Realitätsgewinn
Über Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit unserer Feind-Bilder
„Erschreckend an Hitler ist deshalb weniger seine Psychopathologie (…), sondern die Tatsache, dass Menschen in ihm ihren eigenen verlorenen Teil wiederzufinden glaubten.“ (Arno Gruen, Der Fremde in uns, Stuttgart, Klett Cotta, 2000)
Wer sich Verschwörungstheorien zu eigen macht, braucht ein eindeutig wirkendes Feindbild. Es muss jemanden geben, der das erlebte Unglück bewirkt und davon profitiert. Als Objekt solcher Beschuldigungen eignen sich Menschen, die eine dunkle Hautfarbe haben, eigene Rituale pflegen, sich in Räumen aufhalten, zu denen man*frau selbst keinen Zugang hat. Sie heißen Juden, Muslime, Freimaurer, sie werden mit Worten bezeichnet, die mit N oder M anfangen, „du Jude“ ist gängiges Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen. Sie sind „Fremde“, sie sind „Ausländer“, auch wenn sie einen deutschen Pass haben, hier geboren sind, sie sind die Anderen.
Wer einer Verschwörungstheorie anhängt, denkt in Kollektiven. Arno Gruen vertritt die These, dass dieses Denken dazu dient, innere Unzulänglichkeiten zu kompensieren: „Wenn Identität auf Identifikation mit Autorität beruht, bringt Freiheit Angst. Solche Menschen müssen dann das Opfer in sich selbst durch Gewalt gegen andere verdecken.“ Theodor W. Adorno erforschte mit seinen „Studien zum autoritären Charakter“ (amerikanische Fassung: The Authoritarian Personality, 1950, by The American Jewish Comittee, deutsche Fassung Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1973) die Gründe: „Es genügt daher nicht zu fragen, ‚warum ist dieses oder jenes Individuum ethnozentristisch?‘, sondern es muss heißen, ‚warum reagiert es positiv auf die allgegenwärtigen Stimuli, auf die doch jenes andere negativ reagiert?“ Adornos Antwort: „Das Individuum kann die eigene soziale Anpassung nur vollbringen, wenn es an Gehorsam und Unterordnung Gefallen findet; die sadomasochistische Triebstruktur ist daher beides, Bedingung und Resultat gesellschaftlicher Anpassung.“ Materielle Vorteile spielen dabei keine Rolle, entscheidend ist „das doppelte Vergnügen, anderen zu befehlen und selbst dem Chef angenehm zu sein.“ Man*frau ist im Sinne der Posener Rede Heinrich Himmlers vom 4. Oktober 1943 „anständig“:
Wir linksliberalen Intellektuellen nennen eine solche Einstellung gerne „Realitätsverlust“. Aber wir haben auch unsere eigenen Schmähworte, die mit A, F und R anfangen. Wir pflegen unseren eigenen Realitätsverlust, indem wir Anhänger*innen von Verschwörungstheorien aus jedem Diskurs ausschließen. Gelegentlich werfen wir unseren eigenen Leuten vor, sie beschädigten die reine Lehre des Guten. Wir pflegen eine sogenannte „Cancel Culture“ und fallen auf unsere eigenen Triggerwarnungen herein. Auch wir vermuten hinter jedem Busch, hinter jeder Hauswand Feind*innen.
Lenin, Carl Schmitt und Antonio Gramsci
Im Grunde geht es um die alte Frage Lenins: „Wer wen?“. Ich zitiere Cornelia Koppetsch („Die Gesellschaft des Zorns – Rechtspopulismus im globalen Zeitalter“, Bielefeld, transcript, 2019): „Die Anhänger der politischen Lager unterschieden sich (…) weniger im Prinzip als in den Methoden der Ausschließung.“
Wenigstens denken wir, wir wären unfähig, verbale in körperliche Gewalt umschlagen zu lassen. Sind wir es? Wir sollten uns vor Augen halten, was Harald Welzer und Christopher Browning über das Polizeibataillon 101 und die Mörder von Babij Jar geschrieben haben, wir sollten uns zu Herzen nehmen, was Philip Zimbardo bei seinem Stanford Prison Experiment im Jahr 1971 feststellte: Wenn ich die Gelegenheit gebe, jemand anderen zu foltern und zu ermorden, wenn ich diese Gelegenheit für legitim und legal erkläre, werden viele es auch tun.
