückfuhr, in diesen kleinen Ortskomplex im Saalkreis, um als Schauspieler zu arbeiten und als bildender Künstler. Ich hatte dort viele russische Freunde. Ich hatte in dieser Zeit viel mit Offizieren zu tun, mit den Soldaten der russischen Garnison. Es war nicht so, dass man nicht in die Kasernen reindurfte, oder ich hatte eine Ausnahmegenehmigung … Ich durfte jedenfalls in die Kaserne. Wir haben Spökes gemacht, wir haben gesoffen. Die Soldaten sind ja schnell ausgetauscht worden, aber die Offiziere sind geblieben. Mit denen und ihren Frauen hatten wir viel Kontakt. Wir haben rumphilosophiert, über Kultur gesprochen, politisch diskutiert.

Und als ich dann im Westen war – schon sechs oder sieben Jahre lang –, kam eines Tages ein Bekannter zu mir, der Richard Nilges. Der hatte damals das „Fettnäpfchen“ in Bonn, der war eine Erscheinung in der Bonner Kultur, – auch in der Kölner Kultur. Dort haben Pause und Alich ihre ersten Schritte gemacht. Die haben halt Kabarett gemacht. Der Richard Nilges betrieb später die Gastronomie im „Pantheon“. Wir kannten einander gut wie ich alle Leute kannte, die hier in Bonn etwas mit Schauspiel, mit Kultur überhaupt zu tun hatten. Der kam auf mich zu und sagte, Thomas, ich habe einen Raum, ich möchte da etwas Gastronomisches drin machen, hast du eine Idee. Ich habe mir das angeschaut, dort im Keller unter der Striptease-Bar, und habe gedacht, das muss ein Panzerkreuzer werden, ein russisches Lokal, aber nicht so, dass wir so eine bräsige russische Kultur verbreiten, sondern etwas Witziges, so Ende der 1920er Jahre, wie das in Moskau damals so war, …

Norbert Reichel: … mit so einer Art satirischem Anspruch?

Thomas Franke: Ja, mit so einem satirischen Anspruch. Aber trotzdem Russisch. Das heißt: viel Wodka, und das Essen sollte Russisch sein. Da lag es nahe, das GUM zu nennen, das war ja das große Kaufhaus in Moskau, das gibt es heute noch, das „Glawny Universalny Magasin“. Da haben wir einfach „Sovjetlokal“ davorgesetzt, denn es gab zu dieser Zeit auch das Gym, irgendwelche Muckibuden, und viele Leute haben das kyrillische „U“ als „Y“ gelesen. Die dachten dann, das wäre eine Muckibude. So ist die Idee entstanden.

Am Anfang war ich nur stiller Teilhaber, doch dann hatte ich es plötzlich am Hals und bin dort eingestiegen, habe es umgestaltet, wie ich es einfach am Anfang hatte machen wollen, mit den Blechsachen an den Wänden – sollte ja wie ein Panzerkreuzer aussehen – und den Briefmarken. Ich liebe Briefmarken, ich sammele keine, aber ich finde einfach schön, wie die aussehen (schaut ganz fasziniert). So Miniaturen. Das gefällt mir. Deshalb mache ich auch kleine Miniaturen.

So ist das entstanden. Wir haben nach russischen Köchen Ausschau gehalten. Das war damals noch ein Problem. Das wurde später einfacher. Es gab für die meisten deutschen Medien noch keine kyrillischen Buchstaben für den Satz. Ich habe die Anzeige im Bonner Generalanzeiger, dass wir einen Koch suchen, von der kyrillischen in die lateinische Schriftsprache transkribiert. Das lag mir ja, ich konnte mit Worten rumwurschteln. Und da fanden sich welche, die ich so nicht gekriegt hätte, hätte ich eine deutsche Anzeige reingesetzt. Aber Köche hat man nur etwa ein Jahr, dann gehen sie wieder. Ich stand ständig unter dem Druck neue zu finden. Aber ich hatte ein gutes Netzwerk.

Thomas Franke in: Das Theater der Vampire. Foto: Thomas Dreier.

Norbert Reichel: Wie lange haben Sie das gemacht?

Thomas Franke: Sechseinhalb Jahre. Danach hat das der Hans Schulze Osterfeld übernommen. Aber mit ihm als Betreiber baute sich der russische Touch ab, weil er sich in dieser Kultur nicht auskannte.

Norbert Reichel: Und irgendwann war es nicht mehr da.

