Treat Me Like A Human Being
Politische Dimensionen in der Kunst Sandra del Pilars
„Wer von uns ist hier Ödipus? Wer Sphinx? Es ist ein Stelldichein, wie es scheint, von Fragen und Fragezeichen. – Und sollte mans glauben, dass es uns schließlich bedünken will, als sei das Problem noch nie bisher gestellt – als sei es von uns zum ersten Male gesehn, ins Auge gefaßt, gewagt?““ (Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse)
Die Galerie Zilberman in Berlin hat am 10. September 2020 die Ausstellung „Both Eyes in My Two Hands“ mit Bildern der Konzeptkünstlerin Sandra del Pilar eröffnet. Die Ausstellung ist bis zum 14. November 2020 geöffnet. Sie trägt als Titel den vorletzten Vers eines Gedichts von Sor Juana Inès de la Cruz: „tengo en entrambos manos ambos ojos“. Die eigenen Augen berühren, vom Gesicht trennen und mit sich tragen? Der letzte Vers des Gedichts sagt warum: „y solamente lo que toco veo“ („und nur das, was ich berühre und ertaste, sehe ich“). Mit welchen Sinnen erfasse ich Wirklichkeit? Eine nicht nur philosophische Frage, sie ist die Grundfrage aller Künstler*innen, die Frage nach der „spezifische(n) Differenz von Bildern zur natürlichen Wahrnehmung“ (Stephan Schwan).
„La reine des facultés“
Wir denken, wir hätten fünf Sinne, mit denen sich uns Wirklichkeit erschlösse. Es gibt jedoch einige mehr. Sandra del Pilar nennt u.a. Gleichgewichtssinn, Körpergefühl, Wahrnehmung von Wärme und Kälte. Wie und in welchem Umfang wir unsere Sinne nutzen, ist uns oft kaum bewusst. Allerdings vermag es mitunter die Kunst, sie und die mit ihnen verbundene Wahrnehmung spürbar zu machen und so unser Erkenntnisvermögen zu erweitern.
Für eine umfassende Erkenntnis hülfe es, sich „an meine Geschichte in allen ihren Dimensionen zu erinnern“ (Sandra del Pilar: „Conocerme a mí misma significa recordar mi historia en todas sus dimensiones“), und dies umfasst nicht nur die eigene persönliche Geschichte, auch die „Geschichte meiner Stadt, meines Landes, meines Kontinents, meiner Kultur, meiner Welt“. Selbsterkenntnis ist nur der Anfang eines ewigen Prozesses unserer Bemühungen um Erkenntnis.
In diesem Sinne sind die Darstellungen unserer Welt im Werk Sandra del Pilars universell, in „Golgotha“, in den Portraits der vermissten Kinder, die sie aus der Erinnerung an Fotografien in mexikanischen Banken, Bussen und Supermärkten erstellte. Es sind die Kinder, deren Leiden die Investigativjournalistin Lydia Cacho Ribeiro aufdeckte und in „Los demonios del Eden“ („Die Dämonen des Paradieses“) dokumentierte.
Oft sehen wir bei Sandra del Pilar liegende Menschen. Wir wissen nicht, ob die Liegenden leben oder schlafen. Wir sollten wünschen, dass sie schlafen und wir sie erwecken können. Und wir sollten aus unserem eigenen Schlaf erwachen, den wir als Nachbar*innen der Misshandelten, der Gemordeten schlafen („Was sollen bloß die Nachbarn sagen?“ oder „Der Traum der Jägerin“). Wir sollten uns aus den Knäueln befreien, in denen wir uns verfangen haben, damit wir klar(er) sehen lernen („Wer bin ich und wieviel“).
Aber jede Klarheit ist fragil. In den Portraits der Serien „Olvido“ oder „Mujeres castigadas“ verwischt die Wirklichkeit des Leids in einem Chiaroscuro vieler denkbarer Vergangenheiten und des ungesicherten Erinnerns. Es liegt an uns Betrachter*innen, unserem Vorstellungsvermögen und unserer Bereitschaft, ob es gelingt, das stets Angedeutete, nie unmittelbar Sichtbare zu erahnen.
