Starke Kommunen – starke Demokratie
Ein Gespräch mit Gerd Landsberg, Ehrengeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes
„Entscheidend wird nun sein, dass die bereitgestellten Mittel schnell und effizient in die Umsetzung kommen. Bürokratische Hürden müssen abgebaut, Planungsverfahren drastisch vereinfacht und beschleunigt werden. Gerade die Digitalisierung bietet hier enorme Chancen, um Verfahren schneller und effizienter zu gestalten. Dieses Investitionsprogramm wird eine spürbare Nachfrage in der Wirtschaft erzeugen und insbesondere der Bauwirtschaft einen erheblichen Impuls geben. Doch die neue Koalition setzt nicht nur wirtschaftliche Schwerpunkte, sondern stärkt auch die Sicherheit unseres Landes.“ (Gerd Landsberg zum Sondierungspapier von CDU, CSU und SPD zur Aufnahme von Koalitionsverhandlungen)
Der Jurist Gerd Landsberg war über 25 Jahre als Hauptgeschäftsführer das Gesicht des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. Am 1. Januar 2024 übergab er das Amt an seinen Nachfolger André Berghegger. Gerd Landsberg wurde einstimmig zum Ehrengeschäftsführer gewählt. Seit dieser Zeit ist er als Speaker und Publizist unterwegs. Er gibt gemeinsam mit Franz-Reinhard Habbel, dem ehemaligen Sprecher des Verbandes, den ZMI-Newsletter heraus (ZMI = Zehn Minuten Internet), in dem jeden Sonntag Praxisbeispiele aus Kommunen, Hinweise auf Stellungnahmen der Kommunalen Spitzenverbände, Vergleiche verschiedener Entwicklungen in den Ländern sowie Einschätzungen zu aktuellen politischen Entwicklungen nachgelesen werden können (es lohnt sich, den Newsletter zu abonnieren!).
Gerd Landsberg äußerte sich bereits am 6. März 2025 über das von der Bundesregierung geplante Investitionspaket, mahnte jedoch an, es müsse mit Strukturreformen, dem entschiedenen Abbau von Bürokratie und Beschleunigung des Ausbaus der Digitalisierung sowie einem Moratorium für Sozialleistungen verbunden werden. Ein solches Moratorium hatte er bereits im Dezember 2023 nach dem Verfassungsgerichtsurteil gegen die Umbuchbarkeit von Krediten gefordert. Ob es ein solches Moratorium geben wird, hängt möglicherweise auch von der Frage ab, welche Klientel von CDU, CSU und SPD befriedigt werden muss. Das Sondierungspapier gibt dazu einige durchaus kritisch zu sehende Hinweise (zum Beispiel Erhöhung der Pendlerpauschale, Rückkehr zur steuerlichen Förderung des Agrardiesels, Erhöhung der Pendlerpauschale).
Das schwierige Verhältnis zwischen Bund und Kommunen
Norbert Reichel: Zurzeit erleben wir, dass es immer schwieriger wird, Menschen zu motivieren, sich für das Amt des Bürgermeisters oder ein Mandat im Stadtrat zu bewerben. Manche haben angesichts der zahlreichen Angriffe, die sie erleiden mussten, sogar ihr Amt aufgegeben, so zum Beispiel Neubrandenburgs Bürgermeister Silvio Witt, eine Entwicklung, die wir inzwischen auch bei den Wahlen zum Bundestag erleben. Ich nenne als Beispiel nur die sächsische CDU-Politikerin und bisherige Vizepräsidentin des Bundestages Yvonne Magwas sowie den ebenfalls aus Sachsen stammenden bisherigen Ostbeauftragten Marco Wanderwitz, der ausdrücklich darauf hinwies, er müsse sich und seine Familie schützen. Brauchen wir einfach mehr Schutz für Politiker, nicht zuletzt auch in der Kommunalpolitik?
Gerd Landsberg: Zumindest ist festzuhalten, dass Kommunalpolitiker häufiger angegriffen werden als Politiker auf Bundes- oder Landesebene. Sie haben den unmittelbaren Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürgern. Wir können nicht allen Personenschutz bieten. Anzuerkennen ist allerdings, dass das Bundeskriminalamt und die Länder eine Plattform aufgebaut haben, wo man solche Fälle melden kann. Den Meldungen wird auch nachgegangen. Letztlich ist das eine wahnsinnige Belastung für jeden, der in der Kommunalpolitik tätig ist. Es ist aber auch ein Spiegel der Gesellschaft, die zunehmend zerrissener und aggressiver geworden ist, und es ist natürlich auch eine Folge des Netzes. Früher haben sich die Leute in der Kneipe auch gestritten und sind sicherlich oft sehr ausfallend geworden, aber heute gehen sie nach Hause und betreiben dies über das Netz, erreichen damit Hunderte oder gar Tausende, an 24 Stunden und sieben Tagen, rund um die Uhr.
In der Kommunalpolitik kommt ein Weiteres hinzu: Der Erwartungsdruck auf die Kommunalpolitik ist ständig gestiegen, aber die Möglichkeiten nehmen immer weiter ab. Das hat einen handfesten Grund. Wir haben leider eine gesellschaftliche Entwicklung, der Staat müsse dafür sorgen, dass es mir gut geht, ich einen guten KiTa-Platz bekomme, der Bus regelmäßig und pünktlich fährt. Dazu muss man allerdings wissen: Die Kommunen erfüllen etwa ein Viertel aller Verwaltungsaufgaben in Deutschland, aber an den Steuereinnahmen sind sie nur zu 14 Prozent beteiligt. Wir haben hier ein deutliches Ungleichgewicht, aber auch die hohe Bereitschaft auf Bundes- und Landesebene, etwas Gutes zu beschließen, das andere ausführen und am Ende auch finanzieren müssen.