Thomas Franke: Ich bin kein Restaurantbetreiber. Ich wollte in meinen Berufen arbeiten. Und sechseinhalb Jahre … – das ist ja auch eine harte Arbeit gewesen. Ich war in dieser Zeit auch noch am Schauspiel Bonn fest engagiert.

Norbert Reichel: Wie in München, zwei Berufe.

Thomas Franke: Eigentlich drei, denn Graphiker war ich eigentlich auch noch. Schauspieler, Restaurantbetreiber, Graphiker.

Das Modell – Stück für einen Zuschauer

Norbert Reichel: Sprechen wir noch ein wenig über Ihre Schauspielzeit. Sie sind freier Schauspieler, man kann Sie buchen. Sie haben einmal etwas ganz Besonderes gemacht. Sie haben ein Stück gespielt für einen Zuschauer.

Thomas Franke, in: Das Modell. Foto: Thomas Dreier.

Thomas Franke: Ich kann die Geschichte ja jetzt schon mal erzählen. Ich habe mit dem Hirnkost-Verlag geplant, ein Buch zu machen, weil das Stück in einem alten Gefängniskeller in Bergisch Gladbach verfilmt wurde. Schön gruselig. Wie sagt man heute: schon die Location ist gruselig. Ja, ich habe damals mit einer freien Theatergruppe, dem Théâtre Bohémien – ich bin nun schlecht in Französisch aber so spricht man‘s vielleicht. Die waren damals so eine In-Gruppe, Studenten größtenteils. Die Arbeit hat mir Spaß gemacht, die hatten immer verrückte Ideen. Der Chef, Ulrich Harz, fragte mich damals, ob ich nicht eine Idee für etwas Unaufwändiges hätte: einen Monolog vielleicht. Was fällt einem Schauspieler dann ein: „Ein Bericht für eine Akademie“ von Franz Kafka. Aber das spielen alle. Und ich bin ein Mensch, der nicht gerne macht, was alle machen.

Dann habe ich hin- und herüberlegt. Ich hatte ja alle die Bücher vom Suhrkamp-Verlag, die ich als Graphiker gestaltet hatte. Und da war ein Buch von Howard Philipps Lovecraft dabei, einem amerikanischen Gruselschriftsteller, in welchem sich eine Geschichte fand, die den Titel „Pickmans Modell trägt. Die ist wie ein Monolog geschrieben. Die fängt so an, dass jemand seinen Besucher anredet und fragt: trinkst du noch ein Schlückchen Cognac? Ich erzähle dir die Geschichte, du hattest mich ja danach gefragt, warum der Pickman und wie er verschwunden ist, denn ich bin ja der letzte, der ihn gesehen hat. Und der Erzähler berichtet ihm halt die ganze Zeit über das Verschwinden dieses Malers und seinen letzten Besuch bei diesem Pickman im Atelier, der grausige Bilder malt, die es aber eigentlich als Werke schon gibt. Pickman kann es gar nicht geben oder er hat plagiiert, bei Goya, bei Böcklin und bei allen möglichen Leuten, die in der Zeit des Symbolismus gemalt haben. Es gab Bildbeschreibungen, die ich ungekürzt aus der Erzählung übernommen habe. Das sind zum Beispiel Bilder von Goya wie „Saturn frisst seine Kinder“. Das sind Schnittstellen zwischen Realität und Fantasie, da dachte ich, das sollte ich spielen.

Damals war das noch als Bühnenstück in meinem Kopf. Ich dachte, da muss jetzt jemand mit mir auf die Bühne, der die ganze Zeit nichts zu sagen hat, denn wenn ich dem Text in den Mund lege, zerstöre ich die Geschichte. Es ist auch schlecht für einen Schauspieler, nur als Lückenfüller zu arbeiten und zu fragen: was war dann? Oder: wie war das? Das könnte auch ein Komparse sein, dachte ich dann. Komparsen – das ist meine Erfahrung – fangen aber irgendwann an selbst zu spielen. Das wirkt dann lächerlich.

Ich habe dann überlegt, dass das eigentlich nicht funktioniert, wenn ich noch einen Zweiten auf die Bühne setze. Und da habe ich überlegt, mir jedes Mal einen Zuschauer auf die Bühne zu holen. Aber ich bin ein ethischer Mensch und möchte nicht einen Zuschauer bloßstellen. Eigentlich müsste man die Zuschauer alle hinausschicken und nur einen dalassen. So war die Idee entstanden, es bloß für einen einzigen zu spielen. Und deswegen habe ich es nicht als Bühnenstück konzipiert, sondern in einem düsteren Keller als Stück für einen Zuschauer, der halt dort hinunterkommt und dem ich dann die Geschichte des verschwundenen Malers Pickman erzähle.

