Science Fiction als Wirklichkeitsmaschine

Dritter Teil: Wir leben in einer SF-Gesellschaft

„Im SF-Syndrom haben wir den Geist der Zeit, nicht eine bloße Quelle zum Geist der Zeit (…). SF ist nicht ein Objekt, das man betrachtet (mit mehr oder weniger Interesse), sondern SF ist Signum und Symbol, Wesentliches unseres Jetzt.“ (Michael Salewski, Zeitgeist und Zeitmaschine, 1986)

Wir bleiben im historischen Kontext, wechseln aber das Thema. Es geht um nichts Geringeres als um den Beginn der Weltraumfahrt und um eine SF, die unmittelbar daran mitgewirkt hat. Insofern gehören die den Themenkomplex der Weimarer Weltraum-SF umrankenden literarischen und sonstigen Ereignisse zum Spannendsten, Wirkmächtigsten und Verblüffendsten, was die Geschichte der deutschen SF in dieser Ära zu bieten hat.

Realgeschichten: Vom fiktiven Antigrav-Antrieb zur Rakete

Die Weltraumfahrt und das Raumschiff sind wahrscheinlich die Begriffe, die selbst dem Unbedarftesten beim Stichwort Science Fiction unmittelbar einfallen, denn es gibt wohl keinen Topos der SF, der eine größere Popularisierung erfahren hat als die Raumfahrt, zumeist verbunden mit der Vor­stellung einer „Eroberung“ des Weltalls.

Angespornt durch die Fortschritte in der Fliegerei richten kühnere Geister schon früh den Blick aufs All. Jules Verne versucht es mit einer gigantischen Mondkanone in Von der Erde zum Mond (1865), Kurd Laßwitz, H. G. Wells und der frühe Hans Dominik konstruieren Antigravitations-Raumer, während sich Friedrich Wilhelm Mader in Wunderwelten (1911) der falschen Theorie eines ominösen Äthers bedient, der angeblich den Weltraum ausfüllt.

Der Russe Konstantin Ziolkowski präsentiert mit Außerhalb der Erde (Buchform 1920) eine wesentlich realistischere Möglichkeit. Er favorisiert die Rakete, die sich per Rückstoßprinzip auch im luftleeren Raum bewegen kann. In Deutschland ist es der junge Gymnasiallehrer Hermann Oberth, der in diesem Sinn weiterforscht. Bald schon gilt er als der Raketenspezialist seiner Zeit und bringt es sogar zum Professor.

Hermann Oberth in seiner Werkstatt in Babelsberg (1928), wo er für die UFA aus Reklamegründen eine Rakete bauen sollte. Das Unternehmen misslang. Einem Nervenzusammenbruch nahe verließ Oberth noch vor der Premiere fluchtartig das Filmgelände.

Ein Kulminationspunkt dieser erstaunlichen Entwicklung ist der Verein für Raumschifffahrt e. V. (VfR) – nach alter Rechtschreibung „Raumschiffahrt“ geschrieben. 1927 gründen neun Männer den Verein. Ihnen zugeneigt sind Hermann Oberth und ein junger Student namens Wernher von Braun, der 42 Jahre später zum Vater des bemannten Mondflugs werden sollte. Das erklärte Ziel der Vereinigung war es, durch Grundlagenforschung und durch das Sammeln von Spenden das erste funktionsfähige Raumschiff der Weltgeschichte zu bauen. Dabei legte man größten Wert auf Seriosität. Dennoch vermischten sich Forschung und Ingenieurstüfteleien mit Phantasien und Träumen. Nicht selten vereinigte sich alles in ein und derselben Person. Der VfR kann mit gewissen Einschränkungen als der erste SF-Fanclub Deutschlands bezeichnet werden. Auf jeden Fall ist er die erste deutsche Privatorganisation, die eine ausgewiesene SF-Idee zur Grundlage der Vereinsaktivitäten gemacht hat.

Kaum bekannt ist die wunderliche Tatsache, dass es bei der Entwicklung der Raumfahrttechnik neben dem VfR ein deutscher SF-Film war, nämlich der UFA-Spielfilm Frau im Mond, 1929 in Berlin uraufgeführt, der die Lawine ins Rollen brachte. Regisseur Fritz Lang setzte selbiges Spektakel handwerklich exzellent um. Seine Ehefrau Thea von Harbou (schon bekannt durch Metropolis) hatte das Drehbuch geschrieben.

Wichtiger für unseren Zusammenhang ist, dass die durch den Film Metropolis finanziell angeschlagene UFA unbedingt einen Kassenschlager landen wollte. Als beispiellosen Werbegag plante die Filmgesellschaft, eine zwei Meter große Flüssigkeitsrakete bauen zu lassen, die kurz vor der Premiere 40 Kilometer hoch steigen sollte. Die UFA heuerte für 10.000 Reichsmark Hermann Oberth an, damit er die Rakete baute. Widrige Umstände verhinderten das. Oberth, am Rande eines Nervenzusammenbruchs, verließ noch vor der Premiere 1929 fluchtartig Berlin. Dennoch ließen sich seine Ergebnisse sehen. Oberth erfand die Kegeldüse und machte Raumfahrtgeschichte.

Es ist somit ein SF-Medienereignis, welches in der Wirklichkeit einen Durchbruch in Richtung Raumfahrt gebracht hat. Kaum zu glauben, aber wahr. Einen weiteren Gedankenblitz, der Geschichte machte, steuerte Fritz Lang bei. Er erfand für seinen Film den Countdown des Raketenstarts, also das Rückwärtszählen bis zur Zündung. Heute gehört der Countdown so fest zu jedem Raketenstart wie Romeo zu Julia. Science Fiction pur!

