Super! Helden!

Joanna Nowotny über Superheld:innen in Comic Books und Film – Teil 1

„Superhelden sind nicht bloß ein Phänomen der Popkultur, das uns fasziniert; wie alle Medien und Kulturen zeichnen sie sich auch dadurch aus, dass sie uns reflektieren – unsere Fantasien, unsere Ideologien. Es ist ein offenes Geheimnis: Superhelden sind eine inhärent politische Angelegenheit.“ (Olivia Hicks, University of Dundee, in ihrem Vorwort zu Lukas Etter, Thomas Nehrlich, Joanna Nowotny, Hg., Reader Superhelden – Theorie – Geschichte – Medien, Bielefeld, transcript, 2018)

Joanna Nowotny, Foto: privat.

Die Zahl der verschiedenen Superheld:innen in Comic Books, Filmen und Serien ist inzwischen so groß und unübersichtlich wie die Welt der griechischen Götter, Halbgötter und Held:innen oder der Protagonist:innen der mittelalterlichen Sagenwelt um König Artus oder die Nibelungen. Damit ließen sich eigene Lexika füllen, allein mit der europäisch-nordamerikanischen Spielart. Hinzu kommt, dass sich die Figuren ständig verändern, im Ambiente, im Charakter, auch im Aussehen und je nach Medium, in dem sie erscheinen, und dies inzwischen über 80 Jahre. Dieser Wandel hängt auch mit den unterschiedlichen Perspektiven der Autor:innen und Zeichner:innen zusammen, nicht zuletzt auch mit dem wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg der jeweiligen Kreationen und den Interessen und Vorlieben der Fankulturen. Wer sich näher mit Superheld:innen des 20. und des 21 Jahrhunderts in Comic Books und Filmen beschäftigt, sollte daher vielleicht mehr auf die Strukturen achten als auf die einzelnen Personen oder Figuren. Vollständigkeit ist eh nicht erreichbar, wohl aber ein Blick in die Werkstätten der Superheld:innen, die uns auch einen Blick in die historisch-politischen Kontexte erlauben, in denen sie entstanden sind und in denen sie wirken.

Der von Joanna Nowotny gemeinsam mit Lukas Etter und Thomas Nehrlich herausgegebene „Reader Superhelden“ (Bielefeld, transcript, 2018) leistet dies. Er dokumentiert Vorläufer in Literatur- und Kulturgeschichte von Homer über die Bibel bis hin zu Friedrich Nietzsches These vom „Übermenschen“, Definitionen, Historiographisches, Debatten, Selbstaussagen und Selbstreflexionen, Ergebnisse der zeitgenössischen Forschung, die sich – so Joanna Nowotny – zunehmend mit „kulturwissenschaftlichen und (trans-)medialen Darstellungen“ befasst. Dokumentiert werden Beiträge von Umberto Eco, Oswald Wiener und Stan Lee, thematisiert werden Gender-Aspekte, interkulturelle Zugänge, beispielsweise in Indien sowie im Hinblick auf afroamerikanische und arabische Figuren nach 9/11, sowie die Medialität des Genres. Jeder der sechs Teile des Readers wird von einer zusammenfassenden Reflexion der Herausgeber:innen eingeleitet. Der Reader ist eine exzellente Einführung in das Thema und sorgt vor allem für eine philosophische, historische und soziologische Einordnung eines Genres, das durchaus als die dem 20. (und 21.) Jahrhundert angemessene Wiederbelebung mythologischer Weltkonstrukte gelten darf.

Joanna Nowotny ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Sie arbeitet beim Schweizerischen Literaturarchiv in Bern und als freischaffende Forscherin und Kulturvermittlerin. Dieses Gespräch basiert unter anderem auf einem Vortrag, den sie im Frühjahr 2023 im Jüdischen Lehrhaus Wiesbaden hielt. Im Demokratischen Salon ist sie bereits mit dem Essay „Good Jewish Boys? Jüdische Verbrecherfiguren in Film und Comic“ präsent.

Der erste Teil befasst sich mit den Grundstrukturen und der Ästhetik des Genres, der zweite Teil mit Doppel-Identitäten, Feminismus und Diversität.

