Sündenbock Israel
Die Debatten um BDS und Achille Mbembe
Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz haben für ihr Buch „Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert“ (Berlin / Boston, Walter de Gruyter, 2013) eine Fülle von Mails und Briefen an den Zentralrat der Juden sowie die Israelische Botschaft in Berlin ausgewertet und festgestellt: „Es gibt kaum ein Schreiben in dem großen Textkorpus, das nicht auf Israel Bezug nimmt und diese Referenz zum Anlass judenfeindlicher Diffamierung und Delegitimierung werden lässt.“
Fazit: „Israel“ ist in dem binären Konstrukt des Antisemitismus inzwischen die Referenzgröße schlechthin. Grundtenor ist ein martialisch klingendes Gegensatzpaar: israelische Soldat*innen als „Mörder*innen“ auf der einen Seite, drangsalierte „unschuldige Zivilist*innen“ als deren Opfer auf der palästinensischen Seite, alles in allem eine wirksame Variante der für viele Formen des Post-Shoah-Antisemitismus einschlägigen Täter-Opfer-Umkehr, diesmal in Bagatellisierung palästinensischer Organisationen wie Hamas, Hizbollah oder Islamischer Dschihad, verbunden mit der einseitigen Anprangerung der israelischen Armee. Dieses Gegensatzpaar hat es auch in seriöse Medien geschafft bis hin zu den täglichen Nachrichtensendungen der öffentlich rechtlichen Sender. Bevor dort über palästinensische Raketenangriffe und Terroranschläge berichtet wird, wird oft genug zunächst auf die Toten der palästinensischen Seite verwiesen, bevor deren Angriffe in einem zweiten oder dritten Satz erwähnt werden.
Ersatzhandlung israelbezogener Antisemitismus
Israel erfüllt in diesem Diskurs die Funktion des berühmt-berüchtigten Sündenbocks. Die Schuld der Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen*Juden in Europa, die viele Deutsche als gesühnt und vergeben betrachten wollen, wird auf jemand anderes verlagert, auf Israel. Die Schuld deutscher Täter*innen soll verblassen dürfen, weil Israel es angeblich genauso schlimm triebe wie Deutsche dies in der Vergangenheit getan hätten. Die Palästinenser*innen werden damit aus Sicht deutscher (und österreichischer) Antisemit*innen zu Bündnispartner*innen im Bemühen um den Beweis ihrer eigenen „Kollektive(n) Unschuld“ (Samuel Salzborn), Jüdinnen*Juden zu rachsüchtigen Opfern, die sich zum Prototyp brutaler Täter*innen entwickelt hätten.
Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz: „Kein anderer Staat erfährt eine derartige emotional aufgeladene Verurteilung, die häufig mit dem Verweis auf eine rassistische Politik gerechtfertigt wird. Mit der israelfeindlichen Struktur des aktuellen Antisemitismus bietet sich insbesondere in Deutschland die Gelegenheit einer Täter-Opfer-Umkehr: Die eigene Täter-Geschichte mit rassistischer Ausgrenzung und Verfolgung kann auf einen anderen Akteur verlagert werden, der angeblich zu wiederholen scheint, was man selbst nie zu wiederholen versprochen hat.“
„Israelbezogener Antisemitismus“ wird heute oft als „Ersatzhandlung“ für rassistisch oder religiös gefasste Formen und Begründungen von Antisemitismus gepflegt, die sich manche*r heute nicht mehr zu eigen machen möchte. Was daran antisemitisch ist, ist für viele, die sich an Israel abarbeiten, jedoch kaum erkennbar. Das hat viel mit Unwissen über den Antisemitismus im 19. Jahrhundert, in Kaiserreich und Weimarer Republik, über die Geschichte des Zionismus, über Israel, seine Entstehung, die Staatsgründung, die ständige Bedrohung und die damit verbundenen Drohungen der völligen Vernichtung durch diverse Nachbarstaaten, das ständige Scheitern diverser Friedensverträge, zu tun. Und kaum jemand kennt die kontroversen Debatten zu diesen Themen innerhalb Israels und innerhalb des Judentums. Allenfalls werden einmal eine jüdische Reaktion oder das Statement von israelischen Wissenschaftler*innen als Kronzeugnis für die Richtigkeit der eigenen „Israelkritik“ herangezogen. Die Zusammenhänge, in denen solche Äußerungen eine Rolle spielen, bleiben in der Regel unerwähnt.