In Romanen lässt sich der Wandel der Geschehnisse sukzessive in Raum und Zeit wahrnehmen. Die Bilder dieser Geschehnisse schaffen wir selbst, in und mit unserer Vorstellungskraft, der Imagination, die Charles Baudelaire als „Königin aller Fähigkeiten“ („la reine des facultés“) bezeichnete. In einem Gedicht verdichten sich die Ereignisse, in einer Art Momentaufnahme, in der jedes Wort auf Räume und Zeiten verweisen kann, die wir entziffern müssen. Wer ein Gedicht liest, ein Bild oder eine Skulptur betrachtet, wird zum Flâneur, der an Fenstern vorbeischlendern könnte, aber aufgefordert ist, hineinzusehen, das zu entdecken, was hinter der Scheibe geschieht oder geschehen ist.
Zerfließende Wirklichkeiten
Da traditionelle Malerei nur zwei Dimensionen zulässt, sucht Sandra del Pilar nach einer Öffnung in die dritte und die vierte Dimension. Die dritte Dimension entsteht, indem sie – in Aufnahme eines Gedankens von Leon Battista Alberti – ihre Bilder als Fenster versteht, in dem nicht nur die Wirklichkeit des Dargestellten, sondern auch die Wirklichkeit der Künstlerin und der Betrachter*in ineinander verfließen. Sie nutzt übereinander gelegte Schichten, indem sie die Leinwand mit einer Art durchsichtiger Synthetikfaser überhängt oder überspannt, auf die sie dasselbe Motiv, stets leicht abgewandelt, überträgt. Beide Bilder interagieren und verändern sich je nach dem, von welcher Position im Raum man*frau es betrachten, ein leichter Windstoß kann das, was wir sehen, verändern, sodass sich über die räumliche Wirkung, die dritte Dimension, die vierte ergibt, die Zeit.
Es entsteht eine „doppelte Wahrheit des Bildes“, die „doble verdad de la imágen“. Das Wandelbare und das Unwandelbare werden gleichermaßen und gleichzeitig sichtbar. Sandra del Pilar hat ihre Techniken in ihrer Dissertation „Más allà de la visión“ reflektiert. Sie hebt die Trennung von Form und Inhalt auf, Form ist nicht schönes Beiwerk, Ästhetik und Inhalt werden nicht voneinander getrennt, sind nicht hierarchisch einander zugeordnet, Technik ist Inhalt, Technik schafft Inhalt. Das „Medium“ ist in gewisser Weise „Botschaft“ (Marshall McLuhan), aber auch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Wahrheit entsteht in ihrer Fülle erst im Trialog zwischen Betrachter*in, Künstler*in und Kunstwerk.
Das Kunstwerk wird zur eigenständigen „Persönlichkeit“, die sich aus verschiedenen Teil-Botschaften zusammensetzt, das Undurchsichtige sichtbar, erkennbar macht, aber in jeder Konstellation, aus jedem Blickwinkel sich wandelnd. Die Technik Sandra del Pilars erreicht etwas, das nur wenigen Menschen gegeben ist: synästhetische Wahrnehmung in vier Dimensionen, die im Bild real wird, nicht nur in dem, was man*frau sieht, auch in dem, was man*frau ertasten, sich mit welchem Sinn auch immer erschließen oder wie Sandra del Pilar es nennen würde „erlaufen“ könnte. Nichts ist was es scheint, jede Annäherung ist ein synästhetisches Ereignis, synästhetisches Zerfließen von Wirklichkeiten, die sich immer neu zusammenfügen.
Jenseits der Metaphorik
Wir sollten uns davor hüten zu interpretieren. Die von Susan Sontag ausgesprochene Warnung „Against Interpretation“ gilt auch für das Werk von Sandra del Pilar. Ich denke bei manchen ihrer Bilder an die „Todesfuge“ von Paul Celan, bei deren „Interpretation“ sich ein für unsere Erinnerung fataler Entfremdungsprozess exemplarisch und radikal vollzieht. In diesem Gedicht suchten Generationen von Literaturwissenschaftler*innen und Schüler*innen – das Gedicht ist in Deutschland Schullektüre – Metaphern und Allegorien, doch enthält es nicht eine einzige Metapher, nicht eine Allegorie. Jedes Wort ist real: „schwarze Milch“, „Meister aus Deutschland“, „aschenes Haar“, „Grab in den Wolken“, es ist was es ist, reales ultimatives einzigartiges Grauen, die tägliche Nahrung der Häftlinge in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nazis, die SS-Männer, die Bestattung der im Krematorium verbrannten Menschen.