Die Kommunen haben mit Unterstützung der kommunalen Spitzenverbände versucht, dem Einhalt zu gebieten. Wir haben im Grundgesetz das Konnexitätsprinzip zwischen Bund und Ländern und in allen Landesverfassungen das Konnexitätsprinzip im Verhältnis zwischen Land und Kommune. Wenn das Land den Kommunen eine neue Aufgabe gibt, muss es die Finanzierung übernehmen. Das hat in einem gewissen Maße gewirkt, aber das nützt nichts im Verhältnis zwischen Kommunen und Bund. Ein Beispiel: Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Schule. Man kann darüber streiten, ob es sinnvoll ist, immer neue Rechtsansprüche zu formulieren. Für mich ist das jedoch ein Symbol dafür, dass die Politik sich das vielleicht gar nicht zutraut. Wenn ich etwas will, sorge ich für die Finanzierung und dann funktioniert das auch. Eigentlich würde man sagen, bei dem Rechtsanspruch der Ganztagsbetreuung in der Schule muss das auch in den Schulgesetzen verankert werden. Das aber haben die Länder wie der Teufel das Weihwasser gefürchtet, weil dann das Konnexitätsprinzip gilt.
Norbert Reichel: Hinzu kommt, dass der Bund keine Zuständigkeiten für die Schule hat, wohl aber für die Sozialgesetzgebung, zu der im SGB VIII die Kinder- und Jugendhilfe gehört. Also hat man den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Schulkinder dort verankert und es den Ländern überlassen, es jetzt in ihren Ausführungsgesetzen, gleichviel ob Schul- oder Sozialgesetzgebung, zu regeln. Das kleine vom Bund bereitgestellte Sondervermögen kann die zusätzlich entstehenden Finanzbedarfe jedoch nicht auffangen.
Gerd Landsberg: Indem der Bund die Ganztagsbetreuung in der Sozialgesetzgebung geregelt hat, gilt eben die Konnexität nicht, weil es zwischen Bund und Kommunen keine Konnexität gibt. Wir haben versucht, das durchzusetzen. Es ist aber nicht gelungen. Wir haben nur in Artikel 84 Absatz 1 Satz 7 Grundgesetz stehen, dass der Bund den Kommunen keine Aufgaben übertragen darf, im Wortlaut: „Durch Bundesgesetz dürfen Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden.“ Das macht er auch nicht. Also hilft er sich damit, dass er lediglich eine Formulierung in einem bestehenden Gesetz erweitert, im Falle der Ganztagsbetreuung den neuen Absatz 4 in § 24 SGB VIII.
Das führt in den Kommunen und bei den Bürgerinnen und Bürgern zu Frust und ist durchaus ein Grund, warum man vor allem in kleineren Kommunen schon Schwierigkeiten hat, jemanden zu finden, der bereit ist, für das Amt des Bürgermeisters zu kandidieren. Viele haben keine Lust, sich ständig beschimpfen zu lassen, nur weil sie das Geld nicht haben, um etwas zu gestalten. Es macht ja auch wenig Spaß, das den Bürgerinnen und Bürgern immer wieder zu erklären.
Gemeinschaftsaufgaben definieren
Norbert Reichel: In Veranstaltungen, in denen ich auf die Belastung der Kommunen durch Bundesgesetze hingewiesen habe, beispielsweise bei der Ganztagsbetreuung, meldeten sich Landtagsabgeordnete zu Wort und meinten, die Kommunen sollten doch bitte ihre Verantwortung übernehmen.
Gerd Landsberg: Ich vermisse in den Parteiprogrammen aller demokratischen Parteien genau diesen Punkt. Das heißt im Klartext: Wir müssen das Grundgesetz ändern. Wir brauchen zunächst das Konnexitätsprinzip zwischen Kommunen und Bund und wir brauchen andere Formen der Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Wir haben nach Artikel 20 Grundgesetz einen zweigliedrigen Staat, es gibt nur Bund und Länder und die Kommunen sind Teil der Länder. Daher ergibt sich zunächst die Notwendigkeit, dass der Bund, wenn er Gesetze macht, die die Länder und die Kommunen belasten, er eigentlich für die Finanzierung sorgen müsste.
Zweiter Punkt: Es gibt zahlreiche Bereiche, in denen der Bund sich aus zumindest für mich nachvollziehbaren politischen Gründen einmischen will, aber keine Zuständigkeit ha, wie zum Beispiel die Bildung. Es tut dies über Fördermittel wie zum Beispiel beim Digitalpakt oder in der Ganztagsbetreuung. Der Bund repariert sozusagen etwas mit Fördermitteln an den Stellen, an denen es nicht so gut läuft. Das könnte man natürlich ändern, indem man bestimmte Dinge, die uns besonders wichtig sind, im Grundgesetz als Gemeinschaftsaufgabe verankert.
Über Bildung müssen wir da nicht reden, denn das würden die Länder nie zulassen. Ich nehme deshalb ein anderes Beispiel: Klimaschutz und Klimaanpassung. Alle sind irgendwie zuständig oder auch nicht. Aber es ist nirgends geregelt, dass das eine Gemeinschaftsaufgabe ist. Für den Küstenschutz steht das im Grundgesetz, Artikel 91a, aber Klimaschutz, Klimaanpassung, Katastrophenschutz stehen nicht im Grundgesetz. Das führt dann dazu, dass wie bei der Flut im Ahrtal wieder einmal ein Sondertopf aufgemacht wird, den ich gar nicht in Abrede stellen will, oder es wird eine Amtshilfe konfiguriert, damit die Bundeswehr eingreifen kann.
Norbert Reichel: Eine Studie des Umweltbundesamtes belegt, dass in den Kommunen und bei den Bürgerinnen und Bürgern eine hohe Akzeptanz für eine bessere Kooperation zu finden ist. Viele bemängeln, dass es zu wenig Informationen gebe, auch das Wissen, wie mehr Akzeptanz für einzelne Maßnahmen geschaffen werden könnte. Kommunen mit Klimaanpassungskonzepten haben zu 45 Prozent ein ressortübergreifendes Klimaanpassungsmanagement sowie eine dafür ausdrücklich zuständige Person. Bezieht man alle Kommunen ein, liegt diese Quote bei leider nur 12 Prozent.
Gerd Landsberg: Viele Dinge setzten Kooperation voraus. Und diese Kooperation muss man erleichtern. Dafür braucht man eine rechtliche Grundlage. Deshalb halte ich es für sinnvoll, den Artikel 91a Grundgesetz entsprechend zu ändern, zum Beispiel Klimaschutz und Katastrophenschutz – dazu gehört für mich auch die Zivile Verteidigung – als Gemeinschaftsaufgabe im Grundgesetz festzuschreiben. Die Folge wäre, dass Bund und Länder dies dann jeweils zu 50 Prozent finanzieren müssten.