Unbekannt sind vielen Lehrkräften ebenso wie vielen Dozent*innen anderer Bildungseinrichtungen die Grundmuster der sogenannten „Israelkritik“, die sich in drei D zusammenfassen lassen: „Doppelte Standards“, „Dämonisierung“ und „Delegitimierung“. Kaum jemand weiß, welche Thesen BDS wirklich vertritt („Boycott, Divestment and Sanctions), auch deshalb, weil BDS eine geschickte Pressearbeit betreibt und es gut versteht, deutsche Vorbehalte geschickt aufzugreifen, um die eigentliche Absicht, Israel zu vernichten, zu tarnen.
Dabei wäre ein Blick in die BDS-Erklärungen hilfreich. Peter Ullrich vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin schreibt in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (22. Juni 2020, siehe auch www.bpb.de/antisemitismus): „So definieren die deutsche BDS-Sektion in ihrem Aufruf und das BDS-Komitee aus Ramallah in einem offenen Brief das zu befreiende ‚arabische Land’ explizit als die 1967 völkerrechtswidrig durch Israel besetzten Gebiete. Diese Spezifizierung, die tatsächlich einen der zentralen Vorwürfe gegen BDS ins Leere laufen lassen würde, fehlt im weiterhin gültigen internationalen BDS-Aufruf jedoch und lässt so auch die Interpretationsmöglichkeit zu, dass mit der Rückgabeforderung auch das Existenzrecht Israels infrage gestellt wird.“
Mit solchen Differenzierungen wollen sich Lehrkräfte in der Regel nicht beschäftigen. Im Ergebnis befördern sie damit – auch wenn sie es nicht explizit wollen –, dass Jüdinnen*Juden als eine homogene Gruppe betrachtet werden. Sie machen letztlich alle Jüdinnen*Juden verantwortlich, unabhängig von ihrer jeweiligen Staatsbürger*innenschaft, ihrer jeweiligen Religiosität, ihren jeweiligen beruflichen und privaten Tätigkeiten, ihren Einstellungen. Dass es in Israel unterschiedliche Auffassungen gibt, eine nennenswerte Zahl arabischer Abgeordnete regelmäßig ins Parlament, die Knesset gewählt werden und etwa ein Viertel der Bürger*innen Israels keine Jüdinnen*Juden sind, sondern Araber*innen, wird in der Regel ignoriert.
Statt Fakten regieren Meinungen. „Viele Lehrkräfte haben besondere Probleme, den israelbezogenen Antisemitismus zu erkennen“, den manche*r „im Sinnhorizont eines Meinungspluralismus toleriert.“ Und dort, wo sie Näheres recherchieren lassen wollen, bringen sie jüdische Schüler*innen in die Rolle der „Expert*innen“ für das Judentum, die israelische Politik und damit natürlich auch für den sogenannten „Nah-Ost-Konflikt“. So kommt es immer wieder vor, dass jüdische Schüler*innen mit entsprechenden Referaten beauftragt werden, im Grunde eine Rückdelegation eigenen Unwissens auf Schüler*innen. Erwachsenen Jüdinnen*Juden geht es in formellen wie informellen Gesprächen ebenso. Sie beklagen mit Recht, dass sie immer wieder gedrängt werden, sich zur Politik der israelischen Regierung zu äußern, auch wenn sie diese weder gewählt haben und in der Regel auch – da deutsche und nicht israelische Staatsbürger*innen – gar nicht hätten wählen können.
1948 oder 1967?
Es geht im Nah-Ost-Konflikt letztlich um folgende Frage: 1948 oder 1967? Jizchak Rabin berichtete während der vorbereitenden Gespräche zum Osloer Abkommen 1995 von einer seiner Begegnungen mit Jassir Arafat. Er habe mit Arafat über die Rückgabe der 1967 besetzten Gebiete sprechen wollen, dieser aber mit ihm über das Rückkehrrecht der Vertriebenen der Nakba 1948. Die Nakba ist auch heute noch das zentrale Thema der palästinensischen Seite, die eine Fülle von Friedensvorschlägen abgelehnt hat, weil sie dort ein umfassendes Rückkehrrecht für alle von der Nakba Betroffenen vermisse. Dieses Rückkehrrecht soll auch für deren Kinder und Enkel*innen gelten, von denen viele in libanesischen und syrischen Flüchtlingslagern leben und dort ihren Flüchtlingsstatus von Generation zu Generation vererben. Nur Jordanien hat palästinensischen Flüchtlingen die jordanische Staatsbürgerschaft verliehen. In den anderen arabischen Staaten fand eine solche Integration nicht statt.