„Der Schlaf der Vernunft schafft Monster“ – dieses Capricho Francisco Goyas könnte auch die Kunst Sandra del Pilars charakterisieren. In ihren Bildern sehen wir Vögel, die Goyas Träumen – im Spanischen bedeutet sueño Traum und Schlaf – entflogen sein könnten. Es sind Vögel, nicht mehr und nicht weniger, die davonfliegen können, miteinander kommunizieren – wir nennen das „Singen“ – und sich vielleicht über Bauch und Flügel streicheln lassen. Bot*innen der Freiheit, des Traums, des Todes – das werden sie erst durch die Betrachter*innen, aber sie sind es nicht. Sandra del Pilar arbeitet ähnlich wie Paul Celan, wie Francisco Goya, sie schafft Mehrdeutiges, das jenseits von Allegorese und Metaphorik das Grauen der Gewalt und des Todes sichtbar macht. Allerdings implizieren Farben und Formen der Vögel in den Bildern Sandra del Pilars auch einen Hauch von Hoffnung, immerhin.
Eindeutig, mehrdeutig
Mich fasziniert an den Arbeiten von Sandra del Pilar die sich immer wieder neu gestaltende Beziehung zwischen Künstlerin, Betrachter*in sowie dargestellten Menschen. Jeder Blick auf eines ihrer Bilder ist eindeutig und mehrdeutig zugleich. In den großformatigen Bildern zu Guantánamo und Abu Ghraib, die nach weltweit bekannten Fotografien gestaltet wurden, entkleidet sie die Personen und die Räume. Es gibt nichts mehr, das an ein Gefängnis erinnern könnte, und doch ist das Gefängnis präsenter als es je war. Der die Zähne fletschende Hund aus Guantánamo fehlt, die Nacktheit der Menschen reduziert sie auf das Minimum, das einen Menschen ausmacht, den Körper. Gewalt, Folter, Leid werden elementar und universell.
Von Gustave Flaubert wird oft der Satz zitiert: „Madame Bovary, c’est moi.“ Sandra del Pilar zitiert ihren Soester Kollegen Paolo Martinuzzi sel.A.: „Meine Figuren, das bin immer ich.“ Sandra del Pilar ist auf ihren Bildern oft zu sehen, als das ihr immer verfügbare Modell, auch als Malerin, manchmal vor einem Bild, manchmal im Bild, gelegentlich mehrfach. Sie hat sich in die Opfer, in die Täter hineinversetzt, mit den Opfern („Mujeres castigadas“), mit Tätern („Anderwelt“) gesprochen, deren Leben, ihr Leiden, die Gewalt, den Tod in sich aufgenommen. Sie bringt die Träume, die viele ihrer Bilder prägen, ins Bild, enthüllt Verhülltes, entschleiert und verschleiert, maskiert, öffnet Fenster zu neuen, anderen Welten, die ihrerseits wiederum nichts anders sind als eine Facette der Welt, die wir kennen, doch mit unserer begrenzten Wahrnehmungskompetenz nicht erkennen können oder vielleicht auch nicht erkennen wollen.
Die Arbeiten Sandra del Pilars sind höchst politisch, durchaus im Sinne des Begriffs „historisch-politisch“, den ich in meinem Blog verwende, mit Bindestrich in einem Atemzug. Ihre Kunst erweckt die „historisch-politische“ Analyse zum Leben. Sie ent-deckt die Wahrheit unserer Zeit: Auschwitz ist einzigartig, und dennoch: Auschwitz ist überall, in Abu Ghraib, in Guantánamo, in Ciudad Juárez. „Die Geschichte ist eine Geschichte der Opfer.“ (Aslı Erdoğan). Wenn wir wollen, dass es keine Opfer mehr gibt, müssen wir erkennen, was uns zu Täter*innen machen könnte.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2020. Der Text erschien etwa zeitgleich im Katalog der Ausstellung in deutscher, spanischer und englischer Fassung. Der Katalog enthält darüber hinaus Texte von Margo Glantz und Lotte Laub. Übersetzungen in diesem Text aus dem Spanischen durch NR in Abstimmung mit Sandra del Pilar. Die Bilder zeige ich mit ihrem Einverständnis, dabei handelt es sich zum Teil um Bilder, die nicht in dieser Ausstellung zu sehen sind.)