Wir springen in das Jahr 1945. Nach der deutschen Kapitulation wollten vor allem die USA und die UdSSR das Wissen des zerstörten Nazi-Reichs abschöpfen. Aus rein militärischem Interesse ging es unter anderem um die Raketentechnik. Dafür brauchte man die V2-Wissenschaftler der Nazis. Wernher von Braun hatte sich schon vor Kriegsende den Amerikanern angebiedert, und es gelang dem gnadenlosen Opportunisten, der buchstäblich über Leichen ging, ins „amerikanische Team“ aufgenommen zu werden.

Den folgenden Satz muss man sich in seiner Bedeutung auf der Zunge zergehen lassen: Auf diese Weise entstand aus einem winzigen, obskuren deutschen Verein von Träumern und Tüftlern und einem glamourösen SF-Unterhaltungsfilm der UFA ein titanisches Globalunternehmen, das faszinierend und erschreckend zugleich ist und dessen zukünftige Auswirkungen nur die SF erahnen kann!

Fiktivgeschichten: Die Weltraumfahrt als SF-Ereignis

Nach diesem kurzen Überblick über die realen Entwicklungen greifen wir einige zeitgenössische Werke der deutschen SF-Weltraumbelletristik heraus. Im Kaiserreich erlebten einschlägige SF-Romane und Storys einen ersten Aufschwung – siehe Laßwitz, Daiber, Mader und andere. In der Weimarer SF kam es zu einem neuen Schub für die Space-SF. Der entscheidende Unterschied zum ersten Boom bestand in der Einführung eines neuen Typs von Raumschiff in die Gedankenwelt der „Mondsüchtigen“. Die Rakete begann ihren Triumphzug.

Der erste deutsche SF-Autor, der die nicht machbare Antigrav-Idee begrub und in der Rakete das realistische Raumvehikel sah, ist Bruno H. Bürgel in seinem Buch Der ‚Stern von Afrika‘. Eine Reise ins Weltall (1920). Der ‚Stern von Afrika‘ (das ist der Name des Weltraumschiffs) setzte die SF damit auf eine Spur, die Weiterungen haben sollte, von denen zu diesem Zeitpunkt die Masse des Publikums noch keinen blassen Schimmer hatte. Wenige andere hatten indes eine ganz andere Optik.

Zu ihnen gehörte Otto Willi Gail, der den bedeutendsten Mondroman der Weimarer Epoche Der Schuss ins All (1925) schuf. Ein Blick in den Text genügt, um zu beweisen, wie realistisch Gail unter anderem den Sonnenaufgang über der Erde vom All aus gesehen beschreibt. Man ist fast versucht zu meinen, er sei bei der Apollo-Mission mit an Bord gewesen. Ähnlich der Autor Willy Ley, ebenfalls ein wichtiges VfR-Mitglied. Er war der erste Deutsche, der in einem Zeitungsartikel von 1930 von Science-Fiction sprach. Sein Roman Die Starfield Company (1929) ist ein erfrischendes Kleinod der zeitgenössischen deutschen Zukunftsliteratur.

Bürgel, Gail und Ley zeichneten sich zudem durch eine Haltung aus, die sich deutlich von den rechtsnationalistischen und rassistischen Ausfällen vieler ihrer Kollegen abhob. Kein Wunder, dass Bürgel und Gail von den Nazis kaltgestellt wurden, während Willy Ley in die USA emigrierte, um dort zu einem bedeutenden Wissenschaftsjournalisten zu werden. Viele SF-Magazine haben ihm wichtige Artikel zu verdanken.

Weitere Belege für die These von der SF-Wirklichkeitsmaschine

Neben den oben genannten erstaunlichen Bezügen gibt es eine Fülle von weiteren Spots, die die These von der SF als Wirklichkeitsmaschine untermauern. Hier geht es um Beispiele aus anderen zeitlich-geografischen Räumen und Themenkomplexen, die zwar unsystematisch nebeneinanderstehen, aber nichtsdestotrotz ein Kaleidoskop an verblüffenden Einblicken erlauben.

Der U-Boot-Krieg gegen England

Ein schlagender Beleg dafür, dass die Science Fiction Geschichte macht, ist folgender Vorgang. Auslöser war unwissentlich der berühmte englische Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle, der sich durch die Erfindung des Superdetektivs Sherlock Holmes Unsterblichkeit erworben hat. Doyle veröffentlichte im STRAND-Magazin eine SF-Geschichte mit dem Titel Danger, die in Deutschland als Der Tauchbootkrieg. Wie Kapitän Sirius England niederzwang, auch Die Unterseeboote des Kapitän Sirius, 1914/15 herausgegeben wurde. Der Autor erzählt von einem deutschen U-Boot-Krieg gegen England, in dem der deutsche Kapitän Sirius durch die Versenkung von Handelsschiffen England in nur sechs Wochen zur vollständigen Aufgabe zwingt.

