„Sternenstaub im Wind“
Mit Franziska Davies und Katja Makhotina in Osteuropa
„In diesem Europa, in dem die möglichst große Selbstständigkeit der Nationen das oberste Prinzip der Friedensschlüsse, Gebietsteilungen und Staatengründungen war, hätte es den europäischen und amerikanischen Kennern der Geographie nicht passieren dürfen, dass ein großes Volk von 30 Millionen in mehrere nationale Minderheiten zerschlagen, in verschiedenen Staaten weiterlebe. Zwingt man sich (wider sein besseres Wissen) zu jener naiven Anschauung, dass die Nationen in Europa in säuberlich voneinander getrennten Gebieten leben, wie auf Schachbrettern, so ist nicht einzusehen, weshalb man ein großes Volk einfach vergaß und weshalb man das Gebiet, auf dem es lebt, nicht zusammenzuschließen versuchte, sondern neuerlich aufteilte. Die Ukrainer, die in Russland, in Polen, in der Tschechoslowakei, in Rumänien vorhanden sind, verdienten gewiss einen eigenen Staat, wie jedes ihrer Wirtsvölker. Aber sie kommen in den Lehrbüchern, aus denen die Weltaufteiler ihre Kenntnisse beziehen, weniger ausführlich vor als in der Natur – und das ist ihr Verhängnis.“ (zitiert nach: Joseph Roth, Reisen in die Ukraine und nach Russland, hrsg. von Jan Bürger, München, C.H. Beck, 2015)
Joseph Roth (1894-1939) schrieb diese Sätze im sechsten von acht Briefen, die die Frankfurter Zeitung veröffentlichte. Das Datum: 12. August 1928. Joseph Roth wurde in der galizischen Stadt Brody geboren. Brody ist im Jahr 2022 eine Stadt in der Ukraine, es liegt etwa 90 Kilometer nordöstlich von Lwiw. Im Jahr 1084 wurde es zum ersten Mal in einer Urkunde erwähnt, es gehörte damals zur Kiewer Rus. 1918 wurde die Stadt Teil der Westukrainischen Volksrepublik, sie wurde 1919 von Polen besetzt und war zur Zeit der Geburt Joseph Roths Teil der k. u. k. Monarchie. Brody war auch eine jüdische Stadt. In der Shoah vernichteten die Deutschen die jüdische Bevölkerung Brodys. Brody war in dieser Zeit Teil des sogenannten Generalgouvernements. Im Juli und im August 1944 vernichteten die Deutschen fast die gesamte Stadt. Nach 1945 wurde die Stadt der Sowjetunion zugeschlagen, sie wurde Teil der Ukrainischen SSR. Am 24. Februar 2022 wurde Brody von Putins Raketen getroffen.
Überleben in der Erinnerung?
Nicht die Pässe oder Staatsangehörigkeiten, die die Menschen der ost- und südosteuropäischen Länder im Verlauf der vergangenen Jahrhunderte ständig wechselten, prägen ihre Identität. Obwohl wir annehmen dürfen, dass Groß- und Urgroßeltern der heutigen Bewohner*innen von Städten und Dörfern der Ukraine in anderen Regionen aufwuchsen, vermischen sich die Erinnerungen. Es gibt nicht nur individuelles, in gewissem Maße auch ein kollektives Heimat- und Zugehörigkeitsgefühl. Wer sich in die Geschichte eines dieser Orte vertieft, wird sehr schnell vermerken, wie falsch die geschichtsrevisionistische Vision Putins ist, mit der er am 22. Februar 2022 – wie auch in früheren Reden und Aufsätzen, die jedoch niemand ernst nahm – vor der Weltöffentlichkeit seinen Anspruch auf die Ukraine und offensichtlich nicht nur auf diese begründete. Am 22. April 2022 war in den deutschen Medien eine Karte zu sehen, die seinen Anspruch auf die gesamte Schwarzmeerkünste dokumentierte, einschließlich ihres moldawischen Teils. Daraus ließen sich auch für Putins Vorstellung einer Neuordnung der Ostseeküste zwischen St. Petersburg und Kaliningrad Schlüsse ziehen.
Die Shoah scheint in dem von Putin begonnenen Krieg keine Rolle zu spielen und dennoch ist sie in der gesamten Region präsent. Einer der Tage, an denen der ermordeten europäischen Jüdinnen und Juden gedacht wird, ist der Jom HaShoah. Er datierte im Jahr 2022 nach dem in Europa gängigen Kalender im Jahr 2022 auf den 28. April. Und an diesem 28. April 2022 stellten Franziska Davies und Katja Makhotina im NS-Dokumentationszentrum München ihr Buch „Offene Wunden Osteuropas – Reisen zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs“ vor. Das Buch erschien in Darmstadt bei wbg Theiss. Es enthält neun Berichte über Reisen nach Warschau, Lwiw, Babyn Jar, Minsk und Malyj Trostenez, Stalingrad, Leningrad, Wilna / Vilnius, die drei Dörfer Chatyn (nicht zu verwechseln mit Katyn), Pirćiupiś und Korjukiwka, Bełźec und Majdanek. Im Kapitel über die „Gewaltgeschichte Lwiws“ wird auch der von mir verehrte Joseph Roth als Zeuge des jüdischen und habsburgischen Erbes der Stadt genannt.
Die Autorinnen verwenden durchweg die jeweils ortsübliche Schreibweise der besuchten Orte, die ich deshalb auch hier verwende. Dies ist keine Missachtung der in diesen Orten lebenden russischsprachigen Menschen, aber wohl vor allem im Fall der am 24. Februar 2022 von Putins Russland überfallenen Ukraine eine Ehrerbietung. Viele der dort lebenden Menschen wuchsen in ihren Familien mit der russischen Sprache auf. Auch sie fühlen sich als Ukrainer*innen. Putin hat es geschafft, in der Ukraine ein Nationalgefühl zu stabilisieren, das in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder in Frage gestellt wurde, wie Parteienspektrum und Wahlergebnisse belegen. Dies ist vorbei. Ihre Heimat heißt Ukraine. Das Buch ist „den Menschen in der Ukraine“ gewidmet.