Es hat noch drei Jahre gedauert, bis ich das Stück realisieren konnte. Ich fand keinen Regisseur, der das umzusetzen imstande war, was ich mit dem Stück wollte. Als ich dann jemanden gefunden hatte, den Reinar Ortmann, ein junger Regisseur, ein freier Regisseur, der Theaterwissenschaften studiert hatte. Dem gab ich die Erzählung und forderte ihn auf, sie zu kürzen. Der hat dann die gleichen Stellen gekürzt, die ich auch gekürzt hatte. Dann setzten wir uns zusammen und haben das Stück konzipiert in der Bonner Brotfabrik. Die gaben uns einen Raum hinter einer Garage, in dem nichts drin war, ein Lagerraum, völlig verrottet, aber das war genau die Umgebung, die ich für diesen Monolog brauchte. In den Spielraum stellten wir ein Tischchen, einen Stuhl und eine alte Kinobank aus dem Kino der Brotfabrik. Der Zuschauer, der herunterkam, wusste natürlich nicht, wo er sich dann hinsetzen sollte, es war eine Kinobank mit drei Plätzen. Wir hatten natürlich die äußeren Klappsitze festgebunden und bloß in der Mitte gab es jenen Platz, der mir am nächsten lag: da konnte er sich hinsetzen. Der Zuschauer meinte trotzdem, er hätte eine freie Wahl seines Sitzplatzes. Ich hatte auch mal einen Zuschauer, der hat so gedrückt, dass es knallte und die Stricke gerissen waren. Da habe ich es halt für einen anderen dieser drei Sitzplätze gespielt. Wir haben mit archetypischen psychologischen Prägungen gespielt: mit Entfernung, Nähe, im Rücken des Zuschauers, Verletzung der Intimsphäre, und das hat saugut funktioniert.

Thomas Franke, Filmszene aus: Das Modell.

Es gab später Leute, die versucht haben, es nachzumachen. Das hat aber nicht geklappt. Diese Inszenierung war damals ein Riesending in der Theaterlandschaft, nicht nur in Deutschland, auch in den USA hat man darüber berichtet, selbst für die Ungarn musste ich ein Radiointerview geben. Es wurde dann aber torpediert von einem Mitarbeiter des Westdeutschen Rundfunks, der in einer Abendsendung mit mir reden wollte, – so ein Format, das sie damals im WDR hatten. Da bin ich das erste Mal mit dem Haifischbecken Unterhaltungsindustrie konfrontiert worden.

Es ist unglaublich gewesen: Der wollte das am Abend live mit mir machen. Es gab einen Trailer … Zwei Tage vorher ruft mich das Morgenmagazin der ARD an und fragt, ob ich kommen würde, um ein Interview zu machen, frühmorgens, so ungefähr zehn Minuten. Da wurden auch fünf Minuten Ausschnitte aus dem Stück gezeigt. Das wurde ausgerechnet an dem Tag gezeigt, an dem ich dort im WDR abends auftreten sollte. Da kriegte ich am Nachmittag einen Anruf, ich hätte alles verraten, das wäre eine Schweinerei von mir, deshalb würde das jetzt storniert werden mit mir, er würde sich jemand anders holen. Das fand ich ziemlich link. Mit solchen Sachen wurde ich dann öfter konfrontiert, auch bei Auftritten in Fernsehserien. Und die Theater sind nicht besser.

Norbert Reichel: Und warum ist das so?

Thomas Franke: Es ist halt merkantil. Weil eine Grundlage des freien Daseins die Merkantilität ist, muss man schnell reagieren können. Schließlich muss Geld damit verdient werden.

Norbert Reichel: Competetive Character.

Thomas Franke: Schaun Sie, ich hatte damals einen Freund in der Gastronomie und wir haben uns getroffen. Jetzt heißt das Restaurant „Schumann’s“, damals hieß es „Pathos“. Und einer der Betreiber des „Pathos“, Alfred Hellmann, stellte mir den Raum unter dem Restaurant vor, wo jetzt die „Pathologie“-Bühne ist. Thomas, da kannst du doch mal was machen, meinte er. Das stand aber alles voller Bauteile einer Entlüftungsanlage, die später im „Pathos“ eingebaut wurde. Ich habe gefragt: was soll ich da zwischen den Dingern machen. Sagte der, räume doch alles aus. Nee, die Teile sind mir zu schwer, ich komme wieder, wenn du es ausgeräumt hast. Er hat es ausgeräumt, kam zu mir und sagte: jetzt mach was. Ich habe dort zuerst Lesungen veranstaltet, zusammen mit der Karin Hempel-Soos vom „Haus der Sprache und Literatur“, „Moder, Nacht und Schimmel“ nannten wir die.