Interessant ist weniger die Story selbst, sondern die Tatsache, dass sie von dem deutschen Admiral Magnus von Levetzow gelesen wurde, einer höchst fragwürdigen Figur, gehörte sie doch zu den Wegbereitern Hitlers. Levetzow war derart beeindruckt von Doyles Geschichte, dass er sie umgehend seinem Vorgesetzten Admiral Scheer zur Lektüre empfahl. Über diesen erreichte sie den Sohn des deutschen Kaisers Prinz Adalbert, der sie wiederum seinem Vater Wilhelm II. zugänglich machte. Die Folge war, dass sich die Idee festsetzte. 1916 behauptete die deutsche Admiralität tatsächlich, man könne durch einen totalen U-Boot-Krieg die Engländer innerhalb von sechs Wochen in die Knie zwingen. So begann der deutsche U-Boot-Krieg im Ersten Weltkrieg, ausgelöst durch eine SF-Story! Der gesamte Vorgang – berichtet von dem Historiker Michael Salewski in Zeitgeist und Zeitmaschine – ist historisch erforscht und belegt, siehe auch Gerhard Granier, Magnus von Lewetzow, Boppard 1982.

Antizipationen des Nazi-Desasters

Wir schauen auf den Autor Matthew Phipps Shiel. Die Affinitäten M. P. Shiels zu faschistoiden Denkweisen, zum Antisemitismus und zum Rassismus sind m. E. unabweisbar, obwohl andere Kritiker dies abzuschwächen versuchen. Immerhin gilt er aufgrund seines 1901 erschienenen SF-Romans The Yellow Danger als Erfinder des Schlagworts von der „gelben Gefahr“, das dann zum festen Bestandteil nicht nur im rechtsreaktionären Vokabular wurde. Bei einer anderen SF-Story von Shiel stockt der Atem. Der Autor erzählt von einer geheimen Gesellschaft, die mordend über Europa und die Welt herfällt, um die eigene „Rasse“ genetisch „rein“ zu erhalten. Diese beängstigende Erzählung trägt den Titel The S.S., veröffentlicht 1895! Bei Shiel steht die Abkürzung SS für den Namen der Schwerstverbrecherbande: „Society of Sparta“.

Als ausdrückliche Warnung gemeint ist der SF-Roman City of Endless Night des US-Amerikaners Milo Hastings, eine vorweggenommene Nazi-Dystopie. Der Autor, der offensichtlich aufgrund seiner Erfahrungen im Ersten Weltkrieg schon eine recht genaue Vorstellung über den weiteren Weg Deutschlands hatte, beschreibt eine Gesellschaft in einem in riesigen Kavernen unterirdisch gelegenen Berlin, die Gedankenkontrolle und Eugenik betreibt und sich auf die Eroberung der Welt vorbereitet. Hastings dunkle Dystopie nimmt die Nazidiktatur vorweg. Ein leider vergessenes, dennoch sensationelles Buch. Erschienen 1919.

Der SF-Roman Lightning in the Night (1940), deutsche Übersetzung: Blitzkrieg. Die Nazi-Invasion in Amerika (1984), verfolgte die konkrete Absicht, die aktuelle Politik unmittelbar zu beeinflussen. Zu Beginn der 1940er-Jahre wollten die meisten Amerikaner keinen Kriegseintritt der USA. Präsident Roosevelt war besorgt, denn ihm war klar, dass sich die USA auf Dauer nicht aus den weltpolitischen Erschütterungen würden heraushalten können. Ein Versuch, den weitverbreiteten Ohne-mich-Standpunkt zu überwinden, war der Regierungsauftrag an den Journalisten Fred Allhoff, einen Roman zu schreiben, in dem die USA von der Nazi-Armee überrollt wird. 1940 erschien das Werk in zwölf Fortsetzungen in dem Massenmagazin LIBERTY. Es bewirkte nachweislich einen Umschwung in der öffentlichen Meinung. Roosevelt konnte jetzt, noch unterstützt durch den japanischen Überfall auf Pearl Harbor Ende 1941, mit einer Mehrheit im Rücken eingreifen.

Fred Allhoffs beklemmende Vision demonstriert zum wiederholten Mal, was man mit der SF alles anstellen kann. Der Klappentext der deutschen Ausgabe drückt das so aus: „Das Buch ist eine Rarität, ist es doch der erste offizielle Versuch in der Geschichte, mit Science Fiction Politik zu machen.“ Wenn die Betonung auf „offiziell“ liegt, ist das richtig. Ansonsten ist die Absicht, mit SF Politik zu machen, weit verbreitet, speziell in den sieben Jahrzehnten bis zum Zweiten Weltkrieg.

Die Atombombe und der Schutzschild über Amerika

Wie sehr sich Science und Fiction miteinander vermengen können, zeigt die Geschichte vom Besuch des FBI im Büro des ASTOUNDING SCIENCE FICTION-Herausgebers John W. Campbell im Jahre 1944. Campbell hatte nämlich die SF-Story Deadline von Cleve Cartmill in seinem Magazin veröffentlicht, eine Geschichte, bei der es um die Entwicklung einer Atombombe geht. Die Darstellung Cartmills näherte sich derart eng den Tatsachen an, dass die US-Regierung ihn des Geheimnisverrats verdächtigte – eine hochbrisante Angelegenheit, da just zur selben Zeit das streng geheime Manhattan-Projekt lief. Mit diesem Projekt würden die USA ganz real in den Besitz der Atombombe kommen, was zu diesem Zeitpunkt allerdings ein streng gehütetes Staatsgeheimnis war. Campbell und Cartmill fielen aus allen Wolken, da sie davon nachweislich nicht die geringste Ahnung hatten. Cartmill hatte für seine Story lediglich Fakten gesammelt, die jedermann öffentlich zugänglich waren und sie entsprechend verarbeitet. Das rettete ihm den Kopf.