Norbert Reichel: Mit einer solchen Grundgesetzänderung würde das ewige Geschachere bei Bund-Länder-Verhandlungen unterbunden, wenn es um die Eigenmittel der Länder geht. Da wird immer wieder von Länderseite gesagt: Bund, rede uns nicht hinein, aber bezahl bitte, am liebsten alles, oder zumindest zu 90 Prozent. Im Bildungsbereich würde ich mir übrigens auch mehr Gemeinschaftsaufgabe wünschen, damit das endlich aufhört. Ich kenne ja nun beide Seiten, weil ich in meinem früheren Leben in einer oberen Bundes- und dann in einer oberen Landesbehörde gearbeitet habe. Aber bleiben wir beim Beispiel Katastrophenschutz und Zivile Verteidigung. Beides wird an Bedeutung gewinnen. Es wird weitere durch die Klimakrise bedingte Katastrophen wie an Ahr und Erft geben, Überschwemmungen, aber auch Hitzewellen. Und wenn ich sehe, was in Finnland oder in Estland an Infrastruktur für die Zivile Verteidigung bereitgestellt wurde, kann ich nur sagen, dass Deutschland hier völlig blank ist.
Gerd Landsberg: Das ist ein gutes Beispiel. Wir müssen militärische und zivile Verteidigung zusammendenken. Das haben wir bisher überhaupt nicht gemacht. Wenn eine Demokratie sich wehren muss, genügt das Militär nicht. Man braucht die zivilen Organisationen, die Menschen, die Wirtschaft. Das ist im sogenannten Operationsplan Deutschland formuliert: Hier wird durchgespielt, was im Spannungs- oder auch im Verteidigungsfall erforderlich ist, wenn zum Beispiel 50.000 amerikanische oder britische Soldaten von Wilhelmshaven bis an die polnische Grenze transportiert werden müssen. Wir sind nicht im Krieg, nur im Aufmarsch. Wer entscheidet, dass die Autobahnen am Freitagnachmittag gesperrt werden, damit da 20.000 Panzer durchfahren? Wer sorgt dafür, dass der Verkehr entsprechend geregelt wird? Wer sorgt dafür, dass dort, wo die auch einmal Pause machen müssen, Schutz gewährleistet ist? Wer sorgt für Versorgung, für die Bereitstellung von Kerosin, von Benzin? Das hat etwas mit Resilienz zu tun. Das gilt auch für die Cyberabwehr. Wenn ich lese, dass über einem Bundeswehrstützpunkt in Niedersachsen, wo ukrainische Soldaten ausgebildet werden, Drohnen auftauchen und die Bundeswehr nach der jetzigen Rechtslage diese nicht abschießen darf, sondern die Polizei anrufen muss, die aber keine Mittel hat, stellen sich viele Fragen.
Innere und äußere Sicherheit zusammendenken
Norbert Reichel: Und wenn die Polizei dann doch irgendwie reagiert, sind die Drohnen wieder weg und haben ihre Bilder gemacht, wir hingegen wissen nicht einmal, ob das jetzt Amateure waren, die nicht wussten, wohin sie ihre Drohnen steuern, oder vielleicht russländische Drohnen, die aus Russland gesteuert wurden.
Gerd Landsberg: Jeder vernünftige Mensch würde sagen, dann muss die Bundeswehr die abschießen dürfen. Darüber wurde im Bundestag auch gesprochen, das ist jetzt erst einmal auf Eis, weil die Legislaturperiode zu Ende ist, aber ich denke, das wird und muss der neue Bundestag regeln.
Aber wir sind hier bei einem grundsätzlichen Thema: Passt eigentlich noch die Abgrenzung zwischen innerer und äußerer Sicherheit? Das ist ein Verfassungsgrundsatz. Aber so ganz funktioniert der ja nicht mehr. Ist es innere oder äußere Sicherheit, wenn Infrastruktur angegriffen wird? Vor allem, wenn man vermuten kann, dass das von Russland oder einem anderen feindlichen Staat organisiert wird? Auch diesen Punkt finden wir in keinem Parteiprogramm. Wir werden immer wieder von Terroraktivitäten bedroht. Ich will jetzt gar nicht auf die Migrantenfrage zurückkommen. Ich lese immer wieder, dass unsere Geheimdienste einen Tipp von ausländischen Geheimdiensten bekommen haben. Warum haben die den bekommen? Weil wir eben diese klare Trennung haben. Das, was der Bundesnachrichtendienst weiß, darf der Verfassungsschutz nicht wissen, das darf auch die Polizei nicht wissen. Es gibt zwar Zentren, die das koordinieren sollen, aber offenbar nicht wirksam genug. Das ist ein Thema, das wir neu denken müssen, weil die Lage sich einfach dermaßen verändert hat.
Norbert Reichel. Dazu gehört auch, dass der CIA, von dem die meisten Informationen kamen, in Zukunft wohl kaum noch verlässlich liefern wird, im Gegenteil.
Gerd Landsberg: Es ist wie es ist.
Norbert Reichel: Dann kommen auch noch manche in den politischen Debatten und halten das alles für Kriegsvorbereitung und Kriegstreiberei, was völliger Unsinn ist.
Gerd Landsberg: Das ist völliger Quatsch. Wer den Frieden will, muss für den Krieg gerüstet sein. Das ist ein einfacher Spruch. Aber das ist uns über Jahrzehnte aberzogen worden. Verteidigungsminister war ein ganz schlechter Job. Davon wollte niemand etwas wissen. Das Bewusstsein, dass wir für unsere Freiheit einstehen müssen, ist zurückgegangen. Ich habe damals auch die Abschaffung der Wehrpflicht für falsch gehalten. Sie wurde ja auch nicht abgeschafft, sondern nur ausgesetzt. Ich bin sehr gespannt, wie die Diskussion über eine Wiedereinführung läuft. Die Wehrpflicht wie wir sie erlebt haben wird es natürlich nicht sein. Diskutiert wird ja das sogenannte schwedische Modell. Das ist ganz vernünftig und dürfte die Zahl der aktiven Leute erhöhen. Unverzichtbar ist – das zeigen auch die Beispiele Finnland und Schweden – eine effektive Reserve. Die hat man aber nur, wenn die Leute es wollen und wenn sie trainiert werden. Bei uns aber muss der Arbeitgeber zustimmen, kann das also verweigern. Auch hier brauchen wir andere Regelungen.