Es ist nicht Gegenstand dieses Essays, darüber zu befinden, ob die nach wie vor von der Europäischen Union präferierte Zwei-Staaten-Lösung noch eine Chance auf Umsetzung hat und welche Rolle die beiden Daten 1948 und 1967 dabei spielen könnten. Es ist allerdings hilfreich, in einem kurzen Exkurs darauf hinzuweisen, dass es in der Vergangenheit qualifizierte Lösungsvorschläge gab, mit denen die palästinensischen Flüchtlinge als gleichberechtigte Bürger*innen auch in Israel hätten integriert werden können.
Omri Boehm zitiert in seinem Buch „Israel – eine Utopie“ (erschienen 2020 bei Propyläen in Berlin, englischer Originaltitel „A Future for Israel: Beyond the Two-State Solution“) im Wortlaut alle 21 Punkte des Vorschlags des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin vom 15. Dezember 1977 mit dem Titel „Selbstverwaltung für palästinensische Araber, Einwohner von Judäa, Samaria und des Gaza-Distrikts“. In Punkt 19 ist zu lesen: „Einwohner Israels werden das Recht haben, in den Gebieten Judäa, Samaria und Gaza-Distrikt Land zu erwerben und sich dort niederzulassen. Arabische Einwohner von Judäa, Samaria und dem Gaza-Distrikt, die gemäß der ihnen gewährten Option israelische Staatsbürger werden, werden das Recht haben, in Israel Land zu erwerben und sich dort niederzulassen.“ Punkt 16 regelt das Wahlrecht der arabischen Einwohner*innen mit israelischer Staatsbürger*innenschaft, Punkt 17 derer, die sich nicht für diese entscheiden, das Wahlrecht für das Parlament des Königsreichs Jordanien. Punkt 1 schafft die „Militärverwaltung in Judäa, Samaria und im Gaza-Distrikt“ ab, Punkt 2 garantiert „die Selbstverwaltung der arabischen Einwohner durch sie selbst und für sie selbst“.
Omri Boehm vermutet, dass heute kaum jemand, weder in Israel noch anderswo, glauben dürfte, dass es diesen Vorschlag tatsächlich gab. Umso verdienstvoller ist es, dass er an diesen Vorschlag erinnert. Es blieb in der weiteren Entwicklung bei stetiger Ablehnung von arabischer Seite. Daran änderte auch das „Interimsabkommen über das Westjordanland und den Gazastreifen“ vom 24. September 1995 (Oslo II) kaum etwas. Heute ist Vieles, was 1995 vereinbart wurde, Makulatur.
Peter Ullrich: „Durch diese Entwicklungen werden Diskursräume geschlossen, wo Ambivalenzen anerkannt, ausgehalten und diskutiert werden müssten, beispielsweise die, dass Israel sowohl eine Folge des Holocaust und Schutzraum für jüdische Menschen als auch Besatzungsmacht mit einer Siedlungsgeschichte ist, die von den ersten jüdischen Neuansiedlungen im Palästina vor der Staatsgründung bis zum heutigen Siedlungsbau in den palästinensischen Gebieten reicht; oder die, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser einen legitimen Kampf gegen ihre Entrechtung führen, ihr Rumpfstaat aber zugleich undemokratisch und ihre Befreiungsbewegung in Teilen terroristisch und antisemitisch ist.“
Chiffre „Israel“, Chiffre„Apartheid“
Nachdem der Antisemitismusbeauftragte des Bundes, Felix Klein, die Ausladung von Achille Mbembe von einer kulturellen Großveranstaltung im Ruhrgebiet, der Ruhrtriennale, gefordert hatte, gab es in den intellektuellen Communities kaum noch jemanden, der*die sich in dieser Frage neutral verhielt. Während die einen forderten, Achille Mbembe, der vor wenigen Jahren noch für sein Buch „Critique de la raison nègre“ (deutscher Titel: „Kritik der Schwarzen Vernunft“, erschienen bei Suhrkamp 2014) gefeiert wurde, nicht mehr einzuladen, forderten andere die Entlassung von Felix Klein, Intellektuelle von Rang beharkten und bedrohten sich wie zwei politische Pressure Groups.
Die Debatte um Achille Mbembe belegt meines Erachtens unbeschadet der Frage, ob seine Thesen über Israel haltbar sind oder nicht (ich persönlich halte sie für unhaltbar), jedoch vor allem, wie es gelingen kann, eine niveauvolle politische Debatte zu beeinträchtigen, wenn nicht gar zu verhindern. Achille Mbembe verfolgt ein eindeutig anti-kolonialistisches Interesse und neigt dazu, alles andere diesem Interesse unterzuordnen. Opferkonkurrenz wird dann schnell zur Opferhierarchie. Niemand bezweifelt, dass Deutschland (und nicht nur Deutschland) eine Debatte um seine kolonialistische Vergangenheit braucht. Es hilft aber nicht, wenn diese Debatte als Konkurrenzdebatte zur Shoah geführt wird und mit dem Verweis auf ein Israel Analogien gebildet werden, die sich schon bei erstem Hinsehen als unhaltbar erweisen müssten.
