Stadtgeschichte – Weltgeschichte
Drei Bücher zur Erschließung nicht nur Berliner Geschichte(n)
„Alles in der Stadt ist Erinnerung – in Namen von Straßen und Gebäuden sowie in der physischen Gesamtheit der Stadt manifestiert sich ein öffentliches Gedächtnis.“ (Nora Hogrefe, „Statt eines Nachworts – Eine Zukunftsvision für Gedenken im öffentlichen Raum“, in: Stefanie Endlich, Text im Raum – Berlingeschichte verortet, herausgegeben von Aktives Museum, Faschismus und Widerstand in Berlin e.V., Berlin, Verbrecher Verlag, 2022)
Geschichte wird konkret, sehr konkret, wenn man sich mit offenen Augen und wachem Verstand sowie vielleicht mit einem Hauch von Bildung langsam, gelegentlich auch etwas schneller, mitunter innehaltend in einer Stadt bewegt. Sie wird konkret, wenn man sich mit gelesenen Texten oder auch unabhängig von diesen über die Biographie eines Menschen, der vielleicht gar nicht mal so prominent sein muss, oder eines Ortes nähert. Namen werden zu Bot*innen von Persönlichkeiten, deren Namen kein Schulunterricht vermittelt, Ereignisse erwachen zu neuem Leben. Das „öffentliche Gedächtnis“, von dem Nora Hogrefe spricht, versteckt sich jedoch oft genug, sodass es eines Kommentars, einer kundigen Führung bedarf. Solche Kommentare bieten in vielen Städten Stadtführungen, die sich oft mit doppeltem „t“ schreiben, um werbend ihren alternativen Charakter hervorzuheben. Kommentare lassen sich jedoch auch erlesen oder in filmischen Dokumentationen finden, die auf manchen Mediatheken zumindest der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten schlummern.
Kriminalgeschichte(n)
Wer sucht, wird finden, denn das Interesse an Kommentaren und Informationen zur Vergangenheit ist groß. Anders ließe sich die Popularität historischer Romane nicht erklären. Und wenn sie unterhaltsam verpackt sind, wie Volker Kutschers inzwischen auf neun Bände gewachsene Kriminalgeschichten um Gereon Rath und Charlotte Ritter bieten sie bestens recherchierte Zeitgeschichte vom Feinsten. Die Hauptpersonen sind fiktiv, aber viele Personen des Umfelds lassen sich mit ihren Taten und Worten historisch belegen, stets im Kontext historischer Ereignisse vom „Blutmai“ 1929 über den „Preußenschlag“ 1932, die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler 1933, die Olympiade 1936 und so fort. Volker Kutscher zeigt, wie es gewesen sein könnte, wie sich angefühlt haben könnte, was geschah, nicht zuletzt, wie jemand, dessen Beruf es ist, Verbrechen aufzuklären, in einem Land arbeitet und überlebt, das von Verbrechern regiert wird, und sorgt gleichzeitig dafür, dass das Berlin der Jahre 1929 bis 1937 und – ich gehe davon aus, dass der Autor die Reihe fortsetzt – auch weiterer Jahre vorstellbar wird. Die Romane Volker Kutschers sind viel mehr als Kriminalgeschichten, sie sind geradezu Dokumente der in ihnen erzählten Zeit. Fiktive und wahre Biographien ergänzen einander.
Genauso spannend sind jedoch die Bücher, die keine Aufsehen erregende sich einer Verfilmung geradezu aufdrängende Kriminalgeschichten bieten, sondern sich auf reale Fakten konzentrieren, die aber oft genug mindestens genauso spannend sind, und vor allem real. Sie bieten keine fiktiven Kriminalgeschichten wie die Gereon-Rath-Charlotte-Ritter-Romane Volker Kutschers, können aber durchaus auch als Kriminalgeschichten gelesen werden, weil letztlich jede Geschichte eine Geschichte von Taten und Untaten, von Verbrechen und Aufklärung, von Opfern und Täter*innen und somit auch so etwas wie Kriminalgeschichte ist.
Drei Bücher sollen in diesem Essay als Beispiel dienen, wie man sich mikrohistorisch Gesamtbildern nähern könnte. Alle drei erschienen im Jahr 2022 in Berlin, zwei im Verbrecher Verlag, eins im Ch. Links Verlag. Im Verbrecher Verlag erschienen „Text im Raum – Berlingeschichte verortet“ von Stefanie Endlich, herausgegeben vom Aktiven Museum Faschismus und Widerstand in Berlin sowie, herausgegeben von Natalie Bayer und Mark Terkessidis, „Die Postkoloniale Stadt Lesen – Historische Erkundungen in Friedrichshain-Kreuzberg“, im Ch.Links Verlag das Buch „Chausseestraße – Berliner Geschichte im Brennglas“ von Holger Schmale. Es geht um drei verschiedene Zugänge zur Berliner – und wer die Bücher liest, wird feststellen: zur deutschen, europäischen und außereuropäischen Geschichte, zur Weltgeschichte – über Texte, Gedenktafeln und Straßennamen im Stadtbild mit allen darum gängigen Kontroversen, über einen Stadtteil unter dem Aspekt des großen Themas „Postkoloniale Erinnerungskultur“ sowie über die vielen Vergangenheiten einer einzelnen Straße.
Weltgeschichte in der Lokalgeschichte
In allen drei Büchern lesen wir Biographien von Menschen, anhand eines Straßenschildes, einer Gedenktafel, einer Hausnummer, eines Gebäudes, wir erkunden die Geschichte von Häusern oder Orten, an denen vielleicht die Häuser, die dort einmal standen, gar nicht mehr zu sehen sind, dafür aber neuere Bauten einen Blick auf und in erwünschte und weniger erwünschte Erinnerung lenken. Alle drei Bücher erzählen Geschichten über Geschichte und ermutigen, mit offenen Augen sich nicht nur Berlin, sondern deutsche und europäische und nicht zuletzt afrikanische Geschichte zu erschließen. „Die Postkoloniale Stadt lesen“ und „Chausseestraße“ lassen sich bestens als Stadtführer nutzen, um sich mit dem Buch in der Hand Geschichte zu erschließen, „Zeit im Raum“ mag anregen, in jeder Stadt, an jedem Ort genauer auf all das zu achten, was in Schriftform an diverse Vergangenheiten oder auch geträumte und gewünschte Zukünfte zu erinnern vermag.
