Tipping Points

Ein Plädoyer für mehr Bereitschaft zu komplexem Denken  

„Mit jedem Wort, das wir in den Mund nehmen, mit jeder Metapher, die wir heranziehen, mit jeder Redewendung, die wir bemühen, gestalten wir die Welt mit. Nun lehrt die Erfahrung, dass das gelebte Leben seine folgenschweren Kipp- und Wendepunkte oft erst verzögert offenbart. Momente, die im unmittelbaren Erleben harmlos wirken, entfalten erst im Rückblick ihr schicksalhaftes, zwangsläufiges Potenzial. Die Geschichtsschreibung – ob nun die der eigenen Biografie oder die der globalen Erdnutzung, die nur schwer von der Umweltzerstörung abzugrenzen ist – identifiziert die Dreh- und Angelpunkte erst im Nachhinein.“ (Judith Schalansky, Schwankende Kanarien, Berlin, Verbrecher Verlag, 2023)

In „Schwankende Kanaren“, ihrer Rede zum Erhalt des W(  )RTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreises, die der Verbrecher Verlag veröffentlichte, erinnert Judith Schalansky, von Liebhaber*innen guter und schöner Bücher als Herausgeberin der „Naturkunden“ geschätzt, an die in Kohleminen gehaltenen Kanarienvögel, die so früh von ihrer Stange fielen, dass den Kumpeln noch genug Zeit blieb, die Mine zu verlassen. Diese Kanarienvögel gelten als Symbole für die Festlegung von Kipppunkten, von Tipping Points, bei denen unbedingte und unverzügliche Umkehr erforderlich ist, weil es danach keinen Return, keine Rückkehr in sichere Gefilde mehr gibt.

Kipppunkte gibt es nicht nur physikalisch, beispielsweise in Kohlegruben oder bei abschmelzenden Gletschern und Eiskappen, es gibt sie auch in der Gesellschaft. Besonders gefährdet sind die Institutionen des Rechtsstaats und Garanten der Gewaltenteilung, die Gerichte und die Polizei, wie wir bereits in Ungarn und in Polen beobachten können, noch im Versuchsstadium in Israel, aber auch bei der Besetzung von Gerichten in den USA. Wenn Legislative und Exekutive die Macht erhalten, die Judikative zu kontrollieren, wird es gefährlich, und wenn sie diese nutzen, um die Medien und eine unabhängige Wissenschaft aus- um nicht zu sagen gleichzuschalten, ist der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat ernsthaft bedroht. Die hybride Fantasie einer „illiberalen Demokratie“ enthüllt ihr autoritäres Gesicht. In einem Interview mit Ronen Steinke sagte die Verfassungsrechtlerin Nora Markard (Universität Münster) zum Thema der Besetzung der Stellen von Richter*innen: „Mir scheint, wir unterschätzen manchmal, wie viel in unserem politischen System bislang nur deshalb so gut funktioniert, weil die Akteure sich demokratischen Umgangsformen verpflichtet fühlen.“

Wann kippt wo was?

Wir haben es nicht immer so leicht wie die Kumpel angesichts der Kanarienvögel. „Das Bild des Kanarienvogels schwankte. Die Metapher mochte griffig sein, aber sie half nicht weiter, weil die Welt nun einmal keine Grube ist (….)“, obwohl es durchaus genügend Gruben gibt, in die Menschen hineinfallen könnten und möglicherweise auch hineinfallen dürften, wenn sie auf ihrem bisherigen Verhalten beharren. Judith Schalansky nennt die Bedrohungen der Klimakrise durch ein Zuviel an Kohlendioxid, die „die Bedingungen für das Leben so gravierend verändert, dass die Zukunft nicht nur ein ungewisser, sondern ein beängstigender Ort geworden ist.“

Historiker*innen – so fährt sie fort – können im Nachhinein „Dreh- und Angelpunkte“ beschreiben, Künstler*innen – so argumentiert sie mit Kurt Vonnegut – sind vielleicht geeigneter, denn es geht eben nicht nur um physikalisch beschreibbare Kipppunkte. Künstler*innen „kippen um wie Kanarienvögel in vergifteten Kohlebergwerken, lange bevor robustere Typen überhaupt eine Gefahr erahnen.“ Diesen Satz entnahm sie einer Rede von Kurt Vonnegut vor der American Physical Society.