Solche Opferkonkurrenzen und Opferhierarchien, die manche aufbauen, um das eigene Handeln zu legitimieren und sich selbst sozusagen als Mitnahmeeffekt von jedem Vorwurf freizusprechen, irgendeiner Form des Antisemitismus Vorschub zu leisten, sind höchst gefährlich. Nathan Sznaider sieht in seinem Essay „Antisemitismus zwischen Schwertern und Pflugscharen“ (in: Aus Politik und Zeitgeschichte 22. Juni 2020, www.bpb.de/antisemitismus) solche Konkurrenzdebatten als Grund der Verharmlosung von Antisemitismus. Er beschreibt den „Holocaust“ sowie „Kolonialismus und Imperialismus“ als die beiden „große(n) moralische(n) Narrative des 20. Jahrhunderts. Israel und die Juden befinden sich im Brennspiegel von beiden.“ Im ersten Narrativ „dient die Gründung Israels in der Tat als Erlösung“, im zweiten Narrativ „sind Israelis weiße Siedler und Israel eine Siedlergesellschaft, die die bereits vorher dort wohnhafte Bevölkerung unterwirft und als Handlangerin des Westens gesehen wird.( …) Das kolonialistische Narrativ, das anfänglich im Westen kaum wahrgenommen wurde, ist insbesondere in den vergangenen Jahren durch Einwanderung und globale Medien in Europa angekommen und konkurriert mit dem Narrativ des Holocaust“.
Hier liegt meines Erachtens der Kern der Debatte um Achille Mbembe. Gleichwohl muss man*frau die Frage stellen, warum eine solche Debatte, die den Bedarf einer Aufarbeitung der Kolonialgeschichte betont, sich an Israel und „den Juden“ (mit bestimmtem Artikel adressiert!) abarbeitet. Monika Schwarz-Friesel hat am 19. Mai 2020 in einem Plädoyer „aus Sicht der empirischen Antisemitismusforschung“ die Sprache Achille Mbembes als (zumindest latent) antisemitisch analysiert: „Muss er Personen, deren Ansicht er nicht akzeptiert, ausgerechnet ‚Pharisäer‘ und ‚Zeloten‘ nennen (Bezeichnungen, die jahrhundertelang als Schimpfworte für Juden benutzt wurden) und das im antisemitischen Diskurs inflationär benutzte Schlagwort ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ benutzen, dem jüdischen Staat eine Apartheid ‚schlimmer als in Südafrika‘ andichten, ihm ‚fanatische Ausrottung‘ vorwerfen und seine ‚weltweite Isolation‘ fordern, die ‚Okkupation Palästinas‘ als „größte(n) moralische(n) Skandal unserer Zeit“ de-realisieren?“
In „Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert“ stellen sie und Jehuda Reinharz fest: „Das Wort Apartheid wird aus seinem historischen Zusammenhang gerissen und dekontextualisiert.“ Es kommt natürlich noch eine gewisse Bequemlichkeit hinzu. Mit dem Begriff der „Apartheid“ können politisch interessierte Menschen im 21. Jahrhundert etwas anfangen, über die Details der Geschichte und der Politik Israels wissen sie in der Regel wenig oder nichts. Die Analogie „Apartheid“ erspart die Mühen der Lektüre differenzierender historischer und politischer Studien. „Israel“ wird zur Chiffre in einem Wirrwarr antikolonialistischer, antiimperialistischer, antikapitalistischer, antiamerikanischer und antizionistischer Emotionen, „Apartheid“ zum Generalvorwurf und Kampfbegriff.
Geschichtsvergessene Doppelmoral
Diejenigen, die den Begriff der „Apartheid“ zur Charakterisierung der israelischen Politik verwenden, adeln sich selbst für ihren vorgeblichen Einsatz für die Menschenrechte und diffamieren diejenigen, die sie damit bezeichnen, ohne weitere inhaltliche Prüfung. Der Begriff soll für sich selbst sprechen. Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz: „Ein ausgeprägter Missionarsdrang anti-israelischer Aktivisten ist Teil ihrer obsessiven Intoleranz: Antisemiten deklarieren ihre anti-israelischen Aussagen als ‚Meinungsfreiheit‘ und fordern uneingeschränktes Rederecht. Ich fordere, ich verlange, ich bestehe auf meinem Recht etc. sind Floskeln, die viel in diesem Zusammenhang benutzt werden. Dieses Recht sprechen sie Menschen, die eine andere Meinung vertreten, jedoch ab, indem sie es als ‚Manipulation‘ und ‚hasserfülltes Anti-Deutschtum‘ bewerten. Auffällig ist hierbei der unbedingte Wahrheitsanspruch, der keine andere Sicht zulässt (…)“.
