Romeo und Julia mit Happy End
„Muslimisch jüdisches Abendbrot“ mit Saba-Nur Cheema und Meron Mendel
„Ich ging hinunter in die Wüste / um meinen Brüdern beim Kampf zu helfen / Ich wusste, dass sie nicht im Unrecht / Ich wusste, dass sie nicht im Recht waren“ (Leonard Cohen)
Leonard Cohen notierte diese Verse einer unveröffentlichten Strophe von „Lover, Lover, Lover“, als er 1973 während des Yom-Kippur-Krieges in Israel vor Soldaten sang (Matti Friedman zitiert sie in seinem Buch „Wer durch Feuer – Krieg am Jom Kippur und die Wiedergeburt Leonard Cohens“, übersetzt aus dem Englischen von Malte Gerken, Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2023).
Wer ist im Recht? Wer ist im Unrecht? Diese Fragen prägen so manche Debatte der Folgewochen und -monate nach dem 7. Oktober 2023. Bis heute und wohl noch manchen der folgenden Tage, Monate oder gar Jahre. Gibt es überhaupt eindeutige, abschließende oder gar verbindliche Antworten auf diese Fragen? Oder wird es auf Dauer bei der rhetorischen Resignation der Verse Leonard Cohens bleiben? Ungeachtet einer wie auch immer gearteten Entscheidung, „beim Kampf zu helfen“?
Polarisierende Zeiten
Die Verse Leonard Cohens mögen irritieren, aber welche Antwort wäre angemessen? Es sollte keinen Zweifel geben, was am 7. Oktober geschah. Eigentlich. Die Hamas-Terroristen filmten mit ihren eigenen Handys und mit den Handys der von ihnen vergewaltigten, ermordeten oder verschleppten Menschen und versandten die Bilder und Videos an die Familien der Opfer. Und dennoch gibt es immer wieder nicht nur prominente Stimmen, die das Massaker anzweifeln, leugnen, herunterspielen oder gar rechtfertigen, den Opfern jedes Mitgefühl verweigern.
Der 7. Oktober 2023 erinnerte durchaus an den Yom-Kippur-Krieg 1973. Beide Male war Israel schutzlos. Israel war nicht der versprochene sichere Ort für Jüdinnen und Juden. Jedes Mal, wenn Israel sich wehrte, verteidigte, explodierte der Antisemitismus in Deutschland, in Europa, in den USA und anderswo. Die Explosion des Antisemitismus nach dem 7. Oktober erschreckte in ihrer Vehemenz und sie ging einher mit der pauschalen Verdächtigung aller Musliminnen und Muslime, sie sympathisierten mit den Terroristen der Hamas, eine andere. Differenzierte Stimmen hatten es immer schwerer, Gehör zu finden. Stattdessen dominiert viel zu oft Rechthaberei, in parlamentarischen Debatten, in den Medien, in Schulen und an Universitäten, im Alltag. Freundschaften zerbrachen, Schuldzuweisungen dominierten den Diskurs.
Saba-Nur Cheema und Meron Mendel haben sich nie gescheut, sich in unseren schon seit längerer Zeit immer mehr polarisierenden Zeiten zu positionieren. Bei der Auswahl des „Unworts des Jahres“ 2024 waren sie außerordentliche Gäste der Jury. Sie plädierten für den Begriff „importierter Antisemitismus“, mit Recht, denn das was aus dem Iran oder arabischen Ländern nach Deutschland und in andere europäische Länder zurückkommt, hat seine deutsche Vorgeschichte, von der viele in Deutschland aber nichts mehr wissen (wollen).
Die gemeinsamen Auftritte von Saba-Nur-Cheema und Meron Mendel nach dem 7. Oktober porträtierte Annabel Wahda in der ZEIT mit dem doppeldeutigen Begriff einer „Paartherapie“. Es ist nicht nur ihr Auftreten als „Paar“, das beeindruckt, sondern auch die oft genug irritierende ständige Selbstvergewisserung der eigenen Identitäten, des Paares Saba-Nur Cheema und Meron Mendel sowie des jeweiligen Publikums. „Schon früh haben wir festgestellt, dass wir als Paar auffallen.“ Dieser Satz findet sich in einer der Kolumnen, die sie seit dem Jahr 2020 regelmäßig in der FAZ unter dem Titel „Muslimisch jüdisches Abendbrot“ veröffentlichten.
