Russischer Messianismus
Ein paar Gedanken zum Faschismus-Begriff im Krieg um die Ukraine
Die Welt des Wladimir Wladimirowitsch müssten wir inzwischen eigentlich kennen und doch sind wir immer wieder überrascht. In einer Rede vom 9. Juni 2022 zum 350. Geburtstag von Peter dem Großen – Opernfreunde erinnern sich an den lernbegierigen „Zar und Zimmermann“ von Albert Lortzing, vom Westen lernen hieß damals offenbar siegen lernen – verglich er sich mit diesem Zaren so wie er sich auch schon mit anderen Zaren, allen voran Katharina der Großen verglichen hatte. Seine Botschaft: das russische Reich – „Russki Mir“ – ist ein Land, das alle Regionen, Länder und Staaten umfasst, die zu irgendeiner Zeit einmal unter russischer Herrschaft gestanden haben. In diversen Kommentaren wurden die baltischen Staaten, Polen und Finnland genannt, aber der Kreis des Russischen Reichs, das Putin wieder „zurückholen“ möchte, ließe sich auch weiterziehen. In dem Gebiet der ehemaligen DDR waren immerhin einmal 600.000 russische Soldat*innen stationiert. Putin sprach in pathetischen Metaphern, es wäre „unser Los: Zurückzuholen und zu stärken“. Russland – das ist ein Land mythischer Größe Schicksal eben, seine Mission, Vladimir Vladimirowitsch Putin als der Messias des „Russki Mir“.
Es gibt eine Menge an Staatspräsident*innen und Regierungschef*innen, die Putin für Wiedergänger Karls XII. halten könnte, dessen Niederlage gegen das russische Zarenreich im Großen Nordischen Krieg den Anfang vom Ende des schwedischen Reichs als europäischer Großmacht einleitete. Die Liste reicht von den Staatschef*innen der baltischen Staaten, Finnlands und Polens über den deutschen Bundeskanzler, den französischen Staatspräsidenten, die Präsidentin der Europäischen Kommission bis zum US-Präsidenten. Zumindest scheint in Putins Weltbild die NATO die Rolle der Schweden vor 300 Jahren zu spielen. Von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckt sich seine Weltmachtfantasie. Die Annexion der Krim löscht die Schmach der Niederlage Alexander II. aus und nimmt das Geschenk des Nikita Sergejewitsch Chruschtschow zurück. Am Pazifik liegt das neue russische Reich ja schon, Alexander Dugin würde im Westen sicherlich den Atlantik hinzufügen, das wären dann vier Meere, im Westen, im Norden, im Süden und im Osten, auf dem vereinigten eurasischen Kontinent. Ich denke, diese Vision dürfte Putin gefallen, nur hat er das noch nicht gesagt, noch nicht.
Wie wäre, wenn vielleicht Österreich als Rechtsnachfolge Kakaniens, Schweden, Deutschland ebenfalls solche Ansprüche erhöben? Zwei mehr oder weniger europäische Präsidenten deuten solche Ansprüche an, Victor Orbán mit der Hoffnung so etwas wie die Revision des Vertrags von Trianon, Recep Tayyip Erdoğan bezogen auf den Vertrag von Lausanne. Auch diesen beiden Staatschefs ist die nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Ordnung der Welt ein Dorn im nationalistischen Auge.
Und was wäre mit den großen Weltreichen der Kolonialmächte? Ergebnis des Zweiten Weltkriegs war nicht nur der Zusammenbruch des Deutschen Reiches, sondern – mit diversen Verzögerungen – auch die Auflösung der Kolonialreiche Großbritanniens und Frankreichs. Die Auflösung der Kolonialreiche Belgiens, der Niederlande, Italiens, Portugals und Spaniens ist eine andere Geschichte, belegt allerdings ebenfalls den Trend. Die heutige Russische Föderation als Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion und des Zarenreichs ist im Grunde das einzige verbliebene Kolonialreich und so ließe sich Putins Krieg auch als Kolonialkrieg verstehen, in dem Völker um ihre Unabhängigkeit fürchten und kämpfen müssen. China nenne ich hier nicht, das ist eine andere Geschichte. Putin bewegt sich in europäischen Begriffswelten.