Monika Schwarz-Friesel konstatiert in diesem Vorgehen „Doppelmoral“, das vierte D in der Analyse unsachgemäßer Auseinandersetzungen mit Israel. Sie schreibt am 28. Juli 2020 in der WELT: „In der Tat, es gibt die Gefahr der Einschränkung von Meinungsfreiheit – denn proisraelische oder auch israelneutrale Stimmen werden entweder massiv diskreditiert oder kaum publiziert. Eine jüngst durchgeführte Umfrage zeigt, dass insbesondere freie Journalist_innen massiv unter diesem Trend zu leiden haben und dass sie Hassattacken in den sozialen Medien erdulden müssen, wenn sie sich proisraelisch/neutral artikulieren.“ Ihre Schlussfolgerung: „Israelbezogener Judenhass ist mittlerweile der ‚politisch korrekte Antisemitismus‘“.
Der linke Antisemitismus hat eine lange Tradition. Hauptziel war „das zionistische Israel“. Ich erinnere mich an meine Zeit als Student in den 1970er Jahren: Es gehörte zum guten Ton der sich „links“ verstehenden Gruppen, Israel ebenso wie die USA anzugreifen. Linksextremist*innen pflegten enge Kontakte zu palästinensischen Organisationen, die sie unbeschadet des von ihnen ausgehenden Terrors als Befreiungsorganisationen verstanden. Zwi Rappoport, Vorsitzender des Landesverband der jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe, wies mich darauf hin, dass er bereits 1967 als Student in Berlin, noch vor der Besatzungszeit, antiisraelischen Antisemitismus bei linken Student*innen erlebt habe. Auch diesen Student*innen ging es um das Datum 1948.
Inzwischen hat diese Variante der „Israelkritik“ die „demokratische Mitte“ erreicht. Allerdings tragen Menschen der „demokratischen Mitte“ ihre „Israelkritik“ gerne im Brustton der Überzeugung vor, dass sie ja nur das Beste für Jüdinnen*Juden und für Israel wollten. Sie möchten Israel gerne missionieren, nicht im Namen einer Religion, wohl aber im Namen ihres Verständnisses der Menschenrechte. Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz: „Das Gewalt- und Diskriminierungspotenzial der Sprache artikuliert sich aber auch über Sprechakte, in denen Juden belehrt und ermahnt werden. Sie werden (insbesondere von akademischen Schreibern) als unmündige Personen behandelt, die auf die Ratschläge von Nicht-Juden angewiesen sind.“
„Doppelmoral“ konstatiert auch Eva Illouz, die mit anderen die Entlassung von Felix Klein gefordert hatte. Sie bezieht den Begriff der „Doppelmoral“ allerdings nicht auf die im Diskurs verwendeten Begriffe, sondern auf eine konkrete politische Forderung von BDS, den Boykott. Eva Illouz wendet sich in einem Gespräch mit Martin Eimermacher für die ZEIT (Printausgabe vom 7. Mai 2020) zunächst gegen die Boykott-Strategie von BDS: „Der akademische und kulturelle Boykott ist eine dumme politische Strategie, aber Dummheit ist kein Verbrechen.“ So weit, so gut, aber in den Folgesätzen zieht sie einen Vergleich, der sich bei genauerem Nachdenken verbieten müsste: „Und vergessen wir nicht, dass Boykotte oft legitim waren – Südafrika wurde boykottiert. Das ist es, was das Regime, die Apartheid zu Fall gebracht hat. Was werden Sie also sagen? In Südafrika war es in Ordnung? In Israel ist es nicht in Ordnung? Nach welchem Kriterium?“
Boykott als wertfreier Begriff, losgelöst von Inhalt und politischen Zielen? Eva Illouz macht aus meiner Sicht „Boykott“ damit zu einem primären Wert, vergleichbar mit den Menschenrechten. Ein „Verbrechen“ ist „Boykott“ sicher nicht, aber erst recht kein absoluter Wert, der gleichviel, wogegen er sich richtet, immer gerechtfertigt wäre. Der Vergleich, auf den es ankommt, ist der Vergleich Israels mit Südafrika im Hinblick auf die in Südafrika als Staatsdoktrin etablierte „Apartheid“. Dies ist nun der Vergleich, den Achille Mbembe nicht müde wird zu wiederholen. Ich gestehe ihm zu, dass er an seinem Lehrstuhl an der Witwatersrand-Universität in Südafrika einen anderen Blick auf Apartheid haben dürfte als jemand, der an anderen Hochschulstandorten in anderen Ländern forscht. Apartheid war in Südafrika Staatsdoktrin, sie war gängige Praxis in den USA bis in die 1960er Jahre, als weiße und Schwarze Menschen nicht auf denselben Parkbänken sitzen, dieselben Restaurants besuchen, nicht dieselben Toiletten benutzen, in Schulen und Hochschulen nicht gemeinsam lernen durften. All dies gab und gibt es in Israel nicht. Es ist eigentlich schon ein Problem, dass ich diesen letzten Satz schreiben muss.