Grenzen des Datenschutzes
Norbert Reichel: Du hast einmal vorgeschlagen, in Kommunen mit vielen Soldaten eine Art Bürgermeister für die Bundeswehr einzurichten, der dann in all den Fragen, über die wir gesprochen haben, eine eigene Zuständigkeit hätte. Das würde sicher helfen, denn in den Kommunen habe ich mitunter ein großes Zuständigkeitswirrwarr, vor allem in größeren Kommunen. Ich erlebe dort eine ungesunde Art der Versäulung der Dezernate, sodass die eine Behörde nicht weiß, was die andere tut. Jugendamt, Sozialamt, Schulverwaltungsamt, Gesundheitsamt, gegebenenfalls Ausländerbehörde, auch das Ordnungsamt, aber eine Zusammenarbeit und einen verlässlichen Datenaustausch gibt es nicht und im Zweifel weiß niemand, wer jetzt was gewusst hat. Wir müssen auch über das Wissen oder Nicht-Wissen der Polizei und über den Austausch zwischen kommunalen Behörden, Landes- und Bundesbehörden reden. Ich bin davon überzeugt, dass bei einem verlässlichen Datenaustausch die Attentate und Morde in Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg, München und Mannheim hätten verhindert werden können. Hinterher stellte sich heraus, was die ein oder andere Behörde über die Täter alles schon wusste.
Gerd Landsberg: Eindeutig. Wir brauchen mehr Kooperation zwischen den Sicherheitsbehörden. Bei dem Attentat in München hatten 22 Behörden Informationen, aber keine Behörde wusste von der anderen. Der Datenschutz spielt da eine gewisse Rolle. Wir haben zwar eine Datei von Gefährdern, wir haben aber keine Datei mit psychisch kranken Personen, die Gefährder werden könnten. Vom Ansatz ist Datenschutz natürlich unverzichtbar, aber die Angst der Menschen, dass der Staat etwas mit ihren Daten macht, das sie nicht mehr kontrollieren können, ist nicht so ausgeprägt wie Politik das erzählt. Mein Eindruck ist der, dass der Zugriff auf persönliche Daten weniger vom Staat als von privaten Unternehmen über Payback-Karten ausgeht, sodass man immer wieder irgendwelche Angebote bekommt, bei denen ich mich frage, wie kommen die darauf? Im Hinblick auf die Sicherheitspolitik brauchen wir einen anderen Datenschutz. Wir müssen IP-Adressen über eine bestimmte Zeit speichern können.
Norbert Reichel: Ich erinnere an die leidige Diskussion um die Speicherung von Verkehrsdaten. Eine Änderung der bestehenden Regeln könnte nicht nur helfen, potenzielle Gefährder rechtzeitig zu erkennen, sondern auch sexualisierter Gewalt vorzubeugen. Terroristische Aktivitäten, Drogenhandel, Kinderpornographie, Mafia-Aktivitäten, all das könnte und müsste effektiver bekämpft werden können.
Gerd Landsberg: Und nicht nur da. Es geht auch um Sicherheit im Alltag. Ich nenne ein ganz einfaches Beispiel. Ich lebe ja in Bonn. Bonn ist eine Hochburg der Fahrraddiebstähle. Ich fahre mit meinem guten Fahrrad gar nicht mehr in die Stadt, weil mir schon zwei Mal eines gestohlen worden ist. Man könnte natürlich dort, wo man Fahrräder abstellen kann, eine Videoüberwachung installieren. Das ist aber verboten, weil man eine Videoüberwachung nur dort installieren darf, wo es einen Schwerpunkt der Kriminalität gibt. Ein Fahrraddiebstahl ist jedoch kein Verbrechen, sondern nur ein Vergehen, wird daher nicht mitgezählt. Wenn man Leute auf der Straße fragen würde, ob an Fahrradstellplätze eine Videokamera installiert werden sollte, würde die Mehrheit das befürworten.
Kommunen brauchen mehr Gestaltungsfreiheit
Norbert Reichel: Ich nenne ein anderes Beispiel: Der Reitstall, wo meine Frau und ich unsere Pferde untergebracht haben, wird mit mehreren Videokameras überwacht. Vor einiger Zeit wurden in mehreren Ställen Sättel gestohlen, nur nicht bei uns. Über Videoüberwachung kann ein privater Betreiber also entscheiden, nicht aber die Kommune.
Es gibt natürlich noch andere Merkwürdigkeiten. Ich kann als Gemeinde nicht einmal beschließen, Tempo-30-Zonen oder Zebrastreifen einzurichten, weil es Bundesregelungen gibt, die genau vorgeben, wo das zulässig ist und wo nicht. Abgesehen von dem Aufwand, den es bedeutet, den Bedarf festzustellen, ist das ein Unding. Bei Tempo 30 ist das in Straßen, in denen es Schulen und Kindertageseinrichtungen gibt, oft schon kurios: Alle paar 100 Meter wieder ein Schild, das mal Tempo 50 zulässt, mal Tempo 30 gebietet.
Gerd Landsberg: Kommunen brauchen viel mehr Gestaltungsfreiheit. Da macht vielleicht auch mal jemand etwas falsch, aber ich kann auch aus Fehlern lernen. Ich nenne das Beispiel Tübingen. Tübingen hat gnadenlos bis zum Verfassungsgericht eine Einwegverpackungssteuer durchgezogen, obwohl das Verfassungsgericht das in den 1990er Jahren schon einmal abgelehnt hatte. Die Kommunen hätten nicht die Kompetenz, eine solche Verbrauchssteuer aufzustellen. Jetzt hat das Verfassungsgericht anders entschieden. Das wird nicht immer so sein, manchmal verliert man, manchmal gewinnt man. Aber gebt den Leuten die Freiheit, die werden das schon machen. Weniger Vorgaben, mehr Freiheit. Das heißt eben auch, mehr Freiheit, Fehler zu machen.