Und Journalist*innen, Wissenschaftler*innen – so ließe sich ergänzen. Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, Demonstrant*innen, die sich mitunter recht endzeitlich klingende Namen geben – sie alle signalisieren Kipppunkte. Die Reaktion mehr oder weniger autoritärer Politiker*innen, in die sich bei entsprechender Verunsicherung auch demokratische und liberale Politiker*innen verwandeln, allen voran diejenigen, die ein Innenministerium leiten dürfen, ist bedenklich. Sie ziehen es vor, die Überbringer*innen der Nachrichten der Panikmache zu bezichtigen und oft genug auch zu kriminalisieren. Die Methoden radikaler Klima-Gruppen – „radikal“ im Sinne von Karl Marx, das Übel an der Wurzel packen – wie der Letzten Generation oder Extinction Rebellion lassen sich vielleicht – analog zu früheren Aktionen des Zentrums für politische Schönheit – als Kunstaktionen verstehen, aber sie sprechen eine Sprache, die im Allgemeinen kaum jemand versteht oder vielleicht auch niemand verstehen will. Einige – zum Glück nur wenige – Staatsanwaltschaften prüfen, ob es sich bei der Letzten Generation um eine kriminelle Vereinigung handelt, im Vereinigten Königreich dürfen Menschen inzwischen von der Polizei im wörtlich zu nehmenden Sinne aus dem Verkehr gezogen werden, wenn sie sich demonstrativ langsam auf einer Straße bewegen und Autos an ihrem üblichen Tempo hindern. Spazierengehen als Straftatbestand? Es gab in den letzten Jahren auch in Deutschland mehrfach Demonstrationen, deren Teilnehmer*innen sich als „Spaziergänger*innen“ (natürlich ungegendert!) bezeichneten.

Da scheint in der Tat etwas zu kippen, nicht nur das Klima, sondern auch unser aller Verhältnis zum freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. Wann dieses kippt und wie ist jedoch schwer prognostizierbar. Immer wieder werden Daniel Ziblatt und Seven Levitsky mit ihrem inzwischen zum Politik-Klassiker gereiften Buch „Wie Demokratien sterben“ zitiert, das 2018 in den USA erschien und sehr schnell auch in verschiedene Sprachen, so auch das Deutsche, übersetzt wurde. Demokratien sterben langsam, es ist ein schleichender Tod. Im Vergleich ist Ungarn schon ein paar Schritte weiter als Polen und in Polen ist die Bedrohung wiederum um einiges akuter als in Deutschland. Thomas Biebricher hat in seinem Buch „Mitte / Rechts“ (Berlin, Suhrkamp, 2023) in drei Fallstudien zu Italien, Frankreich und Großbritannien beschrieben, wie vormals konservative Parteien entweder durch rechtspopulistische bis rechtsextremistische Parteien abgelöst werden oder sich – wie im Vereinigten Königreich – eigenständig in eine solche Partei verwandeln.

Vielleicht lassen sich naturwissenschaftlich belegbare Kipppunkte weitestgehend datieren, Kipppunkte in einer Gesellschaft jedoch nicht, denn die Zahl der Unwägbarkeiten, mit denen Politik- und Sozialwissenschaften rechnen müssen, ist um ein Vielfaches höher als in den Naturwissenschaften. Dazu sind gesellschaftliche Vorgänge viel zu komplex. Es hilft aber nichts, wenn Politiker*innen diese Komplexität beklagen und zur Vereinfachung aufrufen. Eigentlich wäre es ihre Aufgabe, diese Komplexität zu erkennen und auch zu kommunizieren. Dies überlassen sie jedoch gerne Wissenschaftler*innen, die sie dann aber ebenso gerne wieder relativieren, unter dem Vorwand, sie wollten ja niemanden verunsichern. Sie selbst ergehen sich mitunter in Allmachtsphantasien und verkünden selbstsicher, dass sie – im Unterschied zu allen anderen – doch die (bestimmter Artikel!) Patentlösung hätten. Mit diesem Habitus fordern sie aber vor allem eines: Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten, Krisen zu bewältigen. Wer ihnen misstraut, wird schnell zum „Systemgegner“ erklärt, und dies oft in einer derart aggressiven Ansprache, dass man letztlich gar nicht mehr unterscheiden kann, wer denn nun die wahren und eigentlichen „Systemgegner“ sind, nämlich diejenigen, die den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat abschaffen wollen.

Es gilt für beide Seiten: Fundamentalkritik ist immer erfolgreicher als jeder auch noch so irreale oder reale Alternativvorschlag. Es war kein Zufall, dass die einzige Partei, die sich in Italien nicht an der von Mario Draghi geführten Fast-All-Parteien-Regierung beteiligte, jetzt die Ministerpräsidentin stellt, die es sogar versteht, ihre beiden Koalitionspartner zu disziplinieren und inzwischen ironischerweise außen- und verteidigungspolitisch zu den verlässlichsten Partnern in EU und NATO gehört. Es war auch kein Zufall, dass in dem zugegeben sehr kleinen Kreis Sonneberg die Phalanx der demokratischen Parteien gegen die Partei, die fundamental gegen alle antrat, unterlag. Die italienischen Entwicklungen ergeben sich nicht zwangsläufig, wenn rechte und rechtsextremistische Parteien Regierungsverantwortung übernehmen. Das lässt sich im Kleinen bereits beobachten. Kommunen, in denen AfD-Politiker in führenden Positionen agieren konnten, schikanieren als erstes Journalist*innen. Anna Ernst und Cornelius Polmer haben am 30. Juni 2023 in der Süddeutschen Zeitung dies in ihrem „Überblick in düsteren Szenen“ dokumentiert. Ich wage nicht daran zu denken, was möglicherweise ein*e AfD-Bürgermeister*in in Stadtbibliotheken oder AfD-Minister*innen in Lehrplänen und Schulbüchern anrichten könnten. Einen Vorgeschmack böte vielleicht in Blick nach Florida oder nach Ungarn, Polen oder Russland.