Es geht letztlich um Weltgeschichte in der Lokalgeschichte. Ein Magnum Opus einer solchen Annäherung an vergangene Zeiten über die Biographie eines Ortes ist Jens Biskys „Berlin – Biographie einer großen Stadt“ (Berlin, Rowohlt, 2019). Jens Biskys Zeit sind die Jahrhunderte Berlins von der Stadtgründung bis in die heutige Zeit. Andere Bücher, die sich auf einen Ort konzentrieren, beschreiben die Ereignisse einiger weniger Jahrzehnte oder Jahre. Klassisches Vorbild ist vielleicht das Buch „Montaillou – village occitan 1294 – 1324“ von Emmanuel Le Roy Ladurie, das erstmals 1975 bei Gallimard erschien und elf Jahre später in deutscher Übersetzung bei Ullstein. Montaillou war ein Dorf, dessen Bewohner*innen Katharer waren, nach der französischen Stadt Albi auch Albigenser genannt, und die auf Initiative von Jacques Fournier, Bischof der Diözese von Pamiers in der Grafschaft Foix ,inquisitorisch befragt und verfolgt wurden. Wir wissen viel über dieses Dorf, weil der Bischof ein – so muss man das sagen – besessener Dokumentarist und Bürokrat war. Natürlich bieten die dokumentierten hochnotpeinlichen Befragungen nur eine Perspektive, die der Inquisition, aber dennoch erfahren wir am Beispiel dieses Ortes viel über die Inquisition im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts sowie über die Lebensweise von Bauern und Schäfern eines Dorfes in den Pyrenäen, von Männern und Frauen, über ihren Alltag, ihre Liebesverhältnisse, ihr Verhältnis zur Religion und vieles mehr.
Montaillou gilt als Standardwerk der Mikrogeschichtsschreibung. Die Methode ist nicht unumstritten, doch ist hier nicht der Ort, sich mit der fachtheoretischen Debatte auseinanderzusetzen. Mir geht es darum zu zeigen, wie sich aus Mikrogeschichte ein Gesamtbild oder zumindest die Ahnung eines Gesamtbildes erschließen ließe, das als Makrogeschichte zu bezeichnen ist, aber dennoch offen für Ergänzungen durch weitere Mikrogeschichten – diesmal im Plural geschrieben – nutzen und erweitern ließe. Jens Biskys Berlin-Buch bietet eine Fülle solcher Mikrogeschichten, aus denen ein Bild Berlins über die Jahrhunderte entsteht, das aber stets Verweise auf die Welt um Berlin herum, weit über Berlin hinaus bietet. Mögen solche Bücher anregen, sich auch in der Umgebung umzuschauen oder auf den verfügbaren Wegen neu durch Berlin hindurch zu orientieren.
Gedenktafeln und Straßennamen
Nora Hogrefe formuliert in ihrem Beitrag zu „Text im Raum“ ein erinnerungskulturelles Programm: „Gedenktafeln, Stelen, Informations- und Geschichtstafeln, Denkmäler sowie Stolpersteine weisen auf die Vergangenheit und deren Bedeutung für die Gegenwart hin. Geschichtsvereine, Stadtteilgruppen und verschiedene Initiativen leisten oft über Jahre hinweg bedeutende und unermüdliche Arbeit, um Geschichten, Lebenswege und historische Ereignisse vor dem Vergessen zu bewahren und Raum für gesellschaftliche sowie persönliche Aufarbeitung zu bieten.“ Sie fordert eine „intersektionale Gedenkarbeit“ und fragt: „Wie kann eine Heroisierung von Einzelpersonen vermieden und stattdessen der Vielschichtigkeit von Biografien und Ereignissen Rechnung getragen werden?“
Damit ist eine grundlegende Frage auf der Tagesordnung: Stadträt*innen und Bürgermeister*innen, politische Parteien fragen viel zu oft danach, wer würdig wäre, dass eine Straße, ein Platz nach ihm*ihr benannt wird. Bei Umbenennung melden sich stets Gegner*innen, die auch oft vor Gericht ziehen, manche, weil sie beispielsweise nicht von ihrer Verehrung eines Paul Hindenburg oder eines Christian Peter Wilhelm Friedrich Beuth lassen wollen, manche vielleicht einfach nur deshalb, weil sie ihre Visitenkarten nicht neu drucken lassen wollen. Oft genug werden daher Straßen nach durchaus bedeutenden Menschen benannt, in denen niemand wohnt. So geschah es in Bonn mit mehreren ehemaligen Bundeskanzlern und mit Petra Kelly. Niemand hat in Bonn eine Adresse, die nach Ludwig Erhard oder Petra Kelly benannt ist. Der Streit um die Umbenennung des nach Hindenburg benannten Platzes dauerte lange Jahre. In Berlin kommt der Prozess zur Umbenennung mehrerer Straßen im afrikanischen Viertel des Wedding langsam zu einem Ende, die Umbenennung der „Mohrenstraße“ dreht eine juristische Schleife nach der anderen, sodass sich einige Witzbolde schon einmal damit beholfen haben, das „o“ durch zwei kleine Punkte zum Umlaut zu machen. Im letzten Kapitel von „Die postkoloniale Stadt lesen“ erfahren wir von den Kontroversen um die Umbenennung des Gröben-Ufers in May-Ayim-Ufer im Jahr 2009. Welcher „Groeben“, welcher „Gröben“ war gemeint? Was klar schien war auf einmal gar nicht mehr klar. Es war noch nicht einmal einfach, eine Straße nach Moses Mendelssohn zu benennen. Da es einen Beschluss des Berliner Abgeordnetenhauses gab, Straßen erst einmal nach Frauen zu benennen, bis Parität hergestellt sei, gibt es jetzt in Berlin-Kreuzberg den Fromet-und-Moses-Mendelssohn-Platz.