Eine andere galizische Stadt, auf die ich verweisen möchte, obwohl sie für das Buch nicht bereist wurde, ist Tscherniwzi, in Deutschland bekannt als Czernowitz. Diese Stadt hatte eine ähnlich wechselvolle Geschichte wie Brody. Zvi Yavetz (1925-2013) schrieb in seinen „Erinnerungen an Czernowitz“ (München, C.H. Beck, 2007) einen Satz, der für viele Städte Osteuropas lange Zeit gegolten haben dürfte: „Czernowitz war eine Stadt voller Minderheiten; keine von ihnen war dominant, doch alle fühlten sich irgendwie benachteiligt.“ Heute liegt auch Czernowitz / Tscherniwzi in der Westukraine. Sie zeigt – so der Untertitel des Buches von Zvi Yavetz – „Wie Menschen und Bücher lebten“. Sie ist die Stadt, in der viele Poet*innen aufwuchsen, ich erlaube mir eine subjektive Auswahl: Lajser Ajchenrand (1911-1985), Aharon Appelfeld (1932-2018), Rose Ausländer (1901-1988), Paul Celan (1920-1970), Karl Emil Franzos (1848-1904), Itzik Manger (1901-1969), Selma Meerbaum-Eisinger (1924-1942), Moshe Rosenkranz (1904-2003), Eliezer Steinbarg (1880-1932). Sie schrieben in allen Sprachen, die in Tscherniwzi / Czernowitz gesprochen wurden. Die multikulturelle Welt der ost- und südosteuropäischen Städte ist untergegangen. Deutsche und sowjetische Besatzungen besorgten eine Monokulturalisierung dieser Welt im Zeichen des Unworts der „ethnischen Säuberung“.
In der Literatur überleben Vielfalt und Schmerz. Wer die Erzählungen, Gedichte und Lieder der genannten und anderer hier nicht genannter Autor*innen der Region liest oder hört, ahnt vielleicht, welche Schwere Erinnerung haben mag, gerade in Osteuropa. Leitmotive Lajser Ajchenrands sind „Asche“, „Schatten“, „Dunkelheit“, er schreibt über die Auflösung alles Körperlichen, durchaus vergleichbar mit dem Bild vom „Grab in den Wolken“ in Paul Celans „Todesfuge“. Ich zitiere die dritte Strophe eines Gedichts von Lajser Ajchenrand im jiddischen Original:
„di more-schchojre efnt izt ale ssam’ike wundn
un brent asoj schwer un blind;
si krizt ajn in di farleschndike ojgn
di ssimoninm fun schtrof un sind.“
Die deutsche Übersetzung: „Schwermut öffnet jetzt alle giftigen Wunden / Und brennt so schwer und blind; / Sie ritzt in die verlöschenden Augen / Die Male von Strafe und Sünd.“ (zitiert nach der zweisprachigen Ausgabe von Hubert Witt, die 2006 bei Ammann in Zürich erschien).
Das Motto des von Hubert Witt herausgegebenen Bandes illustriert meines Erachtens angemessen den Tenor des Buches von Franziska Davies und Katja Makhotina: „…un gib got / as wen undsere merder / weln in sich arajnkukn / sol sej onchapn a grojl / far sich alejn.“ (deutsch: „… und gebe Gott: / Wenn unsre Mörder in sich hineinsehn, / Soll es ihnen vor sich selber / Grauen.“) Sie schreiben von den Opfern, sie schreiben von den Mördern, sie schreiben darüber, wie Menschen sich heute an sie erinnern. Kann es eine Strafe für die Zerstörer dieser Welt des Ostens geben? Oder sollten die Namen der Täter*innen, all dieser Widergänger*innen Amaleks, ausgelöscht werden, yimakh shemo ve zikhro? Der fiktive Prozess gegen den Vorsitzenden des Judenrats des Ghettos von Ƚódź, Adam Czernaków, Thema des Romans „Fliegenfängerfabrik“ von Andrzej Bart, endet mit dem Urteil: „Möge unsere Strafe sein, dass man ihn ewiglich als den in Erinnerung behält, der er war!“ Ich zitiere diesen Satz aus der Dissertation von Lena F. Schraml mit dem Titel „Kollektives Gedächtnis und literarische Erinnerungskultur“ (Berlin, Frank & Timme, 2022), über die ich in dem Essay „Denkmal der Unbekannten“ schrieb, den ich gleichzeitig mit dem Essay, den Sie gerade lesen, veröffentlichte. Lena F. Schraml fragt, vielleicht als Quintessenz nicht nur des Romans von Andrzej Bart zu verstehen: „Ist am Ende der Leser selbst der Richter?“
Die „Bloodlands“ – 1941 und 2022
Franziska Davies und Katja Makhotina richten nicht. Ihre Reiseberichte sind Beweisaufnahmen. Sie sorgen dafür, dass die Menschen Osteuropas als die erinnert werden, die sie waren und sind. Sie berichten von ihren Reisen in das heutige Polen, die Ukraine, Belarus und Litauen, Reisen in Länder, die Timothy Snyder als „Bloodlands“ bezeichnete, Regionen des Terrors von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus. An einer Stelle zitieren sie Joan Didion (1934-2021) mit dem Motto von „The White Album“: „Wir erzählen uns selbst Geschichten, um zu leben“. Kein Name soll ausgelöscht werden. Die Opfer leben in unseren Erinnerungen, die Namen der Täter*innen mögen uns mahnen.