Der deutsche Altvater dieser Freund-Feind-Kultur ist Carl Schmitt, sein Schlüsseltext die Schrift „Der Begriff des Politischen“ aus dem Jahr 1927, seine „Devise: Die Feinde meines Feindes sind meine Freunde.“ Carl Schmitt schied Freund von Feind, gab dem Souverän die Macht, alle, die er für Feinde hielt, zu vernichten – Schlagwort: „Der Führer schafft das Recht“ –, er definierte Souveränität als die Macht, den „Ausnahmezustand“ zu verhängen, negierte jede Gewaltenteilung, denn Justiz hatte sich dem Willen des „Führers“ zu fügen. Carl Schmitt hatte seine Renaissance in den 1970er Jahren, als linke Berufsrevolutionäre seine Thesen schätzten. Heute verehren ihn vor allem rechte Berufsrevolutionäre.
Und mehr als dies: Alain de Benoist, Götz Kubitschek, Martin Sellner, Carola Sommerfeld und ihre Freund*innen lesen Antonio Gramsci. Dessen Ziel: „Hegemonie“, seine Hauptthese: Politische Mehrheiten reichen nicht aus, erforderlich sind gesellschaftliche Mehrheiten. Für den Weg zu diesen Mehrheiten verfolgt die Neue Rechte das Ziel, 1 Prozent zu gewinnen, denn dies reiche, eine Welt aus den Angeln zu heben. Inhaltlich verkehrt sie die Intentionen Gramscis ins Gegenteil. But for what? Die 2015 gegründete 1-Prozent-Bewegung destabilisiert durch das schleichende Gift des „das muss man doch sagen dürfen“ und deklariert dies als Meinungsfreiheit. Ihre Begriffe klingen verführerisch.
Ronen Steinke dokumentiert diese Strategie in seinem Buch „Terror gegen Juden“ (Untertitel: „Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt – Eine Anklage“, erscheinen 2020 im Berlin Verlag) am Beispiel von Schulungsmaterial der Identitären Bewegung. Dort lesen wir: „Wir müssen Wörter und Bilder wählen, die der Mehrheit gefallen und für sie verständlich sind“. Von Alain de Benoist stammt der Begriff der „Ethnopluralisten“, ein gebildet klingender Euphemismus für Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und Volkstümelei.
Wie 1 Prozent wirken, sehen wir auf den Demonstrationen gegen die Corona-Politik. Die jüngste „More-in-Common-Studie“ hat festgestellt, dass 30 % glauben, die Corona-Krise werde übertrieben, damit die Bundesregierung ihre Ziele durchsetzen könne, und – das ist die dramatische Zahl – 55 % sind mit Andersdenkenden nicht mehr kompromissbereit. 55 % sind keine Hegemonie im Sinne Gramscis, ein charismatischer „Souverän“ im Sinne Carl Schmitts ist nicht in Sicht, die Anti-Corona-Demonstrationen ähneln den führerlosen Demonstrationen der Gelbwesten in Frankreich. Aber wir sollten uns nichts vormachen. Aus einem Prozent können stabile Mehrheiten werden. Carlo Sprenger schrieb in „Diese verdammten liberalen Eliten – Wer sie sind und warum wir sie brauchen“ (Berlin, edition suhrkamp, 2019): „Politiker wie Viktor Orbán bekennen sich voller Stolz zum Konzept der ‚illiberalen Demokratie‘ – mit anderen Worten: zu einer Diktatur der Mehrheit, ohne Einschränkungen durch eine unabhängige Justiz, eine freie Presse, Forschungs- und Lehrfreiheit oder eine offene Zivilgesellschaft.“
„Saartjie’s Cry“
Falsche Empathie mit Gegner*innen unserer freiheitlichen Demokratie, falsches Verständnis für ihre vorgegebenen „Sorgen“ leistet Vorschub. Arno Gruen erinnert an den 9. November 1923. Einige wenige Schüsse ließen den Putsch Hitlers und seiner Spießgesellen zusammenbrechen. „Erst als die gerichtlichen Instanzen ihm verständnisvoll als Menschen mit berechtigtem ‚Leid‘ entgegenkamen, verkehrte sich der Zusammenbruch in einen Neubeginn. Es ist bezeichnend, dass die jeweiligen staatlichen Autoritäten Gewalttätigkeit von Rechtsextremen immer verniedlichen und als ‚nachvollziehbar‘ abtun. Ihre Gewalt wird als ‚Schlägerei‘ verharmlost.“ Und heute? Ich erinnere an ein Wuppertaler Urteil, das einen Anschlag auf eine Synagoge als nicht antisemitisch einstufe, weil es den jungen Leuten nur um Israel gegangen wäre, oder an die andauernde Kontroverse um die unflätigen Beschimpfungen, gegen die sich Renate Künast bisher nur in Teilen erfolgreich hat wehren können. Wie Ronen Steinke und andere belegen, sind dies keine Einzelfälle.