30 Kolumnen liegen jetzt bei Kiepenheuer & Witsch als Buch vor. Der Untertitel beschreibt Problem und Aufgabe zugleich: „Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung“. Im ersten Absatz des Vorwortes benennen Saba-Nur Cheema und Meron Mendel die unmittelbaren Folgen des 7. Oktobers auf ihren Alltag: „Der 7. Oktober 2023, der Tag des Massakers der Hamas in Israel, hat unser Leben verändert. Als die ersten Nachrichten kamen, begannen wir, um Familie und Freunde zu bangen, die nicht weit entfernt vom Gazastreifen lebten. Der Verlust von Menschen, die wir geliebt haben, die Sorge um die Zukunft derer, die noch da sind, begleiten uns bis heute.“ Das Massaker. Der Schmerz. Die Angst. Die Sorge. Die Empathie. Die Frage quält: Warum ist es nicht möglich, dass wir uns alle auf diese Sicht als Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen und Debatten verständigen? Man kann diese Frage nicht oft genug wiederholen.
Offenbar ist eine solche Verständigung nicht möglich. Dies ist für Saba-Nur Cheema und Meron Mendel keine neue Erfahrung. Sie bestimmte beispielsweise die heftigen Kontroversen um ihren gemeinsam mit Sina Arnold herausgegebenen Band „Frenemies – Antisemitismus, Rassismus und ihre Kritiker*innen“ (Berlin, Verbrecher Verlag, 2022). Wieder einmal erwiesen sich die so dringend erforderlichen Allianzen gegen Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus als fragil. So war es auch bei der Eröffnung einer Ausstellung von Nan Goldin in der Berliner Nationalgalerie. In ihrer Rede zur Eröffnung des Symposiums: „Wider die Logik des Boykotts“ (nachzulesen in der Januarausgabe 2025 der Blätter für deutsche und internationale Politik) sagten Saba-Nur Cheema und Meron Mendel: „Entweder bist du ‚Ally‘, also unser Verbündeter, oder du bist unser Feind. Es gibt kein Dazwischen, man hat nicht mehr die Freiheit, sich in jeder Frage eine eigene Meinung zu bilden.“ Stattdessen erleben wir Allianzen der drei Antisemitismen: rechts, links, islamistisch. Jeffrey Herf hat sie in seinem jetzt auch in deutscher Sprache vorliegenden Band „Drei Gesichter des Antisemitismus“ (Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2025) eindrucksvoll analysiert.
Die Folge: „Als muslimisch-jüdisches Paar fehlt uns zunehmend die Luft.“ Das Elend sei „selektive Empathie“ und die offensichtliche Unfähigkeit, „die Gegenrede aushalten“ zu können und auch gar nicht „aushalten“ zu wollen. „Ist es vielleicht zu viel von Menschen erwartet, egal ob Künstler oder nicht, den Schmerz der anderen wahrzunehmen?“ Meltem Kulaçatan nannte dieses Phänomen im Demokratischen Salon „Empathiesperre“, Anastasia Tikhomirova konstatierte ebenda „selektiven Humanismus“.
Drei Freiheiten und der Antisemitismus: Kunst, Meinung, Wissenschaft
Der zentrale Gedanke der 30 Kolumnen: Es geht nicht nur darum, welche Debatten wir führen, sondern auch darum, wie wir sie führen. Im Grunde kann man mit jedem Kapitel beginnen und wird immer wieder neue Einsichten und Denkanstöße finden. Gleichzeitig hat das Buch eine klare Botschaft: Wer das Gespräch ausschließt, verweigert oder sich erst gar nicht traut, ein Gespräch zu beginnen, macht einen grundlegenden Fehler.