Zentral in allen Reisen ist die Shoah, die zwar – darauf weisen die Autorinnen zu Recht hin – in „Bloodlands“ nicht im Mittelpunkt steht, wohl aber in Timothy Snyders „Black Earth“. Ich empfehle, beide Bücher im Zusammenhang zu lesen. Die Shoah, das waren nicht nur die Vernichtungslager, das waren auch die zahlreichen Erschießungsstätten, an denen Wehrmacht und SS, mitunter unter Mithilfe einheimischer Hilfstruppen, beispielsweise in den heutigen baltischen Staaten oder in der Ukraine, Menschen erschossen, nur weil sie Jüdinnen und Juden waren. Die Mörder mordeten nicht nur Jüdinnen und Juden, sie mordeten wahllos Menschen, die ihnen im Wege standen, deren Leben sie als unwert erachteten. Sie vernichteten die Bevölkerung ganzer Dörfer, so beispielsweise Chatyn, Pirćiupiś und Karjukiwka.
Das Buch beginnt mit einer einfachen Frage: „Wozu erinnern?“ Die Antwort bezieht sich auf die Bombardierungen von Kyiv durch die Deutschen in den Tagen zwischen den 19. und 26. September 1941 sowie die am 24. Februar 2022 mit russischen Raketen. Die im Jahr 1941 für das Bombardement verantwortliche 6. Armee war auch für die Ermordung von 33.771 Jüdinnen und Juden in Babyn Jar am 29. und 30. September 1941 verantwortlich. Babyn Jar wurde am 1. März 2022 von einer russischen Rakete getroffen. Dieser historische Bogen bestimmt den Duktus des gesamten Buches. Franziska Davies und Katja Makhotina schreiben in ihrer Einleitung, dass sie das Manuskript nach dem 24. Februar 2022 überarbeitet haben. Einleitung und Epilog beziehen sich auf den russischen Überfall. Sie vergleichen die Jahre 1941 und 2022 jedoch nicht. Dies wäre auch unangemessen. Im „Großen Vaterländischen Krieg“ starben russische, ukrainische, belarussische, kasachische Soldaten, Soldaten aus allen Teilen der damaligen Sowjetunion, es starben eine Unzahl von Zivilist*innen, es starben über 27 Millionen Bürger*innen der damaligen Sowjetunion.
Aber: „Dieser Krieg wird auch für Russland eine Zeitenwende, oder ist es schon.“ Die beiden Autorinnen beschreiben den „Repressionsapparat“, den Putin schrittweise aufgebaut hatte und ausbaut (wer sich genauer informieren möchte, lese Catherine Belton „Putin’s People“, London, HarperCollins, 2020, ein Buch des Investigativjournalismus höchster Qualität, das nicht nur im Titel an „Smiley’s People“ von John Le Carré denken lässt). Sie beschreiben die seit 2013 / 2014 betriebene „anti-ukrainische Propaganda“. Die Missachtung der eigenen sowjetischen beziehungsweise russischen, ukrainischen, belarussischen Geschichte lässt sich auch daran ablesen, dass in St. Petersburg eine Überlebende der deutschen Blockade Leningrads wegen ihres Protests gegen den „Krieg“, der in Russland als solcher bezeichnet werden darf, verhaftet wurde. Putin hat einen im post-sowjetischen Raum lange geltenden Konsens zerstört: „Für manche Ukrainerinnen und Ukrainer war der sowjetische Sieg gegen den deutschen Faschismus eine Verbindung zu Russland. Der gemeinsame Mythos des ‚Großen Vaterländischen Krieges‘ dürfte nun der Vergangenheit angehören.“
Die Welt hat sich verändert: „Hätte man einem Juden im damaligen polnischen Lwów in den 1930er Jahren gesagt, dass ein Jude zum Nationalheld und Anführer der Ukraine werden würde, er hätte es vermutlich nicht geglaubt. Und hätte man einem Ukrainer zu derselben Zeit gesagt, dass in einem europäischen Krieg niemand der Ukraine so entschlossen zur Seite stehen würde wie Polen, er hätte es ebenso wenig geglaubt.“ Berechtigt ist aber auch die folgende Frage: „Hätte eine stärkere Sensibilisierung in Deutschland für ostmitteleuropäische Perspektiven auf den Krieg vielleicht dazu beigetragen, die Position der Ukraine in den letzten Jahren besser zu verstehen?“ Franziska Davies und Katja Makhotina schlagen folgende Antwort vor „Während für die Deutschen der Holocaust, die Ermordung des europäischen Judentums, Fluchtpunkt der Erinnerung ist, ist es für viele Länder in Ostmitteleuropa die Erfahrung der doppelten Besatzung und das eigene Leiden unter der deutschen Besatzung.“ Damit stellen die beiden Autorinnen antisemitische Stimmungen und Taten in den Ländern des sowjetischen und post-sowjetischen Raums nicht in Frage, schon gar nicht die Singularität der Shoah, im Gegenteil, deutlich benennen sie das Ziel ihres Buches, das in deutscher Sprache und für ein deutsches Publikum geschrieben worden ist: Erinnerung hat viele Gesichter und sie sollen alle zu ihrem Recht kommen, ein Gesamtbild ergibt sich jedoch erst, wenn all diese Erinnerungen im Kontext verstanden werden.
Mythen, Legenden, Voids
Die Autorinnen zitieren diverse literarische Texte, die sich mit Erinnerung, mit Geschichte auseinandersetzen, ich nenne eine Auswahl: Ales Adamowitsch (1927-1994), Swetlana Alexijewitsch (*1948), Wassili Grossman (1905-1964), Katja Petrowskaja (*1970), Marcel Reich-Ranicki (1920-2013), Natascha Wodin (*1945). Literatur verdichtet, Literatur dokumentiert, Literatur kann eine Form von Empathie schaffen, die Dokumente nicht vermögen zu schaffen. Zur Literatur gehören auch die vielen Biographien, Autobiographien, Tagebücher, in denen im Schicksal eines Menschen sich eine Welt verdichtet. Auch die Rezeptionsgeschichte ist von Bedeutung. Ein Beispiel ist das von Wassili Grossman gemeinsam mit Ilja Ehrenburg veröffentlichte „Schwarzbuch“, das in der Sowjetunion nicht veröffentlicht werden durfte, weil es nicht „dem sowjetischen Mythos“ entsprach, „dass die gesamte Bevölkerung dem deutschen Feind geschlossen Widerstand geleistet hätte“, sondern auch die Kollaboration thematisiert.