Im Jahr 1913 beschreibt H. G. Wells in The World Set Free die atomare Kettenreaktion und die Atombombe – übrigens hat Wells das Wort erfunden. Die Lektüre des Buchs soll den ungarisch-deutschen Atomphysiker Leo Szilard, einem der Väter der realen Atombombe, auf die Idee der Kettenreaktion gebracht haben. Ebenso finden wir bei dem deutschen SF-Protagonisten Hans Dominik in Der Brand der Cheops-Pyramide (1926) und Das Erbe der Uraniden (1927) die Nuklearbombe und die Idee eines Atombrands.

Aus der nuklearen Hochrüstung entwickelt sich nach dem zweiten Weltkrieg die Strategie der Abschreckung, die auf dem Gedanken beruht, dass jeder atomare Angriff einer Supermacht auf die andere mit der vollständigen Vernichtung aller Beteiligten enden würde, insofern ein Atomkrieg nicht gewinnbar sei (eine Strategie, die trotz aller Anfeindungen historisch erfolgreich war – jedenfalls im 20. Jahrhundert). Mit Sicherheit erschien sie ihren Erfindern als etwas revolutionär Neues in der Militärgeschichte.

Weit gefehlt! Tatsächlich kann man schon 1810 (!) bei Julius von Voß etwas über die Abschreckungsstrategie erfahren. In Ini deutet Voß eine Art Atombombe und die aus ihr abzuleitende Abschreckungsstrategie an. Bulwer Lyttons SF-Roman Das kommende Geschlecht greift den Gedanken 1870 erneut auf – hier operiert er mit einer sogenannte Vril-Bombe.

Die Pläne der US-Regierung zur Führung eines Weltraumkrieges mit „Killersatelliten“ und einem „Schutzschild“ (beides SF-Begriffe) über Amerika liefen unter dem Namen „Star Wars“. Nun ist das Franchise Der Krieg der Sterne (Star Wars) bekanntlich eine der erfolgreichsten SF-Produktionen von George Lucas Ende der 70er, Anfang der 1980er-Jahre, das immer noch seine Fortsetzung findet und zudem mit den angesprochenen Plänen nichts zu tun hat. Indes ist die Vorstellung des ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan bezüglich eines Schutzschilds über Amerika (SDI) eine alte Idee des SF-Autors Jack Williamson, niedergeschrieben 1955 (!) in seinem Roman Die Energie-Kuppel (mit dem bezeichnenden englischen Originaltitel Dome Around America), hier allerdings noch als Kontinent umfassender Energieschirm gedacht. Williamson gilt auch als Erfinder des Begriffs „genetic engineering“ in seinem SF-Roman Dragon’s Island (1951).

Die SF-Idee von einem Schutzschild über Amerika hat möglicherweise sogar zum Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums mit beigetragen. Obwohl die ganze Sache in der Realität ein ausgemachter Schwindel war (wissenschaftlich-technisch wie auch finanziell war SDI nicht machbar), glaubte die Sowjetführung offensichtlich felsenfest an eine neue Runde des Wettrüstens, bei der sie endgültig das Handtuch hätte werfen müssen. Der bekannte SF-Autor und Kritiker Thomas Disch stellt fest: „Wie ein erschöpfter Marathonläufer, der seine Grenzen erreicht hat und in einen langsameren Schritt verfällt, der für ehrenvolle Kapitulation steht, schied die Sowjetunion aus dem Wettrüsten aus.“

Krieg als Computerspiel

Der Golfkrieg von 1991 war der erste High-Tech-Krieg in der Geschichte der Menschheit und ließ uns zum ersten Mal etwas von den Kriegen des 21. Jahrhunderts ahnen. In seiner medialen Vermittlung war er gespenstisch, da simuliertes Nintendo-Game, Science-Fiction und reale Vernichtung kaum mehr zu unterscheiden waren. Ich weiß natürlich nicht, wie es anderen ergangen ist. Ich selbst saß zum damaligen Zeitpunkt fassungslos vor dem Fernsehschirm und konnte nur schwer und erst nach und nach verstehen, dass vor meinen Augen kein SF-Film abrollte, sondern eine reale Berichterstattung

Orson Scott Cards genmanipulierter Ender, der geniale, von den Militärs missbrauchte Junge, der meint, Computerspiele zu spielen, doch damit unwissentlich ein ganzes Sternenvolk ausrottet, warf in dem Roman Ender’s Game (1977) vierzehn Jahre vorher seine Schatten voraus.

Sprache und Science Fiction

Unsere aktuelle Alltagssprache wimmelt von SF-affinen Wörtern: „uploaden“, „downloaden“, „skypen“, „twittern“, „beamen“, „bloggen“, „youtuben“, „hacken“, „klonen“, „Allnet“, „Farnet“, „Proxnet“ (drei von dem US-SF-Autor Dan Simmons kreierte Begriffe), „Computervirus“, „Cyborg“, „Robot“, „Nanobot“, „Androide“, AI oder KI für „Artificial Intelligence“ beziehungsweise „Künstliche Intelligenz“, „virtuelle Welt“ oder „Cyberspace“ und so weiter und so fort. Das sogenannte Denglisch ist dabei ebenso typisch wie die SF-Methode, neue Vokabeln schlicht zu erfinden, zum Beispiel „Hyperraum“, „Trans-Warp“, „Paratron-Schutzschirm“ oder „Desintegrator“, die dann irgendwann in die Allgemeinsprache übernommen werden. Aufmerken lassen der Gebrauch von Redewendungen im Zusammenhang mit der SF. So sind rhetorische Figuren wie

  • „das klingt wie Science-Fiction“ als Hinweis, dass etwas Unglaubliches doch wahr ist,
  • „das ist keine Science-Fiction“ als besondere Betonung des Realitätsgehalts eines Berichts oder
  • „wie in einem Science-Fiction-Film“, zum Beispiel in vielen Kommentaren zum Terror-Anschlag gegen die Twin-Towers in New York, gerade in den Medien gang und gäbe.

