Politische Bildung – mit Gefühl?
Eine aktuelle Debatte
Der 14. Bundeskongress Politische Bildung fand vom 07.-09. März 2019 in Leipzig statt und stand unter dem Titel „Was uns bewegt. Emotionen in Politik und Gesellschaft“. Veranstalter sind die Bundeszentrale für politische Bildung, der Bundesausschuss politische Bildung und die Deutsche Vereinigung für politische Bildung. Dr. Helle Becker, Leiterin von Transfer für Bildung e.V. ist eine der Kuratorinnen des Kongresses.
Norbert Reichel: Frau Dr. Becker, warum wurde das Thema „Emotionen“ gerade jetzt, im Jahr 2019, auf die Tagesordnung gesetzt?
Helle Becker: Wir erleben gerade einen emotionalen „Boost“ in Politik und Gesellschaft, der die Politik und die politische Bildung vor neue Herausforderungen stellt. Emotionen werden nicht als selbstverständliches Element politischer Diskussionen, Meinungs- und Urteilsbildung angesehen, sondern als leitendes Motiv für politisches Handeln reklamiert. Das hat zu Verunsicherungen vor allem auf diskursiver Ebene geführt, die weder die Politik noch die politische Bildung unberührt lassen.
Norbert Reichel: In der historischen Bildung stand das Thema „Emotionen“ schon lange auf der Tagesordnung. Ein klassischer Gegenstand ist die „Grande Peur“ während der Französischen Revolution in Frankreich. Das Georg-Eckert-Institut in Braunschweig untersuchte bereits zu Beginn der 1990er Jahre, wie und mit welchen Wirkungen Gefühle politische Entscheidungen prägten. Hat die politische Bildung Nachholbedarf?
Helle Becker: Emotionen sind in Politikwissenschaft und Soziologie, zum Beispiel in der Einstellungsforschung, ein Dauerthema. Insofern dies Gegenstand politischer Bildung ist, ist diese auf der Höhe der Wissenschaft. Es ist eher die Rolle von Emotionen im politischen Bildungsprozess, die ggf. neu betrachtet werden muss. Vor allem die Politikdidaktik überträgt ihr Primat der Rationalität häufig auch auf den Bildungsprozess selbst und hat hierbei die Rolle von Emotionen für Aneignung, Verstehen und Verarbeiten vernachlässigt, auch im Hinblick auf. die Rolle von Beziehungen in pädagogischen Prozessen.
Norbert Reichel: Das Vorhandensein wie der Mangel von Gefühlen wie „Mitleid und Empathie, Scham und Ehre“ können politische und gesellschaftliche Entwicklungen nachhaltig beeinflussen und verändern. Ute Frevert hat den Begriff der „Gefühlspolitik“ geprägt. Jennifer Jacquet hat „Scham“ als „unterschätztes Gefühl“ analysiert. Wer sich in der Bildung engagiert, hält gerne „Empathie“ für ein Allheilmittel gegen jede Art von Rassismus, Antisemitismus oder Antiziganismus. Brauchen die Akteure der politischen Bildung mehr psychologische Kompetenz?
Helle Becker: „Die“ Akteure politischer Bildung gibt es nicht. Das konnte man auf dem Kongress gut sehen. Akteure, die politische Bildungsangebote machen, ob in formalen oder nichtformalen Bildungsbereichen, haben sehr unterschiedliche professionelle Hintergründe. Ich würde mir oftmals mehr erziehungswissenschaftliches Wissen und mehr pädagogischen Sachverstand, auch über didaktische Kompetenzen hinaus, wünschen. Dies würde das Wissen um die Rolle und den Umgang mit wirkmächtigen Emotionen wie Empathie, Scham, Mut, aber auch den Stellenwert von Reflexion einschließen.
Norbert Reichel: Die Debatte um die so genannten „Fake News“ ist auch eine Debatte um „Gefühlte Wahrheiten“? Ein pensionierter Lungenarzt, der sich auch noch verrechnet hat, reicht, um eine Grenzwertdebatte von nationaler Tragweite auszulösen. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Medien, die Presse, die sozialen Netzwerke. Wie könnten politische Bildung und Medien gemeinsam dazu beitragen, solche popularisierten (Un-)Wahrheiten zu dekonstruieren?
Helle Becker: Die Antwort ist seit Jahren die gleiche und bleibt weiter richtig: Politische Bildung muss ein kritisches Bewusstsein und die Fähigkeit fördern, mediale oder anders erzeugte „Wahrheiten“ zu dekonstruieren. Dazu gehört heute wahrscheinlich noch mehr Wissen über die Funktionalität medialer Öffentlichkeit und die Rezeption und Nutzung digitaler Medien. Die Transferstelle politische Bildung, ein Arbeitsbereich von Transfer für Bildung e.V., hat dies vor drei Jahren zu einem Schwerpunktthema gemacht und eine Broschüre veröffentlicht, die entsprechende Forschungen zusammenfasst.
Norbert Reichel: Angst kann Leben retten. Aber oft haben Menschen Angst vor etwas, das völlig harmlos ist. Damit verbunden ist die schwierige Einschätzung von Risiken. Was könnte politische Bildung dazu beitragen, dass Menschen unterscheiden, welche Bedrohungen eine reale Grundlage haben und welche nicht?