Sasha Marianna Salzmann (*1985) hat dies in einem Interview mit Nadine Lange im Tagesspiegel vom 19. April 2022 so formuliert: „Ich glaube, es gibt eine große Spanne an Möglichkeiten, was Kunst in einer solchen Situation kann. Sie ist viel mehr als ein Festhalten dessen, was passiert. Sie kann emotionale Zustände veranschaulichen, wie wir das niemals in Zeitungen finden werden. Das interessiert mich am meisten: Wenn mir Bücher, Musik, Bilder, Fotos Situationen erfahrbar machen, die ich nicht kenne. Wenn Kunst von Dingen handelt, die nicht in Geschichtsbüchern stehen oder in Dokumentationen vorkommen. Für mich ist Kunst interessant, wenn sie die Innenseite des gelebten Lebens vergegenwärtigt. Die Marginalien. Das Gegenteil von Heldengeschichten.“
Auch Tagebücher sind verdichtete Wirklichkeit. Die Tagebücher der Blockade Leningrads, aus denen Franziska Davies und Katja Makhotina zitieren, bezeugen die sich täglich steigernde Gewalt, die täglich steigende Verzweiflung: „Die letzten Einträge erscheinen ohne Punkt und Komma und verzichten auf Deklination. Irgendwann folgt der Schlusssatz, dass man sich den Tod herbeiwünsche, da der Hunger nicht mehr zu ertragen sei.“ Die Blockade währte 872 Tage, erst der sechste Durchbruchsversuch der Roten Armee am 27. Januar 1944, ein Jahr vor der Befreiung von Auschwitz, war erfolgreich. Den Deutschen ging es nicht um Einnahme, sie wollten zerstören, vernichten, Menschen brechen. Es sind nicht nur die Bomben, die Granaten, die die Menschen terrorisieren. Die Menschen werden wehrlos, Solidarität und Widerstand werden zerstört, sie zerstören sich irgendwann selbst. „Am Thema Essen zerbrechen auch menschliche, soziale Kontakte.“
Es geht um „die Leerstellen der Erinnerung“, Voids im Bewusstsein, die wiederum Legenden bilden. Die beiden Autorinnen mussten zur Kenntnis nehmen, dass viele Studierende so gut wie nichts über den Krieg in Osteuropa wissen. Die ständige Verwechslung des jüdischen Aufstands im Warschauer Ghetto im Jahr 1943 und des Warschauer Aufstands im Jahr 1944 ist nur die Spitze des Eisbergs der Unkenntnis und Ignoranz. „Das Schweigen über den Vernichtungskrieg gegen Polen und die Sowjetunion manifestiert sich auch darin, dass es bisher keinen zentralen Erinnerungsort in Deutschland für seine Opfer gibt.“ Selbst das deutsch-russische Museum in Berlin-Karlshorst, dem Berliner Stadtteil, in dem zu DDR-Zeiten die KGB- und StaSi-Mitarbeiter*innen wohnten, zeigt nur Ausschnitte. Über einen Erinnerungsort an das Leid, das Deutsche über Polen brachten, wird noch gestritten. Die Reduzierung der Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden auf Auschwitz schafft weitere „Leerstellen der Erinnerung“. Die Deutschen ermordeten 6 Millionen Jüdinnen und Juden – diese Zahl kennen die meisten, aber wissen sie auch, dass 6 Millionen Polinnen und Polen ermordet wurden? Etwa die Hälfte der ermordeten 6 Millionen Polinnen und Polen waren Jüdinnen und Juden. Hinzu kommen die „Leerstellen ‚vor der Haustür‘“: 2,8 Millionen sogenannte „Ostarbeiter“ aus der Sowjetunion, 1,7 Millionen aus Polen.
Am Beispiel von Babyn Jar zeigen die beiden Autorinnen, wie unterschiedlich sich „Leerstellen der Erinnerung“ darstellen können. Die eine Seite: „Die Shoa vollzog sich zu einem erheblichen Teil auf einem Gebiet, das heute ukrainisch ist. Trotzdem aber ist die Ermordung der europäischen Juden noch nicht Teil des dominanten ukrainischen nationalen Gedächtnisses geworden.“ Die andere: „In Babyn Jar geht es aber auch darum, derjenigen Millionen nicht-jüdischer Opfer in der Ukraine zu gedenken, die völlig unschuldig waren. Diese Opfer sind in Deutschland immer noch nicht Teil des kulturellen Gedächtnisses.“
Es geht nicht nur um das deutsche Bewusstsein, die deutsche Erinnerungskultur, es geht um Europa. „Eine gemeinsame ‚europäische Erinnerung‘ ist kaum mehr als ein politischer Wunsch, aber sicherlich keine Realität.“ Stattdessen: „Erinnern ist oft gerade kein Mittel zur Befriedung zwischenstaatlicher Spannungen, eher im Gegenteil: Erinnerung wird als Munition in zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen missbraucht oder propagandistisch ausgeschlachtet. Am gefährlichsten ist es, wenn Geschichte zur Waffe in diktatorischen Regimen wird wie derzeit in Putins Russland.“ Nicht nur dort, dies gilt im Grunde für alle europäischen und außereuropäischen Staaten, in unterschiedlicher Weise, in unterschiedlicher Intensität. Geschichtspolitik ist eine Waffe, oft genug auch gegen die eigene Bevölkerung. Sie erfolgt über staatliche Gedenktage, Schulbücher und Medien.