Außergewöhnliche Individuen

Norbert Reichel: Superhelden haben eine lange Geschichte. In dem von Ihnen gemeinsam mit zwei Kollegen herausgegebenen „Reader Superhelden“ haben Sie im ersten Teil eine Reihe davon mit Auszügen aus griechischen und germanischen Epen, der Bibel und zuletzt auch aus Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ vorgestellt. Das sind erst einmal fast ausschließlich männliche Helden, wenn man einmal von den griechischen Göttinnen und den Amazonen absieht. Von dort ziehen Sie eine Linie bis in die Comic Books und Filme unserer Zeit. Wo ist der rote Faden? Wo ist das Gemeinsame, wo das Trennende?

Joanna Nowotny: Diese Frage führt ins Zentrum des Themas. Heldentum gehört kulturgeschichtlich zu den ältesten Vorstellungen. Eines der ersten schriftlichen überlieferten Werke ist das sumerische Gilgamesch-Epos. Offensichtlich fesseln diese Vorstellungen bis in die heutige Zeit, treten aber auch immer in neuer Gestalt auf. Ich würde sagen, es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen den alten etablierten Vorbildern und modernen Superheldinnen und Superhelden, aber natürlich auch Unterschiede.

Was ist geblieben? Helden sind immer außergewöhnliche Individuen. Es wird auch gelegentlich Kollektivheldentum erzählt, aber die dominanten Geschichten sind die Erzählungen über individuelle Helden, klassischerweise Männer, die sich durch bestimmte Merkmale auszeichnen, physische, psychische und moralische. Auf der physischen Ebene sind sie zumeist in der Lage, außergewöhnliche Leistungen zu vollbringen, sie haben einen exzellenten Körper. Auf der psychischen und moralischen Ebene zeichnen sie sich durch besondere Tugendhaftigkeit und Ehrhaftigkeit aus. Das sind Konstanten, die auch ins Genre der Superhelden übernommen worden. Die Figuren in den superheldischen Universen, die dem nicht entsprechen, ziehen ihre Attraktivität zum Teil gerade aus der Abweichung vom Schema, sie werden als ambivalent und komplex wahrgenommen, damit auch als Subversion des klassischen Heldenschemas.

In unserem Reader haben wir versucht herauszuarbeiten, dass es sich bei den Erzählungen über Superhelden um serielles Erzählen handelt. Helden sind Figuren, über die es immer wieder neue Geschichten zu erzählen gibt. Das ist schon in den klassischen Epen der Fall. Die Figuren treten an verschiedenen Orten auf, es gibt Verwandlungen, auch das ist typisch für die modernen Superheldinnen und Superhelden.

Typisch ist auch die eine Schwachstelle, die sie trotz exzellentem Körper haben. Diese Schwäche nähert sie an normale Menschen an, zum Beispiel die Ferse des Achilles oder die verwundbare Stelle Siegfrieds am Schulterblatt. An dieser Schwachstelle kann man sie besiegen. Bei den modernen Superheld:innen gibt es auch Schwachstellen, durch die sie ganz normale Menschen werden. Sie haben Muskelberge, aber wenn man es zum Beispiel schafft, Superman zu lange dem Kryptonit auszusetzen oder die Wirkung des Serums, das Captain America zum physisch überlegenen Helden gemacht hat, zu unterbrechen, werden sie zu schwachen Menschen. Das funktioniert ähnlich wie Samsons Haare, ohne die er seine Kraft verliert.

Tradiert wurden auch Erzählformen und Figurenkonstellationen wie zum Beispiel Helden gegen Schurken oder eine Handlungsstruktur mit Schwierigkeiten, die überwunden, Prüfungen, die bestanden werden müssen.

Das ist die Kontinuität im Bild der Superheld:innen.

Norbert Reichel: Die Schwachstelle unterscheidet sie von Göttern. Die antiken Helden sind oft Halbgötter, so zum Beispiel Achilles, der eine göttliche Mutter hat. Herakles war in einigen Erzählungen ein Sohn des Zeus.

Joanna Nowotny: Und die Schwachstelle erleichtert, dass Menschen sich mit den Superheld:innen identifizieren können. Sie sind außergewöhnlich, aber dennoch menschlich. Man kann sich vorstellen, selbst in eine solche Rolle hineinzuwachsen.