Letztlich wird meines Erachtens viel zu wenig betont, dass es ein Völkerrecht gibt, das die Unverletzbarkeit von Grenzen garantiert und damit Rückholkriege kategorisch ausschließt. In der öffentlichen Debatte jedoch erleben wir etwas, das in der Sprache diverser publikumsträchtiger Kampfsportarten Trash Talk genannt werden müsste. Zu diesem Trash Talk gehört, dass sich die kämpfenden Parteien gegenseitig als faschistisch beschimpfen.
Das hat Tradition und Methode: wer seine Gegner*innen ultimativ brandmarken möchte, nennt sie eben Faschisten. Putin behauptet, er müsse die Ukraine von Nazis befreien, im Gegenzug bezeichnen ihn seine Gegner*innen als Faschisten, so der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder. In einem Podcast der Serie „Der zweite Gedanke“ des RBB widersprachen im Gespräch mit Natascha Freundel die beiden Osteuropa-Historiker*innen Katja Makhotina und Grzegorz Rossoliński-Liebe. Aus historischer Sicht könne man Putin nicht als Faschisten bezeichnen. Man sollte Timothy Snyder zugutehalten, dass sein Faschismusbegriff sich von dem in Europa verwendeten Begriff unterscheidet, ebenso wie der Begriff, den Madeleine Albright sel.A. in ihrem 2018 erschienenen Buch „Fascism – A Warning“ verwendete. Dieser amerikanische Faschismusbegriff ließe sich aus meiner Sicht eher mit dem Begriff des Totalitarismus fassen und in der Tat gibt es in den von Timothy Snyder und Madeleine Albright analysierten Staaten eine eindeutige Tendenz, autoritäre in totalitäre Machtstrukturen zu überführen.
Faschismus ist die Ideologie von Parteien und Bewegungen einer bestimmten historischen Epoche, insbesondere Italien und Deutschland von den 1920er bis zur ersten Hälfte der 1940er Jahre. Einzelne Merkmale des Faschismus ließen sich sicherlich auch bei Putin feststellen, doch trägt der Begriff nicht zur Problemlösung bei. Aus deutscher Sicht hat der Vorwurf des Faschismus an Putin ohnehin einen reichlich unangenehmen Beigeschmack. Wenn er der Wiedergänger des Faschismus ist, muss man sich möglicherweise mit der eigenen faschistisch-nationalsozialistischen Geschichte nicht mehr näher befassen und auch die 27 Millionen Toten der damaligen Sowjetunion spielen weiterhin keine Rolle in der deutschen Erinnerungskultur.
Ruth Ben-Ghiat schrieb den Beitrag zum Begriff „Faschismus“ in dem von David Ranan herausgegebenen Buch „Sprachgewalt“ (Bonn, Dietz, 2021): „Faschismus – dieses Substantiv, das ein diktatorisches politisches System bezeichnet, trägt das ganze Gewicht dieser furchtbaren Geschichte, und doch fehlte es dem Begriff an Präzision. Historiker und Sozialwissenschaftler konnten sich nicht darauf einigen, wer oder was faschistisch war.“ Politiker*innen ebenso. Ruth Ben-Ghiat, Professorin für Geschichte und italienische Studien an der New York University, analysiert mehrere Anwendungen des Faschismusbegriffs, darunter den von Stalin für die Sozialdemokratie implementierten Begriff des „Sozialfaschismus“, den Trotzki für „kurzsichtig“ erachtete. Es ging um Diffamierung des Gegners, um nicht mehr oder weniger als politischen Trash-Talk. Im „Faschismus“ träfen sich „Nationalismus und Sozialismus“, die zu einer totalitären Ideologie und Praxis würden. Das bekannte Ergebnis: „Massenmord“.
Es macht letztlich keinen Unterschied, aus welchen ideologischen Gründen Putin die Ukraine angriff. Ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg, darin ändert der Kampfbegriff „Faschismus“ nichts, er verhindert jedoch eine rationale Auseinandersetzung, wie sie erforderlich wäre, um die anmaßenden schein-historischen Verweise Putins zu widerlegen. Die historische Mission, an die offenbar Putin glaubt und alle Russ*innen – wo auch immer in der Welt sie sich aufhalten – glauben lassen möchte, ist eine imperialistische Mission. Nation und Imperium – so Katja Makhotina in ihrem kurzen Essay „Das ewige Imperium“ vom 1. Juni 2022 – sind zwei Seiten einer Medaille, untrennbar miteinander verbunden. Letztlich tut Putin das, was Carl Schmitt schreibt: er bestimmt über den Ausnahmezustand, er ist Souverän, EU und NATO lassen sich treiben, mit gelegentlichen aktiven Phasen, die aber immer wieder auch relativiert werden, sei es durch einzelne Mitglieder wie Ungarn und der Türkei, sei es durch die Relativierung von Ankündigungen.