Der Tag wird vielleicht kommen und die Auseinandersetzungen um das Gebäudeenergiegesetz (vulgo: Heizungsgesetz) werden als Lehrbeispiel in diversen Politiklehrbüchern erscheinen, vielleicht sogar als Absurdität wie manchen der vor etwa 10 bis 15 Jahren eskalierte Streit um das Verbot von Glühbirnen und Rauchverbote heute erscheinen mag. Ein entscheidender Unterschied zur damaligen Zeit besteht allerdings darin, dass es damals keine fundamentalistische den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat grundsätzlich in Frage stellende Partei gab, die bei Wahlen als stärkste oder zumindest zweitstärkste Partei abzuschneiden drohte.

Ob die Wahl eines Landrats in Sonneberg (Thüringen) ein Kipppunkt war, wird sich noch zeigen, zumindest wurde sie in Politik und Medien als solche beschworen, durchaus mit einem „Nie-Wieder“-Unterton, der aber recht erfolglos zu sein scheint. Eine Woche später siegte bei der Bürgermeisterwahl in Raguhn-Jeßnitz (Sachsen-Anhalt) erneut der AfD-Kandidat, ein Mann, der sich für die Feuerwehr einsetzen möchte, während der Kandidat in Sonneberg sich in Fundamentalkritik erging und offenbar glaubte, von Sonneberg aus den Krieg in der Ukraine samt Waffenlieferungen und jede Bürger*innen verstörende Klimapolitik beenden zu können.

Reduzierte Komplexität

Die Wirtschaftswissenschaftlerin Monika Schnitzer, Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, benannte das Dilemma in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 3. Juli 2023: „Die Komplexität ist in der Tat ein Riesenproblem. Und sie wird noch größer, wenn man immer noch komplexere Regeln aufstellt, um alle politischen Akteure zufriedenzustellen. Das kann man kaum noch vermitteln, siehe Heizungsgesetz. Ich würde auch erwarten, dass die Opposition konstruktive Alternativen entwickelt, statt sich damit zu begnügen, tatsächliche oder vermeintliche Fehler der Regierung auszuschlachten. Parteien, die wieder in die Regierungsverantwortung wollen wie CDU und CSU, sollten auch selbst Lösungsvorschläge auf den Tisch legen.“ Friedrich Merz hingegen kündigte an, einfacher kommunizieren zu wollen, und jemand, an den sich eigentlich kaum noch jemand erinnert, der ehemalige EU-Kommissar Günter Öttinger, schaffte es in die Medien, weil er Deutschland als „failed state“ bezeichnete und damit in eine Reihe mit Somalia und Libyen rückte. Und wer übersieht, dass eine angekündigte „Agenda für Deutschland“ in der Abkürzung etwas ergibt, was man eigentlich gar nicht befördern möchte, hat – so hieß das früher in Schulaufsätzen – das Thema verfehlt.

Gemeinsam ist allen, die eine zu ambitionierte Politik zum Schutze des Klimas kritisieren, dass sie den Eindruck erwecken, es wäre alles nicht so schlimm, wir hätten Zeit, der Durchbruch bei der Kernfusion stünde kurz bevor und so weiter. Bei der Migrationsdebatte ist es umgekehrt. Hier sind Politiker*innen und Bevölkerungen sehr schnell bereit zu verkünden, dass es ein Zuviel gäbe, auch wenn es noch lange kein Zuviel gibt. Bei einer Bevölkerung von 80 Millionen Menschen sind selbst eine Million Zugewanderte nicht viel. Da sieht die Welt in der Türkei, im Libanon, in Jordanien und in manchen Nachbarländern verschiedener afrikanischer Staaten, inzwischen auch in manchem Nachbarstaat des heutigen Russlands, zum Beispiel in Georgien und in Kasachstan, anders aus.