Die erste amerikanische Raumfähre war ein Prototyp und hieß „Enterprise“, benannt nach der zentralen Raumschiffserie des Star-Trek-Franchise. Ebenfalls gibt es einen US-Flugzeugträger mit Namen „U.S.S. Enterprise“, möglicherweise benannt nach dem Flaggschiff der fiktiven Sternenflotte. Die Bezeichnung beziehungsweise Namensgebung von Gegenständen oder Vorgängen (zum Beispiel „beamen“), die ursprünglich der SF entsprungen sind, sind keineswegs selten. Das erste atombetriebene U-Boot der Welt war die US-amerikanische „Nautilus“, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit benannt nach dem Schiff von Kapitän Nemo aus 20.000 Meilen unter den Meeren, dem weltberühmten SF-Roman von Jules Vernes. Dafür spricht auch, dass laut Wikipedia die echte Nautilus am 4. Februar 1957 ihre 60.000ste nautische Meile zurücklegte. Das stimmt exakt mit der Reisedauer der fiktiven Nautilus von Verne überein.

Apropos Jules Verne! Jules Verne erfand die NASA und Cape Canaveral. Dieser erstaunliche Autor hat nicht nur eine Fülle von noch heute interessanten Bestsellern vorzuweisen, sondern auch einen Weitblick bewiesen, der baff macht. Ein Highlight in seinem Werk ist der SF-Roman Von der Erde zum Mond (1865). Hier erfindet er in seinem fiktiven amerikanischen Kanonenclub nicht nur die NASA, sondern legt auch fast punktgenau den zukünftigen Weltraumbahnhof fest. Er verortet ihn bei Tampa, Florida. Ein Blick auf die Karte zeigt, dass Cape Canaveral, der reale Standort der heutigen Abschussbasis, genau gegenüber von Tampa an der Küste Floridas liegt.

Roboter, Androiden, künstliche Intelligenzen und der Cyberpunk

Der uns allen bekannte „Robot“ („Roboter“) – abgeleitet von dem slavischen Wort „robota“ für schuften, Fronarbeit leisten – ist eine Erfindung des tschechischen Autors Karel Čapek. In seinem SF-Theaterstück W.U.R. (Werstands Universal Robots) von 1920 lässt er künstliche, automatenhafte Sklavenarbeiter auftreten, die wir heute in der SF als Androiden bezeichnen würden, weil sie bei Čapek keine mechanisch-elektronischen, sondern künstliche biologische Wesen sind. Diese erheben sich schließlich gegen ihre Ausbeuter.

Wenn von Robots die Rede ist, kann und darf der Name Isaac Asimov nicht fehlen. Ausweislich des Oxford English Dictionary ist Isaac Asimov der Erfinder der Wörter „Robotik“ und „positronisch“. Seine weltberühmten Roboter-Stories mit den zur Ikone gewordenen „Drei Gesetzen der Robotik“ haben nachweislich erhebliche Motivationsschübe auf führende Köpfe in der Entwicklung der Computer- und Robotertechnologie bewirkt (zum Beispiel Marvin Minsky). Seine Idee eines moralischen Regelwerks für Robots (schon 1939/40) hat in Zeiten, in denen man Haushalts- und Pflegerobots entwickelt, höchste Aktualität gewonnen.

Im Film sind Asimovs Roboter Standard. Ohne ihn wären Geschöpfe wie 3CPO und R2D2 in Krieg der Sterne und Data in Star Trek nicht denkbar. Ihr Vorläufer ist Robby aus dem wahrscheinlich besten SF-Film der 1950er Jahre Forbidden Planet (der deutsche Titel Alarm im Weltall ist dagegen schrecklich banal). Mit ihm taucht der erste Roboter Asimov’scher Prägung auf der Leinwand auf, der sinnigerweise genau den Namen trägt, mit dem der Altmeister seine allererste Robot-Geschichte betitelte: Robbie (1940). Und Anfang Januar 2001 meldeten verschiedene Medien, dass der japanische Autokonzern Honda Motors an einem „menschlichen“ Roboter arbeite. Sein Name: „Asimo“!

Die Künstliche Intelligenz (KI), englisch Artificial Intelligence (AI), ist in den letzten Jahren einem allgemeinen Trend in den Medien folgend zu einem regelrechten Modethema in der SF geworden. Hervorstechend ist hier die diffuse Unbestimmtheit, in der sich die KI bewegt. Sie belegt die weit verbreitete Unkenntnis vieler Autoren/innen über den neuen technologischen Topos, der oft nur an das altbackene Elektronengehirn aus der Frühzeit der SF anschließt, dem die schlimmsten Untaten zugetraut wurden. Eine Ausnahme ist hier der jüngst erschienene SF-Roman Adam und Ada (2023) des deutschen Christian Kellermann. Er vermag nicht nur aufgrund seines wissenschaftlichen Hintergrunds fach- und sachkundig über die KI zu schreiben, sondern schließt auch einen intelligenten Bogen zwischen „alter“ und brandneuer SF. Er bezieht sich nämlich auf den wichtigen SF-Roman Der Tunnel (1913) von Bernhard Kellermann, der im Plot von Adam und Ada eine gewisse Rolle spielt. Ja, die Namensgleichheit der Autoren ist kein Zufall, ist doch Christian Kellermann der Urgroßneffe des 1951 verstorbenen Bernhard Kellermann. So gelingt dem aktuellen Kellermann nebenbei ein kleines Husarenstück, indem er alte und neue SF in ein plausibles Verhältnis zueinander setzt, das die gegenseitige historische Bedingtheit augenfällig macht.