Die Gelehrtenrepublik, Titel.

In dieser Zeit hatte ich ein Engagement an der Komödie in Kassel. Rainer Ortmann hatte eine Freundin, Maren Pfeiffer, eine Schauspielkollegin, mit der er das Theater während meines Kasseler Gastspiels übernahm, und als ich zurückkam, musste ich fragen, ob ich da überhaupt noch auftreten darf. Ich bin darauf eingegangen und so haben wir das zu dritt betrieben. Von da an hieß das Theaterchen „Die Pathologie – Das Theater unter dem Pathos“. Nachdem wir es etwa zweieinhalb Jahre betrieben hatten, konnten wir gar nicht schlecht davon leben. Die Stücke sind gut gelaufen, wir haben keine Pacht, keinen Strom, keine Miete zahlen müssen. Alfred sagte, die Leute gehen zu euch Theater gucken, und dann setzen sie sich zu mir ins Lokal und essen und trinken. Deshalb nehme ich euch keine Miete ab.

Wie es heute ist, weiß ich nicht. Da habe ich dann auch wieder das Problem, nicht konstant da gewesen zu sein. Ich habe ja auch mit dem Deutsch-Griechischen Theater in Köln gearbeitet, war bei den Sommerfestivals, den Schlossfestspielen in Ettlingen, den Kreuzgangspielen in Feuchtwangen, hab auch an anderen Theatern gespielt, am Staatsschauspiel in Kassel zum Beispiel. Der Reinar und die Maren, die haben nun das kleine Theater gehabt, Stücke gemacht, selbstverständlich auch mit mir, wenn ich in Bonn war. So geschah es, dass ich inzwischen 13 oder 14 Monologe während meiner Karriere aufgeführt habe. Man ist bei der Erarbeitung eines Monologs nicht verantwortlich für alle. Es sind der Regisseur, der Schauspieler und wenn es hochkommt eine Regieassistenz. So schafft man mit geringstem pekuniärem Aufwand das effektivste Ergebnis, das man haben kann.

Norbert Reichel: Stück für einen Zuschauer, Monologe – vielleicht hat all das etwas zu tun mit einer Entkoppelung der Kunst vom Ökonomischen.

Thomas Franke: Da kann ich nichts zu sagen. Ich bin so. Ich habe halt selten sehr gut gelebt davon. Ich habe viel Verzicht geübt. Die Kunst war mir immer das Wichtigste. Jetzt bekomme ich halt ein Altersstipendium. Damit ist die Miete bezahlt. Ich lebe ja auch nicht alleine, sondern mit meiner Lebensgefährtin, die ich sehr liebhabe. Jetzt geht’s so einigermaßen. Ich habe lange dazu gebraucht. Mir haben die 30 Jahre vor meinem Leben im Westen gefehlt. Da hätte ich auch schon Netzwerke aufbauen können. Die Perioden während der 30 Jahre, die ich dann hier gelebt habe, waren immer sehr kurzgriffig. Oft auch mit Menschen, die mittlerweile schon gestorben sind, weil sie halt älter waren. Ich bin gerne mit jungen Leuten unterwegs, aber die wirklich kreativen Leute, die ich erlebt habe, waren die Älteren.

Norbert Reichel: Ich will jetzt die Haie nicht beleidigen, aber manches Netzwerk ähnelt auch einem Haifischbecken – den Begriff hatten sie schon verwendet. Vielleicht ist es auch so, dass sich Netzwerke mit der Zeit auflösen oder sich vielleicht in ein Haifischbecken verwandeln.

Thomas Franke: Frank Castorf hat mal gesagt – ich kann es jetzt nur aus dem Gedächtnis zitieren –, die jungen Leute, die an die Theater drängen, denen geht es nicht mehr um die Substanz, sondern die wollen im System nach oben. Da hat er Recht. Das erlebe ich immer wieder bei jungen Leuten: ich mache jetzt was ganz Außergewöhnliches, und wenn ich das Rad nochmal erfinde, dann behaupten wir, es ist etwas ganz Neues.