Empfehlenswert ist in diesem Zusammenhang das Buch von Parag Khanna: „Move“ (Berlin, Rowohlt, 2021) Er beschreibt ein Szenario mit der nicht unwahrscheinlichen durchschnittlichen Erwärmung der Erde um etwa vier Grad, die viele Länder unbewohnbar mache. Er nennt allerdings auch ausgesprochen interessante Wege der Anpassung, Voraussetzung wäre die konstruktive Akzeptanz von Migration. Monika Schnitzler und ihre vier Kolleg*innen sprechen von 1,5 Millionen zuwandernden Menschen, die wir bräuchten, um unsere Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Vor wenigen Wochen war noch von 400.000 Menschen pro Jahr die Rede. Die Zusammenhänge zwischen Klimakrise und Migration hat Benjamin Schraven in seinem Buch „Klimamigration – Wie die globale Erwärmung Flucht und Migration verursacht“ (Bielefeld, transcript, 2023) analysiert.

In den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (und im Vereinigten Königreich) möchte man auch nicht hören, welche Erfolge Eingewanderte in ihren Aufnahmeländern bewirken. Nur Probleme, die hört man gerne. Ich will nicht den paternalistischen Begriff der „Bereicherung“ bemühen, der sich in so viele Feierstundenreden hineinschmuggelt, sondern Fakten zitieren: die OECD hat im Juni 2023 eine Studie veröffentlicht, die der Berliner Tagesspiegel mit der Überschrift würdigte: „Die öffentliche Meinung spiegelt die gewaltigen Fortschritte nicht wider.“

Eine solch einseitige Fixierung auf die Defizite und die schlechtenNachrichten betrifft auch die Fortschritte in den östlichen Bundesländern. Christian Bangel verwies am 26. Juni 2023 auf ZEIT Online auf die undifferenzierte Wahrnehmung der Entwicklungen im Osten: „Wer öfter in den Städten des Ostens unterwegs ist, der weiß, dass die politische Landschaft dort weit komplexer ist, als es die Rhetorik von AfD und auch CDU vermuten lassen. Auch deswegen wäre es ein demokratisches Desaster, wenn dieser Wahl ein weiterer Rechtsrutsch der CDU im Osten folgen sollte.“ Nicht nur CDU, auch SPD und Grüne – vor allem im Westen – werden nicht müde, den ach so rückständigen Osten zu beschwören. Die Verkaufszahlen des Buches von Dirk Oschmann – eine West-Ost-Analyse der Verkaufszahlen wäre vielleicht aufschlussreich – sind das Ergebnis. Es entsteht die Perpetuierung einer Opferrolle, in die sich immer mehr Menschen hineinresignieren, mit dem Ergebnis, dass sie diejenigen wählen, die einfach nur noch dagegen sind, gegen was auch immer, zumindest gegen das, wogegen man selbst jammert und was man selbst nicht haben will. Nicht nur im Osten, auch im Westen. Konstantin Petry hat dies in der Juli-Ausgabe 2023 des „Merkur“ treffend analysiert.

Werte hinter Mauern und Zäunen

Die Ablehnung jeglicher Migration gehört zur Kern-Identität rechter und rechtsextremistischer Parteien und Organisationen. Demokrat*innen haben bisher kein Mittel gefunden, dieses Thema zu dominieren. Zumindest verhalten sie sich ausgesprochen ungeschickt. Volker M. Heins und Frank Wolff verwiesen in ihrem Essay „‚Festung Europa‘ oder: Was die Mauern mit uns machen“ (Blätter für deutsche und internationale Politik Juli 2023) auf ein Twitter-Foto der Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages Katrin Göring-Eckardt, in dem sie sich „mit uniformierten polnischen Grenzschützern vor dem fünfeinhalb Meter hohen Stahlzaun an der Grenze zwischen Belarus und Polen“ zeigte und sagte: „Unsere europäischen Werte zeigen sich auch daran, wie wir an unseren Grenzen agieren.“ Ob sie die Doppeldeutigkeit, die sich aus der Kombination von Bild und Ton ergibt, bemerkt hat, wurde nicht überliefert. Die beiden Autoren kommen zu dem Schluss: „Schleichend und unauffällig beschädigen die neuen Mauern um Europa die demokratische Gesellschaft. Sie schaffen eine Situation, in der die liberale Demokratie ihre eigenen Regeln bricht.“