Postcolonial Studies im „Zwielicht“
Ijoma Mangold hat das Dilemma, in das sich Achille Mbembe selbst hineinmanövriert hat und dem manche seiner Unterstützer*innen mehr oder weniger unreflektiert folgen, in der ZEIT vom 29. April 2020 unter dem Titel „Wie rassistisch ist der Westen?“ dekonstruiert. Er zitiert Achille Mbembe: „Das Apartheidregime in Südafrika und – in einer ganz anderen Größenordnung und in einem anderen Kontext – die Vernichtung der europäischen Juden sind zwei emblematische Manifestationen dieses Trennungswahns.“ In diesem Satz liegt das grundlegende Problem der Äußerungen von Achille Mbembe. Er unterschlägt den mörderischen Charakter des nationalsozialistischen Vernichtungswahns, verharmlost ihn als Exklusion („Trennungswahn“). Er deutet zwar mit dem Einschub an, dass er Apartheid und Shoah in „Größenordnung“ und „Kontext“ für nicht vergleichbar hält, setzt beide jedoch fast im selben Atemzug gleich.
Ijoma Mangold: „Die Opfer der Schoah kann Mbembe problemlos in sein Weltbild integrieren, der Staat Israel hingegen mit seinen ganzen Ambivalenzen, Verbündeter der USA, aber tödlich bedroht durch seine Nachbarn, fügt sich weit weniger in Mbembes Aufteilung der Welt in Täter und Opfer. Sein Hass auf Israel hat etwas vom Zorn über einen Verräter, der die Seite gewechselt hat.“ Die Wirkung: „Sein Israelhass rückt die Postcolonial Studies ins Zwielicht“.
Jüdinnen*Juden, die sich gegen Angriffe verteidigen, passen nicht in das Bild des Opfers. Verteidigung wird in Aggression umgedeutet. Ob alle Maßnahmen, die die israelische Regierung zur Selbstverteidigung beschloss und anwendete beziehungsweise heute noch anwendet, ob die Art und Weise der Besatzung angemessen sind, ist nicht die Frage der selbsternannten Anwält*innen der Palästinenser*innen. Diese bestreiten Israel grundsätzlich das Recht, sich auch mit Gewalt zu verteidigen. Sie ignorieren den Kontext, in dem israelische Regierungen agieren müssen.
Eben dies ist – so Ijoma Mangold – die Schwachstelle der Argumentation von Achille Mbembe, der mit seinem Vergleich nicht nur Israel und die Shoah enthistorisiert, sondern auch die „Kolonialisierung“, die Geschichte der „Versklavung“. „Ohnehin ist der ‚Neger‘ für den Zeitkritiker Mbembe keine empirische Gestalt, sondern eine metaphysische Größe.“ In diese „metaphysische Größe“ lassen sich dann die Palästinenser*innen mühelos einordnen, die Jüdinnen*Juden jedoch nach der Staatsgründung im Jahr 1948 nicht mehr, weil sie sich weigerten, sich weiterhin als Opfer zu verhalten.