Eines der Themen ist die mehr als schräge Debatte um die „Kunstfreiheit“. Saba-Nur Cheema und Meron Mendel erörtern diese Debatte unter anderem in der Kolumne „Romeo und Julia aus dem Nahen Osten“ am Beispiel der Aufführung des Theaterstücks „Vögel“ des libanesisch-kanadischen Regisseurs Wajdi Mouawad in München, eine Romeo-und-Julia-Geschichte, die Liebe eines Juden und einer Muslima. Das Stück war zuvor in Paris und in Tel Aviv aufgeführt und hoch gelobt worden. Doch dann gab es in München Proteste, von mehreren Seiten: „Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass nun ausgerechnet jüdische Studierende in unfreiwilliger Allianz mit BDS-Aktivisten das Stück verhindern wollten.“ In der Kolumne kommen Meron Mendel und Saba-Nur Cheema zu dem Schluss, dass das Stück durchaus Einseitigkeiten enthalte. Aber ist es deshalb auch antisemitisch? „Man kann sich über das Stück ärgern, und es muss nicht allen gefallen. Wer sich nicht irritieren lassen will, sollte nicht hingehen. Oder hingehen und danach eine vernichtende Rezension schreiben.“
Das Kapitel „Romeo und Julia aus dem Nahen Osten“ lässt sich – wie auch die meisten Kolumnen – als Meta-Kritik lesen. Saba-Nur Cheema und Meron Mendel machen immer wieder deutlich, dass nicht die bloße Kritik an der israelischen Regierung, an israelischer Politik bereits antisemitisch wäre, dass aber dann Antisemitismus vorliege, wenn Israel insgesamt, alle Israelis (ignorierend, dass etwa 20 Prozent der israelischen Bevölkerung keine Juden sind) und mit ihnen alle Jüdinnen und Juden dieser Welt als Verantwortliche gebrandmarkt werden. Einladungen, Ausladungen, abgehängte Bilder, abgesagte Vernissagen und Vorträge, gegen wen auch immer, gerade auch Absagen gegenüber jüdischen und – in einigen Fällen israelischen – Künstler:innen, die sich unmissverständlich für Frieden, gegen Besatzung, gegen die Praxis der israelischen Regierung engagieren, wirken absurd, weil sie eigentlich nur die Gegenseite motivieren, sich noch eine Spur radikaler zu äußern. Das gilt natürlich auch in die andere Richtung, in der pauschalen Verurteilung des Islam und aller Muslim:innen als Urheber:innen von Antisemitismus: „Wenn schon etwas in die Hände der Islamisten spielt, dann solche antimuslimischen Empörungswellen.“ Wenn Einladungen nicht mehr als Einladungen, sondern nur noch als Statement wahrgenommen werden, stimmt etwas nicht.
Der einzelne Künstler, die einzelne Künstlerin werden zu Repräsentant:innen einer politischen Richtung, die keine Differenzierungen kennt. „Allerdings darf der Maßstab, ob Kunst antisemitisch ist, niemals subjektiviert werden.“ Das ist ein wichtiger Punkt. Denn Betroffenheit kann viele Gründe haben. Ein Grund mag in „der religiösen Sozialisation liegen, dass man gleich getriggert wird, sobald eine literarische Darstellung oder ein Kunstwerk gezeigt wird, welches nicht der eigenen Überzeugung entspricht.“ Das bedeutet nicht unkritische Akzeptanz von allem, was irgendwo geäußert wird. Es reicht auch nicht zu fordern, das müsse man einfach „aushalten“: Anlässlich der Platzierung eines rechtsextremistischen Verlags direkt neben dem Stand der Bildungsstätte Anne Frank bei der Frankfurter Buchmesse 2017 schreiben Saba-Nur Cheema und Meron Mendel: „‚Aushalten‘ darf aber nicht bedeuten, Feinden der Demokratie den roten Teppich auszurollen und sie mit vorteilhaft gelegenen Standplätzen zu beglücken.“ Im Jahr 2018 gab es auf der Buchmesse eine andere Lösung, immerhin: „Eine wehrhafte Demokratie (…) garantiert die Meinungsfreiheit und bezieht gegenüber Gegnern zugleich Position.“
Ähnlich geschieht es in der Wissenschaft. Eine Kolumne trägt den Titel: „Wie politisch darf die Wissenschaft sein?“ Nicht immer handelt es sich um Wissenschaft, wenn in beziehungsweise vor einer oder um eine Universität gestritten wird. Es gibt durchaus Fälle, in denen „der Unterschied zwischen einer wissenschaftlichen Konferenz an der Universität und einer Talkshow oder einem Stammtischgespräch nicht mehr deutlich erkennbar“ ist. Das betrifft nicht zuletzt die Debatten um Antisemitismusdefinitionen, um IHRA-Definition oder Jerusalem Declaration. Es muss darüber gestritten werden, ob Bundestagsbeschlüsse immer den richtigen Ton treffen. Der entscheidende Punkt ist jedoch etwas anderes: „Ob sich Max Weber Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hätte vorstellen können, dass Wissenschaftler sich eines Tages lieber mit Unterschriften statt mit Argumenten gegenseitig überbieten wollen?“ Das gilt nicht nur in Deutschland, auch wenn die deutsche Neigung zu Unterschriftenlisten vielleicht nicht überall gleich hoch im Kurs ist.