Getrieben von Rechtsextremist*innen und -populist*innen haben konservative und sozialdemokratische Parteien den euphemistisch „Asylkompromiss“ genannten Beschluss der Europäischen Union vom 8. Juni 2023 herbeigeführt. Dass deutsche Grüne larmoyant verkünden, das hätte nie beschlossen werden dürfen, wird an der Sache nichts ändern. Man distanziert sich ein wenig von der Regierung, in der man regiert. Nicht so lautstark wie das die FDP bei den Klimaschutz betreffenden Beschlüssen tut, aber immerhin, die Grünen sind auch noch da. Die Forschungsinstitute, die sich in Migrationsfragen auskennen, sagen bereits jetzt, dass dieser sogenannte „Kompromiss“ das Problem nicht löse. Ebenso wie der Brexit die Migration nach Großbritannien nicht verminderte. Allein am Mittelmeer werden seit 2014 nach Angaben des Missing Migrant Projects, ein Projekt der International Organization for Migration (IOM) etwa 28.000 Menschen vermisst (auch ein Euphemismus, als wenn es möglich wäre, sie alle wiederzufinden). Heinrich Wefing sprach am 22. Juni 2023 in der ZEIT von einer „Grenze des Grauens“. Thomas von der Osten-Sacken verwies am 9. Juli 2023 auf mena-watch und in Jungle World darauf, dass tunesische „Sicherheitskräfte“ Geflüchtete in Busse verfrachten und an der libyischen Grenze in der Wüste aussetzen. Die EU schaut weg und umwirbt Tunesien als Vorposten der „Festung Europa“. Die Zeiten, in denen wenigstens Europäer*innen die Genfer Flüchtlingskonvention respektierten, gehören der Vergangenheit an.

Die demokratischen Parteien drohen angesichts ihres Unwillens, die Kipppunkte, die sich in einem solchen Verhalten ankündigen, wahrzunehmen, zu scheitern. Albrecht von Lucke sprach in seinem Editorial der Juli-Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ von einem „Konjunkturprogramm“ für die Rechte. Der Kanzler schweigt, die FDP ist laut, die BILD-Zeitung lauter, die CDU/CSU schwadroniert über Gendersternchen statt über den Klimawandel und spricht schon gar nicht darüber, wie Klimawandel und Migration vielleicht miteinander zusammenhängen. Könnte ja schwierig werden. Eine taz-Recherche geht noch einige Schritte weiter und spricht von einer „Klimasabotage“ durch die Union. Kann man so sehen, aber dahinter steckt eigentlich nicht mehr und nicht weniger als der Versuch, das zu replizieren, was man offenbar als so etwas wie ein „gesundes Volksempfinden“ identifiziert zu haben glaubt. Politik lässt sich von Umfragen treiben, die sie selbst bewirkt hat. Rhetorik macht Politik und schafft ihre Frames.

Bernd Ulrich mahnte am 22. Juni 2023 in der ZEIT unter der Überschrift „Packt die Badehosen ein“ an, es wäre doch eigentlich an der Zeit, sich von „Halbwahrheiten“ zu verabschieden. Anders gesagt: die demokratischen Parteien können nur gewinnen, wenn sie die ganze Wahrheit sagen. Aber es sind mehrere Wahrheiten, die offen ausgesprochen werden müssten: die eine ist die Wahrheit über den Klimawandel, die zweite die Wahrheit über die Migration, die dritte über den Zusammenhang zwischen einem Klimawandel, der ganze Länder unbewohnbar macht und den daraus resultierenden Migrationsdruck, die vierte, fünfte, sechste, das sind die Wahrheiten über die Interessen, die die jeweilige politische Position leiten. Stattdessen wird geradezu verschleiert, wer wessen Interessen vertritt. Es wird so getan, als wäre doch alles, was man will und tut, im Interesse des Allgemeinwohls. Das glaubt jedoch kaum noch jemand, sodass stets unterstellt wird, vor allem den Regierungen, sie verfolgten eine Hidden Agenda. Verschwörungserzählungen sind da nicht fern, sie haben es leicht in diesem politischen Klima und es ist dem vereinten Einsatz von diversen Medien und politischen Parteien gelungen, das Interesse an einem wirksamen Klimaschutz als Interesse einer grünen Familienlobby zu diffamieren. Den Grünen gelingt es hingegen nicht, die Interessen, die die mit ihnen konkurrierenden Parteien vertreten, zu demaskieren. Stattdessen gehen sie in Sack und Asche, heben verschämt den Finger und fordern, auch Familien, Frauen und Kinder von der Internierung in Lagern an den Außengrenzen auszunehmen. Was mit den jungen Männern geschieht, interessiert sie auch nicht mehr als die anderen Parteien, diese werden offenbar auch von ihnen als Bedrohung wahrgenommen. Hauptsache, das FLINTA-Frühstück im Kreisverband findet ungestört statt.

Die Außenministerin postet schöne Fotos mit Frauen und Mädchen in Kolumbien, aber zur Frage, wie Klimaveränderungen und Migration zusammenhängen, hat auch sie bisher kaum ein Wort verloren. Möglicherweise verpassen die Grünen einen anderen Kipppunkt, nämlich den, die Regierung zu verlassen. Das wäre zwar möglicherweise Selbstmord aus Angst vor dem Tod, aber niemand vermag vorherzusagen, wann die zurzeit steigenden Zahlen von Parteiaustritten und schwächelnde Wahlergebnisse bei den anstehenden Landtagswahlen die Nervosität so steigen lassen, dass es tatsächlich dazu kommt. So wie es zurzeit aussieht, scheinen die Grünen eher das zu praktizieren, was Helmut Kohl im Jahr 1989 – vor dem Mauerfall – mit einem seiner genialen Versprecher über den damaligen Zustand seiner Koalition mit der FDP sagte, man werde „pfleglich miteinander untergehen“.

