Sicherheit und Demokratie – die Lagebilder

Gespräche mit der Innenpolitikerin Irene Mihalic MdB – Teil I

„Lassen Sie mich meine feste Überzeugung kundtun, dass die einzige Sache, die wir zu fürchten haben, die Furcht selbst ist – namenloser, unbedachter, ungerechtfertigter Schrecken (…).“ (Franklin D. Roosevelt bei seiner Amtseinführung am 4. März 1933, zitiert nach: Ilija Trojanow, Juli Zeh, Angriff auf die Freiheit – Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte, München, Carl Hanser, 2009)

Im Oktober und November 2020 habe ich mit Irene Mihalic, der innenpolitischen Sprecherin der Fraktion von Bündnis 90 / Die Grünen im Deutschen Bundestag über die Sicherheitsarchitektur in Deutschland und das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit gesprochen.

Irene MihalicIrene Mihalic wurde 1976 geboren, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Sie kommt aus Gelsenkirchen, war selbst seit 1993 als Polizeibeamtin tätig, seit 2007 beim Polizeipräsidium Köln. Seit 2013 ist sie Mitglied des Deutschen Bundestags. Mit Konstantin von Notz MdB, stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion, gehört sie zu den profilierten Innenpolitiker*innen in Bund und Ländern. Sie war und ist Mitglied mehrerer Untersuchungsausschüsse, u.a. der Untersuchungsausschüsse zum NSU und zum Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz, sowie des Gemeinsamen Ausschusses von Bundestag und Bundesrat. Vor ihrer Zeit im Bundestag engagierte sie sich in der Kommunalpolitik, unter anderem im Rat der Stadt Gelsenkirchen.

Bundes- und Kommunalpolitik

Norbert Reichel: Auf deiner Internetseite beschreibst du deine Motive: „Der Einsatz für BürgerInnenrechte und Freiheit sowie der Kampf gegen rechts sind bis heute meine zentralen Themen. Sie bewogen mich dazu 2013 erstmals für den Bundestag zu kandidieren. (…) Der jahrelang unaufgedeckte NSU-Terror und die immer wieder zutage tretenden Probleme im Bereich der öffentlichen Sicherheit zeigen deutlich: Die gegenwärtige, von „Law and Order“ geprägte Politik hat versagt. Es ist an der Zeit für einen grundlegenden, freiheitlichen Neubeginn. Zum Schutz unserer BürgerInnenrechte, für Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.“ Wie unterscheiden sich deine Erfahrungen in der Kommunal- und in der Bundespolitik?

Irene Mihalic: Das ist eine ziemlich weit gefasste Frage. Wo fange ich an? Ich wollte damals, als ich Mitglied der Grünen wurde, etwas in einer Zeit bewegen, in der sich nicht viel bewegte. Mich motivierten nicht nur Themen der Rechtsstaatlichkeit, sondern auch die klassischen grünen Themen wie Klima- und Naturschutz. Im kommunalen Umfeld stellen sich andere Fragen als auf Bundesebene. Wenn ich etwas für die Rechtsstaatlichkeit tun möchte, ist die Bundesebene die richtige Ebene, weil dort über den Rahmen entschieden wird, der dann auf Landesebene und in den Kommunen umzusetzen ist. Wenn ich das Thema der sozialen Gerechtigkeit in den Vordergrund stelle, ist die kommunale Ebene wichtig, wenn es beispielsweise um die Förderung und Unterstützung von finanziell und sozial belasteten Familien oder ganzen Stadtteilen geht.

Norbert Reichel: In Sachen Rechtsstaatlichkeit fallen mir auf der kommunalen Ebene die aktuellen Demonstrationen gegen die Maßnahmen von Bund und Ländern zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie ein, an denen sich gewaltbereite Rechtsextremist*innen, Prepper*innen und Reichsbürger*innen offen und höchst aggressiv beteiligen.

Irene Mihalic: Das ist richtig. Es geht beispielsweise bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus um die Kenntnis der Orte, an denen sich Rechtsextremist*innen aufhalten, welche Leute in der Szene welche Rolle spielen, bei den Demonstrationen ganz allgemein, unabhängig davon, wer sie anmeldet, was sich vor Ort praktisch umsetzen lässt. Auf der Bundesebene werden die Rahmenbedingungen gesetzt. Das ist zwar weniger konkret, aber Grundlage für polizeiliches Handeln auf kommunaler Ebene.

Norbert Reichel: Du hast nicht nur Erfahrung als Polizistin, sondern hast dich auch in einer TV-Serie als Polizistin bewährt. Was war dein Ziel bei dieser doch recht ungewöhnlichen Aktion?

Irene Mihalic: Das war im Jahr 2009. Dazu bin ich aber nicht freiwillig gekommen. Eines Morgens wurden ein Kollege und ich von unserem Chef einfach zu solchen Fernsehaufnahmen abgestellt. Es gab eine Anforderung der Pressestelle, zunächst nicht für eine Reality-TV-Serie, sondern für eine Dokumentation bei Kabel 1. Wir haben zunächst geklärt, dass wir keine bestellten Sachen machen. Es sollte um ein realistisches Bild der Polizeiarbeit vor Ort gehen. Als wir dann die Doku abgedreht hatten, waren die Journalist*innen so begeistert, dass sie wiederkommen wollten. Sie waren dann drei Mal jeweils drei Tage da, um uns zu begleiten. Das Material wurde mehrfach verwertet. Ich werde gelegentlich heute noch darauf angesprochen, dass wieder einmal Ausschnitte in irgendeiner Sendung verwendet worden wären.

Rechtsextremismus in der Polizei – der Streit um die „Studie“

Norbert Reichel: Manche Themen, über die wir in den Parlamenten, in den Medien, in der Öffentlichkeit diskutieren sollten, gerieten angesichts der Entwicklungen der Corona-Pandemie in den Hintergrund. Daher möchte ich mit dir gerne über diese Fragen sprechen, die in den letzten Monaten zwar immer wieder thematisiert wurden, aber auch immer wieder von interessierten Politikern (ich benutze bewusst nur die männliche Form) abmoderiert wurden. Zumindest versuchten sie es. Eines dieser Themen ist die Frage nach verfassungsfeindlichen, insbesondere rechtsextremistischen Tendenzen in der Polizei. Ihr habt dazu am 16. Juni 2020 den Antrag „Verfassungsfeindliche Tendenzen der Polizei erkennen und entschlossen angehen“ eingebracht (Drucksache 19/20063).