Helle Becker: Viele politische Bildner*innen würden wahrscheinlich antworten, dass politische Bildung zum Ziel hat, politische Urteile und Entscheidungen reflektiert und rational abzusichern. Das bleibt richtig. Aber dazu zählt auch ein – empathisches und reflektiertes – Verständnis für die Gefühle, die dabei im Spiel sind, und zwar sowohl auf Seiten der Bildner*innen als auch als politisch Lernende. Und falls die Frage impliziert, Politische Bildung wisse, was „Wahrheit“ ist und was nicht, muss ich enttäuschen. Sie ist zwar normativ, indem sie Regeln wie die Beachtung der Menschenrechte, Werte wie Gerechtigkeit und Solidarität sowie demokratische Politik- und Gesellschaftssysteme als unverzichtbar setzt. Aber sie bleibt auch dem (demokratischen) Streit um die besseren Entscheidungen verpflichtet.
Norbert Reichel: Manche Politiker*innen begründen ihre Positionen gerne mit einem Gefühl. Sie sprechen als „Mutter“ oder als „Vater“. Sie formulieren ihre „Sorgen“, beispielsweise als „Besorgte Eltern“. Juli Zeh hat in ihrem Roman „Leere Herzen“ eine Partei mit dem Namen „Besorgte Bürger“ in die Regierung hineingeschrieben. Manchmal habe ich den Eindruck, dass es ausreicht, sich als Betroffene*R zu inszenieren, um jeden Widerspruch im Vornherein auszuschließen. Hat der Kongress hierzu Argumentationsstrategien thematisiert?
Helle Becker: Zunächst muss man sagen, dass wir aus der Forschung und aus Erfahrung wissen, dass Auftritte sogenannter besorgter Bürger*innen in öffentlichen Auseinandersetzungen (partei-)politisch häufig strategisch inszeniert werden. Ob jemand betroffen ist oder nicht, spielt gar keine Rolle. Eine Rolle spielt, dass bzw. wenn das Argument der (emotionalen) Betroffenheit als einziges oder ausschlaggebendes Argument in der Debatte Gültigkeit verlangt. Für den Umgang mit dieser Strategie gibt es inzwischen viele hilfreiche Diskussions- und Moderationsleitfäden, die für argumentative und sprachliche „Fallen“ sensibel machen und entsprechende Reaktionen empfehlen. Anders sieht das aus in pädagogischen Situationen. Hier muss die Frage, wer warum und wie betroffen ist und welche Interessen dahinterstehen können, als Beziehungsfaktor erkannt und als politisches Moment thematisiert werden.
Norbert Reichel: Neben „Empathie“ wird „Partizipation“ oft als „Heilmittel“ empfohlen. Zurzeit gibt es viele junge Menschen, die „Partizipation“ selbst in die Hand nehmen. Sollte politische Bildung Initiativen wie „Pulse of Europe“ oder „Fridays for Future“ aktiv unterstützen?
Helle Becker: Politische Partizipation ist Ziel jeder politischen Bildung. Sie unterstützt nicht nur die Meinungs- und Urteilsbildung einschließlich der Fragen nach der Legitimation von Macht und Herrschaft, sondern auch die Einflussnahme auf die Gestaltung demokratischer Strukturen. Wie sehr sie dabei aktivierend wirken sollte oder die Aktionen von Menschen unterstützen sollte, wird je nach Perspektive unterschiedlich beantwortet. Die Schule hat oft ein Problem, politische Aktionen der Schüler*innen gutzuheißen. Die außerschulische politische Jugendbildung kann aber zeigen, dass die Unterstützung und Begleitung aktiver politischer Partizipation von Jugendlichen und Erwachsenen nicht – den Beutelsbacher Konsens missverstehend – manipulativ sein muss, , sondern Teil eines didaktischen Konzepts sein kann, bei dem, frei nach Dewey, gelernt wird, wie man sich einmischt, indem man sich einmischt. Da auch Schule nicht „neutral“ sein darf, sondern unsere demokratischen Werte verteidigen sollte, könnte sie sicher mutiger sein und sich hier etwas abschauen.
Dr’in Helle Becker leitet das Institut „Expertise und Kommunikation“ in Essen sowie den Verein Transfer für Bildung e.V. Der Verein fördert die Forschung und die Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse für die Beratung und Begleitung der politischen und kulturellen Bildungspraxis. Er unterstützt den Dialog von Wissenschaft, Praxis und Politik in diesen Bereichen. (https: transferfuerbildung.de).
Zum Weiterlesen:
- Michel Vovelle, Die Französische Revolution – Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten, Frankfurt 1985.
- Bernd Mütter / Uwe Uffelmann, Hrsg.: Emotionen und historisches Lernen, Braunschweig 1992
- Ute Frevert: Vergängliche Gefühle, Göttingen 2013.
- Jennifer Jacquet: Scham – Die politische Kraft eines unterschätzten Gefühls, Frankfurt am Main 2015.
- Juli Zeh: Leere Herzen, München 2017.
- Anja Besand / Bernd Overwien / Peter Zorn (Hrsg.): Politische Bildung mit Gefühl, Bundeszentrale für politische Bildung, Bestellnummer: 10299, Bonn 2019.
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Mai 2019, Internetlink wurde am 16. September 2022 auf Richtigkeit überprüft. Rechte des Fotos von Helle Becker: © MCSF by M.-C. Schempershofe)