Die interessantesten Parteien sind zurzeit in der Tat die Grünen und die CDU. Der beginnende Streit um die Kanzlerkandidatur (gendern muss man das hier nicht) in der CDU wird noch manche Kommentare hervorbringen. Markus Söder ist vielleicht der einzige Regierungschef von CDU und CSU, der eine Mehrheit ohne die Grünen zustande bringt. Stefan Grönebaum, Pressesprecher von Johannes Remmel, als dieser 2010 das nordrhein-westfälische Umweltministerium übernahm, und heute Referatsleiter in dem wiederum von einem grünen Minister geführten Ministerium schrieb in der Juli-Ausgabe der „Blätter“ über das „Dilemma der Grünen“: „Letztlich fehlt es den Grünen an Konzepten, wie man auf eine derart brutale Verhinderungskampagne der fossilen Lobbys und reaktionären Kräfte antwortet.“

Dieser Satz ließe sich noch als Wahlkampfparole abtun, aber das Problem geht tiefer, die Grünen – so Stefan Grönebaum – sind nur das Symptom einer deutschen Krankheit, sie sind weder Ursache noch Therapie: „Deutschland und sein politisches System scheinen in einer Politikfalle zu stecken, nicht, weil man wie in Frankreich zu sehr auf den Staat setzt, sondern weil man den Staat erst hat ausbluten lassen und ihm nun nicht mehr zutraut, Auswege aus der historischen Krise zu finden. / Die Grünen sind damit in ihrer derzeitigen desolaten Lage nur der Ausdruck einer Gesellschaft, die sich in ihren ökonomischen und politischen Strukturen heillos verhakt hat.“ Ginge es um die Abschaffung der Prügelstrafe, würde wahrscheinlich über die Dicke des zum Vollzug vorgesehenen Stocks gestritten. Das eigentliche Kernproblem bliebe im durchaus wörtlichen Sinne außen vor, und so ist es auch mit dem Themenbündel Klima und Migration.

Prekäre Arbeitsteilung in der Ampel

Uwe Schimank hat in der Juli-Ausgabe des „Merkur“ einen interessanten Ansatz formuliert, der vielleicht eine Lösung sein könnte, vorausgesetzt er wird auch so kommuniziert. In seinem Essay „Die drei Integrationsprobleme moderner Gesellschaften“ versteht er die Ampel-Koalition als die zurzeit tatsächlich zeitgemäße Regierung. Die drei Parteien vertreten – vereinfachend gesprochen – mit ihrem jeweiligen Markenkern die drei Grundfragen, die für eine zukunftsfähige und nachhaltige Entwicklung beantwortet werden müssten: das Soziale (SPD), die Wirtschaft (FDP), die Ökologie (Grüne), in den Begriffen Uwe Schimanks: „Sozialintegration“, „Systemintegration“ und „ökologische Integration“. Und damit sind wir wieder bei der Frage nach der Komplexität: „Liegt die Fragilität einer solchen Koalition dann womöglich weniger an den zumeist dafür als Tatsachen herangezogenen kontingenten personellen Besetzungen, tagespolitischen Ereignisse und Pfadabhängigkeiten der deutschen Parteienlandschaft als vielmehr daran, dass die Hyperkomplexität des zu bewältigenden Problemknäuels strukturell fortwährenden Streit über den richtigen Weg generiert?“

In dieser „Hyperkomplexität“ sind „Entscheidungsunsicherheiten“ die natürliche Folge. Es geht damit nicht mehr um die Frage, worüber wir kommunizieren, sondern wie wir dies tun. Es ist eine Frage der Frames der Migration, der Ökologie, der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung. Es hat im Grunde schon viel zu lange gedauert, dass alle Debatten ausschließlich in ihren Auswirkungen auf jeden einzelnen Menschen persönlich diskutiert wurden und eben nicht in ihren systemischen Zusammenhängen. Es ist kein Wunder, dass niemand mehr weiß, welche Relevanz welche Maßnahme wann haben könnte. Die technischen Details, die der erste Entwurf des sogenannten „Heizungsgesetzes“ enthielt, waren dabei genauso wenig hilfreich wie es die Beschwörung zukünftiger unausgereifter und zum Teil noch gar nicht erforschter beziehungsweise nur unzureichend umsetzbarer Technologien (Kernfusion, Wasserstoff, E-Fuels etc.) war. Nichts tun, alle in Ruhe lassen, das war auch die Botschaft der AfD, mit der sie in den Umfragen reüssiert.