Norbert Reichel Es gibt im Grunde zwei Grundängste. Einmal die Angst vor Fehlern, dann aber auch die Angst, es könnte jemand profitieren, der nicht profitieren soll. Das führt zu einer enormen Bürokratie. Wo siehst du die Möglichkeit, wirklich einmal Bürokratie abzubauen? Oft scheinen mir Parteien in Wahlkämpfen Bürokratieabbau ausschließlich an Stellenabbau zu denken, aber dann müssen weniger Leute die gleiche Zahl von Vorgaben umsetzen. Ergebnis: Es dauert alles noch länger.
Gerd Landsberg: Das Kernproblem ist, dass Bürokratie nicht von irgendwelchen bösen Leuten in den Ministerien und in den Verwaltungen gemacht wird. Es sind die Menschen, die die Bürokratie wollen. Wenn der Hund des Nachbarn durch den Grenzzaun furzt, dann findet der Betroffene es aber toll, wenn das Bundesimmissionsschutzgesetz so etwas vielleicht verbieten könnte. Nachbarschaftsstreitigkeiten kenne ich aus meiner Richtertätigkeit. Da kann es gar nicht genug Regeln geben.
Wir brauchen einen Bewusstseinswandel. Den könnten Kommunen fördern. Ich nenne zwei Beispiele. Ein beliebtes Thema in den kommunalen Parlamenten ist der Anwohnerausweis fürs Parken. Der kostete bisher 30 EUR. Jetzt kann die Kommune den Preis selbst festlegen. Dann sind es nicht mehr 30 EUR, sondern zum Beispiel 365 EUR im Jahr. Dann geht es aber los: Man will differenzieren, nach der Größe des Autos, nach dem Einkommen der Besitzer. Kann man alles machen, erzeugt aber endlose Bürokratie. Oder Schottergärten. Ich kann festlegen, dass Schottergärten verboten sind. Ich kann aber vielleicht auch versuchen, die Leute zu überzeugen, dass Schottergärten für die Umwelt, für die Vielzahl der Arten, keine so gute Idee sind. Da gibt es dann zum Beispiel keine Schmetterlinge mehr.
Ich habe in Bonn einmal vorgeschlagen, wir sollten bei jeder Anordnung überprüfen, ob das nicht überflüssige Bürokratie auslöst. Das wäre dann eine Art kommunale Bürokratieverträglichkeitsprüfung. Mein zweiter Vorschlag: Keine Satzung, die nicht auch digital oder mit KI umgesetzt werden kann. Wir müssen einfach auch mal den Mut haben, auf die Vernunft zu vertrauen und etwas nicht zu regeln. Aber Politiker rühmen sich ja gerne damit, wie viele Satzungen, Verordnungen, Gesetze sie auf den Weg gebracht haben, um ihre Ziele zu erreichen. Wie wäre es einmal sich damit zu rühmen, wie viele Verordnungen und Regelungen man abgeschafft oder vereinfacht hat. Das höre ich nicht einmal in Wahlkämpfen.
Norbert Reichel: Bürokratieabbau wollen alle, aber selten wird jemand konkret. Immerhin hat Robert Habeck als Wirtschaftsminister vorgeschlagen, Berichtspflichten deutlich zu reduzieren. Das wäre aber auch ein Thema für die EU. Ich glaube nicht, dass jährliche Nachhaltigkeitsberichte zu mehr Nachhaltigkeit führen, eher zu viel Fantasie beim Greenwashing, zumal die Unternehmen ebenso wie die Kommunen die Umsetzbarkeit vieler Nachhaltigkeitsziele kaum selbst beeinflussen können.
Aber wenn es dann in der Praxis zum Schwur kommt … Du hast mal in unseren Gesprächen ein sehr schönes Beispiel genannt, das uns auch wieder zum Datenschutz zurückbringt. In Bonn gibt es viele Beschäftigte, die das Falschparken überprüfen sollen. 25 sind regelmäßig unterwegs. Einer schafft 50 bis 60 in der Stunde. Eine KI könnte mit Drohnen oder einem durchfahrenden Auto 5.000 schaffen.
Gerd Landsberg: Das ginge ganz problemlos. Man kennt ja die Google-Autos, die die Straßen erfassen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die jetzt kontrollieren, könnte man dann mehr für die Sicherheit einsetzen. Da sagen die Datenschutzexperten: Das geht datenschutzrechtlich nicht, denn dann werden ja auch alle Autos erfasst, die richtig parken. Das guckt sich zwar kein Mensch an, sondern nur die KI. Aber das ist im Datenschutz nicht angelegt.
Norbert Reichel: Im Grunde auch absurd. Denn über die Navis, die fast alle in ihren Autos haben, weiß doch ohnehin jeder, wer wann wo geparkt hat.
Gerd Landsberg: Es geht noch weiter: Zehntausende Polizisten sind damit beschäftigt, Bagatellunfälle aufzunehmen. Wenn Frau A der Frau B am Supermarkt auf die Stoßstange fährt, kommt die Polizei und nimmt das auf. Ist das eine polizeiliche Aufgabe? Könnte man alles über die Versicherungen regeln, dafür vielleicht auch einen Service einrichten, der das übernimmt. Oder ein anderer Fall: Ein Auto steht irgendwo im Weg, vielleicht auch der Straßenbahn oder dem Bus. Dann kommt immer der Einwand: Ich bin nicht gefahren. Und dann geht es los, man muss es ja nicht sagen, irgendwann bekommt man zwar ein Fahrtenbuch verordnet, aber das ist auch zusätzliche Bürokratie. Es wäre einfacher, es wie in Frankreich zu regeln. Solange es nicht zu einem Führerscheinentzug führt, haftet der Halter. Ganz egal wer gefahren ist. In all diesen Bagatellfällen könnte man die Verwaltung entlasten. Aber zwecklos.
Bürgerinnen und Bürger beteiligen!
Norbert Reichel: Ein hoch emotional diskutierter Punkt ist in fast allen Kommunen die Verkehrspolitik. Ich habe es mal böse so formuliert: Da kandidiert die Fahrradpartei gegen die Parkplatzpartei, aber die reden nicht miteinander.