Das Buch „Text im Raum“ gibt einen guten Überblick über Geschichte und Hintergründe der Debatten über die in der Öffentlichkeit sichtbare Erinnerungskultur. Stefanie Endlich konzentriert sich im Wesentlichen auf Gedenktafeln, Stelen, Straßenschilder, Stolpersteine. Sie benennt „Vorläufer“ wie „Grabinschriften, Epitaphe – Andachtsbilder in Kirchen, oft mit ehrenden Widmungen für Verstorbene und Inschriften“, sie bietet eine Übersicht über Konjunkturen, Trends und Gegenbewegung, auch in Bezug auf größere Vorhaben wie die Entstehung der „Topographie des Terrors“ und des „Denkmals für die ermordeten Juden Europas“. Sie schließt mit Vergleichen zu Entwicklungen in München, Bremen und Wien und hält fest, dass es immer darum geht, „verschwiegene Geschehnisse wieder ans Licht zu bringen“. Die Entstehungsgeschichte der „Topographie des Terrors“ beschreibt sie als „einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Geschichte im öffentlichen Raum“:
Die Initiative zu einem solchen „Paradigmenwechsel“ in der öffentlichen Erinnerungskultur kam in der Regel aus der Zivilgesellschaft, von „Geschichtsbewegungen“, mitunter unterstützt von Museen. Parlamentsbeschlüsse zogen nach, haben aber noch nicht unbedingt zur Folge, dass eine auskömmliche Finanzierung gewährleistet ist. In der DDR gab es staatlich verordnetes Gedenken. Schulklassen und FDJ-Gruppen stellten sicher, dass Gedenktafeln und Gedenksteine gepflegt wurden. Im „Westen“ lag die Zuständigkeit bei Kommunen und Zivilgesellschaft, seit 1990 auch im „Osten“.
„Abgrenzungen“ zwischen verschiedenen Erscheinungsformen sind schwierig, eine wichtige Grundlage bildet das in der „Charta von Venedig“ – so Stefanie Endlich – „formulierte offene Denkmalverständnis“. Die Verständlichkeit der öffentlichen Texte ist eine wichtige Voraussetzung für ihre Wirkung: „Eine große Herausforderung ist daher der Transfer wissenschaftlich fundierter historischer Erkenntnisse in eine Sprache, die auch von Nichtfachleuten verstanden wird.“ Dies ist letztlich die Frage einer Reduzierung von Komplexität wie sie sich im Schulunterricht, in Volkshochschulen oder auch in Stadtführungen immer wieder anbietet, um die Erwartungen, die Vorbildung oder auch einfach die Lesegewohnheiten der Adressat*innen einzubeziehen. Dazu zählt Stefanie Endlich auch die Frage nach dem „Interesse von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die die Berliner und deutsche Geschichte nicht selbstverständlich als ihre eigene betrachten“.
In diesem Punkt möchte ich allerdings Stefanie Endlichs Analyse etwas relativieren, denn einerseits gibt es eine Fülle von Möglichkeiten, Menschen mit dem sogenannten „Migrationshintergrund“ je nach ihrer eigenen persönlichen Geschichte für den Ort zu interessieren, an dem sie leben, sei es weil sie sich mehr als Berliner*innen und Deutsche verstehen, weil sie hier geboren und aufgewachsen sind, sei es weil sie als erst kürzlich Zu- und Eingewanderte aus ihren vorhergehenden Erfahrungen durchaus etwas mit der Präsenz öffentlicher Erinnerung im öffentlichen Raum anzufangen wissen. Vergleiche sind methodisch mehr als hilfreich, auch wenn selbstverständlich nicht gleichgesetzt werden sollte. Die ersten methodischen Analysen zu diesem Aspekt haben Viola Georgi und Rainer Ohliger in dem von ihnen herausgegebenen Buch „Crossover Geschichte“ vorgelegt (seit 2009 im Programm der Bundeszentrale für politische Bildung). Stefanie Endlich verweist selbst auf das in Köln in Aufbau befindliche Museum DOMiD, das zurzeit (noch) einzige Museum, das sich der Migrationsgeschichte in Deutschland widmet. Mehrsprachigkeit dürfte ebenso helfen, zumal diese durch die Digitalisierung, beispielsweise über QR-Codes erheblich erleichtert werden dürfte.
Stefanie Endlich referiert in „Text im Raum“ auch Zerstörungen im öffentlichen Raum, beispielsweise in und nach der NS-Zeit, aber auch auf Verengungen der öffentlich sichtbaren Erinnerungskultur in der DDR: „Nach der Gründung der DDR 1949 konzentrierte sich die offizielle Gedenkpolitik der SED allerdings mehr und mehr auf den kommunistischen Widerstand und verdrängte immer starker die Erinnerung an ein breites Spektrum von Verfolgten und Gegnern des NS-Regimes“. Gestaltungsrichtlinien der SED legten fest, dass ausschließlich „der rote Winkel“ als Zeichen des Widerstands verwendet werden durfte, „auf keinen Fall eine andere Farbe, auch nicht hellrot / rosa gewählt werden, da diese Farben den Faschisten zur Kennzeichnung anderer Häftlingsarten dienten“ (zitiert nach Stefanie Endlich). Stefanie Endlich verweist auf die eigene Geschichte verschwundener Gedenktafeln, über die schon Holger Hübner in seinem Buch „Das Gedächtnis der Stadt – Gedenktafeln in Berlin“ (Berlin, Argon, 1979) geschrieben habe.