Eine Ikone der Spaltung der Welt in Gut und Böse, Freund und Feind, ist Francisco de Goyas Capricho „Der Schlaf der Vernunft schafft Monster“ („El sueño de la razón produce monstruos“) aus dem Jahr 1799. Der Mensch ist in sich gefangen, weil er seine Vernunftbegabung ignoriert, in der Außenwelt wirken Monster, gigantische Hybride aus Fledermäusen und Eulen. Die Außenwelt ängstigt den in sich gefangenen Menschen, aber der Grund der Angst, das Böse, entsteht in ihm selbst, es ist sein innerer Feind, und dieser erobert Vampiren gleich die Welt.
Ein anderes Bild: Natasha A. Kelly schrieb und filmte über Ernst Ludwig Kirchners Bild „Schlafende Milli“. Sie hätte auch Paul Gauguins „Manaò Tupapaú“ nehmen können. In beiden Bildern sehen wir eine liegende Schwarze Frau, Milli schläft, während Manaò Tupapaú mit offenen Augen ängstlich in Richtung des Malers schaut und offenbar nicht weiß, dass hinter ihr eine dunkle Gestalt sie drohend überwacht. Schwer definierbare Wesen flattern im Hintergrund. Was Milli sieht, wenn sie erwacht, wissen wir nicht, doch deutet alles darauf hin, dass es nur der Maler ist. Der Akt des Malens als Vergewaltigung.
Diese Bilder haben eine pornographische Qualität, die – wenn auch ungewollt – Rassismus und Kolonialismus der Entstehungszeit entlarvt und an das Schicksal der Sarah „Saartje“ Baartman denken lässt, die 1810 als junge Frau nach Europa verschleppt und als „Hottentotten-Venus“ ausgestellt wurde. Sarah Baartman starb 1815, wurde seziert und erneut ausgestellt. Erst im Jahr 2002 wurde sie in ihrem Heimatland Südafrika bestattet. Diana Ferrus setzte ihr 1998 in mehreren Gedichten ein poetisches Denkmal (nachlesbar in Margaret Busby, Hg*in, New Daughters of Africa, London, Myriad Editions, 2019). Ich zitiere aus „Saartjie’s Cry“: „When next you do the dance to our sun, / please remember your forgotten one. / Hold your hands up high to the sky, / send me the wings so that I may fly.“
Wir sind Täter*innen, wir sind Opfer
Vögel sehen wir oft in Bildern von Sandra del Pilar, auch in ihrer Version des Caprichos von Goya. Sandra del Pilar ist überzeugt, dass sie in einem Bild Gewalt nur dann darstellen kann, wenn sie sich in beide Rollen versetzt, die der Opfer und die der Täter*innen. In einer Serie fragt sie, ob Osama Bin Laden tatsächlich tot ist, wie die Frauen von Ciudad Juárez starben, was in Guantánamo und Abu Ghraib geschah: „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ Die Antwort: „ich mache mich explizit in jedem der Bilder als Urheberin derselben kenntlich, bis ich im zentralen Bild der Serie selbst zu einer Bildfigur werde. So wollen diese Bilder vor allem eins: das blinde Vertrauen in die Bilder erschüttern, indem sie sich gegen die eindimensionale mimetisch-semantische Lesart figurativer Kunst sperren. Nicht als Spiegel der Wirklichkeit tritt das Bild hier in Erscheinung, sondern als erdachtes Konstrukt, das so machtvoll sein kann, dass es sich seinen Schöpfer einverleibt.“ In „Der Sturm“ wird die Künstlerin von dem Ansturm der wütenden Menschen auf ein Bild überwältigt. Sie liegt im Bild vor dem Bild auf dem Rücken, während neben und vor ihr das Bild so angegriffen wird, dass es sich trotz der aus dem Bild dringenden Schreie von den Seiten her auflöst. Es zeichnet sich ab, das zumindest einige derjenigen, die das Bild erstürmen, die in es hineinstürmen, sich mit dem Objekt ihres Hasses vereinigen werden, Teil des Bildes werden, das sie zerstören wollten und damit auch sich selbst zerstören.