Irene Mihalic: Die Fälle, die bisher sichtbar wurden, legen nahe, dass es ein strukturelles Problem in der Polizei geben könnte. Das hätten wir eigentlich schon vor Jahren diskutieren müssen, ich denke beispielsweise an den Tod von Oury Jalloh, der 2005 aus nach wie vor ungeklärten Gründen in einer Gewahrsamszelle in Dessau tot aufgefunden wurde, oder an den NSU, dessen Morde erst aufgeklärt werden konnten, als sich das Trio selbst enttarnte. Inzwischen wissen wir von rechtsextremistischen Vorfällen im Militär, im KSK, beim SEK in Mecklenburg-Vorpommern, wir wissen um die Vorfälle um den sogenannten NSU 2.0 in Hessen und um diverse Chatgruppen in NRW und Berlin. Es entsteht der Eindruck, dass sich die Fallzahlen bei näherem Hinsehen ständig erhöhen.

Eine Entschuldigungsstrategie des Bundesinnenministers ist die, dass wir alles anschauen müssten, wissen müssten, wie sich Rechtsextremismus in der gesamten Gesellschaft darstellt. Das nenne ich eine Verwässerungsstrategie, denn wer alles sehen will, sieht nichts. Es macht schließlich auch einen Unterschied, ob ein Nazi im Grünflächenamt sitzt oder bewaffnet im Polizeidienst arbeitet und zur Durchsetzung von Maßnahmen Gewalt anwenden darf. Ich will wissen, wie viel Rechtsextremismus und Rassismus es in der Polizei gibt und was die Ursachen dafür sind.

Norbert Reichel: In eurem Antrag bezieht ihr euch u.a. auf die Leipziger Autoritarismus-Studie und die Bielefelder Mitte-Studien. Ein wesentliches Ergebnis: Es gibt zwar im Unterschied zu früheren Studien nicht mehr Menschen mit einem geschlossenen (rechts-)extremistischem Weltbild, wohl aber immer mehr Zustimmung zu einzelnen Items mit extremistischen, antisemitischen, rassistischen Aussagen. Antiziganistische Aussagen sind sogar fast durchweg mehrheitsfähig. Manche sprechen von einem „Verlust der Mitte“, wo auch immer die sein mag. Ich spreche lieber von einem „schleichenden Gift“. Wie schätzt du dies ein?

Irene Mihalic: In unseren Anträgen im Deutschen Bundestag beziehen wir uns auf die genannten Studien. Es geht zunächst um Vergleichbarkeit. Wir wollen so etwas für unsere Sicherheitsbehörden. Es ist natürlich sinnvoll, offen an das Thema heranzugehen. Wie das dann methodisch umgesetzt wird, ist eine andere Frage, über Fragebögen, Gruppeninterviews, begleitende Beobachtungen oder was auch immer. Die Methodik ist vorhanden.

Die Frage nach meiner Einschätzung der Diagnose „Verlust der Mitte“ beziehungsweise „schleichendes Gift“ ist schwer zu beantworten. Vielleicht kann ich so weit gehen zu sagen, dass die Lage zurzeit recht unübersichtlich ist. Gerade bei den aktuellen Verschwörungstheorien und -demonstrationen zur Corona-Pandemie stelle ich fest, dass sich Leute entsprechend äußern, von denen ich das nie gedacht hätte. Eigentlich müssten wir daraus schließen, dass nicht nur die Infektion mit dem Virus, sondern auch eine Art Infektion mit Verschwörungstheorien fast jede*n treffen könnte.

Norbert Reichel: Ein zentraler Akteur ist die Konferenz der Innenminister*innen des Bundes und der Länder (IMK). Wie bewertest du die Stimmung in der IMK?

Irene Mihalic: Dort entstand nach dem Tod von George Floyd eine Diskussion. Die Bundesregierung wollte zunächst eine Studie zum Racial Profiling auf den Weg bringen. Das hätte uns nicht gereicht, aber immerhin. Als wir im Innenausschuss darüber sprachen, war Innenminister Horst Seehofer erstaunt. Er wisse nichts davon und fügte hinzu, dass er für den Fall, dass so etwas geplant wäre, es stoppen wolle. Anlass war eine Initiative des Justizministeriums, das Innenministerium sollte beteiligt werden. Auf Arbeitsebene war alles abgestimmt, aber der Innenminister sah das dann anders.

Meines Erachtens wäre die gesamte Diskussion ohne den Stopp durch Horst Seehofer nicht so gelaufen wie sie dann lief. Jetzt gibt es seit dem 6. Oktober 2020 das Lagebild des IM, und alle klopfen sich auf die Schulter, dass es zwischen dem 1. Januar 2017 und dem 31. März 2020 nur 319 Verdachtsfälle gegeben habe.

Ich glaube, dass Horst Seehofer dem Ansehen der Polizei massiv geschadet hat und nach wie vor schadet. Vielleicht traut er sich auch nicht, der Sache näher nachzugehen und hat Angst vor einem unangenehmen Ergebnis. Die Innenminister der SPD sind etwas offener, auch einige in der Gewerkschaft der Polizei, die auf den schwierigen Dienst hinweisen, den die Polizist*innen hätten. Der einzige in der CDU/CSU, der vorsichtiger argumentierte, war Herbert Reul in Nordrhein-Westfalen. Aber auch er lehnt nach wie vor die geforderte Studie ab.

Norbert Reichel: Ich denke, dass wir für verschiedene Bereiche jeweils spezifische Untersuchungen brauchen. Julia Bernstein und andere haben beispielsweise für den Antisemitismus spezifische Studien für die Schulen veröffentlicht. Solche Studien für die Polizei wären angezeigt.