Eine ähnliche Position vertritt Ronen Steinke, der die aktuelle Atmosphäre, die viele Debatten verhindert und vergiftet, am Beispiel der Ausladung des israelischen Historikers Benny Morris durch die Universität Leipzig anschaulich beschrieb: „Wo bleibt die Freiheit?“ Eine Frage, die sich auch angesichts so manch anderer Ausladung stellen ließe, beispielsweise von Nancy Fraser im Frühjahr 2024 aus Köln. Ronen Steinke kommentiert: „Der Rektor der Kölner Universität, der Anglist Joybrato Mukherjee, erklärte: Wer Israel, wie die Philosophin Fraser, als ‚ethno-suprematistischen‘ Staat schmähe und zum Boykott aufrufe, für den sei das Rampenlicht einer Kölner Gastprofessur ‚nicht angemessen‘. / Was auf die etwas alberne Behauptung hinausläuft, die klugen Studierenden in dieser Stadt bekämen es nicht auf die Reihe, aus der direkten Auseinandersetzung mit dieser Denkerin noch klüger zu werden. Stattdessen würden sie, so wohl die stillschweigende Sorge, sofort den Kopf verhext bekommen. Wie kleine Kinder, die alles nachplappern, was man ihnen vorsagt. Was für ein Unsinn.“
Die ganze Welt im Alltag
„Eine Ehe ist kein politisches Projekt – oder?“ Im Vorwort verweisen Saba-Nur Cheema und Meron Mendel auf Nordirland, wo es vor etwa 30 Jahren gerade einmal zwei Prozent katholisch-protestantischer Ehen gab, inzwischen sei die Zahl auf zehn Prozent angestiegen. (Vielleicht darf ich anmerken, dass im katholischen Rheinland der 1960er Jahre Ehen mit Protestant:innen als „Mischehen“ bezeichnet wurden, in denen der protestantische Part zusichern musste, dass die Kinder katholisch erzogen würden. Katholiken sollten nur Katholikinnen heiraten. Man darf es als großen Erfolg Konrad Adenauers betrachten, dass es in der CDU kaum noch eine Rolle spielt, ob jemand katholisch oder evangelisch ist. Es gab im Rheinland in den 1960er Jahren keine Religionskriege, aber man ging sich systematisch aus dem Weg, die Kinder besuchten unterschiedliche Schulen.)
Carol Hanisch prägte zu Beginn der 1970er Jahre den Satz, dass das Private politisch sei. Der Satz wurde ein Schlagwort der Frauenbewegung, ließe sich heute jedoch auch in der sogenannten „Integrationsdebatte“ anwenden, die oft genug als Religionsdebatte geführt wird. Die Erfahrung im eigenen Haushalt ist bei einer Ehe zwischen einer deutschen Muslima und einem deutschen Juden mit pakistanischer beziehungsweise israelischer Familiengeschichte Alltag, eben auch in der eigenen Familie: „Seit wir ein Kind haben, achten die jeweiligen Großeltern genau darauf, dass ihre Kultur und Religion in unseren vier Wänden nicht zu kurz kommen.“ Es klappt trotzdem, Romeo und Julia mit Happy End, aber was heißt hier „trotzdem“?