Norbert Reichel: Wie sieht es mit den Superheld:innen aus? In der griechischen Mythologie haben wir die Amazonen und heute haben wir Wonder Woman.

Joanna Nowotny: Wonder Woman soll tatsächlich eine Amazone sein und wurde 1941 von William Moulton Marston geschaffen. In der Mythologie sind Amazonen ambivalente Figuren: Sie treten je nach Kontext als Bedrohung für die eigentlichen Helden der Erzählungen auf. Aber Marston hat Wonder Woman als eindeutig positiv besetzte Heldin aus einer idealisierten, von Frauen beherrschten Gesellschaft geschrieben, die in der „world of man“ (extra doppeldeutig: der Menschen und der Männer) Gutes tut. Als früh entstandene und erfolgreiche Heldin ist sie im männlich geprägten Genre die Ausnahme von der Regel.

Norbert Reichel: Die Dialektik von Stärke und Schwäche haben Sie in Ihrem Aufsatz „Fantastische Rüstungen und kugelsichere Armbänder“ beschrieben (in: Julia Saviello und Romana Kaske, Hg., Objekte des Krieges – Präsenz und Repräsentation, Berlin u. a., de Gruyter, 2019). Sie schreiben auch, dass sich Figuren wie Iron Man und Wonder Woman nur „im Kontext von Geschlechterdiskursen des 20. Jahrhunderts“ verstehen ließen.

Joanna Nowotny: Marston hat eine ganz spezielle, wir sagen: eine essenzialistische Spielart des Feminismus vertreten, laut der Frauen von Natur aus liebend, Männer dagegen gewalttätig sind. Er wollte das für ihn verheerende, Menschen und den Planeten zerstörende Patriarchat durch ein Matriarchat überwinden, das von Frauen wie Wonder Woman angeführt sein sollte, denen sich die Männer unterwerfen. Symbolisiert werden diese Ideen durch Wonder Womans Waffen, ihr Lasso, mit dem sie die Gegner bindet, bis sie ihr gehorchen, und ihre Armbänder, eine ‚passive‘ Waffe, die nur der Verteidigung dient. Wonder Woman ist also eine Heldin, bei der Geschlechtervorstellungen absolut zum Konzept gehören, und auch eine frühe Reaktion auf das Aufkommen des Superhelden-Genres, das von Marston als zu brutal und zu männlich geprägt wahrgenommen wurde.

Ähnlich ist es bei Iron Man, auch wenn die Geschlechterfragen weniger explizit vorkommen. Tony Stark wird im Krieg verwundet; sein nun schwacher, verletzlicher Körper benötigt den Metallanzug zuerst als Schutzschicht oder als Prothese, die ihn wieder zum ‚richtigen Mann‘ werden lässt. Der Anzug ist einerseits Teil von Stark, der ihn mithilfe seiner Genialität gebaut hat; er ist aber auch eine Art Ideal harten, männlichen Heldentums, das unabhängig von Stark existiert und dem der verletzliche Mann nicht immer gerecht wird. Deswegen gibt es auch immer mal wieder Geschichten, in denen sich der Anzug auf die eine oder andere Weise gegen Tony Stark richtet. Hier dreht sich also alles um Männlichkeit, um die Sehnsucht nach einem ‚harten‘, quasi unbesiegbaren Körper, und um die Frage, was einen Helden zuletzt ausmacht: seine Menschlichkeit – zu der auch seine Verletzlichkeit gehört – oder eben doch sein ‚Körperpanzer‘? In den Geschichten bleibt das teilweise ambivalent.

Serielles Erzählen

Norbert Reichel: Das Thema der weiblichen Superheldinnen werden wir zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal ausführlicher ansprechen. Beim Thema Ambivalenz denke ich an die Penthesilea in dem Drama von Heinrich von Kleist, Superheld trifft Superheldin. Aber darf ich einen Helden herauspicken, den Herakles beziehungsweise Herkules mit den zwölf Aufgaben, die er lösen muss? Gab es in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre als Fernsehserie, etwa zeitgleich dann auch die Serie mit dem weiblichen Gegenstück Xena.