Eine wertegeleitete Außenpolitik wie sie Annalena Baerbock und andere Außenminister*innen und Staatschef*innen in der Europäischen Union und in der NATO für sich in Anspruch nehmen ist auch eine anti-imperialistische Außenpolitik. Sie respektiert das Völkerrecht und damit staatliche Grenzen unabhängig von den persönlichen Geschichten und Nationalitäten der Menschen, die in diesen Grenzen leben. Das Gift unserer Zeit heißt Nationalismus, es ist im Fall Putin ein aus nationalistischen Motiven gespeister Imperialismus. Deshalb lässt sich Putins Krieg mit Recht als imperialistischer Kolonialkrieg bezeichnen. Die Art und Weise, wie Putin aus der Ukraine Menschen verschleppen, Weizen und Kunstschätze nach Russland transportieren lässt, belegt neben den großen Tönen seiner Reden diese These. Nach seiner Rede vom 9. Mai beruhigten sich die westlichen Gemüter und es gab wieder die bekannten ewig langen Telefonate von Olaf Scholz und Emmanuel Macron mit Putin, die ebenso wie Joe Biden von Gesichtswahrung des russischen Präsidenten, wahlweise des russischen Volkes schwadronierten, zu Lasten der Ukraine. Putins Rede vom 9. Juni jedoch konnte klarer nicht sein und sollte eigentlich auch Gegenstand politischer Reaktionen sein. Eigentlich. Putin als Faschisten zu bezeichnen, ist wohlfeil. Es ist auch völlig irrelevant, ob er nun Faschist oder Kommunist ist – selbst das scheinen manche Altlinke noch zu glauben und verteidigen ihn deshalb. Er ist und bleibt Nationalist und Imperialist und vor allem ist er davon überzeugt, dass er so etwas ist wie ein russischer Messias. Den Segen des Patriarchen Kyrill hat er ja. Wie christlich Putin in seiner Zeit beim KGB in Dresden war, ahnen wir nur.
Putins Rhetorik ist höchstgefährlich, weil sie Russ*innen ein Gefühl geben könnte, Teil von etwas Großem zu sein, das größer ist als ihr eigenes Schicksal. Putin hat es in der Hand, ein nach Analyse vieler Expert*innen weitgehend apolitisches Volk zu politisieren. Hier erlaube ich mir einen Vergleich, der – das muss ich sagen – keine Gleichsetzung ist, aber doch verdächtig nahe an einer möglichen späteren historischen Analyse liegen könnte. Ich zitiere ein Buch, das viele zitieren, aber nur wenige tatsächlich von Anfang bis Ende gelesen haben dürften, Hannah Arendts Buch „Eichmann in Jerusalem – A Report on the Banality of Evil“: „It is noteworthy however, that Himmler hardly ever attempted to justifiy in ideological terms, and if he did, it was apparently quickly forgotten. What stuck in the minds of these men who had become murderers was simply the notion of being involved in something historic, grandiose, unique (‘a great task that occurs once in two thousand years’), which must therefore be difficult to bear. This was important, because the murderers were not sadists or killers by nature; on the contrary, a systematic effort was made to weed out all those who derived physical pleasure from what they did.”
Die Konsequenz formulierte Malte Lehming am 11. Juni 2022 in der Süddeutschen Zeitung: „Das Ziel des Westens muss es bleiben, die Ukraine nach allen Kräften zu unterstützen, Russland zu schwächen und andere Länder, wie China, von aggressiven Akten abzuschrecken. Weder darf die Angst vor einer Eskalation des Krieges ausgeblendet werden noch die Angst vor russischer Hegemonie. Wer das nicht in der Balance hält, handelt fahrlässig.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juni 2022, Internetlinks wurden am 26. Dezember 2022 überprüft. Titelbild: Hans Peter Schaefer.)