In „Goliath“ sehen wir eine schmächtige Frau, die einen Riesen enthauptet hat, ein*e Täter*in. Als ich dieses Bild zum ersten Mal sah, dachte ich an Judith und Holofernes. Es sind – wie der Titel ausweist – David und Goliath. Aber beide Konstellationen sind vergleichbar. Ein übermächtiger Feind wird durch einen scheinbar schwachen Menschen außer Gefecht gesetzt, ein Volk wird gerettet. Aber ist das die einzige mögliche Sicht auf das Bild? Oder sehen wir einen Mord? Ein fairer Kampf war das nicht, was David oder Judith wagten. Und wer ist wirklich schwach, wer stark?
In „One of them“ gerät auch der*die Betrachter*in ins Bild. Wir sehen drei Totenschädel, in einem unser Spiegelbild. Das ist die Tradition des Memento Mori mittelalterlicher Ikonographie, andererseits die Botschaft, dass es kein Bild geben kann ohne den Blick der Betrachtenden. Wir sind Teil der Bilder, die wir betrachten. Es sind unsere Traumata und die Traumata der anderen. Nicht nur die Künstler*in, auch wir sind Opfer, wir sind Täter*innen.
„Feindesliebe“
Dominieren Feindbilder? Ich möchte eine Alternative vorschlagen. Es gibt immer Alternativen, auch wenn die Begründerin der TINA-Rhetorik, die verstorbene Baroness Margaret Thatcher, uns etwas anderes lehren wollte. Ich möchte vorschlagen, den eigenen Realitätsverlust zu überwinden und Realitätsgewinn zu schaffen. Ignorieren wir Diskurs- und Debattenverbote, oder besser: machen wir diese Verbote zum Thema. Fragen wir, warum Menschen sich ereifern, warum sie Zöpfe und Köpfe abschneiden wollen.
Trillerpfeifen und Gebrüll, lautstark skandierte Parolen mit unbeholfenen Reimen – all das hat Platz in politischen Kämpfen, aber nicht in einer intellektuellen Auseinandersetzung und Aufarbeitung. Lisa Eckhart, Achille Mbembe, Neo Rauch, Uwe Tellkamp– sie alle sagen Dinge, die mir als linksliberalem Intellektuellen missfallen. Ich hätte auch sich links meinende Apologet*innen der Cancel Culture nennen können, beispielsweise die Studierenden, die durchsetzten, dass ein Gedicht von Eugen Gomringer von der Wand einer Berliner Hochschule verschwand.
Ich plädiere gerade gegenüber Andersdenkenden – wir kennen den Rosa Luxemburg zugeschriebenen programmatischen Satz – für mehr Gelassenheit und zitiere Navid Kermani, der sich am 9. September 2020 in der Elbphilharmonie zur Ausladung von Lisa Eckhart äußerte, die zustande kam, weil sich zwei Schriftsteller*innen anonym geweigert hatten, mit ihr auf einer Bühne zu sitzen: „Verehrte Kolleginnen oder Kollegen, wir haben in diesem Saal wie überhaupt in der literarischen Öffentlichkeit und natürlich auch im ganzen Land unterschiedliche Ansichten. Wir mögen politische Gegner sein, aber – wir sind keine Feinde. Das ist eine gewaltige, aber auch unsicher gewordene Errungenschaft. Als Reporter habe ich über genügend Kriege und Vertreibungen berichtet, um zu wissen, was Feindschaft aus Menschen macht. Feindschaft macht es unmöglich, zu verstehen, warum der andere anders denkt, fühlt, glaubt, liebt als ich. Damit steht Feindschaft dezidiert auch der Literatur entgegen, die der Versuch ist, dem Unverständlichen einen Ausdruck zu geben, ansonsten wäre sie überflüssig und affirmativ, dem Unverstandenen in der eigenen Seele wie in der Welt. Literatur ist, was in der Religion Feindesliebe wäre. Aber Lisa Eckhart, Sie, ich, die Anwesenden hier im Saal, die Gäste und Zuschauer des Festivals, das heute eröffnet wird, die Bürgerinnen und Bürger dieses Staates mitsamt den Anhängern rechter Parteien, wir Europäerinnen und Europäer – wir sind keine Feinde mehr und sollten uns dagegen verwahren, uns als solche zu betrachten, denn wir riskierten Zustände wie in einem Bürgerkrieg.“