Joanna Nowotny: Das sind gute Beispiele für Erzählungen über ‚klassische‘ Helden und ihre Aktualisierungen in neuen Medien. Das Serielle sorgt dafür, dass immer wieder etwas Ähnliches, Wiedererkennbares erzählt, aber gleichzeitig die Schwierigkeit und Komplexität der Abenteuer gesteigert werden kann. Meines Erachtens ist das ein wesentlicher Grund, warum Superhelden-Comics und superheldische Figuren seit 85 Jahren so populär sind, in den Heften selber, aber auch in Fernsehserien, im Radio, im Fernsehen. Da sie seriell erzählen, eignen sie sich gut für diese Medien, die ihr Publikum an sich binden wollen und das auch können, weil sie zum Beispiel jede Woche eine Geschichte erzählen, an einer spannenden Stelle aufhören, sodass das Publikum natürlich wissen will, wie es weitergeht und den Fernseher pünktlich wieder einschaltet. Das ist einfache Aufmerksamkeitsökonomie. Mit der Digitalkultur und dem Streaming verändert sich diese Aufmerksamkeitsökonomie noch einmal, weil man nicht mehr den Zwang hat, einmal pro Woche, zum Beispiel freitags um 18 Uhr, vor dem Radio oder dem Fernseher sitzen zu müssen und dann wieder eine Woche auf das neueste Segment der Serie warten muss. Aber auch im Zeitalter des Streamings floriert das serielle Erzählen.

Norbert Reichel: Streaming ermöglicht Binge-Watching, nicht nur bei Serien, auch bei ganzen Filmen, zum Beispiel im Star-Wars-Franchise. Da gibt es Star-Wars-Nächte mit allem kommerziellen Aufwand drumherum. Die Geschichten werden aber auch komplexer, sie werden kaum noch linear erzählt. Es gibt höchstkomplexe Zeitstrukturen und -verschiebungen.

Joanna Nowotny: Das sind die Vorteile des Streaming. Die Narrative werden komplexer, weil man viele Stunden zur Verfügung hat, um sie zu entwickeln, und weil man sie niedrigschwellig mehrfach schauen kann. Man kann etwa zurückspulen, wenn man ein Element entdeckt, das man doch meint, schon einmal gesehen zu haben. Durchs Binge-Watching erkennt man es schneller, weil es nur ein paar Stunden her ist, dass man es gesehen hat. Das geht nicht, wenn etwas nur einmal pro Woche gesendet wird, nur einmal gesehen und auf lange Zeit auch nicht wieder angeschaut werden kann. Durch das Streaming kann die Komplexität gesteigert werden. Inhalte fürs Medium Fernsehen haben damit auch an Qualität gewonnen.

Norbert Reichel: Komplexität lässt sich beliebig erweitern.

Joanna Nowotny: Und man kann im seriellen Erzählen auch die Kontexte beliebig erweitern und historische und lokale Geschichten einbinden. Iron Man ist ein gutes Beispiel, mit der Verletzung seines Herzens, die ihn dann zu Iron Man macht, weil er nur dank des Metallanzugs überlebt. Die Grundlage ist zunächst der Vietnam-Krieg, später ist es Afghanistan. Dieses ewige Neu-Erfinden hat den Vorteil, dass man die Geschichte an neue Zeiten anpassen kann.

Das serielle Erzählen in der Form, die Geschichten über die immer gleichen Figuren erzählt, hat natürlich aber auch gewisse Gefahren – man möchte nicht, dass die Leute irgendwann müde sind, weil sie zum 50. Mal die fast gleiche Geschichte sehen oder lesen. Zum Beispiel die ständige Uncle-Ben-Geschichte bei Spider-Man, die in den neuen Filmen auch ironisch aufs Korn genommen wird. Ein anderes Problem ist der fehlende Überblick bei zunehmend komplexen erzählerischen Universen wie dem Marvel- oder dem DC-Universum der Superheld:innen.

Norbert Reichel: Der Wiedererkennungswert ist das eine, der Hang zu immer etwas Neuem das andere. Den Überblick wird aber inzwischen niemand mehr haben, bei all den Figuren, Kontexten und Entwicklungen der vergangenen über 80 Jahre.