Irene Mihalic: Das sieht die Groko leider anders, auch die SPD. Es ist eine Pseudo-Logik, ein Problem in der Polizei durch eine Studie in der gesamten Gesellschaft lösen zu wollen.

Norbert Reichel: Ist die SPD opportunistisch oder glauben die wirklich daran?

Irene Mihalic:. Das ist schwer zu sagen. Die Polizeigewerkschaften sitzen der SPD im Nacken. Ich hatte beispielsweise ein Gespräch mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei. Der kam zu mir und sagte, wir müssten über den Sommer reden, über diese Rassismusdebatten. Dabei führen  wir diese Debatten schon seit Jahren, mal mehr, mal weniger. Ich habe gesagt, wenn ihr uns bei der Studie unterstützt, ist das Thema schnell erledigt. So wie das zurzeit diskutiert wird, wird die Auffassung gestärkt, alle Polizist*innen wären Rassist*innen, eigentlich das Gegenteil von dem, was die Verhinderung der Studie wohl bewirken soll. Eine Ausnahme ist Sebastian Fiedler vom Bund Deutscher Kriminalbeamter. Er unterstützt uns.

Norbert Reichel: Inzwischen ist die Studie zum Rechtsextremismus in der Polizei offenbar doch noch zu einem Streitpunkt zwischen den Regierungsfraktionen geworden. Olaf Scholz setzte sich öffentlich für die Studie ein. Wie geht es weiter?

Irene Mihalic: Ich frage mich ganz ehrlich, was die Koalitionsparteien miteinander verhandelt haben. Die CDU/CSU hat sich die Äußerung von Olaf Scholz natürlich abkaufen lassen, indem sie seine Zustimmung zum Staatstrojaner erhielt. Einen Tag später hat Horst Seehofer das wieder eingesammelt und alles steht wieder auf Anfang.

Die hessische Landesregierung hat jetzt in Folge der jüngsten Ereignisse mehrere Forschungsaufträge vergeben. Aber unsere Initiative als Bundestagsfraktion geht weiter. Wir wollen auf Bund- und Länder-Ebene mehr darüber wissen, ob es systematische Unterwanderungsstrategien von rechts gibt oder was im Berufsalltag von Polizist*innen geschieht. Es geht eben nicht nur darum, was an rechtsextremen Vorfällen gemeldet wird, sondern auch darum herauszufinden, wie es überhaupt dazu kommen konnte.

Mir ist wichtig, dass wir das gesamte Spektrum der Polizeiarbeit untersuchen. Möglicherweise muss es mehrere Studien geben, bis wir uns ein valides Bild machen können. Dies gilt auch für einen Vergleich der Entwicklungen in den verschiedenen Bundesländern, jeweils unter den unterschiedlichen Gesichtspunkten, die dabei zu berücksichtigen sind. Die Innenministerien sollten sich öffnen und der Wissenschaft den Feldzugang eröffnen. In anderen Ländern gibt es Vorbilder, wie ein solcher Zugang erleichtert werden könnte.

Norbert Reichel: Beispielsweise?

Irene Mihalic: Beispielsweise in den USA und in Großbritannien. Dort sind die Zugänge der Wissenschaft zur Polizeiarbeit jederzeit gegeben. Natürlich gibt es Dinge, die der Geheimhaltung unterliegen, aber letztlich ist es unkompliziert, zumal die Forschung sich nicht auf einzelne Individuen beziehen wird. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich das Exposé für meine Doktorarbeit dem Innenministerium in Nordrhein-Westfalen zur Genehmigung des Feldzugangs vorlegen musste. Unter der letzten rot-grünen Regierung gab es aus der Universität Bochum schon einmal eine Initiative, Racial Profiling zu erforschen. Das hat der damalige Innenminister Ralf Jaeger (SPD) abgelehnt, mit ähnlichen Argumenten wie heute Horst Seehofer.

Das Verfahren wäre einfach. So wie es einen allgemeinen Medienerlass gibt, könnte es einen allgemeinen Forschungserlass geben. Die Polizeidienststellen wissen dann sehr genau, wie sie sich verhalten sollen und wie sie mit der Wissenschaft kooperieren  können.

Erfahrungswissen

Norbert Reichel: Wir müssen bei der Debatte um Einstellungen in der Polizei meines Erachtens weg von der Betrachtung aller Fälle als Fälle von Einzeltäter*innen. Denn die Liste ist lang, nicht nur in Deutschland, in vielen anderen Ländern, und nicht erst seit dem Tod George Floyds. Für Deutschland hat die taz 24 Fälle recherchiert. Verurteilungen gab es meines Wissens bisher nur selten, auch das ein oder andere Disziplinarverfahren. Das Verhalten des Bundesinnenministers und derjenigen, die seine Position unterstützen, erscheint mir einfach kontraproduktiv und zerstört Vertrauen in die Polizei. Es entsteht der Eindruck, als habe die Polizei etwas zu verbergen.

Irene Mihalic: Der Alltag der Polizei wird durch diese Debatte schwer belastet. Ich halte es nicht mehr für erträglich, ständig über Einzelfälle zu diskutieren. Wir brauchen einen vertieften Einblick darin, welche strukturellen Probleme wir haben. Wir haben uns in letzter Zeit mit Wissenschaftler*innen und Vertreter*innen der Gewerkschaften getroffen. Darunter war auch Hans-Gerd Jaschke, der schon vor vielen Jahren zu den Ursachen geforscht hat. Zahlreiche Texte mit seinem Namen sind im Internet verfügbar.

Norbert Reichel: Einen Forschungsbericht zum Thema „Rassismus und Polizei“ haben Daniela Hunold und Maren Wegner, beide tätig an der Deutschen Hochschule für Polizei in Münster, in der Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 12. Oktober 2020 vorgelegt. Ich darf zitieren: „Hans-Gerd Jaschke (…) benannte in diesem Zusammengang verschiedene Ursachen, verwies jedoch zugleich auf die ‚nur unzureichend verfügbaren Basisdaten‘. Auf der Makroebene führte er Ethnisierungsprozesse als Grund dafür an, dass die Entwicklung hin zu einer multikulturellen Gesellschaft eine Zunahme ethnisch überformter Konflikte in der Gesellschaft bedeute, die Auswirkungen auf die Polizeipraxis habe“. Hans-Gerd Jaschke habe auch darauf hingewiesen, dass Polizist*innen „der Kontakt mit als ‚fremd‘ gelesenen Menschen häufig nur in kriminalitätsbezogenen und damit selektiven Konfliktsituationen erleben würden“. Das ist eine Studie aus dem Jahr 1996!