Gerd Landsberg: Man muss ehrlich sagen: Wir haben lange Zeit Städte für Autos gebaut. Das war Konsens und das war falsch. Darüber müssen wir gar nicht reden. Natürlich brauchen wir Fußgängerzonen, natürlich brauchen wir einen Mix aus vernünftigen Fahrradwegen, Fußwegen. Es ist meines Erachtens aber falsch, eine Art Autoaustreibung zu machen wie das zurzeit zum Beispiel in Bonn geschieht. Es gibt viele ältere Leute, die gerne mit dem Nahverkehr fahren würden, der aber da nicht so verlässlich fährt, wo sie wohnen. Die Frage von Arztbesuchen oder des Transports von Dingen, die sie in der Stadt gekauft haben, kommt hinzu. Dann gibt es die wirtschaftlichen Interessen der Geschäfte in den Innenstädten, die darunter leiden, wenn gutverdienende ältere Menschen nicht mehr mit dem Auto kommen können. Sie werden dann veröden, was sie zum Teil wegen des Onlinehandels ohnehin schon tun. Ich halte es für falsch, nur auf das Fahrrad zu setzen.
Norbert Reichel: Das wäre auch kontraproduktiv und nur sehr eindimensional gedacht, wenn wir das zentrale Thema in den Innenstädten ansprechen. Damit Innenstädte lebendig bleiben beziehungsweise es wieder werden, müssen wir dort Begegnungsräume, Familienzentren, Stadtteilbüros, attraktive Malls, schöne Cafés, in denen man sich gerne trifft, fördern. Wir müssen den Menschen ihre Stadt zurückgeben. Das lässt sich aber nicht nur mit Fahrrädern realisieren. Bei Kälte oder bei Regen ist es ohnehin nicht gerade schön, Fahrrad zu fahren. Also sollte man vielleicht mit den Leuten reden.
Gerd Landsberg: Bei solchen Themen gibt es Gruppen, die sich lautstark zu Wort melden. Die sogenannte schweigende Mehrheit äußert sich nicht, wird aber auch nicht gefragt. Ein Konsens in der Verkehrspolitik ist schwierig, aber den brauchen wir. In Bonn gibt es ja einen fraktionsübergreifenden Beschluss für die Seilbahn auf den Venusberg zur Universitätsklinik, aber ich bin mir sicher, sobald es dazu kommt, sie auch zu bauen, wird es wieder eine Bürgerinitiative geben, die das ganz schrecklich finden. Es liegen jetzt schon Unterschriftenlisten aus. Wir wollen es immer ganz toll haben, wir wollen auch Windenergie, aber wir wollen sie weder hören noch den Schatten. Wir müssen den Leuten schon sagen, dass es so nicht geht.
Norbert Reichel: Atomkraftwerke will auch niemand in seiner Nähe haben. Und auch keine Trassen für die Weiterleitung von Strom, aber alle wollen gerne ihre Streamingdienste nutzen. Not in my backyard.
Gerd Landsberg: Natürlich nicht.
Norbert Reichel: Es wäre vielleicht endlich an der Zeit, ordentliche Beteiligungsverfahren zu machen. Es reicht nicht, im Rathaus mal eine Liste auszulegen, auf der man sich für oder gegen eine geplante Maßnahme aussprechen kann. Es reicht auch nicht, mal ein Stadtteil- oder Straßenfest zu machen, wo etwas vorgestellt wird, an den Ständen aber vor allem Kaffee und Kuchen verteilt werden. Bürgerräte sind manchmal recht erfolgreich. Der Verein „Mehr Demokratie“ hat 51 erfolgreiche Bürgerräte verzeichnet. Es gibt ohnehin schon Bürgerentscheide. In Bonn gab es allerdings einmal zwei Bürgerentscheide zur Schwimmbadfrage, die sich gegenseitig aufhoben. Das ist natürlich Unsinn, lag aber vielleicht auch an schlechter Vorbereitung, bei der eben ein Bürgerrat geholfen hätte, zu einem einvernehmlichen Ergebnis zu kommen. Es muss doch möglich sein, die Leute mit partizipativen Verfahren ins Gespräch zu bringen.
Gerd Landsberg: Es gibt zwei Möglichkeiten. Ich finde die Bürgerräte gut. Nach dem Zufallsverfahren werden 50 Leute ausgesucht. In Wuppertal hat das mit der Schwebebahn zum Beispiel gut funktioniert. Es gibt den Leuten das Gefühl, wir werden gehört. Nicht immer erhört, aber gehört. Das wäre schon wichtig. Ich wundere mich auch, dass nicht viel mehr mit regionalen Umfragen gearbeitet wird. Das kostet natürlich Geld, aber ich nehme mal das Beispiel Bonn. Man könnte fragen: Wie steht ihr zur Fahrradspur auf der B 9? Mich würde das interessieren. Aber entweder will es keiner oder man fühlt sich auch von einer solchen Umfrage gestört.
Norbert Reichel: Vielleicht sogar beides. Aber wenn es nicht angeboten wird, gibt es nur die Gespräche in den Kneipen und in den sozialen Netzwerken. Bei der Verkehrspolitik wird meines Erachtens oft der fünfte Schritt vorm ersten gemacht. Und der erste Schritt wäre für mich ein deutlicher Ausbau der Attraktivität des öffentlichen Nahverkehrs, in Bonn nicht nur in der Stadt, sondern bis weit in die benachbarten Kreise hinein, im Rhein-Siegkreis, im Rhein-Erft-Kreis, im Ahrkreis, auch wenn der in Rheinland-Pfalz liegt. Ich erzähle immer von dem hervorragenden Nahverkehr in Berlin, wo man bis in die Nachtstunden und am Wochenende eine enge Taktung hat, bis ins Brandenburgische hinein. Mehr als zehn Minuten muss man nie warten, in der Regel sogar deutlich weniger.
Gerd Landsberg: Wir müssen Mobilität entwickeln und dafür investieren. Dazu gehören dann auch Park-and-Ride-Parkplätze am Stadtrand, andere Taktungen, wie sie in Berlin, Hamburg oder in München funktionieren. Das ist in kleinen Städten und in Mittelstädten zurzeit weder finanzierbar noch wird es genug Personal für die Busse geben. Aber wenn man dies auf den Weg bringt, kann man auch über die Reduzierung von Parkplätzen in den Innenstädten nachdenken.