Es geht möglicherweise um die Frage, was die „rechte“ und was die „linke“ Seite der politischen Geometrie dürfen und was nicht. Nur ein Beispiel: Bei allen Verdiensten von Judith Butler für Genderforschung und Feminismus sollte sie, eine profilierte Gegnerin* Israels, sich fragen lassen dürfen, ob sie Hamas und Hisbollah tatsächlich als „linke“, das heißt als der Aufklärung verpflichtete Bewegungen verstehen sollte. Eva Illouz geht nicht so weit wie Judith Butler, aber sie geht in dieselbe Falle: „Ich habe absolut keinen Zweifel daran, dass auch manche linke Kritik an Israel antisemitisch ist. Aber das ist für die Linke nicht in der gleichen Weise konstitutiv wie für die extreme Rechte.“ Antisemitismus bleibt Antisemitismus, ob „konstitutiv“ oder was auch immer. Das Problem liegt dort begründet, wo rechts und links gegeneinander in Stellung gebracht werden, wo historisch nicht haltbare Vergleiche zur Begründung herangezogen werden, wo Begriffe verwendet werden, die eindeutig antisemitisch belegt sind. Ich bin kein Anhänger irgendeiner Hufeisentheorie, denke aber, dass es keinen Unterschied macht, ob sich jemand von einer eher „rechten“ oder jemand von einer eher „linken“ oder „liberalen“ Position antisemitisch äußert. Die Begründungen des jeweiligen Antisemitismus mögen sich unterscheiden, die Wirkung bleibt die gleiche.
Ijoma Mangold geht noch einen Schritt weiter. Er zitiert einen Artikel der taz, der die Frage gestellt habe, „ob es an einem ‚grundsätzlichen Konstruktionsfehler‘ der Postcolonial Studies liege, wenn ihre Theoretiker das Fach meistens nicht nur ‚als Wissenschaft, sondern auch als Widerstandsform‘ verstünden“, eine „Widerstandsform“, als dessen Gegenstand sich dann alles begreifen ließe, das in dieser Welt mit Unterdrückung zu tun hat, unabhängig davon, ob es in dem Land, in dem Unterdrückung geschieht, eine unabhängige Justiz gibt, in der Unterdrückende vor Gericht gestellt werden können oder nicht. Denn auch das ist einer der blinden Flecken im Weltbild der Vertreter*innen sogenannter „Israelkritik“. Die rechtsstaatliche Verfassung und Praxis Israels werden schlichtweg ignoriert, die Besatzungspolitik, die in manchen Punkten durchaus kritikwürdig ist – auch wenn ich mir aus der Ferne kein abschließendes Urteil anmaßen möchte –, wird als kolonialistisches, imperialistisches Projekt missverstanden.
Wann ist eine Äußerung zu Israel antisemitisch?
Doch wie lässt sich unterscheiden, ob es sich bei einer kritischen Äußerung gegenüber Israel um eine antisemitische Äußerung handelt oder nicht. Monika Schwarz-Friesel schreibt in „Sprache und Emotion“ (erste Auflage erschienen 2007): „Es bleibt auf jeden Fall zu konstatieren, dass extrem israel-kritische (und emotionalisierte) Nahostberichterstattungen insbesondere dann sogar das Potenzial bieten, kognitive und emotionale Verstärkung für (latenten) Antisemitismus zu sein, wenn diese Kritik undifferenziert den gesamten Staat Israel und seine jüdischen Bürger, seine prinzipielle Existenz(berechtigung) und nicht vereinzelte, kritisierfähige Ereignisse betrifft, wenn diese Kritik in pauschalisierender Weise mit tradierten judenfeindlichen Stereotypen und entsprechenden Lexemen verknüpft ist, wenn diese Kritik israelische und jüdische Belange (zumal in feindseliger Weise) gleichsetzt, wenn dieser Kritik generell eine einseitige, verzerrte Perspektive zugrunde liegt, in der Israel als Judenstaat prinzipiell als der übermächtige, willkürliche Aggressor erscheint, dem unterstellt wird, mit brutalen, unmotivierten Methoden zu arbeiten (…).“
Eva Illouz hat einen anderen Vorschlag: „Meine persönliche Testfrage, um antisemitische Äußerungen zu identifizieren, ist nicht sehr präzise, aber sie lautet ungefähr: ‚Hätte ein jüdischer Israeli dies sagen können?‘ Wenn die Antwort Ja lautet, dann sollte ich auf einen Antisemitismus-Vorwurf verzichten. Jüdische Israelis können nicht sagen, dass Juden das Coronavirus in einem chinesischen Labor hergestellt haben. Aber sie können sagen, dass der israelische Staat diskriminiert. Den Kampf gegen Antisemitismus darf der israelische Staat nicht instrumentalisieren.“
Bezogen auf den Apartheid-Vorwurf dürfte die Antwort auf diese Frage von Eva Illouz eigentlich nur „Nein“ lauten. Anders gesagt: Apartheid in Südafrika und die Verfolgung der Jüdinnen*Juden in Nazi-Deutschland sind nicht vergleichbar. Beides sind Doktrinen der Exklusion, aber unbeschadet des mit der Apartheid gewollt und wissentlich verursachten Leids war deren Ziel nicht die Ausrottung aller Schwarzen Südafrikaner*innen. Meines Erachtens trifft Monika Schwarz-Friesel das Unterscheidungsmerkmal genauer. Schlüsselworte ihrer Definition sind „undifferenziert“, „prinzipiell“, „einseitig“. Der Unterschied liegt eben darin, ob jemand Israel oder alle Jüdinnen*Juden dieser Welt im Kollektiv angreift und alle Palästinenser*innen per se von jeder Verantwortung freispricht oder ob sich jemand lediglich auf einzelne Maßnahmen der israelischen Regierung oder des israelischen Militärs bezieht und diese auf den jeweiligen historischen und politischen Kontext bezieht.