Die beiden Autorinnen schreiben offen über ihre eigenen Familiengeschichten, in denen wir von Opfern und von Täter*innen lesen. Sie sprachen mit Überlebenden, mit deren Nachkommen, berichten von Veranstaltungen, darunter auch Podiumsdiskussionen, auf denen sie sich mit Nachkommen von NS-Tätern konfrontiert sahen. Vor allem in St. Petersburg hatten sie Gelegenheit, mit vielen Überlebenden der Blockade des damaligen Leningrads zu sprechen. Viele waren damals noch Kinder. Sie dokumentieren die Unterschiede und Gemeinsamkeiten diverser Erinnerungskulturen.
Sie haben Gedenkstätten und Friedhöfe besucht, die nicht immer in dem Zustand waren, den die Pietät geböte. Ein Beispiel sind die im Kapitel über Babyn Jar beschriebenen Friedhöfe in Berdytschiw und Winnyzja, die schwer zu finden waren, überwuchert. Der Zustand von Friedhöfen mag durchaus als Indikator für das Gedächtnis dienen, das in der jeweiligen Region gepflegt beziehungsweise missachtet wird. Vielleicht illustriert der Bericht über die Zerstörung des Lenindenkmals in Lwiw im Herbst 1990, wie mit Friedhöfen umgegangen wird. Lutz C. Klevemann beschreibt die Szene in seinem Buch „Lemberg – Die vergessene Mitte Europas“ (Berlin, Aufbau Verlag, 2017): „So stürzte Lenin krachend zu Boden, wobei der Sockel in mehrere Stücke zerbrach. Die Menge jubelte und schwenkte ihre Fahnen. Männer traten vor, die Vorschlaghämmer fest umgriffen und bereit, die Reste des Denkmals zu zerstören. Doch da geschah etwas Sonderbares. Die Männer hielten inne, wichen zurück, ihre Blicke auf den zerbrochenen Sockel gerichtet, und erstarrten. Nun sahen es alle: unter einer dünnen Schicht roten Granits waren Steinplatten hervorgebrochen, die die sowjetischen Bauherren 1952 in den Sockel einzementiert hatten. Sie trugen, für alle erkennbar, hebräische Inschriften. Vögel, Herzen und Kronleuchter waren in sie eingraviert. Es waren mazewot, jüdische Grabsteine.“
Gerade am Beispiel Stalingrad zeigt sich – so Franziska Davies und Katja Makhotina – die „Dialektik der Erinnerungskultur“. In der sowjetischen und post-sowjetischen Erinnerung dominiert „beispielloser Heroismus der Sowjetsoldaten“, in der deutschen Erinnerung das „Massensterben der deutschen Soldaten“: „Doch in beiden Erinnerungskulturen stehen die zivilen Opfer des Krieges im Schatten dieser Martyrer“. In der deutschen Erinnerung dominiert der Winter, in der russischen Erinnerung dominieren die durch die Bombardements der deutschen Luftwaffe erlebten Brände. Die deutsche Erinnerung an Stalingrad wird – darauf verweisen die beiden Autorinnen mit Recht – nach wie vor durch Konsalik-Romane und Landser-Hefte geprägt, selbst bei denjenigen, die diese nie gelesen haben. Diese Romane und Hefte vermitteln eine „militärische Rechtfertigungslegende“, „auch zehn Jahre nach dem Krieg die exotisierenden Diskurse von asiatischer Barbarei und zivilisatorischer Rückständigkeit“, die deutschen Soldaten sind Opfer. Ich denke, eine solche Sicht ist vielleicht auch ein Ergebnis deutscher Schulbücher?
Franziska Davies und Katja Makhotina analysieren die Erinnerungen an Stalingrad anhand der Bücher von Wassili Grossman: „Leben und Schicksal ist antifaschistisch und antistalinistisch zugleich – aber eben nicht antisowjetisch.“ Ein Problem der deutschen Erinnerungskultur ist die Vermischung von Sowjetunion, Stalinismus und Russland, gerade auch in der Kritik an Putin. Putin ist eben nicht Russland, er instrumentalisiert den „Großen Vaterländischen Krieg“, vereinnahmt die in der Roten Armee vertretenen Völker als Russen und spielt mit Träumen einer glorreichen Vergangenheit, gleichviel ob bezogen auf die Sowjetunion oder auf das Zarenreich, im Grunde vertritt er eine Vision von Russifizierung des post-sowjetischen Raums. „Die Einsicht Grossmans ist eine einfache, doch offenbar politisch ungemein schwierige: Bei dem Holocaust handelt es sich um ein einmaliges Menschheitsverbrechen, und deswegen soll es den zentralen Stellenwert in der Erinnerungskultur bekommen. Die Feststellung der Befreiungsrolle der sowjetischen Menschen schließt zudem die Benennung sowjetischer Verbrechen keineswegs aus. Für den bundesdeutschen Diskurs ist es aber äußerst wichtig wahrzunehmen, dass ‚sowjetisch‘ nicht mit ‚russisch‘ gleichzusetzen ist. Die Rote Armee hatte einen multinationalen Charakter, schließlich dienten in ihr Menschen aus allen Sowjetrepubliken.“
Opfer und Täter*innen
Zwiespältig ist die Erinnerung an den Krieg und Shoah nicht nur in Deutschland und Russland. Dies gilt beispielsweise für die Bewertung des Molotow-Ribbentrop-Pakts vom 23. August 1939 in Polen und in den baltischen Staaten. „Aus der Sicht Polens und der baltischen Staaten wird der Pakt in eine Geschichte der imperialen Aggression zweier übermächtiger Nachbarstaaten integriert und als die Fortsetzung einer viel älteren Tradition des Angriffs auf die polnische Staatlichkeit bewertet.“ Im 19. Jahrhundert entstand das Bild von Polen als dem „Christus unter den Völkern“, der litt, aber wieder auferstand. Im Zentrum der Erinnerung steht auch der Warschauer Aufstand vom 1. August bis zum 2. Oktober 1944. Nach 1945 bestimmte jedoch Moskau „die Erinnerung an den Aufstand“, eine Liberalisierung erfolgte erst 1956, aber nach wie vor blieb die „Rolle der Roten Armee (…) ein Tabu.“ Die Rote Armee wartete auf dem rechten Weichsel-Ufer, bis die Deutschen den polnischen Aufstand niedergeschlagen hatten.