Ein weiteres Buch könnte vielleicht diese und andere Kontroversen thematisieren. Es wäre in der Tat angebracht, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob es hilft, bestimmte Denkmäler, Tafeln zu entfernen oder ob es möglicherweise sinnvoller ist, sie zu kommentieren. Gegebenenfalls ließe sich auch eine Entfernung mit einem Kommentar über die Vorgeschichte verbinden. Bilderstürmerei gab und gibt es immer nach einem Machtwechsel, wird mitunter – zurzeit auch im Zeichen postkolonialer Geschichtsschreibung – gefordert. Meines Erachtens wäre es durchaus hilfreich, bei einer Umbenennung einer Straße oder nach Abbau eines Denkmals eine Tafel zur Geschichte zu ergänzen. Und nicht zuletzt wäre zu beschreiben, wessen nicht gedacht wird und warum es so schwierig zu sein scheint, öffentliches Gedenken an die Opfer des NSU, der Hanauer Morde und vieler anderer antisemitisch oder rassistisch motivierter Morde und Anschläge auch im Stadtbild zu verankern, durchaus vergleichbar den weißen Fahrrädern, die sich immer wieder an Straßenrändern finden, um an einen dort im Straßenverkehr tödlich verunglückten Menschen zu erinnern.
Und nicht zuletzt brauchen wir öffentliche Debatten, in den Parlamenten, in der Zivilgesellschaft, in Medien, in Schulen, Volkshochschulen, die die öffentlich sichtbare Erinnerungskultur als Teil einer attraktiven Stadtentwicklung betreiben. Stefanie Endlich zitiert den Architekten Rem Kohlhaas, der betonte, „die Städte seien mit schnelllebigen Versatzstücken ohne Authentizität oder Inhalt überfüllt, und Shopping sei die ‚letzte uns verbliebene öffentliche Tätigkeit‘; daher sei die Neudefinition des Verhältnisses von Architektur und der jeweils kulturellen Situation notwendig.“ Menschen sollten überall über Verweise an die Geschichte des jeweiligen Ortes – durchaus im Sinne des Konzepts der „Stolpersteine“ – stolpern. Dazu könnten auch digitale Formate beitragen, gerade in einer Zeit, in der „der Monitor oder der Bildschirm das Tor zur Welt“ darstellen, vorausgesetzt diese Konzepte sind so angelegt, dass sie das Interesse wecken, den entdeckten Ort auch real zu besuchen.
Eine Straße – viele Welten
Holger Schmale schrieb eine politische Biographie der Berliner Chausseestraße. Sie hieß Oranienburger Landstraße, bevor sie zur Chausseestraße wurde, was eigentlich so etwas wie eine Straßen-Straße ergäbe oder wie Berliner*innen – so Holger Schmale – sagen würden: „doppelt gemoppelt“. Nicht weit entfernt liegen Oranienburger und Rosenthaler Tor, die beide auch einmal tatsächlich Tore waren. Das Rosenthaler Tor erlaubte im 18. Jahrhundert den Eingang in die Stadt für Juden und Vieh. Moses Mendelssohn lief damals auf seinem Weg von Dessau nach Berlin im Jahr 1743 rund um die Stadt herum, um dort Einlass zu finden, sehr anschaulich nachzulesen bei Katja Behrens in „Der kleine Mausche aus Dessau“ (2009 im Hanser Verlag erschienen). Tore und Übergänge prägen die gesamte Gegend, so auch die Chausseestraße, durchaus vergleichbar mit der Geschichte der auch nicht weit entfernten Bernauer Straße. Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied: angesichts der Übergänge und Tore rund um die Chausseestraße lässt nicht nur (wie bei der Bernauer Straße) die Geschichte rund um ein bestimmtes Datum, den 13. August 1961, erzählen sondern die Geschichte von mehreren Jahrhunderten.
Holger Schmale konzentriert sich auf die Zeit seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Er erzählt Geschichten zur Geschichte fast jeder einzelnen Hausnummer, die hier nur kurz angerissen werden können. Aber vielleicht gelingt es mir, Appetit auf den Erwerb des Buches zu wecken und mit dem Buch in der Hand die Straße samt umliegender Straßen zu erkunden. Holger Schmale ermutigt dazu und konstatiert, „die verspätete Wiederentdeckung mag dazu beigetragen haben, dass hier sorgfältiger mit alter Bausubstanz und historischen Bezügen umgegangen wurde. Es ist wieder eine lebendige Straße, in der gewohnt und gearbeitet, gefeiert und getrauert, studiert und flaniert wird. Eine kluge Stadtpolitik muss diese Mischung schützen, die nicht zuletzt von einer Mittelschicht getragen wird, die es sich auch künftig leisten können muss, hier zu leben, Familien und Geschäfte zu gründen.“
Die Chausseestraße war Ort der ersten Schwerindustrie in Preußen, Ort der Borsigwerke und Keimzelle der von Emil Rathenau, dem Vater Walter Rathenaus, der vor 100 Jahren von Rechtsextremisten ermordet wurde, gegründeten Deutschen Edison-Gesellschaft, der späteren AEG. Die Berliner*innen nannten den Ort „Feuerland“, die Nummer 1 hieß damals „Haus Feuerland“. Hier wurden Lokomotiven gebaut. „Feuerland“ war ein Begriff des Stolzes, ähnlich wie Gelsenkirchen lange darauf stolz war, die „Stadt der 1000 Feuer“ genannt zu werden. An die Anfänge des „Feuerlands“ erinnert eine Tafel an der Hausnummer 10, die an die „Maschinenbauanstalt Egell“ erinnert. Die Straße war im 19. Jahrhundert der Ort von etwas, das heute „Start-Ups“ genannt würde. In der damaligen Nummer 17 (heute Nummer 24) befand sich eine Apotheke, die später zu den Schering-Werken führte. Es gab in der Nummer 42 seit 1949 die Secura-Werke mit ihrer Computerproduktion, die später Teil des DDR-Konzerns Robotron wurde.