Daniela Hunold und Maren Wegner zitieren weitere Studien, eine davon aus dem Jahr 2019 in Hessen, die davon ausgehen, dass 15 – 25 % der Polizist*innen befürchten, „Deutschland könne ein ‚islamisches Land‘ werden“. Eine Studie von 2014 stelle „Wahrnehmungsdefizite von Polizist*innen und Sachbearbeiter*innen bei rassistisch motivierter Kriminalität fest“, eine laufende Studie deute auf die „Verknüpfung der sozialen Strukturmerkmale ‚Ethnie‘, ‚Geschlecht‘ und ‚Klasse‘ mit der polizeilichen Konstitution von ‚Raum‘ hin.“ Das heißt letztlich: junger Mann mit im Erscheinungsbild sichtbarer Migrationsgeschichte aus sogenanntem sozialen Brennpunkt – das ist der klassische Hauptverdächtige welcher Straftat auch immer. Entspricht das auch deinen Erfahrungen?

Irene Mihalic: Das sehe ich differenzierter. Es ist aber auch so, dass Polizeiarbeit auf Erfahrungswissen beruht, den eigenen Erfahrungen, aber auch den übermittelten Erfahrungen der Kolleg*innen. Erfahrungswissen kann gefährlich werden, wenn es die entscheidende Rolle spielt. Polizist*innen müssen sich ständig bewusst machen, welche Rolle ihr Erfahrungswissen spielt. Das zeigte sich deutlich bei den Ermittlungen zum NSU-Terror. Es ist naheliegend, dass zunächst im Milieu der Opfer ermittelt wird, aber dies geschah in einer unangemessenen und andauernden Intensität, obwohl sehr schnell feststand, dass dort keine Täter*innen zu finden waren. Wenn die Polizei im Opferumfeld nicht weiterkommt, müssen andere Hypothesen zum Gegenstand der weiteren Ermittlungen werden.

Beißhemmungen und Hufeisen

Norbert Reichel: Ich habe den Eindruck, dass wir nie vor der Lage agieren, sondern immer dahinter. Es gab Jahre lang geradezu eine Beißhemmung von manchen Innenpolitiker*innen nach rechts. Jede Tat von Rechtsextremist*innen wurde mit Taten von Linksextremist*innen oder Islamist*innen verrechnet. Konservative Landesregierungen betonten bei Fragen der inneren Sicherheit immer lautstark, dass wir etwas gegen den Linksextremismus tun müssten. Erst der Mord an Walter Lübcke schien konservative Innenpolitiker – dazu zähle ich auch die meisten Sozialdemokraten (von mir bewusst gewählt: die männliche Form) in diesem Amt – aufzuschrecken. Die Attentate und Bedrohungen von Kommunalpolitiker*innen – ich denke beispielsweise an Andreas Hollstein und Henriette Reker, aber auch an viele andere – reichten offenbar nicht aus.

Irene Mihalic: Ich teile diesen Eindruck. Natürlich haben die Attentate auf Andreas Hollstein und Henriette Reker aufgerüttelt. Aber beide haben überlebt. Wir müssen das leider so sagen, dass mit dem Mord an Walter Lübcke der konservativen Seite erstmals klar wurde, dass Rechtextremist*innen eben nicht nur Ausländer*innen ermorden. Der Mord an Walter Lübcke hat ein Umdenken ausgelöst. Er zeigte auch, dass die alten Rituale, rechten, linken und islamistischen Terror miteinander aufzurechnen, uns nur noch in Sackgassen führen. Horst Seehofer wiegelt heute nicht mehr ab, wenn es um Rechtsextremismus geht. Das viel zitierte „Hufeisen“ wird nicht mehr geworfen.

Norbert Reichel: Manchmal kann ich mich dennoch des Eindrucks nicht erwehren, dass die Vorkommnisse in Leipzig-Connewitz und in Berlin-Friedrichshain um das Haus „Liebig 34“ einigen Politiker*innen gerade recht kamen, um von dem Thema Rechtsextremismus in der Polizei abzulenken. Der enorme Aufwand, das Haus „Liebig 34“ zu räumen, erschien mir mehr als unverhältnismäßig, nicht zuletzt wegen der Gefährdung der beteiligten Polizist*innen durch die Pandemie. Nur mein Eindruck? Oder was steckt dahinter?

Irene Mihalic: Ich weiß es nicht. Ganz rechts, in Kreisen der AfD, kommt das natürlich immer gelegen. Die greifen dann die Sicherheitsbehörden an, denen sie vorwerfen, gegen linken Terrorismus nicht entschieden vorzugehen. Ganz ehrlich: damit greifen sie leider auch Erfahrungen auf, die Polizist*innen im Einsatz machen. Flaschen und Steine wurden bisher eher von linken Demonstrant*innen geworfen, nicht von rechten. Oft genug gab es für die Polizei mehr Probleme mit den Gegendemonstrant*innen einer rechtsextremistischen Kundgebung.

Norbert Reichel: Auf der linken Seite entsteht dann das Vorurteil, Polizei ginge nicht entschieden gegen rechts vor.

Irene Mihalic: Das Umdenken, das der Mord an Walter Lübcke in der Politik ausgelöst hat, hat die Polizei in ihrem Alltag auf der Straße noch nicht erreicht. Das ändert sich jetzt mit den Demonstrationen gegen die Anti-Corona-Maßnahmen. Das ist für die Polizei neu, dass Polizeiketten von Rechten überrannt werden, die Reichstagstreppe erstürmt wird. Dass kannten Polizist*innen bisher eher von links aus Ereignissen wie G 20 in Hamburg. Wenn sich das verschärft – und ich fürchte, dass es sich verschärft – wird sich mit der Erfahrung auch die Einschätzung ändern. Umso wichtiger ist aber auch eine Sensibilisierung für die unterschiedlichen Formen der Gewalt von rechts, denn wir sollten wünschen, dass das entschiedene Vorgehen gegen rechts einschließlich einer angemessenen Polizeipräsenz jede Verschärfung in möglichst frühem Stadium verhindert. Das ist eine Aufgabe der Politik.