Der Bericht über die Reise nach Warschau enthält eine detaillierte Beschreibung von Vorgeschichte und Verlauf des Aufstands im Warschauer Ghetto vom 19. April bis zum 16. Mai 1943 sowie des Warschauer Aufstands von 1944. Zur Geschichte des jüdischen Aufstands gehört auch die Rolle von Adam Czernaków, des Vorsitzenden des Judenrates, der sich am 22. Juli 1942 selbst tötete. Marcel Reich-Ranicki berichtet in seiner 1999 erschienenen Autobiographie „Mein Leben“ über seine Arbeit in den Büros von Judenrat und Archiv, das Emanuel Ringelblum besorgte. Wer war Adam Czernaków, war er ein Kollaborateur, der sich – so Emanuel Ringelblum und andere – die Methoden der SS zu eigen machte, oder war er – wie Marcel Reich-Ranicki „‚ein Intellektueller, ein Märtyrer, ein Held‘, den die Deutschen ‚zum Henker der Warschauer Juden“ machen wollte“? Wer sich einer Antwort auf diese Frage nähern möchte, vergleiche die Tagebücher von Adam Czernaków, Emanuel Ringelblum oder Janusz Korczak und anderen Autoren, die von Katja Makhotina und Franziska Davies zitiert werden. Oder sehe sich die entsprechenden Passagen der Dokumentation „Shoah“ von Claude Lanzmann an.
Die Methode, die Opfer zu Tätern zu erklären, war bei der SS verbreitet. Der SS-Mann Heinrich Unverhau schob in einem der Prozesse gegen das Personal der Vernichtungslager die Schuld auf die jüdischen Häftlinge, die „die eigentliche ‚Tötungsarbeit‘ geleistet hätten“. Als wenn sie eine Wahl gehabt hätten. Die meisten Angeklagten hatten mit dieser Strategie Erfolg, auch wenn ihnen dieses Argument wahrscheinlich dann doch kein Richter abnahm. Sie beriefen sich „erfolgreich auf den Putativnotstand“. Von den Tätern in Bełźec wurde nur einer, Josef Oberhauser, zu einer relativ milden Haftstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt. Die Gerichte unterschieden schließlich zwischen Tat und Überzeugung, so im Düsseldorfer Majdanek-Prozess im Fall von Hildegard Lächert, in dem – so „eindeutig“ er war – das Gericht „nicht als erwiesen an(sah), dass diese aus Überzeugung quälte und mordete. Es ging sogar so weit zu behaupten, dass sie ‚aus menschlicher Schwäche (den) ihr innerlich widerstrebenden Befehlen gehorcht‘ habe.“ Hildegard Lächert bewarb sich Ende der 1970er Jahre als Kandidatin für „für die rechtsextreme Partei Aktionsgemeinschaft Nationales Europa (ANE)“. Sie wurde zu zwölf Jahren Haft verurteilt, die sie nicht antreten musste, weil die polnische Haft angerechnet wurde.
Die Erinnerung an Kollaboration ist ein schwieriges Kapitel, das Franziska Davies und Katja Makhotina in mehreren Reisen begegnete. Die Deutschen machten Teile der örtlichen Bevölkerungen zu Komplizen. Es gibt Berichte, dass sich an dem Pogrom 1941 in Lwiw gegen die jüdische Bevölkerung sogar Sechsjährige beteiligten. Diese wären heute – wenn sie noch leben – 87 Jahre alt. Es war „ein öffentliches Spektakel mit karnevalesken Elementen.“ Dies gilt für Polen, für die Ukraine, für Litauen, weniger für Belarus. „In keinem anderen Teil des deutsch besetzten Europas war die Solidarität der nicht jüdischen Bevölkerung mit Jüdinnen und Juden so stark ausgeprägt wie in Belarus.“ Seit 2020 ist durch den Terror Lukaschenkos eine Gestaltung der Erinnerungsorte in Belarus nicht mehr möglich.
Litauen war für die Nazis „Testgelände für die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden.“ Viele Erschießungsstätten sind kaum noch sichtbar, sie sind „physisch und allegorisch tatsächlich Leerstellen“. 2017 veröffentlichte Katja Makhotina ihre lesenswerte Dissertation „Erinnerungen an den Krieg – Krieg der Erinnerungen – Litauen und der Zweite Weltkrieg“ (Göttingen, Vandenhoek & Rupprecht), im Grunde eine Art Fallstudie am Beispiel von Museen und Kriegsdenkmälern in Litauen. Sie bezeichnet die „Erinnerungslandschaft“ in Litauen als „höchst politisiert und sensibel“. „Hier stehen sich zurzeit sämtliche Erinnerungsgemeinschaften gegenüber, die sich in die staatlich geförderte Erzählung nicht integriert sehen. Es sei jedoch „kaum möglich“, der „Pluralität gerecht zu werden“.
In „Offene Wunden Osteuropas“ schreiben Franziska Davies und Katja Makhotina: „Entsprechend der massenhaften Beteiligung und der brachialen Gewalt, lässt sich von einer ‚unsystematischen Massengewalt‘ der Litauer an ihren jüdischen Nachbarn sprechen. Die deutschen Besatzer dokumentierten die von Litauern ausgetragenen Pogrome fotografisch und schufen somit eine blutige Komplizenschaft, deren Folgen in der litauischen Gesellschaft bis heute auf eine schmerzhafte Weise nachwirken.“ An diese Komplizenschaft erinnert sich das heutige Litauen ungern. Beeindruckend ist die Dokumentation der Gespräche der beiden Autorinnen mit der 1922 geborenen und zur Zeit der Reise 96jährigen Untergrundkämpferin im Wilner Ghetto, Fania Brancovski: „Ihr liegt sehr daran zu erzählen, was die deutsche Besatzung für die jüdische Bevölkerung bedeutete und wie der Holocaust in Litauen stattfinden konnte.“ Sehenswert auch der Film „Lisa ruft!“ über die Shoah und den jüdischen Widerstand. Die Mobilisierungsparole „Lisa ruft“ sollte an Lisa Magun erinnern, eine Meldegängerin, die von den Deutschen erschossen wurde.