Die KI ist indes nur ein Teil dessen, was als Cyberpunk und Posthumanismus in die SF-Stilgeschichte eingegangen ist. Auch das ist hochinteressant, weil viele fälschlicherweise annehmen, dass erst mit William Gibson (Neuromancer, 1980) diese Geschichte begonnen hat. In Wirklichkeit hatte der US-amerikanische SF-Autor Alfred Bester in The Stars, My Destination (1957) schon früh die Idee, einen Menschen elektronisch zu „verdrahten“, sodass dieser zu einer Cyborg ähnlichen Kampfmaschine wird – und legte damit in nuce den Grundstein zur Cyberpunk-SF, eine Richtung, die besagter William Gibson ab 1980 zur Reife führte.

Zwischen 1957 und 1980 gab es noch andere, die pionierhaft in virtuelle Welten vorstießen, einmal abgesehen von Kurd Laßwitz, bei dem man schon vor 120 Jahren ähnliche Anklänge finden kann. 1964 bannte der SF-Autor Daniel F. Galouye mit dem komplexen SF-Roman Simulacron 3 (auf Deutsch Welt am Draht) vorausschauend jene Ängste aufs Papier, die heute durch die Feuilletons wabern. In Simulacra (1964), bitte nicht mit Simulacron 3 verwechseln, reißt Philip K. Dick die Grenze zwischen realen und künstlichen Menschen ein. Selbst der US-Präsident entpuppt sich als Simulacrum. Besonders erwähnt werden muss auch der Österreicher Herbert W. Franke, der gerade für die deutschsprachige SF bereits 1961 mit seinem SF-Roman Das Gedankennetz Maßstäbe für die kommende Richtung des Cyberspace setzte.

Religion

Selbst vor dem Gebiet der Religion schreckt die SF nicht zurück. In einer fast durchgehend religionskritischen Haltung spielt sie hier entweder Varianten durch, die aus der Konfrontation der überkommenen Großreligionen mit SF-Welten entstehen, oder sie wagt Ausblicke auf neue Entwicklungen, die den Gläubigen als Sakrileg erscheinen müssen. In diesem Sinn ist Philip K. Dicks Valis (1981) der bedeutendste SF-Religionsroman, der bisher geschrieben wurde. Er nimmt die heute fast schon übliche synkretistische Methode von Religionssuchenden vor allem in den Metropolen vorweg. Das heißt, persönlich genehme Versatzstücke aus unterschiedlichen alten Glaubenssystemen werden zu einer Privatreligion zusammengebastelt. 1965 projizierte Frank Herbert einen ähnlichen Eklektizismus in dem weltberühmten Buch Dune, der wahrscheinlich nicht zuletzt deshalb zum meistverkauften SF-Roman aller Zeiten wurde.

Ökologie und Energiekrisen

Es ist bekannt, dass sich zahlreiche SF-Romane mit der Umweltverschmutzung und einer drohenden Umweltkatastrophe auseinandergesetzt haben, und zwar zu einem Zeitpunkt, als die ökologische Problematik noch in keiner Weise zum Allgemeingut gehörte. Dass sie aber (jedenfalls in Teil­bereichen) von der Wirklichkeit recht schnell eingeholt wurde, bewies der Brite John Brunner mit seinem Roman Schafe blicken auf, herausgekommen 1972. In diesem beeindruckenden Werk extrapoliert John Brunner in einer Art Schnitt- und Collagetechnik den Beginn einer Öko-Katastrophe ungeahnten Ausmaßes, aber auch die zunehmende Zerrüttung der Gesellschaft durch steigende Massenarbeitslosigkeit, die bei ihm zu einer völlig desolaten und vergifteten Erde um das Jahr 2000 herum führt. Zwar ist zu unserem Glück das Gesamtszenario Brunners (noch?) nicht eingetreten, aber in Einzelpassagen entwickelt der Autor eine bedrückende Weitsicht, so vor allem in der Beschreibung der von einer Giftgaskatastrophe heimgesuchten Stadt Denver. Genau zwölf Jahre später, nämlich 1984, fand Selbiges nicht mehr fiktiv, sondern real in der indischen Stadt Bhopal statt. Die Übereinstimmungen zwischen dem, was im imaginären Denver passiert, und den tatsächlichen Vorfällen in Bhopal gehen bis in die Einzelheiten.

Umwelt- und Energiekrisen sind schon lange vor John Brunner Bestandteil der SF. In seiner SF-Story Der Jahrtausendschläfer beschreibt Laurence Manning einen Mann, der nach einem 3000jährigen Tiefschlaf erwacht und sich in einer Welt mit permanenter Energienot wiederfindet. Der Grund dafür liege in einem weit in der Vergangenheit zurückliegenden Zeitalter, das als die „Epoche der Verschwendung“ bezeichnet wird. Die Geschichte erschien 1933 (!) in der März-Ausgabe von „Wonder Stories“.