Uwe Schimank benennt das Dilemma, es sei eben „sehr schwer festzumachen, welches Ausmaß an Desintegration, als Nichtnachhaltigkeit, noch gesellschaftlich aushaltbar ist, mit welchen Kosten und für wie lange – und wann Kipppunkte irreversibel überschritten werden.“ Umso wichtiger ist es, sich über „Nebenfolgen“ und „das Risiko des Scheiterns“ zu verständigen. Oder – wie Thomas Biebricher als Motto seines Buches „Mitte / Rechts“ in den Worten des Fürsten Salina in Tomasi di Lampedusas „Il Gattopardo“ formuliert: „Damit alles bleibt wie es ist, muss sich alles ändern.“ Im „Gattopardo“ formuliert diesen Satz der Repräsentant einer untergehenden Klasse und damit haben wir eine weitere Dimension des Komplexitäts-Dilemmas, in den Worten Uwe Schimacks: „Doch je mehr sich alle Beteiligten der Prekarität dieser Balance und der zugrundeliegenden Wirkungszusammenhänge bewusst sind, desto wahrscheinlicher wird es, dass sie versuchen, ihre Handlungsmöglichkeiten in stabilisierender Absicht zu nutzen.“

Eben dies betreiben Rechts-, Mitte- und Linkspopulisten: sie geben vor, sich um „Stabilität“ zu sorgen und verhindern damit die Entwicklungen, die geeignet wären – bei allen Risiken, bei allen Unwägbarkeiten –, diese „Stabilität“ zu schaffen, auch wenn sie immer eine vorläufige „Stabilität“ sein wird. Letztlich ist dies eine neue Spielart einer „Balance of Powers“. Die heutigen politischen Debatten scheinen diese Balance zu verlieren, indem sie vorwiegend auf einen Mix von Stillstand und Repression setzen und lieber den Boten der schlechten Nachricht zu Fall bringen als sich der eigentlichen Verantwortung zu stellen. Dann sind Unruhen die notwendige Folge: „Das gilt insbesondere dann, wenn unübersehbar wird, dass begüterte Gruppen sich all das weiterhin leisten können. Solche neuerlich aufreißenden Ungleichheiten führen schnell zu Verbitterung, Neid und letzten Endes Wut.“ Deutschland ist nicht Frankreich, aber man muss nicht unbedingt Autos anzünden, um seiner „Wut“ Ausdruck zu geben. In Deutschland reicht schon ein angekündigtes Kreuzchen für den Wahltag. Abgesehen davon: die jungen randalierenden migrantischen Franzosen leben in realen prekären Verhältnissen, das tun die Wähler*innen der AfD nicht, ihr Ungleichheitsgefühl ist ein Gefühl, nicht mehr und nicht weniger.

Das heißt nicht, dass es in Deutschland keine Ungerechtigkeiten gibt. Wenn Parteivorsitzende und andere Millionäre mit ihren Privatflugzeugen eine Party besuchen, fragen sich doch manche, warum ihnen ein Urlaubsflug madig gemacht werden soll. Sighard Neckel benennt am 4. Juli 2023 im Tagesspiegel das Ergebnis einer solchen Schieflage, so sei „es den ärmeren zwei Dritteln zu verdanken, dass die Gesamtemissionen in Deutschland zwischen 1991 und 2019 merklich gesunken sind. Die Emissionen dieser Haushalte sanken um mehr als 34 Prozent. Das reichere Drittel hingegen sparte viel weniger an Treibhausgasen ein, beim reichsten ein Prozent weisen die Emissionen weiterhin ungebrochen nach oben.“ Lob erhalten die weniger reichen zwei Drittel der Bevölkerung für ihre Anstrengungen jedoch nicht. Stattdessen haben sie den Eindruck, sie würden noch dafür beschimpft, dass sie nicht genug täten. Insofern sollte sich niemand wundern, wenn ein Hubert Aiwanger aufrührerische Reden hält, in einem Ton, von dem noch niemand weiß, ob und wenn ja welche und wessen Taten folgen werden. In Deutschland manifestiert sich dieses Gefühl, es gehe ungerecht zu, noch scheinbar recht zivilisiert, in Umfragen und Wahlergebnissen. Vorerst.