Interkommunale Zusammenarbeit
Norbert Reichel: Ich könnte mir auch ein städtisches Taxi- oder Uber-System vorstellen. Das wäre ebenso etwas für Absprachen zwischen Stadt und umliegenden Kreisen. Ein weiteres Beispiel aus Bonn: Wir haben zwei Straßenbahnlinien zwischen Köln und Bonn, die 18 und die 16. Aber am Wochenende fahren die nur noch sehr selten, weil sie dann fast alle jeweils an der Kölner beziehungsweise an der Bonner Stadtgrenze enden. Warum klappt das nicht, dass Städte wie Bonn, Siegburg, Königswinter, Bad Honnef, Euskirchen, Wesseling, Ahrweiler, die dazugehörigen Kreise sich absprechen und gemeinsam planen?
Gerd Landsberg: Ich bin der Ansicht, dass die Kooperation zwischen Bonn und dem Rhein-Sieg-Kreis deutlich ausgebaut werden müsste. Der Kreis schließt wie ein Kragen rund um Bonn. Wenn ich vom Westen in Meckenheim in den Osten nach Siegburg möchte, muss ich ohnehin durch Bonn hindurch. Ich könnte mir wie in Aachen eine Städteregion Bonn-Rhein-Sieg vorstellen, die auch politisch einheitlich verwaltet und geführt wird. Wir wären dann auch viel mächtiger. Der Rhein-Sieg-Kreis ist mit 890.000 Einwohnern einer der größten Kreise in Deutschland. Bonn hat 340.000 Einwohner. Wir wären zusammen größer als Köln! Das wird nicht von einem Tag auf den anderen möglich sein, wir bräuchten entsprechende Gesetzesänderungen des Landes. Aber die Kooperation stärker voranzubringen, gerade im Bereich ÖPNV, ist unverzichtbar. Das ist eine Frage des politischen Willens.
Norbert Reichel: Es wäre vielleicht gut, wenn jemand die Initiative zu ersten Kooperationsgesprächen übernähme. Aber die Gefahr besteht natürlich, dass ich dann in einer Partei, zum Beispiel bei CDU, SPD oder Grünen dann 15 Städte und Gemeinden habe, die in die eine Richtung denken, und 15, die eher die andere Richtung bevorzugen. Es wird dauern.
Gerd Landsberg: Ein gutes Beispiel ist der Regionalrat Hannover. Der größte Arbeitgeber in Bonn ist nicht die Deutsche Telekom, sondern die Universitätsklinik. Die platzt aus allen Nähten. Die kann sich aber nur in Richtung Meckenheim ausdehnen, doch das liegt im Rhein-Sieg-Kreis. Es gibt natürlich auch immer den Streit um die Gewerbesteuer. Ein gemeinsames Gewerbegebiet ist rechtlich möglich, aber wer bekommt die Gewerbesteuer? Wird geteilt, darf man das teilen, nach welchen Kriterien?
Norbert Reichel: Ein genauso leidiges Thema wie die Frage, wer die Schülerfahrkosten bezahlt, wenn die Kinder aus dem Rhein-Sieg-Kreis in Bonn zur Schule gehen oder umgekehrt. Könnte der Bund etwas tun?
Gerd Landsberg: Das Land. Aber die Kommunen könnten es auch selbst machen, nur sie müssten es schon wollen. Es ist Kirchturmpolitik: Wir können eine gemeinsame Rettungswache machen, aber die muss auf unserem Stadtgebiet liegen.
Kommunale Ämter attraktiver machen
Norbert Reichel: Ich schaue mir immer wieder Regionalmagazine an wie in Bayern „Quer durch die Woche“, in Nordrhein-Westfalen „Aktuelle Stunde“ und „Lokalzeit“, Vergleichbares auch in Berlin und in anderen Ländern. Mein Eindruck ist durchweg: Es gibt sehr viele engagierte Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Ungeachtet ihrer Parteimitgliedschaft, manche sind auch parteilos. Die Engagierten schaffen viel, aber wenn die fehlen, wird es schwierig. Es hängt eben sehr von Personen ab, was in Kommunen möglich ist und was nicht. Ein gutes Beispiel ist Boris Palmer, den ich sehr schätze, auch wenn er manchmal viel Unsinn erzählt. Aber der Unsinn betrifft ja nicht seine Kommunalpolitik. Deshalb wird der immer mit guten Ergebnissen wiedergewählt.
Gerd Landsberg: Es ist eigentlich bekannt: Im Kommunalwahlkampf wird weniger parteipolitisch gewählt als nach Personen. Es gibt Kommunen, in denen es schwarze Mehrheiten gibt, aber jemand von der SPD zum Bürgermeister gewählt wird. Es geht um Ausstrahlung, es geht um die Frage, ob jemand in seinem Auftreten und in dem, was er tut, überzeugt. Es ist gut, wenn sich Politik weniger an Parteilinien, sondern mehr an der Sache orientiert. In den kleinen, eher ländlichen Gemeinden ist Vieles eine Vertrauensfrage. Man kennt sich. Wir haben Ortsbürgermeister, die sind schon über 80 oder sogar 85. Man kennt sie und wählt sie. In Großstädten ist der Bedarf sicher größer.
Norbert Reichel: Ein gutes Beispiel war für mich immer Henning Scherf in Bremen, der auf dem Marktplatz angesprochen werden konnte, der mit allen redete. Solche Leute wachsen nicht auf den Bäumen. Aber wie findet man sie? Das Personal in den Räten arbeitet ehrenamtlich. Es gibt lediglich eine kleine Aufwandentschädigung, von der die Ratsmitglieder in der Regel einen Teil noch an die Partei abführen müssen, für die sie kandidiert haben. Es ist schließlich ein großer Zeitaufwand. Ich habe den Eindruck, dass man ein Ratsmandat nur wahrnehmen kann, wenn man sehr viel Zeit hat und wenig mobil ist. Für jemanden, der in einem normalen Beruf arbeitet, mit mehr oder weniger festen Arbeitszeiten, dann vielleicht noch Kinder oder pflegebedürftige ältere Familienangehörige betreuen muss, ist es gar nicht möglich, all die Termine wahrzunehmen, die ein Ratsmandat so mit sich bringt. Das sind ja nicht nur die Sitzungstermine, da kommen – wenn man das Mandat ernst nimmt – zahlreiche Kontakte und Gespräche mit den Bürgerinnen und Bürgern hinzu, von denen man gewählt wurde.