Ein Beitrag hat den schönen Untertitel: „Wie man ein muslimisch-israelisch-jüdisch-pakistanisch-hessisches Kind erzieht“. Staatliche Stellen sind schon ein größeres Problem. Es fällt ihnen schon in Kleinigkeiten schwer, die Komplexität und Vielfalt unserer Gesellschaft anzuerkennen. Das Judentum wird matrilinear, der Islam patrilinear weitergegeben. Der Versuch, das Kind mit einer doppelten Religionszugehörigkeit eintragen zu lassen, wurde auf dem Standesamt abgelehnt. Auch der Vorschlag „divers“ fand keine Gegenliebe. „Letztlich mussten wir uns mit der Bezeichnung ‚konfessionslos‘ zufriedengeben.“
Vielfalt ist Realität. Die Vielfalt der Identitäten ist das eine, die Stadt Frankfurt am Main als Heimat das andere, aber beides gehört untrennbar zusammen. „Wer ein Haus baut, will bleiben“ – mit diesem Satz zitieren Saba-Nur Cheema und Meron Mendel Salomon Korn, den langjährigen Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main. In dem Kapitel geht es aber auch um Grabstätten. Warum gibt es in Deutschland noch keine muslimischen Friedhöfe? Warum gibt es in muslimischen Communities diesen hohen Aufwand, verstorbene Familienangehörige in die Länder zurückzuführen, in denen sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr lebten? „Was einst Salomon Korn für Juden konstatierte – ‚Wer ein Haus baut, will bleiben‘ – kann heute für Muslime so formuliert werden: Wer ein Grab baut, will nicht mehr zurück.“ Immerhin gibt es auf einigen wenigen Friedhöfen inzwischen muslimische Abteilungen.
Dann geht es weiter hinein in den Alltag, in Debatten um Weihnachtsbeleuchtungen, Ramadan-Beleuchtung, Muezzinrufe, das Tragen religiöser Symbole in Gerichten oder in der Schule. In den öffentlichen Debatten wird immer wieder eine Nicht-Integration unterstellt, weil dem eine Religion, insbesondere der Islam, im Wege stünde, während andere kritisieren, muslimisches Leben werde unsichtbar gemacht. Es geht aber weniger – so Saba-Nur Cheema und Meron Mendel – um Sichtbarkeit versus Islamisierung, sondern um die Frage, welche Bedeutung das ein oder andere für die Religion denn nun wirklich hat. „Offensichtlich ist es für die Mehrheitsgesellschaft einfacher, sich in eine Scheindiskussion über Beleuchtungen und Rufe einzulassen, statt die wirklichen Herausforderungen für Muslime in Deutschland anzupacken: vom Religionsunterricht über Moscheebau bis zur Diskriminierung am Arbeitsplatz.“
Innerhalb der jüdischen und der muslimischen Communites ist es auch nicht einfach. Saba-Nur Chema kommt aus einer Familie, die der Ahmadiyya-Bewegung angehört, Meron Mendel musste innerhalb der jüdischen Communities (muss man im Plural schreiben) immer wieder Kritik erfahren, beispielsweise bei der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille, die der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, kritisierte. Solche Kritik ist legitim – es ist eigentlich schon ein Indikator für ein Problem, dass man das überhaupt sagen muss – aber der Kernpunkt liegt darin, dass die aktuelle Atmosphäre der Auseinandersetzungen die Legitimität von Debatten und Kritik nicht mehr so einfach erkennen lässt.
Dialog lohnt sich (fast) immer
Betroffenheit ist eines der Schlüsselwörter in jeder Debatte um Identität und Legitimität. Wer fühlt sich wann von wem und was betroffen? In welcher Richtung auch immer. Wer meint, sich mit einem bestimmten Verhalten, einer bestimmten Äußerung, mit aus seiner beziehungsweise ihrer Sicht betroffenen Gruppe oder Person solidarisieren zu müssen? Das Urteil von Saba-Nur Cheema und Meron Mendel ist hart: „Die Perspektive von Betroffenen jeder Form von Marginalisierung wird heiliggesprochen, indem sie zum einzigen Maßstab wird, um sich eine Meinung zu bilden und ein Urteil zu fällen.“ Das kann schon in Sarkasmus umschlagen: „Die ungeschriebene Regel der Identitätspolitik lautet: Um die Mehrheitsgesellschaft zu kritisieren, suche dir erst einmal eine Minderheitsposition.“ Gefährlich wird dies, wenn „der Ankläger zum Richter“ gemacht wird, denn dann „spielt die Wahrheit keine Rolle mehr“. „Betroffene haben nicht immer recht.“ Eine besonders schräge Debatte ist die um sogenannte „kulturelle Aneignung“, eigentlich „die gängige Praxis, wie Kulturen über Jahrtausende weiterentwickelt wurden.“
Die Vielfalt des Alltags und die Untiefen der Integration – wer integriert wo eigentlich wen und was? – wird im leicht ironischen Titel der gesamten Reihe deutlich, vielleicht ist auch dieser eine „kulturelle Aneignung“? Denn was kann es Deutscheres geben als „Abendbrot“, ein Wort, für das es meines Wissens in keiner anderen Sprache ein Äquivalent gibt. Das „Abendbrot“ ist etwas einzigartig Deutsches. Man muss ja nicht gleich von „Leitkultur“ sprechen. Birgit Rommelspacher nannte das „kulturelles Christentum“, eine der Grundlagen des „kulturellen Codes“, als den Shulamit Volkov den Antisemitismus beschrieb.