Norbert Reichel: Mir fällt immer wieder auf, dass jeder Extremismus einzeln bekämpft wird. Einerseits ist es richtig, dass es eigene Maßnahmen und immer wieder auch eigene vom Deutschen Bundestag eingesetzte „Unabhängige Arbeitskreise“ gegen Antisemitismus, Antiziganismus und neulich gegen Muslimfeindlichkeit gibt, Rassismus gegen People of Color ist noch kein Thema eines solchen Arbeitskreises. Trotz George Floyd und Oury Jalloh.

Eine Gruppe, die meines Erachtens auch zu wenig beachtet wird, sind Sinti und Roma. Das hatte Romani Rose in dem Gespräch thematisiert, dass ich mit ihm im Oktober 2019 führen konnte. Wenige Tage nach diesem Gespräch fand in dem Berliner Dokumentationszentrum ein Fachgespräch mit Prof. Dr. Thomas Fischer, ehemaliger Vorsitzender Richter am BGH, zum Thema „Sinti und Roma und die aktuelle Kriminalitätspolitik“ statt. Thema war die Erfassung der ethnischen Herkunft von Sinti und Roma im Rahmen der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik (PKS) in Berlin im Jahr 2017! Durch die Intervention von Romani Rose wurde das inzwischen abgestellt.

Meines Erachtens müsste auch darüber gesprochen werden, was all diesen Ausformungen „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (Wilhelm Heitmeyer) gemeinsam ist und was nicht. Wie kommen wir aus der Falle heraus, immer erst zu reagieren, wenn etwas passiert ist?

Irene Mihalic: Die Verbindung wird nicht institutionalisiert diskutiert. Oft hängt das auch davon ab, wer was auf die Tagesordnung setzt. Vor Kurzem haben wir als Grüne einen Antrag zum islamischen Terrorismus gestellt (Antrag vom 20.11.2020). Und wenn man sich dieses Phänomen anschaut, werden parallelen zum Neo-Nationalsozialismus deutlich. Es geht darum, alle Ideologien zu bekämpfen, die unsere Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie bedrohen. Deine Anmerkung zur Beachtung beziehungsweise Nicht-Beachtung der Sinti und Roma teile ich. Umso wichtiger ist es, dass wir gleichzeitig die Spezifika der einzelnen Ausformungen „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ beachten und thematisieren. Ich hätte großes Interesse daran, dass wir das Thema in größeren Zusammenhängen diskutieren. Dabei ist auch die Opferperspektive wichtig, gerade im Hinblick auf die Überschneidungen bei den verschiedenen Opfergruppen.

Tunnelblicke und Ermittlungspannen

Norbert Reichel: An den Tod von Oury Jalloh wurde in den letzten Monaten immer wieder erinnert. Es war nicht der einzige Todesfall in Polizeigewahrsam, aber sein Name ist vielleicht genauso ein Symbol für die damit verbundenen Missstände wie der Tod von George Floyd. Warum tun sich die Polizei und die vorgesetzten Behörden, vor allem die Innenminister, so schwer damit, diese Todesfälle nach allen Seiten zu untersuchen? Die Möglichkeit, dass es Fehlverhalten, sprich Täter*innenschaft von Polizist*innen gegeben haben könnte, wird sehr schnell ausgeschlossen.

Ich denke auch an Ermittlungsprobleme, die wir in der Vergangenheit erlebten, beispielsweise beim NSU, oder bei den Morden an Schlomo Lewin und Frieda Poerschke. Bei Schlomo Lewin und Frieda Poerschke ermittelte die Polizei in der jüdischen Gemeinde und vermutete sogar den Mossad als Auftraggeber. Beim NSU wurde lange Zeit ausschließlich in der türkeistämmigen Community ermittelt. Nur Günter Beckstein, damals Innenminister in Bayern, vermutete die Täter*innen im rechtextremistischen Milieu. Ist das nicht auch ein strukturelles Problem?

Irene Mihalic: Es ist schwer zu beantworten, was zu diesem Tunnelblick geführt hat. Das haben auch die Untersuchungsausschüsse nicht klären können. Es gab ja auch gutachterliche Äußerungen wie die, dass in der deutschen Kultur niemand Menschen umbringe! Da spielt die Vorurteilsstruktur eine prägende Rolle. Andererseits erfolgen etwa 90 Prozent der Kapitalverbrechen im engen Bekannten- und Familienkreis. Da ist es schon wichtig zu schauen, ob dort möglicherweise Täter*innen gefunden werden könnten. Dann gibt es aber den Punkt, an dem die Polizei nicht mehr weiterkommt. Und dort liegt das Problem. Es wurde und wird nicht weiterermittelt. Täter*innen außerhalb von Bekannten- und Familienkreis wurden nicht in Betracht gezogen.

Norbert Reichel: Gibt es nicht auch Verschiebungen in der Rechtfertigung von Taten? Ich denke beispielsweise an das denkwürdige Wuppertaler Gerichtsurteil, demzufolge der Anschlag auf die dortige Synagoge nicht als antisemitische Straftat zu bewerten wäre, weil die Täter so sehr unter der Besatzung Israels in der West-Bank gelitten hätten. Ähnlich erlebe ich die Rechtfertigung der rechtsextremistischen Täter*innen bei der Polizei.

Irene Mihalic: Das hat mit eingefahrenen Rechtfertigungsmustern zu tun. Da wird immer wieder danach gesucht, warum jemand tat, was er*sie tat. Dazu gehören dann die schwere Kindheit, das Milieu, in dem jemand aufwuchs und lebte. Das führt dann dazu, dass gesagt wird, der*die arme Polizist*in könne bei den Erlebnissen während seiner Arbeit doch gar nichts dafür, dass er*sie zum Nazi geworden ist. Das sind inakzeptable Verschiebungen und Entschuldigungsgeschichten. Ich bin immer für Erklärungen, die den Ursachen auf den Grund gehen, aber diese Erklärungen als Entschuldigungen heranzuziehen ist nicht akzeptabel. Dieser Zusammenhang wäre dann auch ein Thema der Studie, über die wir eben gesprochen haben.