Ich bin halt jemand, der eher klassisch arbeitet. Auch „Das Modell“ – das Stück für einen Zuschauer – ist eine klassische Inszenierung. Der Raum für Improvisationen war sehr gering für mich. Ich bin mit dem Stück, wenn ich es spielte, immer bei 55 Minuten gelandet. Wir haben es verfilmt. Es wurde zwei Mal aufgenommen, mit drei Kameras, eine fest installierte, zwei bewegliche, und das wurde dann zusammengeschnitten. Der Peter Brandt, der da mitgedreht hat und der initiiert hat, dass das verfilmt wurde, hat mir gesagt, sie hätten da im Studio gesessen und ganz spät festgestellt, das Bild der ersten Aufnahme mit dem Ton der zweiten geschnitten zu haben, weil sie der Meinung waren, es wäre eine Aufnahme. Ich hätte so identisch gesprochen, – bis in die Mundbewegungen hinein wären Bild und Ton synchron gewesen. Die Proben waren auch ein Drill. Wir haben daran übrigens acht Wochen geprobt. Ich habe „Das Modell“ auch in anderen Städten gespielt. Es war eine Dressur. Es gab Stellen im Stück, da habe ich im Kopf Sekunden gezählt während der Sprechpausen, selbst die waren festgelegt. So ein diszipliniertes Stück habe ich nie wieder gespielt.

Die Geschichte hinter der Geschichte

Norbert Reichel: Vielleicht sprechen wir zum Abschluss über Ihre Collagen.

Ein Mond – Letzter Abend: Groß noch hinter der Himmel Wölbung nach irdischer Verheerung durch Stahlgewitter dräut Ein-Mond entzwei, mag auch sein entdrei oder entvier über geschmolzenen Landschaften voller Abwesenheit Verbrannter, Zerquetschter, Zerstückelter, Atomisierter schweben Teile der geborstenen Schwerkraftgeneratoren. Aus der Gegenwarte betrachtet, erweist sich die Vergangeneinheitlichung als eine Abfolge unspektakulärer Ereig-Nissen. Die anwesenden Adam, Bedam und Cedam intonieren unter Gelächter ‚Should I Chicastay Or Should I Chicago“. Holzstichcollage 18,6×27,7 cm, 2016.

Thomas Franke: Ich liebe das Filigrane. Ich bin aber kein Graphiker, ich bin eigentlich Zeichner. In der DDR konnte ich davon leben, wenn ich drei oder vier Wochen in eine Zeichnung investiert habe. Im Westen konnte ich das nicht. Da wäre ich verhungert und auf der Straße gelandet. Also habe ich angefangen, nicht mehr zu zeichnen – auch wegen der Hände –, aber das Bildkünstlerische ist immer in mir vorhanden gewesen, davon war ich regelrecht besessen. Max Ernsts Werk kannte ich natürlich, auch andere Collagen von den Dadaisten, von den Surrealisten aus dieser Zeit. Irgendwann habe ich in einem Antiquariat ein Buch mit Holzstichen gefunden, – abgesehen von den Lexika, die bei meinen Eltern standen, in denen auch Holzstiche waren. Ich habe die zerschnipselt, neu zusammengesetzt und geklebt, neue Dialoge geschaffen zwischen den einzelnen Motiven. Das hat mir so gefallen, dass ich es weiterbetrieben habe, mich nicht bei Max Ernst angelehnt, sondern einen eigenen Weg gegangen bin, mit dem ich dieses Filigrane erhalten konnte ohne zeichnen zu müssen, was mir Spaß macht, was mich erfüllt. (lacht) Das ist eigentlich das ganze Geheimnis.

Norbert Reichel: Klingt ökonomisch.

Thomas Franke: Ich bin zumindest schneller. Ich brauche keine drei oder vier Wochen mehr für ein Motiv. Bei großen Arbeiten schon. Das heißt, ich kann, wenn es mich richtig gepackt hat, so eine Arbeit auch in drei Tagen fertigmachen, und wenn ich die verkaufe, gibt es halt Geld. Die Kunst ist auch immer Zeitinteressen ausgeliefert, Zeitzuständen. Mal sind es die Wilden, da kann man schnell was auf die Wand klatschen. Und wenn man Glück hat, findet man einen Kunstgeschichtler, der das dann interpretiert und dann ist das ganz groß. Ich habe leider keinen gefunden. Zu meinem Bedauern. Es ist auch nicht so überdimensional groß, was ich mache. Ich habe natürlich die Buchgestaltung. Wenn meine Arbeiten ausgestellt werden, sind die Leute ganz baff, wie man Bild und Bildtitel – das sind ja inzwischen kleine Geschichten, die ich dazu schreibe – zusammenbringen kann. Das ergibt oft eine dialektische Einheit. Vielleicht findet sich dann doch irgendwann ein Kunstgeschichtler, der das für interessant erachtet.  