Meron Mendel und Saba-Nur Cheema berichten von einem jungen Mädchen, das in der Schule ein T-Shirt mit der Aufschrift „Free Palestine“ trug. Als sie angesprochen wurde, stellte sich heraus, dass sie für eine friedliche Zwei-Staaten-Lösung eintrat. Warum trug sie das T-Shirt? Ein Einzelfall? Oder denken auch andere so, die ein solches T-Shirt tragen? Darüber ließe sich diskutieren. Der eigentliche Boykott ist der Boykott des Miteinander-Sprechens. Die große Gefahr liegt darin, dass Menschen sich nur noch auf einen ersten Eindruck verlassen, sich in eindeutigen Rollen verorten und nicht merken, dass es gerade diese Eindeutigkeit in der Wirklichkeit nicht gibt und – so ist das in liberalen Demokratien – auch gar nicht geben sollte. Damit sind wir wieder bei den Merkwürdigkeiten der „Gattung Integrationsdebatte“, die „zwar keine deutsche Erfindung (ist), doch wurde sie hier vermutlich perfektioniert.“ Ihr Ablauf folgt scheinbar klaren Regeln: „Alle Beteiligten spielen ihre Rollen nach einem bestimmten Drehbuch, ohne sich allzu viele Gedanken machen zu müssen.“
Religionen spielen in diesen Drehbüchern eine Rolle, die ihre Spiritualität in den Hintergrund verbannt, dafür aber in erster Linie eine – und nur diese eine – Identität postulieren. Volker Weiß wird in einer Kolumne mit dem Hinweis zitiert, dass sich zunehmend Staaten (und damit Gesellschaften) über eine Religion definierten. Diese Äußerung beziehen Saba-Nur Cheema und Meron Mendel wiederum auf ihre eigene Biographie und die ihrer Eltern. Sie stellen sich selbst die schwer beantwortbare Frage: „Wie kam es dazu, dass beide national-dekolonialen Gründungsprojekte in Pakistan und Israel – bei allen Unterschieden und Spezifika – von Fanatikern übernommen wurden?“ Die Kolumne endet mit dem interessanten Satz: „Sarkasmus wird aber niemandem in Israel und Pakistan helfen. Vielleicht aber eine Lektüre der Schriften von Herzl?“ Ich bin mir sicher, dass es eine Menge Leute gibt, die die Lektüre Herzls direkt ablehnen werden, aber vielleicht sollten sie einmal wirklich hineinschauen, denn das was Theodor Herzl schrieb, ist eine humanistische Utopie. Sein Roman „Altneuland“ wurde vor Kurzem im Hirnkost-Verlag in dessen vierzigbändiger Science-Fiction-Reihe neu aufgelegt.
Die Kolumnen beziehungsweise Kapitel des Buches lassen sich leicht und immer mit Gewinn lesen, sodass ich empfehlen möchte, dieses Buch immer griffbereit aufzubewahren. Das Buch erfüllt einen universellen – ich möchte sagen – universell-humanistischen Anspruch, es erschließt die ganze Welt im Alltag. Es fördert in jeder Kolumne, jedem Absatz, jedem Satz die Fähigkeit, die Dinge und Entwicklungen dieser Welt differenzierter, selbstkritischer und zuversichtlicher wahrzunehmen und zu begreifen. Durchaus im Sinne des Gedankens von Leonard Cohen, denn es ist wahrscheinlich, dass wir in vielen Fragen zugleich recht und unrecht haben. Wer in dem Buch liest, wird die eigene, „kulturelle Neugier belohnen“. Und neue schaffen. Mit Happy End für uns alle!
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im März 2025, Internetzugriffe zuletzt am 10. Februar 2025. Titelbild: Pixabay.)