Die Kreuzung zur Invalidenstraße war am 6. Dezember 1918 der Ort, an dem Garde-Füsiliere im Kontext der „Deutschen Revolution“, über deren Scheitern beispielsweise Sebastian Haffner („Die deutsche Revolution“) und Marc Jones („Am Anfang war Gewalt“) schrieben, 16 Demonstranten töteten. Am Oranienburger Tor befanden sich in der 1948er-Revolution Barrikaden, dort fielen am 18. März 1848 Schüsse auf die Demonstranten, die sich dort versammelt hatten. An der Ecke Wöhlerstraße / Chausseestraße befand sich die Konditorei Bischoff, die eines der ersten NSDAP-Lokale der Gegend war, sie war der „Braune Laden“. Es gab Straßenterror, NSDAP-Propaganda und -Morde, die auch in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand dokumentiert sind. Am 17. Juni 1953 marschierten etwa 15.000 Stahlarbeiter aus Hennigsdorf durch die Chausseestraße zum Haus der Ministerien in der Wilhelmstraße, dem vormaligen Reichsluftfahrtministerium und heutigen Bundesfinanzministerium.
Nicht weit entfernt lag die Sektorengrenze, die auch Tage nach dem 17. Juni 1953 noch von sowjetischen Panzern bewacht wurde. Die am 13. August 1961 gebaute Mauer, die niemand – so hörte man noch wenige Tage vorher, im Original vor dem Märkischen Museum an einer Säule nachhörbar – die Absicht hatte zu bauen, verlief nicht weit entfernt. Es gab zwei Kontrollstellen, die DDR-Bürger*innen nicht benutzen durften und wenige Meter weiter – in der im spitzen Winkel abgehenden Hannoverschen Straße – seit 1974 die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland mit – so hieß es – abhörsicherem Gartenhaus. Am 8. April 1989 fielen am Grenzübergang Chausseestraße / Luisenstraße zum letzten Mal Schüsse, obwohl die DDR-Führung den Gebrauch der Schusswaffe bei illegalem Grenzübertritt von Ost nach West bereits untersagt hatte.
In der Chausseestraße 122, direkt neben dem Brechthaus befindet sich im Hinterhof ein Gedenkstein an die Gründung des Spartakus am 1. Januar 1916 unter dem Vorsitz von Karl Liebknecht, die Organisation, aus der sich dann die KPD an diesem Ort gründete. Wolf Biermann und Bertolt Brecht sind die beiden Intellektuellen, die vielleicht die für die Literaturgeschichte bedeutendsten Bewohner der Chausseestraße sind, Bertolt Brecht unmittelbar neben dem Dorotheenstädtischen Friedhof, auf dem er auch begraben ist, Wolf Biermann in der Chausseestraße 131 an der Kreuzung mit Hannoverscher Straße, Friedrichstraße und – gegenüber – der Torstraße. Dort wo heute der BND sein Gebäude – besser: seinen Gebäudekomplex – hat, stand vorher eine Kaserne. Diese war der Ort, wo Hans Leip den Text von „Lili Marleen“ schrieb. Später stand dort das Stadion der Weltjugend. Holger Schmale illustriert sein Buch nicht nur mit historischen Fotographien und einem Stadtplan, sondern auch mit Liedern von Wolf Biermann, darunter der Text „Ich fahr nicht an meiner Wohnung vorbei (…)“, sowie dem Text von „Lili Marleen“.
Ein eigenes Kapitel widmet Holger Schmale dem „Ende jüdischen Lebens in der Chausseestraße“. Er erzählt die Biographien der Menschen, die in der Chausseestraße lebten und an die heute nur noch die vor den Hauseingängen verlegten Stolpersteine erinnern. Er beschreibt die Geschichte der vergeblichen Bemühungen um eine Ausreise, der Deportation, der Ermordung, der Löschung der Namen aus offiziellen Registern, der Enteignung. Ein Beispiel ist das Haus in der Chausseestraße Nummer 6, das Elternhaus von Sophie Happ, das 1939 „arisiert“ wurde. Ich nenne die Namen der von Holger Schmale genannten Menschen: Wilhelm und Clara Bach und ihre drei Kinder Sophie, Kurt und Edith, Martin Happ, Ehemann von Sophie, Eva Weinmann, Siegfried und Gerda Lesh (Nummer 117), Paula Mroz (Nummer 45). Das Ehepaar Happ bemühte sich verzweifelt um eine Ausreise, ihre Tochter Vera kam mit einem der Kindertransporte, an die die Skulptur „Züge in das Leben – Züge in den Tod“ von Frank Meisler“ am Bahnhof Friedrichstraße erinnert, nach England. „1940 starb sie aber in Cardiff an einer Meningitis-Erkrankung. Der Sohn Wolfgang gelangte über Italien nach England und später nach Kanada und die USA, wo er sich als Arzt niederließ.“
Daniel und Bertha Baruch und ihre große Familie wohnten in der Chausseestraße 36. Grete, die Witwe des 1936 gestorbenen Sohnes Bernhard, ihre Tochter Mirjam und ihr zweiter Ehemann Leo Emanuel wurden in Auschwitz ermordet. „Allein Gretes 1906 geborener jüngerer Schwester gelang es 1943, aus dem Sammellager der SS in der Lewetzowstraße zu fliehen (…). Sie konnte in Berlin untertauchen und überlebte in der Wohnung eines Bekannten, der sie versteckte. Nach dem Krieg suchte sie unter anderem mit Anzeigen nach dem Verbleib ihre Angehörigen, bis sie Auskunft über deren Tod in den Konzentrationslagern erhielt. / Über das Schicksal von Daniel und Bertha Baruch gibt es in den zugänglichen Archiven, etwa von Yad Vashem und der Berliner Jüdischen Gemeinde, keine Informationen.“
Decolonize History
Das gut bebilderte Buch „Die postkoloniale Stadt lesen“ enthält einschließlich der Einführung der Herausgeber*innen 24 Texte von 20 Autor*innen, die nach Jahreszahlen von 1824 bis 2009 geordnet sind. Das Buch wurde vom Bezirkskulturfonds Friedrichshain-Kreuzberg finanziell gefördert. Anlässe zur Entstehung des Buches sind nicht zuletzt die im Koalitionsvertrag 2018 festgehaltene Rückgabe der Benin-Bronzen an Nigeria, die am 19. Dezember 2022 durch die deutsche Außenministerin vollzogen wurde, sowie die 2021 vom Deutschen Bundestag erfolgte Anerkennung des Völkermordes der Deutschen an den Herero und Nama. Ein weiterer Kontext ist das fünfjährige Projekt „Dekoloniale Erinnerungskultur in der Stadt“, das von 2020 bis 2024 in Berlin durchgeführt wird. Christian Kopp beschrieb in der Ausgabe der Zeitschrift Politik & Kultur von Dezember 2022 Konzept und Umsetzung, an denen u.a. Each One Teach One (EOTO), die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) und Berlin Postkolonial beteiligt sind. Es gibt einen starken Anteil zivilgesellschaftlicher Organisationen, ohne die sich das Projekt auch gar nicht durchführen ließe, so wie viele Beiträge des Buches „Die postkoloniale Stadt lesen“ nicht ohne zivilgesellschaftliches Engagement hätten geschrieben werden können. Buch und Projekt sind beide gleichermaßen interdisziplinär angelegt. Es geht um „Justiz und Soziales, Medizin, Flucht, Politik und Klima – um nur einige zu nennen“ – so Tahir Della (ISD) – und darum, „eine wirkliche Klärung des Begriffs Dekolonisierung“ zu erreichen – so Nadja Ofuatey-Alazard (EOTO), beide im Gespräch mit Sandra Winzer in genannten Ausgabe von Politik & Kultur.