Norbert Reichel: Gibt es Hinweise, dass systematisch verhindert wurde und wird, im rechten Milieu zu ermitteln?

Irene Mihalic: Mario Melzer wurde in Thüringen systematisch behindert. Das ist aber auch eine ganz schwierige Frage. Wer nachfragt, stößt auf Erinnerungslücken, Unklarheiten, Widersprüche. In den Untersuchungsausschüssen ist natürlich jede*r bestrebt, keine Falschaussagen zu machen, aber das ist ein weites Feld. Er hatte Hinweise auf das Trio, wurde aber angewiesen, dem Verdacht nicht weiter nachgehen.

Norbert Reichel: Warum wurde bei den Ermittlungen zum NSU im Grunde nur im Hinblick auf das Trio ermittelt? Dabei scheint doch sicher zu sein, dass es ein größeres Umfeld der Unterstützung gegeben hat.

Irene Mihalic: Die Bundesanwaltschaft ermittelt nach wie vor gegen unbekannt. Es gibt ein Strukturermittlungsverfahren. Bei dem Prozess musste natürlich verhindert werden, dass der Zeitraum bis zur Anklage zu lange dauert und  Beate Zschäpe aus der Untersuchungshaft entlassen werden musste. Daher wurde angeklagt, was man sicher wusste. Ähnliches ist jetzt auch bei den Ermittlungen zum Breitscheidplatz festzustellen.

Norbert Reichel: Ich erinnere mich an eine Äußerung von Konstantin von Notz, dass die Hinweise auf die Täterschaft von Anis Amri so gering wären, dass es kaum für eine Anklage reichen dürfte, wenn man ihn noch anklagen könnte.

Irene Mihalic: Das ist so. Ähnlich übrigens beim NSU. An keinem Tatort fand man DNA der beiden Uwes. Das ist eigentlich fast unmöglich, keine DNA zu hinterlassen. Wir beide sitzen jetzt in einem Raum und wenn wir herausgehen, wird es eine Fülle unserer DNA-Spuren geben. Die Spurenlage legt nahe, dass es vielleicht mehr Personen gab als das Trio, die an den Morden beteiligt waren.

Ähnlich bei Amri. Es gab keine DNA-Spur von Amri an festen Bauteilen im LKW, nur eine uneindeutige Mischspur und außen an der Tür  gab esFingerabdrücke, wie sie entstehen, wenn jemand die Tür zuschlägt. Die Tür stand aber offen. Es gab dann noch eine Geldbörse und einen Zwanzig-Euro-Schein mit Fingerabdruck und DNA. Das einzige, was man sonst noch mit Hinweis auf Amri fand, war ein Smartphone, das aber in der Stoßstange steckte.

Norbert Reichel: Wie kommt das Handy in die Stoßstange?

Irene Mihalic: Niemand weiß, wie das dahin kam. Eine mögliche Erklärung wäre, dass die Rettungskräfte die Leiche des LKW-Fahrers, der ja noch in der Fahrerkabine lag, herausgeholt und dabei das Handy mitgezogen haben. Eine*r der Rettungskräfte hat es dann vielleicht in die Stoßstange gesteckt. Es gibt noch weitere Ungereimtheiten. Niemand weiß beispielsweise, ob Amri einen solchen LKW überhaupt hätte fahren können.

Nur reicht das, was wir haben, als Anklagegrund? Im Handy war eine SIM-Karte, die zuletzt vier Tage vor dem Anschlag aktiv war, also nicht an dem Tag selbst. Wie sind dann die Bewegungsdaten entstanden, wenn dieses Handy nicht mit dem Internet verbunden war? Und wie konnte er während der Fahrt via Telegram chatten, ohne Internetverbindung? Es gäbe dafür vielleicht Erklärungen, aber das wurde nicht weiterverfolgt. Wir haben daher jetzt ein Spurenermittlungsgutachten in Auftrag gegeben, um der Sache nachzugehen. Selbst die CDU ist von der Einzeltäterschaft Amris nicht mehr überzeugt. Das bestärkt mich in meiner Auffassung. Die Ermittlungen liefen in etwa nach dem Muster: Wir haben eine Arbeitshypothese, die ist schlüssig und daher muss das auch so gewesen sein.

Norbert Reichel: Aber woher die Fixierung auf den Einzeltäter Anis Amri?

Irene Mihalic: Das war eben die erste Arbeitshypothese. Im Fall von Anis Amri gibt es noch eine Fülle weiterer Ungereimtheiten. Im Führerhaus des LKW gab es 14 unbekannte DNA-Spuren, darüber hinaus nicht zugeordnete Faserspuren. Dem wurde nicht weiter nachgegangen. Die Faserspuren wurden nicht einmal mit den Kleidern abgeglichen, die Amri trug, als er in Italien erschossen wurde. Ungeklärt ist auch die Frage, warum Amri nach dem Crash ausweislich des einzigen Videos, über das wir verfügen, ein Video im U-Bahnhof Zoo, keine Verletzungsspuren aufzuweisen schien. Ich behaupte nicht, dass alles anders war, aber die vielen Ungereimtheiten wurden bei den Ermittlungen nicht weiterverfolgt. Ich kritisiere, dass nicht einmal ermittelt wurde. Deckel drauf, das wars, dann haben wir endlich unseren Frieden – das ist das Prinzip, das dahintersteckt.

Norbert Reichel: Bis zum nächsten Mal.

Irene Mihalic: Es überzeugt die schlüssige Geschichte. Das reicht dann, um nicht weiter zu ermitteln. Das macht uns die Arbeit im Untersuchungsausschuss auch so schwierig. Unsere Aufgabe ist es nun nicht zu ermitteln. Wir arbeiten politisch, aber unsere Legitimation liegt darin, dass wir anderen Hypothesen als der Einzeltäterthese nachgehen und Begründungen einfordern.