Welche Rolle CDU/CSU und Linke als demokratische Oppositionsparteien in diesem Konzert spielen könnten und welche sie nicht spielen sollten, liegt eigentlich auf der Hand. Aber wenn ein Parteivorsitzender die Rede Claudia Pechsteins für „brillant“ erklärt, verrät er nicht nur sein Desinteresse an einer nachhaltigen Politik, sondern auch die Traditionen einer großen konservativen Partei. Nils Minkmar warf der Partei am 19. Juni 2023 in der Süddeutschen Zeitung vor, dass sie sich in Nebenschauplätzen wie einem Kulturkampf gegen Gendersternchen ergehe und damit – auch er zitiert Thomas Biebricher – das Spiel der Rechten spiele. Damit befindet sie sich in bekannt schlechter Gesellschaft, beispielsweise der von Ron DeSantis, der „lieber gegen Micky Maus als gegen die Erderwärmung“ kämpft und glaubt, er vertrete damit traditionelle Familienwerte. „Um noch zu bewahren, was zu bewahren ist, braucht es einen aufrichtigen Konservatismus, der dem Wandel einen verständlichen, europäischen Rahmen gibt. Das Drumherummogeln lässt nur lächerliche Themen übrig. Es ist in der Politik wie im privaten Leben – das sagte Helmut Kohl oft. Hier wie dort gilt, dass auch dauerhafte Unterforderung die Lebensgeister lähmt. Es gibt eben noch mehr im Leben als Gendersternchen.“ Daran sind Liberale und Linke nicht so ganz unschuldig, aber es wäre fatal, wenn man sagen müsste, dass jede Regierung die Opposition bekäme, die sie verdient. Man sollte auch nicht vergessen: für diejenigen, die AfD wählen, gehört die CDU, selbst dort, wo sie nicht regiert, zur Regierung.

Die Türen des Teufels

Der Teufel kommt nie zwei Mal durch dieselbe Tür, aber sein Geruch ist immer wieder präsent. Ines Geipel spricht am 6. Juli 2023 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom „Traumagesetz der Diktaturen“: „Die AfD hat einen Plot entwickelt, der das Erzählloch des Ostens auffüllt. Eine Art Wesen, ein neuer Akteur, voller Sätze, die zumeist gar keinen Sinn ergeben. Auch die Gefühle, die mit den Sätzen zu tun haben, scheinen sich über die Jahre verloren zu haben. Aufarbeitungsforscher, die in postsowjetischen Nachgesellschaften wie Bulgarien oder Kirgistan unterwegs sind, schildern von dort dasselbe Phänomen: Wo das Extrem einst stattfand, ist es unter entsprechendem Druck wieder aufrufbar: die Angst, die Apathie, das Chaos, der innere Kollaps. Geschichte rutscht ineinander, Länder kippen, Gesellschaften implodieren. Das ist das Traumagesetz der Diktaturen oder auch das lange Ding mit der Unerinnerbarkeit. Eine Frau auf der Straße in Sonneberg sagt: ‚Ich habe zehn Jahre gegengehalten, aber es geht nicht mehr. Sollen sie doch machen, was sie wollen.‘ Die Stimmung in der Stadt ist geduckt, vermint. Ein Mann sagt: ‚Die sind hier mit großem Kaliber rein. Das war nicht zu schaffen. Das läuft ganz nach Plan.‘ An der Tankstelle ruft ein Mann: ‚Ich komme erst wieder tanken hier, wenn die NSDAP regiert.‘ Es ist ‚das Prinzip des Unerinnerbaren als Operationsmaterial‘. Ist es ein Zufall, dass die FAZ auf derselbe Seite die gerade eröffnete Ausstellung des NS-Dokumentationszentrums zum Ringelblum-Archiv aus dem Warschauer Ghetto bewirbt? Unerinnerbar?

Kann man dem Teufel die Türen verschließen? Es wird schwierig. Hasnain Kazim überschreibt seinen am 5. Juli 2023 in ZEIT online veröffentlichten Essay mit der optimistischen Botschaft „Man kann sie zurückgewinnen“. Seine Analyse: es ist der herabsetzende und rechthaberische Ton, mit dem zu viele demokratische Politiker*innen den Menschen begegnen, die die AfD gewählt haben oder zu wählen beabsichtigen. Ausgrenzung – so Hasnain Kazim – wäre kontraproduktiv. Das mag sozialpädagogisch klingen, ist vielleicht auch so gemeint, aber die Gefahr ist offensichtlich: möglicherweise ist der Kipppunkt schon überschritten, zu dem „Protest“ zur „Einstellung“, eine einmalige zur dauerhaften Wahlentscheidung geworden ist, mit allen Konsequenzen. Möglicherweise sind schon zu viele Kanarienvögel von der Stange gefallen ohne dass wir es gemerkt hätten, oder – im Hinblick auf die These von Ines Geipel – ist das „Erzählloch“ schon viel zu tief, das mit einer freiheitlich-demokratischen Erzählung gefüllt werden müsste. Mit sozialpädagogischer Zuwendung lässt sich das Problem nicht lösen. Wie wäre es mit einer Erzählung, was wir alles schon geschafft haben, seit 1945, seit 1989? Die missmutige Fixierung auf Defizite hingegen zerstört. Wer nur das Schlechte und sich selbst als das ewige Opfer sieht, sieht irgendwann überhaupt nichts Gutes mehr und irgendwann wird das Schlechteste, das Allerschlechteste das scheinbar Gute, weil eben alles andere zugrunde geht. So weit muss es jedoch nicht kommen.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juli 2023, Internetzugriffe zuletzt am 12. Juli 2023.)