Der Kampf für die Befreiung Litauens von der Nazi-Herrschaft wurde Fania Brancovski nicht gedankt. Noch im Jahre 2008 versuchte die litauische Generalstaatsanwaltschaft sie als „sowjetische Terroristin“ zu belangen. Sie berichtet, wie Juden von litauischen Partisanen als „kommunistische Funktionäre“ verdächtigt wurden, dann als „Profiteure“, die für „das litauische Leid während der Sowjetzeit“ verantwortlich waren. Die NS-Täter wurden in ihren Heimatgemeinden geschätzt und geschützt. Dies gilt beispielsweise für Karl Jäger, über den der Dokumentarfilm „Karl Jäger und Wir – die langen Schatten des Holocaust in Litauen“ (2016) berichtet und der erst 1959 inhaftiert wurde und sich dann tötete, ebenso wie für Franz Murer, der in Graz freigesprochen wurde. Erst 2015 wurde in Waldkirch, der Heimatgemeinde Karl Jägers, ein Mahnmal im Beisein von Fania Brancovski eingeweiht.
In Litauen wurde die Erinnerung an die „jüdischen Partisanen“ unterdrückt. „Abgesehen von Tafeln mit Ghettokämpfern im Jüdischen Museum, gibt es keine einzige Ausstellung dazu. Das sowjetische Partisanenmahnmal wurde in den 1990er-Jahren abgetragen und steht in einem Freizeitpark des Kommunismus im Dorf Grutas. Diese Schicksale passen nicht in die heutige Erinnerungskultur. Sogar im Jüdischen Museum dürfen die abgebildeten Partisanen und Partisaninnen keine sowjetische Uniform tragen – denn diese ist eindeutig negativ konnotiert. Diese Leerstelle zeichnet die Doppelbödigkeit der Erinnerung an das jüdische Schicksal in Litauen aus: Lediglich als Opfer dürfen die Jüdinnen und Juden erscheinen, doch nicht als aktive Kämpfer und Kämpferinnen gegen die Nazis und ihre Mithelfer in sowjetischen Verbänden.“ Und Efraim Zuroff (*1948), Direktor des Standorts Jerusalem des Simon-Wiesenthal-Centers, „gilt im heutigen Litauen als persona non grata, da er mitunter die Mittäterschaft heutiger nationaler Helden am Holocaust aufdeckte – antisowjetischer Partisanenkämpfer.“
Ein weiteres Beispiel für verdrängte Erinnerungen ist die Vernichtung der jüdischen Gemeinde von Lwiw, der Verrat durch die lokale Bevölkerung, die gelegentliche Rettung einzelner Jüdinnen und Juden gegen Bezahlung, die, wenn sie nicht genug zahlen konnten, dann doch wieder denunziert wurden. Dies ist ebenso wie das von Polen und Deutschen gemeinsam verübte Massaker von Jedwabne vom 10. Juli 1941 eine „Leerstelle“ in der polnischen wie in der deutschen Erinnerungskultur. Lwiw war damals polnisch, die Sowjets wollten es „depolonisieren“. Viele der nicht-jüdischen Einwohner*innen wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert, kehrten sie zurück, wurden sie der Kollaboration bezichtigt. „Die Ereignisse in Wolhynien und Ostgalizien sind der größte erinnerungskulturelle Konflikt zwischen der Ukraine und Polen – bis heute.“ Erwähnt wird auch die kontroverse Bewertung von Stepan Bandera (1909-1959) als ukrainischem Nationalhelden, ein Antisemit und Nationalist, der mit den Deutschen kollaborierte, von diesen jedoch im KZ Sachsenhausen interniert wurde und in München vom KGB ermordet wurde.
Schafft Erinnerung Gerechtigkeit?
Im Leningrad-Kapitel referieren Katja Makhotina und Franziska Davies die „Leningrader Affäre“. Stalin befahl „die Verhaftung und Repressionen gegen die Spitze des Leningrader ZK: Der lokale Heroismus durfte nicht groß geschrieben werden. (…) Das lokale Leningrader Narrativ (‚Wir– die heroische Stadt‘) wurde von Stalin und seinem Kreis zurückgedrängt, das Museum der Verteidigung und Blockade Leningrads wurde aufgelöst, seine wertvollen Exponate gingen an das Leningrader Revolutionsmuseum.“ Dies änderte sich erst im Zuge der Tauwetterperiode und dann in der spät- und postsowjetischen Zeit. Inzwischen gibt es ein Gedenkritual mit der Verlesung der Namen von Opfern, in etwa vergleichbar der Praxis am Jom HaShoah, nicht nur in Israel.