Norbert Reichel: Ein Thema in diesem Zusammenhang sind auch Aktenmanipulationen. Die Vernichtung von Akten zum NSU-Komplex im Kölner Bundesamt für den Verfassungsschutz scheint ja nur die Spitze eines Eisbergs zu sein. Gibt es das öfter?

Irene Mihalic: Ich hoffe nicht. Ich glaube, das war schon ein einmaliger Vorgang, was wir da erlebt haben. Wir haben daraus Konsequenzen gezogen, dass es überall dort, wo etwas noch parlamentarisch etwas aufzuarbeiten ist, Löschmoratorien gibt. Alles was nur im Entferntesten zu Breitscheidplatz oder NSU einen Bezug hat, darf nicht vernichtet werden. Wir sehen auch bei älteren Dingen, z.B. beim Oktoberfest-Attentat, entsprechende Probleme, was geschieht, wenn die erforderlichen Unterlagen nicht mehr vorliegen.

Zum Grundsatzprogramm meiner Partei habe ich daher auch zusammen mit Cem Özdemir und Konstantin von Notz einen Änderungsantrag eingebracht, der auch übernommen wurde. Wir möchten, dass die Daten zu solchen Ereignissen in ein zentrales Archiv überführt werden, sodass sie der Politik, der Wissenschaft, den Medien zugänglich sind. Was dem Parlament zugängig ist, sollte auch anderen zugänglich sein, damit man auch später noch Möglichkeiten hat, das vernünftig auszuwerten. Ein guter Ort wäre das Bundesarchiv.

Einzeltäter oder Netzwerke‘?

Norbert Reichel: In der Pressemitteilung des Bundesinnenministers vom 6. Oktober 2020 wird angekündigt: „Jeder Einzelfall wird „konsequent aufgeklärt und rigoros verfolgt“. Es bleibt für den Bundesinnenminister bei der Überzeugung: Einzelfälle.

Ich erlaube mir einen kleinen Exkurs: Mich erinnert diese Fixierung auf Einzeltäter*innen und Einzelfälle an die Verfolgung der Straftaten amerikanischer Soldat*innen in Abu Ghraib. Philip Zimbardo berichtet in seiner Dokumentation des Stanford Prison Experiments von seiner Begutachtung von „Chip“ Frederick, der wie die beiden anderen, die dann verurteilt wurden, alleine verantwortlich gemacht wurden, obwohl es Hinweise gibt, dass es zumindest Duldung und Einverständnis bis in die höchste Ebene der amerikanischen Militär- und Politikhierarchie gab. Darüber habe ich mit der mexikanisch-deutschen Künstlerin Sandra del Pilar ausführlich gesprochen. Sie hat dies künstlerisch ausgesprochen spannend aufgearbeitet.

Die Zeitschrift „Mittelweg 36“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung hat im Oktober 2020 ein Themenheft zum „sozialen Phänomen des Einzeltäters“ vorgelegt. Titel: „Von einsamen Wölfen und ihren Rudeln“. In mehreren Essays wird auf offene Fragen der Forschung verwiesen.

  • Festzuhalten ist, dass die diversen als Einzeltäter, als „lone wolves“ beschriebenen Personen (fast ausschließlich Männer) Männer „mit diskontinuierlichen, unterbrochenen, konfliktbelasteten Verlaufskurven“ sind, die ihre Anschläge und Morde immer auch im Hinblick auf ein Publikum verüben, bei dem sie Anerkennung suchen. Radikalisierung scheint sich immer als „Sozialisationsprozess“ zu vollziehen.
  • Der Autor der von mir zitierten Textauszüge, Stefan Malthaner schlägt vor, sich weniger auf potenzielle einzelne Personen als auf Beziehungsmuster zu konzentrieren, er fordert eine „Perspektivverschiebung (…), Einzeltäter nicht bloß – in der häufig etwas inhaltsleer verwendeten Formel – als sozial eingebettet zu betrachten, sondern vielmehr zu sondieren, wie ihr Gewalthandeln durch Beziehungsmuster in der Peripherie oder in Kernbereichen radikaler Bewegungen strukturiert wird.“

Was müsste sich ändern, um diese „Perspektivverschiebung“ umzusetzen?

Irene Mihalic: Erst einmal müssten solche Befunde anerkannt werden. Wir haben schon des Öfteren darauf hingewiesen, dass auch Täter wie der Täter des Anschlags auf die Synagoge in Halle auch dann, wenn sie physisch nicht irgendeiner Szene angehören, nicht als reine Einzeltäter betrachtet werden dürfen. Der Attentäter von Halle hatte viele Kontakte, nicht physisch, aber online etc. Er hat im Grunde so gehandelt wie der Täter in Christchurch, für ein Publikum – sein Radikalisierungsprozess hat sich vorwiegend im Internet vollzogen, wo er ja auch durchaus Anerkennung und Zuspruch erhielt. Das hat ihn motiviert, sich weiter mit dem Attentat zu beschäftigen, die Planungen fortzusetzen.

Solche Entwicklungen muss man auch im Vorfeld einer Tat beachten. Man muss mehr über Radikalisierungsprozesse und Netzwerkstrukturen wissen, und das betrifft nicht nur die Prävention, auch die Repression. Wir müssen ermitteln, woher jemand etwas hat, die Anleitung für eine Waffe aus dem 3D-Drucker, das Geld für Beschaffungen etc. Da müssen unsere Sicherheitsbehörden analytisch besser werden. Es reicht nicht aus, in traditionellen Kategorien zu denken. Wir müssen den Netzwerkbegriff anders fassen. Wir müssen weg von kategorisierten Denkstrukturen in den Sicherheitsbehörden.