Grenzsetzungen
Unter Intellektuellen ist es mitunter Volkssport, die drohende Apokalypse zu beschreiben. Es könnte jedoch auch Hoffnung auf Auseinandersetzung und Aufarbeitung geben. Arno Gruen: „Am Anfang muss das bedingungslose Nein zu der Gewalt stehen. Sobald wir uns auf Diskussionen einlassen, wird uns derjenige, der voller Hass und Gewalt ist, als Schwächling abtun und sich mit seinem Begehren im Recht fühlen.“ Der nächste Schritt: Wenn wir uns darauf einlassen, uns mit Vertreter*innen verschiedener unappetitlicher Ansichten auf dieselbe Bühne zu setzen, müssen wir „Grenzen setzen! Das ist die einzige Sprache, die Menschen ohne innere Identität verstehen. Wer ihnen helfen möchte, braucht eine innere Autorität.“
Doch wie stehen die Chancen eines Verzichts auf Gewalt? Arno Gruen zitiert aus einer Studie, die General S.L.A. Marshall 1978 veröffentlichte, „dass nur 14 bis 20 Prozent der amerikanischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg des Gefechts ihre Waffen benutzten.“ Gewehre wurden falsch geladen, nicht abgeschossen, wurden mitunter unbrauchbar gemacht. Dies mögen wir als Abneigung gegen das Töten interpretieren, die amerikanische Armee veränderte mit Bekanntwerden ihre Schulungen. „Im Koreakrieg schossen noch 55 Prozent der Soldaten auf den Feind, im Vietnamkrieg waren es schon 90 Prozent. In ihrem täglichen Drill wurden die Soldaten gezielt desensitiviert. Man ließ sie beim Marschieren und anderen körperlichen Übungen blutrünstige Parolen wie ‚Kill! Kill! Kill!‘ schreien. In sogenanntem ‚operative conditioning‘ wurde das Schießen im Reflex trainiert. Das Ziel glich einer menschlichen Gestalt.“
Arno Gruen referiert Studien, die belegen, wie dieser Drill amerikanische Soldat*innen traumatisierte – Filme über Vietnam dokumentieren es, von Oliver Stones „Born on the 4th of July“ bis zu Spike Lees „Da Five Bloods“ –, während solche Traumatisierungen von Christopher Browning für das Polizeibataillon 101 nicht berichtet wurden. Arno Gruen bietet eine Erklärung: „Möglicherweise bewirkte der Gehorsam in Deutschland auch eine perfektere innere Entfremdung.“ So funktionierte die SS: „Indem Juden als Nicht-Menschen deklassiert wurden, wurde das Töten entmenschlicht.“ Damit bin ich wieder beim Stanford Prison Experiment, das die potenzielle Täter*innenschaft in uns allen belegt. Das Experiment wurde glücklicherweise nach einer Woche abgebrochen, weil die damalige Freundin und spätere Ehefrau des Versuchsleiters intervenierte, Grenzen setzte.
Und so muss ich Navid Kermanis Plädoyer auch von einer anderen Seite betrachten. Wann werden Äußerungen wie die der von ihm und mir genannten Personen zu Taten? Wann werden sie zu Taten der „Rechtschaffenen Mörder“ im Sinne des jüngsten Romans von Ingo Schulze (Frankfurt am Main, S. Fischer, 2020)? „Und er hatte an seinem Ort und in seiner Zeit überlebt. Er hatte als Geistesmensch überlebt, sich nicht gebeugt und allen gezeigt, was es bedeutete, zu sich selbst zu stehen, also zu den Büchern. (…) / Die Kommunistin hatte ihn verraten. Und der Westen hatte ihn seiner Bleibe für die Bücher und die Familie beraubt, im Glauben, damit das Unrecht der Kommunisten zu sühnen. Aber waren nicht letztlich dieselben oben geblieben, die schon früher oben gewesen waren? Gebärdeten sich die Künstler nicht schlimmer denn je als Linke, die Westler noch mehr als die Ostler? Hatten sie immer noch nichts gelernt?“ Am Anfang war das Ressentiment, das Gefühl, Opfer eines Verrats zu sein. Dann kommen die Wut, der Zorn. Doch wer setzt Zorn und Wut die Grenzen?