Joanna Nowotny: Den Überblick hat tatsächlich niemand mehr. Die Verlage gehen auch unterschiedlich damit um. DC hat z. B. den Kurs sogenannt ‚harter reboots‘ gewählt, das heißt, dass alles, was vor einer bestimmten Geschichte geschah, als nicht mehr kanonisch erklärt wird (geschehen in den sogenannten ‚New 52‘). So kann man wieder bei null anfangen. Das hat auch mit Fankulturen zu tun. Die Fans wollen wissen: ‚Was ist wahr, was ist der Figur zugestoßen und was nicht, wie ist die Figur ‚wirklich‘, angesichts oft widersprüchlicher Geschichten?‘ Daher kommt das Bedürfnis zu bereinigen und aus der Position der ‚Autorität‘ der Verlage Ordnung zu schaffen. Natürlich gibt es immer Teile der Fankulturen, die sich Versuchen der Herstellung eines fixen Kanons seitens der Verlage widersetzen – nach dem Motto: ‚Was habt ihr mir denn zu sagen? Meine Lieblingsfigur ist so, wie ich möchte‘. Marvel hat keine solchen ‚reboots‘ gemacht, sondern konfligierende Erzählungen in einem Universum nebeneinander und konkurrierend stehen lassen.

Norbert Reichel: Ein weiterer Aspekt ist die Identifikation der Figuren mit den Schauspieler:innen. Es gibt bestimmte Schauspieler:innen, die inzwischen mit ihrer Figur verwechselt werden können. Ich denke zum Beispiel an Hugh Jackman als Wolverine, auch Gal Gadot als Wonder Woman. Es gibt Debatten in der Fanszene: Wer war der beste Batman? Viele Schauspieler:innen werden mit der Zeit auf ihre Figur so festgelegt, dass sie kein anderes Leben mehr haben.

Joanna Nowotny: Robert Downey Jr. als Iron Man ist auch ein gutes Beispiel. Leute, die solche Rollen spielen, sind zum Teil Oscar-Gewinner:innen wie eben die erwähnten Jackman und Downey Jr., aber auch Angelina Jolie, Christian Bale, Lupita Nyong’o, Ben Kingsley, Michael Douglas, Jared Leto oder Anthony Hopkins. Es ist nicht immer selbstverständlich, dass diese Geschichten, die in der Vergangenheit als kindlich, als infantil, als Trash oder Kitsch galten, heute von Regisseur:innen und Schauspieler:innen übernommen werden, die einen Leistungsausweis in sogenannter ernsthafter Hochkultur vorweisen.

Norbert Reichel: Ein gutes Beispiel für den Wandel einer Figur ist meines Erachtens die Entwicklung der Ur-Wonder-Woman, deren Gesicht, nicht allerdings ihr Outfit, geradezu ein Musterbeispiel des Kindchenschemas ist, zu Gal Gadot in den Filmen, die keine Reminiszenz an ein kleines Mädchen mehr zulässt, sondern als erwachsene Kriegerin auftritt. Dazu passt dann, wenn Gal Gadot in Interviews auf ihre Zeit in der israelischen Armee verweist.

Joanna Nowotny: Superhelden-Comics werden zu Beginn mit scheinbar kindlichen Figuren vorgestellt, aber eben auch von Erwachsenen gelesen. Sie florieren während der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Sie beziehen sich dann auch auf die Welt der amerikanischen Soldaten und werden an der Front verteilt. Deshalb kämpfen die Helden gegen die Nazis, die Achsenmächte. Superman schleift 1940 Hitler vor das Gericht des Völkerbundes, wo er für seine Verbrechen bestraft werden soll. Die Nazis reagierten darauf. Goebbels nannte Superman in einer Radioansprache „einen Juden“ und die Wochenzeitung der SS, „Das Schwarze Korps“, attackierte in ihrer Ausgabe vom 25. April 1940 Supermans Erfinder Jerry Siegel als „körperlich und geistig beschnittenen Israeliten“. Es gab mit der Zeit noch eine ganze Reihe von Superheld:innen, die Hitler und Hitler-Proxys bekämpften, beispielsweise seit 1941 Captain America, der als Super-Patriot inszeniert wird, eine Figur, die wegen ihrer schwächlichen Erscheinung erst einmal nicht mitkämpfen darf, dann aber durch ein Serum Superkräfte entwickelt. Der Comic „The Man of Hate“, eine ‚Biografie‘ von Adolf Hitler, die 1941 in einen Daredevil-Comic aufgenommen wurde, zeigt übrigens sehr deutlich Konzentrationslager. Die US-Regierung unterstütze Superhelden-Comics als Beitrag im Kampf gegen die Nazis und die Japaner. Das war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erst einmal vorbei. In den 1950er Jahren wird über die Comics unter dem Aspekt der Jugendgefährdung diskutiert.