Jetzt wieder konkret zum Untersuchungsausschuss zum Breitscheidplatz: Allgemein galt die Denkpraxis, Amri habe alles alleine geplant und ausgeführt, inzwischen springen uns die Bezüge zur organisierten Kriminalität geradezu an. Wie kam es, dass er finanziell so gut ausgestattet war. Der hat ja das Geld nicht in der Moschee aus dem Klingelbeutel genommen. Da hat man konsequent nicht hingeschaut, wie im Ausschuss mehrere BKA-Zeug*innen übereinstimmend berichteten. Erschreckend war die Aussage einer ranghohen Beamtin des BKA, dass das BKA keine Aufgabe in der Beachtung von Netzwerkstrukturen sehe.

Norbert Reichel: Bezogen auf die rechtsextremistischen Chats von Polizist*innen hieße das, dass die Beziehungen dieser Polizist*innen innerhalb dieser Chats und darüber hinaus zu analysieren wären. Das stelle ich mir schwierig vor. Ich könnte kaum begründen, warum ich Polizist*innen in ihrem privaten Milieu überwachen sollte. Abgesehen davon, dass es wahrscheinlich verfassungswidrig wäre, wäre das nun wirklich ein Generalverdacht.

Irene Mihalic: Niemand verlangt Polizist*innen in ihrem privaten Umfeld zu überwachen. Das ginge aus verschiedenen rechtlichen und tatsächlichen Gründen nicht. Man muss einfach genau hinschauen und differenzieren, womit man es genau zu tun hat. Auch bei den rechtsextremistischen. Chats gibt es Unterschiede, einmal gibt es einzelne Bilder, beispielsweise ein Hitlerbild oder extremistische Äußerungen, andererseits gibt es aber auch konkrete Planungen wie bei Hannibal und Nordkreuz, die sich gezielt an Angehörige der Polizei richteten oder in der Prepper-Szene zur Vorbereitung krimineller Handlungen, wenn da z.B. 200 Leichensäcke und Löschkalk bestellt werden, Todeslisten mit Politiker*innen und anderen Personen des öffentlichen Lebens kursieren. Da geht es nicht nur um die Sicherheitsbehörden, sondern um ein kriminelles Netzwerk.

Norbert Reichel: Wir wissen von „Gefährdern“, und dennoch gibt es ein Vollstreckungsdefizit bei Haftbefehlen gegen als „Gefährder“ gelistete Personen. Man*frau kann sie natürlich nicht verhaften, weil sie eine Straftat begehen könnten, aber es handelt sich oft um Menschen, die bereits wegen vergangener Straftaten gesucht werden.

Irene Mihalic: Wir fragen die Zahlen regelmäßig bei der Bundesregierung ab, wir haben dabei natürlich genauso die Ersatzfreiheitsstrafen für Schwarzfahren oder versäumte Unterhaltszahlungen im Blick wie schwere Straftaten dabei. Wir haben jetzt noch einmal die Zahlen zur politisch motivierten Kriminalität abgefragt. Wir müssen auch wissen, welche Personen bewusst untergetaucht sind. Das Trio des NSU wurde ja erst einmal auch wegen anderer Taten gesucht, bevor sie mordeten. Daher sollten wir auch bei „kleineren“ Delikten wie Diebstählen, Drogendelikten und Ähnlichem nachschauen, wenn daraus Haftbefehle resultieren.

Norbert Reichel: Philipp K. Dick hat in seiner Erzählung „Minority Report“, die dann Steven Spielberg 2002 verfilmte, eine Dystopie entworfen, in der potenzielle Mörder*innen vor Begehen der Tat identifiziert und aus dem Verkehr gezogen werden. Der kürzlich verstorbene Starfriseur Udo Walz fantasierte öffentlich über vergleichbare Modelle.

Irene Mihalic: Kennst du das Mannheimer Modell? Das ist ein Projekt der Video-Überwachung, bei der die Kamera eine kriminelle Handlung erkennen soll, um Sicherheitspersonal dahin zu schicken. Das ist nicht weit weg von „Minority Report“. Die Kamera soll dies erkennen, indem sie z.B. die Gestik oder Bewegungen von Personen analysiert. Das geht in die Richtung. Die Fehlerquote ist enorm hoch. Daher sollte so etwas in einem Rechtsstaat nicht zulässig sein.

Norbert Reichel: Eine beinahe unter Generalverdacht geratene Szene ist die Gamerszene. Der Bundesinnenminister wollte sie nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle vom 9. Oktober 2019 untersuchen lassen, weil die Struktur seines Vorgehens dem Vorgehen eines „Egoshooters“ ähnelte. Das Bild des Bundesinnenministers und mancher Sicherheitsexperten von all dem, was im Internet geschieht, kommt mir doch recht naiv vor. Aber wie auch immer, wichtig scheint mir zu sein, wie Ermittlungsbehörden im Cyberspace, im Darknet, über soziale Netzwerke, über Imageboards ermitteln können und sollten. Welche Rolle spielen solche Ermittlungen und welche sollten sie nach deiner Ansicht spielen?

Irene Mihalic: Ähnlichkeit ist keine Kausalität. Die These des Bundesinnenministers ist einfach abwegig, voll am Thema vorbei. Das ist ja niemand, der sich in der Gamer-Szene radikalisiert hat. Solche Parallelen gab es schon immer, z.B. bei den School Shootings etc. in den USA, aber das sind Parallelen. Ich denke, wir müssen uns genau anschauen, wie solche Netzwerke funktionieren. Wir sprachen über die von dir zitierten Texte aus der Zeitschrift Mittelweg 36. Wer sich äußert wie der Bundesinnenminister, erweckt den Eindruck, als wolle er sich nicht tiefer mit den Straftaten auseinandersetzen.

Letztlich ist das ein Problem der einfachen Antworten. Wir debattieren in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen monatelang über Burka-Verbote und Fußfesseln, obwohl die Antworten auf Morde und Anschläge wie die des NSU und am Breitscheidplatz ganz andere sein müssten. Es gibt keine bekannten Täter*innen, die eine Burka getragen hätten, wohl aber Täter*innen, denen ihr Verbrechen auch mit Fußfessel gelang. Wer der Bevölkerung schnell eine Lösung präsentieren will, neigt natürlich dazu, sich in Symbolpolitik zu verirren.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2020, alle Internetlinks wurden am 15. September 2022 auf ihre Richtigkeit überprüft.)