Wie widersprüchlich Erinnerungskultur sein kann, lässt sich am Beispiel des Lytschakiwski-Friedhofs in Lwiw und der Verehrung Stepan Banderas, „jenem faschistischen Anführer, der von einer ethnisch homogenen Ukraine träumte“, illustrieren. Auf der einen Seite finden wir „von ihm eine überdimensionierte Statue. Für jüdische Ukrainerinnen und Ukrainer ist dies wie ein Schlag ins Gesicht.“ Andererseits „ist die Wiedererrichtung der polnischen Grabanlagen (im Jahr 2005, NR) auf dem Lytschakiwski-Friedhof letztlich ein Beispiel dafür, dass es gelingen kann, über Erinnerungsgrenzen hinweg eine gemeinsame Sprache zu finden, aufeinander zuzugehen. Das muss nicht bedeuten, dass man eine gemeinsame Erzählung über die gewaltvolle Vergangenheit findet, aber dass man bereit ist zu akzeptieren, dass es unterschiedliche Erinnerungen an sie gibt. Zugleich aber ist der Friedhof im Zuge der jüngsten Ereignisse in der Ukraine abermals zu einem traurigen Ort geworden, denn hier liegen heute – wieder oftmals sehr junge – Menschen begraben, die im Krieg gegen Russland im Donbass gefallen sind.“
Im Epilog schreiben die Autorinnen, dass es ihnen darum gehe zu zeigen, „dass es tatsächlich nach wie vor Leerstellen gibt, gerade was das Ineinandergreifen von Holocaust und Vernichtungskrieg im östlichen Europa gibt.“ Die Einleitung trug die Überschrift „Ein neuer europäischer Krieg“, der Epilog beschwört das „Europa der Lebenden“. Im Kapitel über Bełźec und Majdanek denken die Autorinnen darüber nach, „was für ein Land, was für eine Gesellschaft Polen heute wäre, hätten die Deutsche nicht unzählige ihrer jüdischen Gemeinden zerstört. Das Ausmaß dessen, was hier verloren gegangen ist, lässt sich nicht erfassen, nicht beschreiten. Uns fehlen die Worte.“ Vielleicht spricht die Tafel der 337 Vornamen in der 2004 eröffneten Gedenkstätte für die in Bełźec ermordeten Menschen für sich. In Bełźec wurden 470.000 Menschen ermordet, nach Auschwitz-Birkenau und Treblinka ist Bełźec der Ort mit den meisten Ermordeten.
Es geht um die Opfer ebenso wie die Täter*innen, für deren Enkel*innen und für deren Urenkel*innen: „Wir können und dürfen sie vor diesem Wissen nicht schützen.“ Marina Weisband hat eine fünfjährige Tochter. Sie sagte mir in unserem Gespräch vom 5. April 2022: „Wir haben nicht den Luxus, unsere Kinder davon zu verschonen. Ich höre oft von Deutschen: muss man denn schon mit so kleinen Kindern über den Holocaust reden? Jüdische Kinder haben nicht den Luxus, erst reif zu werden, ehe man mit ihnen über Bedrohung durch Antisemiten spricht.“
Hass und Pauschalurteile müssen bekämpft werden. Franziska Davies und Katja Makhotina warnen vor einer sich seit dem 24. Februar 2022 andeutenden „Welle der Russophobie“: „Wir wissen aus der Geschichte, dass das stigmatisierende Hass-Denken die andere Seite hinter dem tyrannischen, ‚eigenen‘ Führer vereinigt.“ Zu überwinden ist die Blindheit gegenüber der Geschichte, die ich im Sinne Immanuel Kants als „selbstverschuldete Unmündigkeit“ bezeichnen möchte. Besserwisserische Hobby-Historiker*innen schwadronieren über die Ukraine als Nation oder Nicht-Nation, auch in Deutschland. Selbst wenn sie keine wäre – gäbe es einen Konjunktiv 3, wäre er hier angebracht – selbst dann „hätte sie Anspruch auf die Unverletzbarkeit ihrer Grenzen. Das regelt das Völkerrecht, nicht die Geschichte.“
Schafft Erinnerung Gerechtigkeit? Lajser Ajchenrands Gedicht „Majn Folk“ lässt sich vielleicht als Quintessenz des Nicht-Erinnerten lesen:
„o, farloschener blik, / tunkl, kworimdik faschtumen;
wer git dir doss licht zurick
Woss men hot dir zugenumen?
undser untergang zeschtralt
a jam fun schwajgn,
schtiler noch wi wen ess falt
a blat fun di zwajgn.
schtiler – schtiler –
o, farloschener blick,
ale himlen fartunklt dajn zar;
jede rege firt uns zurick
zu a farschtejnertn goless-har.
mir lign zeschprejt
wi schterndiker schtojb in wint,
fun undsere lipn schrajt
doss blut noch beschass sse rint;
schtiler – schtiler –“
(deutsche Übersetzung: „O erloschener Blick, / Grabstumm und fahl; / Wer gibt dir das Licht zurück, / Das man dir stahl? // Um unseren Untergang wogt / Ein Meer von Schweigen. / So still fällt kein Blatt / Von den Zweigen. // Stiller – stiller – // O erloschener Blick! / Alle Himmel verdunkelt dein Leid; Jeder Augenblick führt uns zurück / In Exil-Verlorenheit. / Wie Sternenstaub im Wind / Liegen wir hingestreut, / Von unsern Lippen rinnt / Das Blut, und schreit // Stiller – stiller –“)
Vielleicht ist es das größte Verdienst des Buches „Offene Wunden Osteuropas“, all diese Leerstellen und Blindheiten sichtbar zu machen. Vielleicht ist dies eine Sisyphos-Arbeit. Bereisen lassen sich viele der beschriebenen Regionen und Städte zurzeit kaum. Die Lektüre eines Buches ist kein Ersatz für eine Reise, aber dieses Buch erfüllt alle Bedingungen, Gelesenes zu Erlebtem zu machen. Sicherlich trägt es dazu bei, dass sich der folgende Satz des russischen Regisseurs Andrej Tarkowski, der so viele offizielle und offiziöse Erinnerungskulturen prägt, eben nicht bewahrheitet: „Wir schauen, aber wir sehen nicht.“
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Mai 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 24. April 2022. Die in diesem Essay gezeigten Bilder wurden mir von Katja Makhotina zur Verfügung gestellt. Die Rechte liegen bei ihr. Das Titelbild ist ein Ausschnitt von Sandra del Pilar „Treat Me Like A Fool, Treat Me Like I’m Evil“, das meinen Leser*innen auch als Titelbild der Rubrik „Opfer und Täter*innen“ bekannt ist. Mit dem Satz „Wir schauen, aber wir sehen nicht“ schließt Wolfgang M. Schmitt seine Filmanalysen.)