Norbert Reichel: Ich erinnere mich gut daran, dass viele Kinder in den 1960er Jahren keine Comics lesen durften. Ich war eines dieser Kinder, aber ich las die griechischen und die germanischen Sagen. Wir stöberten natürlich umso gieriger in Comics, wenn wir welche bei anderen Kindern entdeckten.

Joanna Nowotny: Heute sind wir an einem ganz anderen Punkt. Wir reden über den Zeichenstil, darüber, wer in den Filmen mitspielt, und dass Kinder auch Comics lesen und Adaptionen schauen, ist hierzulande ziemlich selbstverständlich geworden.

Antinaturalistische Ästhetik und Medialität

Norbert Reichel: Comic-Elemente finden sich auch in Produkten, die nicht als Comic firmieren. Das betrifft beispielsweise „Lord of the Rings“, Space Operas wie „Star Wars“ mit den Jedi-Rittern, auch das Franchise „Star Trek!“, das keine Space Opera ist, aber gleichwohl Elemente dieses Genres integriert, Buffy the Vampire Slayer, Astérix, James Bond, die drei Musketiere ferner Filme, die der filmischen Hochkultur zugerechnet werden wie die Filme von Quentin Tarantino, vor allem „Kill Bill“ und „Inglourious Basterds“, oder der Coen Brothers, nicht zuletzt auch die von ihrem gleichnamigen Film inspirierte Serie „Fargo“. Dabei geht es um Erzählstrukturen, den Umgang mit Gewaltdarstellungen, den Charakter der Personen und ihres Equipments. Wie lassen sich diese verschiedenen Produktionen voneinander abgrenzen?

Joanna Nowotny: Eine erschöpfende und präzise Definition von Superheld:innen, die sie von allen anderen Typen abgrenzt, ist tatsächlich sehr schwer – gesucht nach ihr wurde oft. Alle Heldentypen stehen in bestimmten Traditionen. Tolkien hat sich sehr stark auf die germanischen und keltischen Sagen bezogen. Das Genre der High Fantasy zieht viel aus dieser Ecke. James Bond schließt an die Pulp-Romane des 20. Jahrhunderts an, die auf minderwertigem Papier gedruckt waren und am Kiosk gekauft werden konnten. Das sind keine Comics, sie hatten aber visuell entsprechende Titelbilder. Aus den Pulp-Heften kommen zum Beispiel Tarzan, Zorro, verschiedene Detektiv- und Agentenfiguren. James Bond als von Ian Fleming erfundene Buchfigur hat auch viel mit der Detektiv-Literatur zu tun, mit Sherlock Holmes und so weiter.

Die Helden haben viele eigene Traditionen, aber auch viel gemeinsam. Bei Batman beispielsweise haben wir zum ersten Mal einen Sherlock-Holmes-Typen, der eine Maske trägt, sich verkleidet, aber eben auch als „Greatest Detective“ wirkt. Das geht dann so: Nehmen wir einen Typen wie Sherlock Holmes, geben ihm eine Maske, große Muskeln und eine Doppelidentität (und viel Geld). Das Genre der Superhelden-Comics ist sehr flexibel und hat die Fähigkeit, sich alle möglichen Motive einzuverleiben. Deshalb gibt es auch diese verschiedenen unendlichen Universen, die so erfolgreich sind. Deshalb steht eine Figur, die der „Greatest Detective“ sein kann, neben einer Figur, die zaubern kann und aus Lord of the Rings stammen könnte. Es gibt ganz unterschiedliche Ecken und Dimensionen dieser fiktiven Welten. Das macht es so schwierig, die Superheld:innen von anderen Figuren abzugrenzen.