Wieder einmal ist es der große H. G. Wells, der schon vor 100 Jahren die Problematik der Energiekrise erkannte (in seinem 1921 erschienenen Semi-SF-Buch Secret Places of The Heart). Er schreibt: „Kohle ist der Schlüssel zur Metallverarbeitung und Öl zum Verkehrswesen. Wenn sie aufgebraucht sind, müssen wir entweder einen solchen Apparat, ein solches Wissen und eine solche Organisationsfähigkeit der Gesellschaft aufgebaut haben, dass wir ohne sie zurechtkommen – oder wir sind einem langen Weg der Ver­schwendung bis hin zum Zusammenbruch gefolgt. Heute verhalten wir uns bei der Förderung, der Verteilung und dem Verbrauch enorm verschwenderisch. Während wir hier sitzen, verschwendet die ganze Welt ihren Brennstoff – fantastisch!“ Gerade die letzten zwei Sätze des Zitats sind absolut erstaunlich, denn sie sind 100 Jahre alt, aber sie könnten heute am Tag in der Zeitung stehen, ohne dass irgendjemand an ihrer brandheißen Aktualität zweifeln würde.

Fazit: Wir leben in einer SF-Gesellschaft

Der Slipstream, jener Begriff, der das Verwischen oder gar die Aufhebung der Genre-Grenzen bezeichnet, greift hinüber in das Verschwimmen der Grenzen zwischen schlichter Unterhaltungsware und anspruchsvoller Literatur, zwischen Dekor, Plakat und Kunst, zwischen Fantasiertem und Realität. Insofern ist es berechtigt zu sagen, dass wir schon seit längerem in einer SF-Gesellschaft leben, einer Gesellschaft, die derart durchdrungen ist von den Paradigmen der Science-Fiction, dass die SF selbst zu einem wirkenden Teil unserer gesellschaftlichen Realität geworden ist.

In dem Sachbuch Zeitgeist und Zeitmaschine bezeichnet der Historiker Michael Salewski diesen Grundzusammenhang als „Ausdruck des historischen Selbstverständnisses der Zeit“. Er stellt fest: „Die Welt des 19. und 20. Jahrhunderts ist, geistesgeschichtlich betrachtet, vielleicht durch nichts stärker verändert worden als durch die SF – SF nicht als Literatur oder Film, nicht als ‚Zukunftsvision‘ oder technisch-wissenschaftliche Antizipation, erst recht nicht als Futorologie (…), sondern als Grundkonzept gegenwärtiger und künftiger Geschichte.“

Im SF-Strom

Tatsächlich finden wir um uns herum massenhaft Science-Fiction, und zwar nicht nur als originäre Genre-SF (fast täglich flimmern irgendwelche SF-Filme über die Fernsehschirme), sondern vor allem als metaphorische Versatzstücke zur Interpretation und Gestaltung von Wirklichkeit.

Bereits in der ersten Staffel der Originalserie von Star Trek vor knapp 60 Jahren (!) benutzen Kirk und seine Crew kleine handliche Kommunikatoren, die bei Gebrauch aufgeklappt werden. Ist es purer Zufall, dass es schon seit Jahren kleine, aufklappbare Handys gibt?

Wer heute das Studiodesign der Tagesschau betrachtet, könnte sich in die Zentrale eines Raumschiffs der Galaktischen Föderation versetzt fühlen. Ein futuristisches SF-Ambiente als Dekoration einer seriösen Nachrichtensendung? Was könnte bezeichnender für aktuelle Befindlichkeiten sein?

Weiter geht es über eine Flut von Werbespots, die nur so vor SF-Accessoires strotzen. Schoko-Riegel und sogenannte Energy-Drinks, Überraschungseier und Automarken, Kinderspielzeug und Dyson-Produkte, selbst Versicherungen und Banken machen den Tele-Tubbies, Power Rangers Konkurrenz.

Heute berichten Tageszeitungen über Anfang und Ende des Universums, über den Mars, die Internationale Raumstation (ISS), über SpaceX, Hackerangriffe, Mutanten, Roboter und Bioexperimente, die nach Frankenstein riechen, Meldungen, die noch wenige Jahre zuvor nur in bewusst skurrilen Sonderausgaben möglicher Zukunftszeitungen mit begrenztem Ideenreichtum geduldet wurden. Populäre Wissenschaftsmagazine wimmeln vor SF-Themen, und einige der reichsten und innovativsten Unternehmer wie Mark Zuckerberg, Elon Musk und Jeff Bezos beziehen ihre Ideen aus SF-Romanen. Zum Beispiel hat Zuckerberg einen „neuen Cyberspace“ verkündet und seine Firma Facebook aktuell in Metavers umbenannt – ein Begriff, den er von dem berühmten SF-Autor Neal Stephenson abgekupfert hat (siehe Snow Crash, 1992).

Um ein Beispiel aus meiner direkten Lebenswelt zu nennen: Im Hauptbahnhof meiner Heimatstadt Gelsenkirchen, bei allem Respekt wahrlich keine Zukunftsmetropole, gibt es digitale Reklametafeln mit bewegten Bildern und Fernsehnachrichten – ein Umstand, der noch zu Zeiten des damals brandneuen Films Blade Runner (1982) von Ridley Scott, der Eindrücke einer futuristischen Stadt vermitteln wollte, zu großem Erstaunen führte (auch bei mir). Dass derartige Dekors einmal zu völlig unaufgeregten Bestandteilen meiner alltäglichen Gegenwart gehören würden, wäre mir 1982 nicht im Traum eingefallen.