So schwierig eine solche „wirkliche Klärung“ sein mag, vielleicht lässt sie sich erlaufen. Kreuzberg-Friedrichshain bietet allein genügend Anlässe, konkrete Ereignisse zu identifizieren, die wiederum Anlass zur Erzählung von Geschichten sein können, die die Geschichte der Kolonisierung wie einer denkbaren De-Kolonisierung ausmachen . Natalie Bayer und Mark Terkessidis nennen in ihrer Einführung das Ziel, eine Stadtgeschichte aus kolonialer Perspektive zu schreiben, ausgehend von Straßennamen, Gräbern, Personen, Bauwerken, Infrastrukturen, beispielsweise Bahnhöfen, Firmen, Parteien und Initiativen verschiedener Art im Laufe der vergangenen zwei Jahrhunderte. Die Einführung enthält darüber hinaus eine kurze Geschichte des deutschen Expansionsstrebens in Kaiserreich und NS-Zeit sowie der Anfänge der Debatte um den „Postkolonialismus“ in den 1990er Jahren. Bei der Recherche stellten die Herausgeber*innen zwar „keine Kohärenz“ des vorliegenden Materials fest, wohl aber „eine klare Rahmung“. Es geht nicht um Kausalbeziehungen, wohl aber einen „Zusammenhang (…) zwischen dem Kolonialismus in Übersee, dem sogenannten Drang nach Osten sowie der ‚rassisch‘ begründeten, nationalsozialistischen Landnahme“.
Berlin war Ort der sogenannten Kongo- bzw. Afrika-Konferenz im Jahr 1884, Berlin war der Ort, in dem im Jahr 1939 das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) gegründet wurde. Sina Knopf erinnert – anschließend an das Buch „Generation des Unbedingten“ von Michael Wildt – daran, dass Rassismus nicht eine Angelegenheit unterprivilegierter Schichten wäre: „Die Mitarbeitenden des RSHAs und seiner unterstellten Ämter stammten vornehmlich aus einem bürgerlich-elitären Umfeld und engagierten sich bereits während der akademischen Ausbildung völkisch und militant, was sich später in der Härte ihres Vorgehens gegenüber der zu kolonisierenden Gebiete in Osteuropa zeigte.“
Die Herausgeber*innen und Autor*innen benennen Kontinuitäten vom Kaiserreich zur NS-Gewaltherrschaft, feststellbar sei durchaus, „ein koloniales Blickregime (…), das ein eroberndes ‚Wir‘ den unterworfenen Anderen gegenüberstellt und damit eine vermeintliche Zweiteilung der Welt zementierte“ und letztlich rechtfertigte, dass eine Gruppe von Menschen eine andere als minderwertig betrachten, versklaven, ausbeuten und im Zweifel ermorden durfte. Eben dies ist das Wesen kolonialistischer und imperialistischer Herrschaft. Die Anderen – das sind „Heiden“, unzivilisiert und kulturlos, denen die Segnungen der Zivilisation und Kultur der europäischen Großreiche auch mit Gewalt überbracht werden sollten. Christentum und Zivilisation – das war eins. Bereits im 1824, dem Jahr der Gründung der „Gesellschaft zur Beförderung der evangelischen Missionen unter den Heiden“,, galt dies als programmatisch. Im Jahr 1896 konnte, wer wollte, diesen Geist auf der Ersten Deutschen Kolonial-Ausstellung besichtigen.
Attraktiv waren auch die Panoramen der damaligen Zeit, so die Ausstellung „Kolonialpanorama“ aus dem Jahr 1885, die auch an eine sogenannte „Strafexpedition“ in Kamerun erinnerte. Das, was in den Kolonien geschah, wurde Gegenstand der „Massenunterhaltung“, die ihr gutes Gewissen durch die ideologische Grundierung der überlegenen europäischen Zivilisation zu bewahren vermochte. Element dieser „Massenunterhaltung“ waren auch die „Völkerschauen“ und „Menschenzoos“, in denen Menschen aus den Kolonien in ihrem angeblich natürlichen Ambiente ausgestellt wurden.