Manche sagen, Superheld:innen haben eben Superkräfte. Aber das trifft nicht auf alle zu. Ein Tony Stark als Iron Man hat üblicherweise keine Superkräfte, auch Batman nicht. Ihr Equipment kompensiert die fehlenden Superkräfte. Ein außergewöhnlicher Intellekt, wie ihn Sherlock Holmes hat, unterscheidet ihn ja auch von gewöhnlichen Menschen. Man müsste ergänzen: Sie haben Superkräfte, körperliche oder intellektuelle, oder sie haben eine entsprechende technische Ausrüstung. Es ist einfach sehr schwierig, Superheld:innen essenzialistisch zu definieren.

Ich persönlich ziehe eine Definition vor, die sich auf die Medialität und die Ästhetik des Genres bezieht. Zur Medialität gehört auch, dass die Geschichten über Jahrzehnte weitererzählt werden, dass eben seriell erzählt wird, und dies geschieht bei den Superheld:innen im visuellen Medium Comics. Dazu gehören extreme Körperinszenierungen, bei männlichen Figuren diese Muskelberge, hypertrophe Körperlichkeit, bei den weiblichen Figuren Hypersexualisierung, hypertrophe Weiblichkeit, große Brüste, schlanke Taille, auch den Konventionen der jeweiligen Zeit entsprechend. Alles extrem körperlich mit sehr engen Kostümen, oft mit sehr wenig Kleidung oder Kleidung, die durch das Anschmiegen an den Körper quasi alles sichtbar macht und die Körperlichkeit betont. Auch eine starke Farbigkeit gehört dazu. Diese kommt aus den Comics mit ihrem Vielfarbendruck, einer leuchtenden Primärfarbigkeit. Aber auch hier gibt es Ausnahmen: Christopher Nolans Batman sieht anders aus (ebenso wie die von Frank Miller geschriebenen Comics, auf die er sich bezog). Aber der ist auch der Dark Knight!

Ein weiterer Aspekt ist die emotionalisierende Darstellung bestimmter Gefahren, vor allem des Kampfes. Die Splash-Pages. Du blätterst um und hast eine Seite mit einer dramatischen Szene. Du hast eben schon Tarantino erwähnt. Der hat seine Erzählweise sehr stark aus den Comics übernommen.

Norbert Reichel: Tarantino ist purer Comic. Blut sieht in der Wirklichkeit doch nicht so aus wie in einem Tarantino-Film. Aber in einem Comic schon.

Joanna Nowotny: Zumindest ist es die Comic-Ästhetik. Man versucht das Publikum zu affizieren, im Comic mit den Splash-Pages, im Film dann zum Beispiel mit Szenen in Zeitlupe, wo man ganz genau sieht, was da in einem Augenblick des Kampfes geschieht. Man versucht, das Publikum so in den Bann zu ziehen.

Norbert Reichel: Das ist die Medialität von „Kill Bill“. Uma Thurman spielt im Grunde einen klassischen Comic-Star, mit allen Superkräften, die sie bei Pai Mei erlernt hat, wie sie sich beispielsweise aus dem Grab befreit, der ehemaligen Kollegin Elle Diver auch das zweite Auge ausreißt oder wie sie am Schluss mit dem Fünf-Finger-Griff das Herz von Bill zum Stillstand bringt. Das ist alles völlig irreal, aber eben nicht im Comic.

Joanna Nowotny: Eben dies zeichnet die Comics aus. Sie sind nicht naturalistisch gezeichnet. Es sind von Anfang an völlig künstliche, völlig überzeichnete Bilder, übertrieben, mehrfarbig, leuchtend, Blut sieht nicht aus wie Blut, spritzt auch nicht so. Es ist anti-naturalistisch. Diese medienspezifischen Elemente zeigen meines Erachtens sehr deutlich, wie sich das Genre der Superheld:innen-Comics von anderen Genres unterscheidet und natürlich auch, wie es andere Genres beeinflusst.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2024, der zweite Teil erscheint im Dezember 2024. Internetzugriffe zuletzt am 27. Oktober 2024. Titelbild: Jerry Siegel 1943 während seines Dienstes in der US-Army auf Hawaii, Foto: US Army. Wikimedia Commons.)