Ein Kühlschrank kann dank Handy von wer weiß woher nach fehlenden Vorräten befragt werden, genauso wie jemand seine Wohnung in Köln inspizieren kann, während er in London oder Tokyo weilt. Klosetts, die beim Verrichten des Geschäfts gleichzeitig sämtliche Körperwerte messen und bei Abweichungen sofort den Hausarzt informieren, gibt es auch schon. Das in Coronazeiten üblich gewordene virtuelle „Zusammensein“ ist gar nicht mehr so weit entfernt von der klaustrophobischen Gesellschaft, die nur noch per Hologramm kommuniziert (siehe Isaac Asimovs wunderbaren SF-Roman Die nackte Sonne von 1957). Selbstfahrende Autos sind im Experimentierstadium, Lufttaxen und Drohnenpost ebenfalls. Ungemütlicher wird es bei Kampfrobotern, und Orwells Big Brother lässt mit einer digitalen Komplettüberwachung grüßen, wie sie heute schon in China, aber auch anderswo üblich ist.

Was kann noch kommen?

Wer meint, damit sei das SF-Arsenal erschöpft, irrt gewaltig, bleibt doch noch eine Menge übrig. Eine gegriffene Aufzählung möge den Blick schärfen. Hier eine Auswahl.

Der Antigrav-Generator, der Deflektor, der Energieschirm, der Überlichtantrieb, Sternenkolonien, das galaktische Imperium oder, wer es demokratisch mag, die galaktische Föderation, der Replikator, der Multiduplikator, Robots in allen Variationen mit ihrem Höhepunkt im Humaniformrobot, Androiden, Replikanten, Zeitmaschinen, Transmitter, die Kryonik, die Bionik, der Fusionsreaktor im Miniaturformat, Formenergie, Telepathie, Telekinese, Teleportation, die echte KI, Cyborgs, die Gesellschaft der Freien und Gleichen in Wohlstand und Luxus, idyllische Habitate unter funkelndem Sternenzelt, der Homo superior, die Unsterblichkeit, die Superintelligenz, die Sternengötter.

Ich schließe nicht prinzipiell aus, dass es alles das irgendwann geben könnte, vorausgesetzt, die Menschheit ist intelligent genug, sich nicht nur selbst zu retten, sondern auch noch mit diesen Optionen Vernünftiges anstellen zu können. Das Ganze ist ebenso verwirrend wie verstörend.

Als kleine Beruhigungspillen mögen die real existierenden Dauersendungen Space Night und Earth View dienen, die uns das Universum als spacige Gute-Nacht-Geschichte präsentieren. Sie sind mittlerweile bei speziellen Genießern zur liebgewonnenen Einrichtung geworden – und das ausgerechnet initiiert vom Bayerischen Rundfunk (heute gesendet über ARD Alpha).

Hans Frey, Gelsenkirchen

Der erste Teil erschien im September, der zweite Teil im Oktober 2023 im Demokratischen Salon

Zum Autor Hans Frey:

Der Lehrer Hans Frey war 25 Jahre lang für die SPD Abgeordneter im Landtag Nordrhein-Westfalen. Er errang regelmäßig ein Direktmandat in Gelsenkirchen. 2005 kandidierte er nicht mehr und widmete sich seiner Leidenschaft, der Science Fiction. Heute ist er einer der bedeutenden Chronisten und Experten der Science Fiction mit Verbindung zu verschiedenen Verlagen und vielen anderen Experten und Expertinnen der SF-Community.

Zur Editionsgeschichte des Essays:

Der Essay „Science Fiction als Wirklichkeitsmaschine“, © 2023 by Hans Frey, ist in seinen drei Teilen eine überarbeitete und ergänzte Fassung eines erstmalig in „Gestaltbare Zukünfte“ erschienenen Textes. Es handelte sich dabei um das Abschlussheft des innovativen Praxisprojekts „Technikzukünfte in der deutschsprachigen Science-Fiction-Literatur“, Germanistisches Institut der Ruhr-Universität Bochum. Herausgeber und Redaktion: Dr. Markus Tillmann. © 2020 by Markus Tillmann und den jeweiligen Autoren/innen; Coverillustration © 2019 by Maikel Das.

Eine ähnliche, an die Ursprungsfassung angelehnte Version erschien in DAS SCIENCE FICTION JAHR 2020, © 2020 by Hirnkost Verlag Berlin, Hrsg. Hardy Kettlitz & Melanie Wylutzki, unter dem Titel „Wie Science Fiction Geschichte macht“.

(Anmerkung: Erstveröffentlichung in dieser Fassung im Demokratischen Salon im September 2023, Internetlinks zuletzt am 1. September 2023.)

Zum Weiterlesen:

Neben zahlreichen Primär- und Sekundärwerken der SF, die nicht extra aufgeführt werden, beruht der Essay im Wesentlichen auf der von Hans Frey herausgegebenen und geschriebenen Reihe „Geschichte der deutschsprachigen SF-Literatur“. Die bereits erschienenen vier Bände sind alle in Berlin bei Memoranda erschienen, lieferbar und auch als EBook über den Buchhandel oder direkt über die Verlagsadresse erhältlich. Die Bände 1 und 2 wurden 2020 mit dem Kurd Laßwitz Preis ausgezeichnet. Die Bände im Einzelnen:

Band 1: Fortschritt und Fiasko – Vom Vormärz bis zum Ende des Kaiserreichs 1810-1918, 2018.

Band 2: Aufbruch in den Abgrund – Von Weimar bis zum Ende der Nazidiktatur 1918-1945, 2020.

Band 3: Optimismus und Overkill – Von den Anfängen der BRD bis zu den Studentenprotesten 1945-1968, 2021.

Band 4: Vision und Verfall – Von der sowjetischen Besatzungszone bis zum Ende der DDR 1945-1990, 2023.

2023.