Gerd Landsberg: Das ist aus meiner Sicht eine zutreffende Beschreibung. Ein kommunales Ehrenamt ist wahnsinnig zeitaufwendig. Hinzu kommt, dass die Leute heute in ihrer Arbeit viel mobiler sind als früher. Ich kann in A wohnen, arbeite aber in B und manchmal auch noch an anderen Orten. Ich habe selbst bei gutem Willen nicht das Zeitbudget. Wir haben natürlich auch viel zu wenig Frauen in der Kommunalpolitik, weil die Vereinbarkeit von Terminen in Ausschüssen, im Rat mit der Kinderbetreuung sehr schwierig ist. Ich glaube, eine Lösung ist vielleicht, digitale Möglichkeiten für Beratungen zu eröffnen. Das ist durch Corona auch mehr genutzt worden. Aber es bleibt dabei: Für ein Ehrenamt braucht man eben auch Zeit. Das führt eben dazu, dass sich in der Kommunalpolitik viele Personen engagieren, die nicht mehr ganz aktiv im Berufsleben stehen oder einen Job haben, der das ermöglicht. Eigentlich wollen wir in der Kommunalpolitik einen Querschnitt der Bevölkerung. Früher war der Handwerksmeister natürlich im Rat. Das ist heute die Ausnahme. Die haben da schlicht keine Zeit dafür.
Norbert Reichel: Im aktuellen Rat der Stadt Bonn gibt es einen einzigen Handwerker und einen einzigen Selbstständigen, einen Buchhändler. Alle anderen sind Anwälte, Lehrer oder Verwaltungsbeamte.
Gerd Landsberg: Wir brauchen vielleicht andere Formen der Partizipation. Wir können feststellen, dass sich viele Menschen gerne für bestimmte Projekte engagieren, weil sie davon überzeugt sind. Früher waren sie in einer Partei. Das ist heute nicht mehr so und darauf muss man reagieren.
Norbert Reichel: Warum gibt es eigentlich kein Job-Sharing auf Bürgermeisterstellen? Das würde möglicherweise viele Frauen ermutigen, sich für ein solches Amt zu bewerben, aber sicherlich auch Handwerksmeister und andere, die aufgrund ihres Berufs eine Vollzeitstelle außerhalb ihres Betriebs nicht in Erwägung ziehen würden.
Gerd Landsberg: Es gibt Überlegungen, Führungspositionen auch aufzuteilen, Job-Sharing zuzulassen. Die Auffassung, dass man Führungspositionen nicht aufteilen könnte, halte ich für falsch. Ich halte es hingegen für eine effektive Förderung unter anderem von Frauenförderung. Es würde natürlich voraussetzen, die Gemeindeordnungen entsprechend zu ändern.
Es muss möglich sein, eine Bürgermeisterstelle so auszuschreiben, dass Job-Sharing möglich ist. Leider sind wir noch nicht so weit. Im Grunde ist ein Arbeitgeber gut beraten, eine Position mit zwei Personen zu besetzen, denn die Erfahrung lehrt, dass zwei Teilzeitkräfte auf einer Stelle, vorausgesetzt sie kommen gut miteinander aus, letztlich sogar mehr arbeiten als eine Person auf dieser Stelle. Ich war selbst lange Zeit Richter und da war es völlig normal, dass zwei Personen sich eine Stelle teilten. Das ist sicher einfacher als in der Kommunalpolitik. Aber wenn man Frauenförderung ernst nimmt, muss man das ermöglichen.
Norbert Reichel: In der Kommunalpolitik gibt es auch Unmengen an Abend- und Wochenendterminen. Auch das hält Menschen ab, sich dort zu engagieren, die zum Beispiel Kinder oder ältere Menschen betreuen.
Gerd Landsberg: Das ist die nächste Frage. Muss das eigentlich immer alles am Abend stattfinden? Wäre es nicht auch möglich, die Sitzungen online durchzuführen? Es gibt Kommunen, die Kinderbetreuung anbieten. Aber man muss auch ehrlich sein. Viele Dinge laufen in der Kommunalpolitik gar nicht immer im Rat. Da gibt es Vorabsprachen, da wird – ich nenne das jetzt einmal so – gekungelt. Und wenn man nicht in der Kungelgruppe drin ist, weil man keine Zeit hat, spielt man auch nicht mit.
Norbert Reichel: Viele Schieflagen, aber letztlich keine letztlich befriedigenden Rezepte?
Gerd Landsberg: Ein Rezept wäre, mehr junge Frauen anzusprechen und langfristig zu planen. Ich wurde als Hauptgeschäftsführer oft angerufen, ob ich nicht jemanden kenne, der oder die für eine Beigeordnetenposition in Frage käme. Wir müssen Leute langfristig aufbauen. Es fällt nicht jemand einfach vom Baum und ist dann der ideale Beigeordnete, Bürgermeister oder Oberbürgermeister. Man muss das Interesse der Menschen wecken und sie dann auch begleiten. Dann wird das auch ein Erfolg.
Norbert Reichel: Dann müssten sich allerdings meines Erachtens auch die Parteien verändern. Bei CDU und SPD war es schon immer so, inzwischen ist es auch bei den Grünen so: Man hat als Quereinsteigerin oder Quereinsteiger kaum eine Chance. Stattdessen werden diejenigen auf Posten gehoben, die schon sehr jung in die Partei eingetreten sind und seit dieser Zeit eigentlich nichts anderes gemacht haben als Parteiarbeit. Im Ergebnis: Menschen ohne jede Berufs- und jede Lebenserfahrung.
Gerd Landsberg: Die Parteien müssen sich ein entsprechendes Ziel setzen und sie müssen auch Geld investieren. Letztlich müssen die jungen Leute, die man geworben hat, gecoacht werden, von einem älteren Ratsmitglied zum Beispiel bis hin zum Bürgermeister oder Oberbürgermeister. Sogenanntes Senior Coaching.
Wir leben in einer Mediendemokratie. Da geht es letztlich um die Frage: Wie stelle ich meine Meinung dar? Wie verbreite ich sie? Das wird in der Politik nirgends gelehrt. Das ist nicht so wie in anderen Berufen. Insofern ist eine systematische Begleitung von Nachwuchskräften, Coaching, unverzichtbar.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im März 2025, Internetzugriffe zuletzt am 12. März 2025. Titelbild: Berlin Friedrichstraße Utopia 2048. Aeeroscape & Lino Zeddies. Wikimedia Commons.)