Koloniale Praxis
Die Mobilität zwischen den Kolonien und dem Deutschen Reich wurde auch durch den Bau von Eisenbahnen erleichtert. Michael G. Esch beschreibt die Geschichte der Eisenbahnen bei der Kolonisierung am Beispiel der im Jahr 1842 erfolgten Eröffnung des heutigen Ostbahnhofs (damals „Frankfurter Bahnhof“, später „Schlesischer Bahnhof“). In einem weiteren Beitrag schreibt Michael G. Esch über den Start des ersten Balkan-Zuges am Anhalter Bahnhof im Jahr 1916. Geplant war eine Strecke bis in den Irak, die sogenannte Bagdad-Bahn, die jedoch die Deutschen nie fertigstellten. Kontroversen drehten sich um die Frage, ob die Eisenbahn und der Bahnhof möglicherweise die Einreise von „Dieben und Gesindel“ beförderte, sodass Polizei und Bahnhofmission die Einrichtung von Bahnhöfen ergänzten. Der Anhalter Bahnhof war auch mit Grunewald und Moabit einer der zentralen Orte der Deportation von Jüdinnen*Juden in die Vernichtungslager.
Die Gründung der Oranien-Apotheke im Jahr 1886 belegte die Bedeutung von Tropenmedizin. Angeboten wurden Reise- und Tropenapotheken, auch ein „Offizierskoffer“. Diesen Beitrag schrieb Flavia Kahn. „Die Werbung für die Reiseapotheke, für den persönlichen Gebrauch hebt hervor, dass sie perfekt in den sogenannten Tropenkoffer passen, der speziell für diese Kundschaft von europäischen Kolonialreisenden hergestellt wurde.“ Natürlich auch für die Besatzungstruppen in den Kolonien, die euphemistisch „Schutztruppen“ genannt wurden. Das Unternehmen wurde nach dem Gründer benannt und nannte sich seit den 2000er Jahren „Dr. Kade Health Company“, es berichtete stolz von seiner Geschichte, verschwieg jedoch seinen Beitrag zur Kolonialgeschichte und den in deren Zuge erfolgten „lukrativen Gewinnen“, eines der vielen Zeichen für „die allgemein fehlende Auseinandersetzung mit Kolonialismus in Deutschland.“
Große Gewinne ließen sich auch mit Genussmitteln machen, Tabak und Kakao. Lisa Hackmann verfasste die Beiträge zu den Firmen Muratti und Sarotti. Ab 1900 ist die Zigarette auch dank der Firma Muratti ein „Massenkulturgut“, sie trug somit – so ironisch dies klingen mag – zur Demokratisierung des Tabakkonsums bei. Wer Zigaretten rauchte nahm teil an einer gut bürgerlichen oder gar adligen Welt, wenn man den Plakaten folgen wollte. Für Schokolade stand die Firma Sarotti, die 1883 in die Belle-Alliance-Straße, heute Mehringdamm, einzog. Ihr Werbe-Maskottchen, das ein orientalistisch stilisierter Schwarzer Junge war, den die Firma auch noch in den 1950er Jahren – Lisa Hackmann zeigt ein solches Bild – leibhaftig von einem kleinen Schwarzen Jungen darstellen ließ, den zwei Herren im Anzug und eine weiß gekleidete Verkäuferin am Fenster eines Sarotti-Kiosks wohlwollend betrachten (die Aufnahme ist im Deutschen Historischen Museum archiviert). Das Marken-Logo wurde erst im Jahr 2004 abgeschafft. Die Firma gehört nach einem Intermezzo bei der Kölner Firma Stollwerck heute einer belgischen Unternehmensgruppe.
Das Gedächtnis eines Landes zeigt sich in Straßennamen. In dem Band „Die postkoloniale Stadt lesen“ werden mehrere Straßen genannt, konkret 1930 die Gustav-Stresemann-Straße (von Michael G. Esch), 1874 eine Straße, die den Namen von Hermann Fürst von Pückler-Muskau trug, 2008 die Rudi-Dutschke-Straße (von Clemens Wildt), ironischerweise direkt am Springer-Haus, und 2009 das May-Ayim-Ufer (von Clara Avidosa). Orte der Erinnerung sind auch Gräber, das Grab von Adalbert von Chamisso, der 1838 auf dem Friedhof vor dem Halleschen Tor bestattet wurde, das Grab von August Sabac el Cher, der 1885 auf dem Friedhof I der Dreifaltigkeitsgemeinde begraben wurde (beide Beiträge von Anna von Rath). Mark Terkessidis erinnert an die ebenfalls dortige Bestattung von August zu Eulenburg, einem Teilnehmer der preußischen „Ostasien-Expedition“, im Jahr 1921 .
Paradigmenwechsel: Bürgerrechtsbewegungen Schwarzer Menschen
Quane a („Martin“) Dibobe war der Spiritus Rector der „32-Punkte-Petition“, die er am 27. Juni 1919 an die neu gegründete Weimarer Nationalversammlung richtete. Im Jahr 1896 waren er und 19 andere Kameruner*innen Gegenstand einer „Völkerschau“, sie „hatten angenommen dass es sich um eine hochkarätige Prestige-Veranstaltung handeln würde, bei der sie ihr Heimatland vertreten würden. Tatsächlich aber wurden sie jeden Tag von Zuschauer*innen beleidigt; zudem waren ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Ausstellung schlecht und sie mussten invasive medizinische sowie rassistische anthropometrische Untersuchungen über sich ergehen lassen.“ Einige bleiben in Deutschland, hatten jedoch Probleme, eine Arbeit zu finden, Dibobe wurde 1902 der erste Schwarze Zugführer der U-Bahn-Linie 1.
Im Jahr 2016 wurde Dibobe in der Kuglerstraße 44 in Prenzlauer Berg eine Gedenktafel gewidmet, „die erste Gedenktafel, die einer Schwarzen Person gewidmet ist. (…) Im Juli 2019 wurde anlässlich des 100jährigen Jubiläums der Einreichung der Dibobe-Petition am ehemaligen Standort des Reichskolonialamts, in der Wilhelmstraße 52 in Berlin Mitte, eine Gedenktafel errichtet, die der Geschichte Afro-Deutscher Menschen in Berlin gedenkt.“ An der U-Bahn-Station gibt es auch ein Foto von Dibobe, das allerdings bisher nur unzureichend kommentiert ist. Einer der Mitunterzeichner der Dibobe-Petition war Theophilus Wonja Michael, der im Jahr 1934 in Friedrichshain starb und dessen Sohn ein Buch mit dem Titel „Deutsch sein und schwarz dazu – Erinnerungen eines Afro-Deutschen“ schrieb. Flavia Kahn schreibt über seine schwierige und wechselvolle Geschichte mit allen Diskriminierungserfahrungen in der Weimarer Zeit.