Norbert Reichel: Hier schließt sich vielleicht der Kreis. Wolfgang Jeschke erwähnt in seinem Text in dem zu Beginn erwähnten Katalog, dass bei ihm alles mit dem Buch „Manierismus“ von Gustav René Hocke angefangen habe. Ich habe das und auch Hockes „Die Welt als Labyrinth“ als Student mit Begeisterung gelesen. Dazu passen auch die ganze fantastische Literatur, oder im 19. Jahrhundert die Platten, die Gustave Doré zu Milton oder Dante gemacht hat. Da begegnen sich Literatur und Bildende Kunst. Davon lebt die „Phantastische Bibliothek“, die sie für den Suhrkamp Verlag gestaltet haben. Wie viele Bände waren das?

Thomas Franke: Etwa 500. Davon habe ich 50 gestaltet. In dem Jahr, in dem ich in der DDR unter Hausarrest stand, zerbrachen die Kontakte zu den Verlagen im Westen, und die ließen sich nicht wieder aufbauen. Opportunismus. Als ich schließlich im Westen angekommen war und beim Suhrkamp Verlag anrief, sagte mir der Rolf Staudt, einer der beiden verantwortlichen Buchgestalter: nein, Herr Franke, man hat uns zu verstehen gegeben, wenn wir mit Ihnen zusammenarbeiten, gibt es von der DDR-Seite keine Lizenzen mehr. Ich war sehr traurig, denn ich hätte gerne weitergemacht. Die „Phantastische Bibliothek“ wurde von Franz Rottensteiner herausgegeben, der auch als Agent für Stanisław Lem gearbeitet hatte. Zu Rottensteiner habe ich immer mal wieder Kontakt.

Mich interessiert es nicht, Bilder zum Text zu malen. Ich interessiere mich für das, was der Schriftsteller nicht gesagt hat. Mich interessiert die Welt dahinter. Es ist das Philosophische, das mich daran interessiert. Filme, die bloß illustrieren, die bloß die Bilder zeigen, die es in einem literarischen Werk gibt, sind ja meistens auch langweilig.

Als Schauspieler arbeite ich genauso und deshalb gelte ich auch als schwieriger Schauspieler. Ich bin davon geprägt: in der DDR und in Moskau ist Schauspiel eine Gemeinschaftsarbeit von Regisseur, Schauspieler, Bühnenbildner gewesen. Hier ist das doch sehr hierarchisch aufgebaut: der Regisseur sagt was passiert. Im freien Bereich ist es ein bisschen anders. Da hat man keinen Vertrag, schüttelt sich die Hand und wenn es einem nicht gefällt geht man. Dann hat man einen schlechten Ruf. Das ist mir auch schon passiert. In subventionierten Schauspielhäusern muss man sich unterwerfen. Da sieht man schon auf dem Schwarzen Brett, wenn man zur Probe ins Theater geht, welche Rolle einem zugewiesen wird. Dort ist man nur Material.

Norbert Reichel: Das sind die Human Resources wie das so heißt.

Thomas Franke: Und das möchte ich halt nicht sein. Ich habe auch eine eigene Idee. Wenn mir einer eine Rolle anbietet, mache ich mir meine Gedanken dazu. Das kommt von dem fünf Uhr morgens in Moskau im Park stehen und Leute beobachten. Schon mit dem Rollenangebot versuche ich, mir aus dem Text das Bild eines Menschen zu erarbeiten. Wenn der Dramatiker gut ist, geht das ganz leicht. Sonst ist es oft schwer, dann muss ich lange proben.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2022, Internetzugriffe zuletzt am 5. Oktober 2022. Das Titelbild zeigt einen Ausschnitt aus der von Thomas Franke illustrierten Neuausgabe von Arno Schmidts „Die Gelehrtenrepublik“. Alle Illustrationen und Bilder wurden mir von Thomas Franke zur Verfügung gestellt, jede Reproduktion ist nur mit seiner Genehmigung zulässig).