Jenseits der Feindbilder – Auseinandersetzung und Aufarbeitung
Und welche Chance haben die Opfer von Ressentiment, Wut und Zorn, wenn die Grenzen überschritten werden? Eine ermutigende Antwort habe ich bei der amerikanischen Psychologin Edith Eger gefunden. Sie formuliert, was Sandra del Pilar mit künstlerischen Mitteln zeigt. Edith Eger hat Auschwitz überlebt, ihre Eltern wurden vergast, Amerikaner haben sie und ihre Schwester befreit, die dritte Schwester konnte sich erfolgreich verstecken. Edith Eger gab ihrer Autobiographie den Titel „The Choice – Embrace the Possible“ (New York, Simon & Schuster, 2017). Das Buch ist auch auf Deutsch erschienen, aber in der Taschenbuchausgabe (München, btb Verlag, 2018) im Titel missverständlich: „In der Hölle tanzen – Wie ich Auschwitz überlebte und meine Freiheit fand“. Das klingt nach Gebrauchsanweisung. Ich empfehle die englische Originalfassung. Allerdings gibt es auch noch weitere Versionen des Titels. Eine englische Taschenbuchausgabe trägt den Untertitel: „Even in hell hope can flower“, die deutsche Hardcover-Ausgabe, die ebenfalls bei btb erschien: „Ich bin hier, und alles ist jetzt“.
Kern der Thesen Edith Egers ist die Dichotomie von „victimhood“ und „victimization“. „Victimhood“ ist nicht dasselbe wie das deutsche Wort „Opferrolle“. Eine Rolle ist etwas Vorübergehendes, das abgelegt werden kann, das Suffix „hood“ bezeichnet etwas Dauerhaftes, im deutschen wäre es in etwa das Suffix „schaft“. „Victimhood“ ist die Einstellung, sich selbst ausschließlich als Opfer zu definieren, den Opferzustand zu verewigen, „victimization“ ist der Vorgang, über den jemand zum Opfer wird.
Edith Eger betont die Wahl, die jede*r hat, der*die überlebt, jenseits von „victimization“. „This is life. And this is victimization. It comes from the outside. It’s the neighborhood bully, the boss who rages, the spouse who hits, the lover who cheats, the discriminatory law, the accident that lands you in the hospital. / In contrast, victimhood comes from the inside. No one can make you a victim but you. We became victims not because of what happens to us but when we choose to hold on to our victimization. We develop a victim’s mind – a way of thinking and being that is rigid, blaming, pessimistic, stuck in the past, unforgiving, punitive, and without healthy limits or boundaries. We become our own jailors when we choose the confines of the victim’s mind.“
Die Überwindung der Grenzen der „victimhood“ ist eine Lebensaufgabe. Und sie verspricht Realitätsgewinn, Leben. Sie wirkt gegen die Verführung zur Täter*innenschaft. Sie ist die Wahl, die wir alle haben. Edith Eger erfüllt ihre Lebensaufgabe, indem sie wieder nach Auschwitz fährt, dort in dem Zimmer übernachtet, in dem auch Goebbels übernachtete. Sie zögerte lange, wieder an den Ort zu fahren, wo sie Josef Mengele aufforderte, für ihn zu tanzen. Ihr Mann Béla überzeugte sie: „But when I tell Béla that I have decided to decline the invitation, he grabs my shoulder. ‚If you don’t go to Germany,‘ he says, ‚then Hitler won the war.‘“
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2020, Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft. Dieser Essay beruht auf einem Vortrag, den ich am 2. Oktober 2020 in Hilden, Kreis Mettmann, anlässlich der Fachtagung „Feindbilder“ hielt. Die Tagung wurde vom Kreis der Freunde des Instituts für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf durchgeführt. Der on Sandra Abend und Hans Körner herausgegebene Tagungsband erschien 2022 im Münchner morisel Verlag).