Nun ließe sich vielleicht vermuten, dass die deutsche Sozialdemokratie, deren 1913 verstorbener Vorsitzender August Bebel sich vehement gegen die Kriegspolitik in den „Kolonien“ aussprach, die Dibobe-Petition und andere vergleichbare Initiativen einhellig unterstützt hätte. Aber es war hier wie in vielen anderen Bereichen auch: einig war sich die SPD nicht. Eduard Bernstein sah „eine gewisse Vormundschaft der Kulturvölker gegenüber der Nichtkulturvölker (…) eine Notwendigkeit, die auch Sozialisten anerkennen sollten“. Karl Kautsky widersprach, ließ aber in seiner Rede durchblicken, dass auch er von Überlegenheitsgefühlen nicht frei war: „Alle Erfahrung zeigt im Gegenteil, dass da wo man den Wilden freundlich entgegenkommt, sie die Werkzeuge und Hülfsmittel der höheren Zivilisation gern annehmen.“ (beide Einlassungen zitiert von Mirja Memmen in ihrem dem Jahr 1890 gewidmeten Beitrag „Im neuen Büro der SPD wird über Kolonialismus debattiert.“) Es ging der SPD nicht um eine grundsätzliche Kritik an den Voraussetzungen des Kolonialismus, sondern nur um die Methode, wie man ihn praktizieren solle. Mirja Memmen: „Die antikolonialen Argumentationslinien innerhalb der Sozialdemokratie verliefen dabei jedoch selten, wie das Beispiel Karl Kautskys zeigt, antirassistisch.“ Auch die SPD forderte nach 1919 die Rückgabe der verlorenen Kolonien.
Ein weiteres wichtiges Datum des Widerstands gegen die Sklaverei war das Jahr 1854, in dem Folgendes geschah (so auch der Titel des Beitrags von Paula Lange und Stefan Zollhauser): „Der Sklave Marcellino fordert vor einem Gericht in Kreuzberg seine Freiheit“. Er verlor den Prozess, blieb aber in Freiheit, denn offenbar „fühlte sich keine Behörde bemüßigt, ihn wieder in die Sklaverei rückzuführen.“ Am 21. Februar 1857 wurde jedoch ein Gesetz verabschiedet, dass das Eigentumsrecht des Herrn eines Sklaven beziehungsweise einer Sklavin mit dem Betreten des Preußischen Staatsgebiets für beendet erklärte. Die beiden Autor*innen dieses Beitrags sehen in dem Fall „ein mobilisierbares Netzwerk gegen Sklaverei“ im Kaiserreich und ein Zeichen für „die Präsenz Schwarzer Menschen in Berlin Mittel des 19. Jahrhunderts, die häufig in Privathaushalten als Bedienstete tätig oder zur Ausbildung nach Berlin gekommen waren.“
Katharina König und Miriam Friz Trzeciak berichten in ihrem dem Jahr 1874 gewidmeten Beitrag von der Benennung einer Straße nach Hermann von Pückler-Muskau, der von seinen Reisen nach Äthiopien, Algerien und Tunesien berichtete und sich beispielsweise als „angetan von der französischen Kolonialmacht“ in Algerien äußerte. Im Jahr 1837 erwarb er auf einem Sklavenmarkt in Äthiopien eine junge Frau, die unter dem Namen „Machbuba“ in Bad Muskau begraben liegt. Im Grunde wurde dieses Mädchen nach Deutschland verschleppt. Abgesehen von dem orientalistischen Flair der Geschichte, ganz im Sinne des Buches von Edward Saïd, ist diese Geschichte auch ein Zeichen für „globalgeschichtliche Zusammenhänge der Mobilität von Subjekten, die der Sklaverei und dem Kolonialismus unterworfen waren, auf Prozesse der Hierarchisierung, Klassifizierung und (Un-)Sichtbarmachung.“
Das Buch „Die postkoloniale Stadt lesen“ sollte anregen, den Blick zu wenden, so wie es Kwelle Ndumbe tat, dessen Protest Clara Avedosa in ihrem Beitrag zur Umbenennung des Gröben-Ufers in May-Ayim-Ufer dokumentiert. Ort war die Berliner Gewerbe- und Kolonialausstellung1896 in Berlin-Treptow, eine der 400 „Menschenschauen“, die zwischen 1875 und 1930 in Deutschland stattfanden. „Die Ausstellungsveranstalter gaben genau vor, was für ein Spektakel von den ‚kulturlosen‘ Wilden erwartet wurde.“ Dazu gehörten auch die „afrikanischen Trachten“, ungeachtet der Tatsache, dass die Teilnehmenden zu Hause „Hemd und Frack“ trugen. Um 12 Uhr mittags musste gegessen, um 18 Uhr getanzt werden, so wie in zoologischen Gärten auch Fütterungszeiten von Löwen, Robben, Pinguinen fest terminiert sind. „Der Kameruner Kwelle Ndumbe wählte gar eine stille, aber originelle Protestform: Mit einem Opernglas starrte er sitzend auf die Menschen zurück, die in die Ausstellung strömten, um die Menschen aus den Kolonien zu begaffen“.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Februar 2023, Internetzugriffe zuletzt am 26. Januar 2023. Titelbild: Hans Peter Schaefer, Vorplatz des Jüdischen Museums in Berlin. Bilder im Text alle mit Ausnahme des Screenshots aus dem Film „Das Erbe des Kolonialismus“ alle aus dem Buch „Text im Raum“, sie wurden mir von der Autorin und Fotografin zur Verfügung gestellt. Die Beschriftung entspricht weitgehend der Beschriftung im Buch.)