Nie wieder wehrlos
Ob nun BDS-Aktive und Achille Mbembe als Personen alle Antisemit*innen sind, d.h. ein in sich geschlossenes antisemitisches Weltbild vertreten, kann und möchte ich nicht beurteilen. Eine Bewertung der Organisation BDS und anderer Organisationen, die ähnlich arbeiten, ist jedoch möglich, ebenso eine Bewertung der Sprache und Metaphorik Achille Mbembes. Plausibel sind die Hinweise, dass BDS und Achille Mbembe antisemitisches Vokabular benutzen und historisch unhaltbare Analogien verwenden, NS-Vergleiche, der Vergleich der Shoah mit Apartheid oder wahlweise mit Kolonialismus. Dem Bemühen, sich mit der Geschichte und den Folgen des Kolonialismus auseinanderzusetzen, erweist Achille Mbembe damit einen Bärendienst. Aber vielleicht hätte Achille Mbembe einen Satz, den er im Hinblick auf Afrika formulierte, auch im Hinblick auf Israel zitieren sollen. Mit diesem Satz beschrieb er sein Konzept der „Ethik des Passanten“: „Ich möchte mit meiner ‚Ethik des Passanten‘ das Denken in Gegensätzen durch ein Denken in Beziehungen ersetzen. (…) Im vollen Sinne ein Mensch wird man erst, wenn die Beziehung zum Anderen einen verwandelt.“ (Es handelt sich bei diesem Text um ein von Elisabeth von Thadden protokolliertes Gespräch.)
In Deutschland gibt es relativ wenig Verständnis dafür, dass der in Gedenkstunden zur Shoah und nach Attentaten auf Jüdinnen*Juden immer wieder zitierte Appell des „Nie wieder“ in Deutschland und in Israel unterschiedlich verstanden wird. Während er in Deutschland dazu dient, sich selbst zu versichern, dass der Nationalsozialismus ebenso wie jede andere menschenverachtende Ideologie keine Chance mehr erhalten werden, ihre Verbrechen zu wiederholen, bedeutet er in Israel etwas anderes. Die israelische Fortsetzung lautet eben nicht „Nie wieder Auschwitz“, sondern „Nie wieder wehrlos“. Wer ein neues „Auschwitz“, einen neuen Völkermord an Jüdinnen*Juden verhindern will, muss von Anfang an dafür sorgen, dass Jüdinnen*Juden sich wehren können, auch mit militärischen Mitteln.
Das hohe Ansehen der israelischen Armee in der israelischen Bevölkerung sowie in den jüdischen Gemeinden der Diaspora hat viel mit dem Versprechen zu tun, sich gegen jede Bedrohung zu wehren. Das israelische Militär gewährleistet Sicherheit. Nie wieder sollen Jüdinnen*Juden erleben müssen, dass sie ohne nennenswerte Chancen der Gegenwehr zusammengetrieben, deportiert und ermordet werden. Die Opfer von gestern sind nicht die Täter*innen von heute, sie sind diejenigen, die sich aktiv dagegen wehren, erneut Opfer zu werden. Ob jede Form dieser Gegenwehr gleichermaßen akzeptabel ist, ist eine ganz andere Frage, aber die beantworten in Israel die Strafverfolgungsbehörden. Israel ist ein demokratischer Rechtsstaat, in dem Unrecht von Gerichten bewertet sowie be- und verurteilt wird. Dies lässt sich weder von den umliegenden arabischen Staaten noch von der Palästinensischen Autonomiebehörde und der in Gaza herrschenden Hamas behaupten.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im September 2020, Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft. Den Begriff der „Opferhierarchie“ verdanke ich Hans Peter Schaefer, Köln, mit dem ich u.a. über die Problematik der „Opferkonkurrenzen“ gesprochen habe.)