Über das Schweigen
Ein Gespräch mit der Sozialarbeiterin und Erziehungswissenschaftlerin Friederike Lorenz-Sinai
„Schweigen ist nicht einfach da, sondern es bedarf der Erkennung oder Zuschreibung von außen. Historisch ist es, von Distinktionspraktiken im alten Ägypten über christliche Traditionen der ‚Zungensünde‘ bis zur gegenwärtigen Gedenk- und Erinnerungskultur in Deutschland, mit verschiedenen Bedeutungszuweisungen und Funktionen verbunden. Angesichts der möglichen Bandbreite an Schweigebedeutungen und -formen gilt es also, das Schweigen über Gewalt überhaupt als solches zu erkennen und in seinem je kontextspezifischen Einsatz zu erfassen.“ (Friederike Lorenz, Der Vollzug des Schweigens, Wiesbaden, Springer Fachmedien, 2020)
Ohne Kenntnis des Kontextes ließe sich bei diesem Text an das Schweigen zu den Leiden von Gefangenen im GULag, in heutigen russischen Lagern, in Gefängnissen und Lagern diverser Diktaturen, Belarus, Iran, Mynamar, China und anderswo denken – oder mit einem Blick in die deutsche Geschichte: an die in ihrer Brutalität und Konsequenz einzigartige Shoah. Im Untertitel wird der Kontext der Studie klar: „Konzeptionell legitimierte Gewalt in den stationären Hilfen“. Friederike Lorenz dokumentiert akribisch die in zwei Jugendwohngruppen geschehene alltägliche Folter: „stundenlanges Festhalten von Bewohner:innen, kollektives vom Stuhl Stoßen durch mehrere Mitarbeiter:innen, regelmäßiger Essensentzug, die Vergabe ungenießbaren Essens, wochenlange Isolation, Übergießen und Anspritzen mit kaltem Wasser, Anspucken, verbale Demütigungen und zahlreiche weitere physische und psychische Misshandlungen.“ Doch wie werden Gewaltverhältnisse in institutionellen Kontexten verschwiegen? Und wo fängt Gewalt an?
Ein prozessuales Gewaltverständnis
Norbert Reichel: Über das Schweigen lässt sich in ganz verschiedenen Kontexten nachdenken und sprechen. Du arbeitest als Hochschullehrerin an der Fachhochschule Potsdam und hast mit Marina Chernivsky den Forschungsbereich am Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment in Berlin aufgebaut. Du beschäftigst dich mit Gewalt in pädagogischen Prozessen, mit Antisemitismus und mit dem Erinnern beziehungsweise Nicht-Erinnern an die Shoah. Lässt sich zwischen den verschiedenen Kontexten der Gegenstände deiner Forschung eine Linie formulieren?
Friederike Lorenz-Sinai: Auf jeden Fall. Ich forsche in Potsdam unter anderem zu sexualisierter Gewalt und am Kompetenzzentrum in einer gemeinsamen Forschungsabteilung zu Antisemitismus in institutionellen Kontexten. In meiner Studie zum Vollzug des Schweigens geht es um Gewalt in der Heimerziehung, im Kontext von Wohngruppen der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche. Es geht um Machtmissbrauch von Erwachsenen gegenüber Kindern und Jugendlichen und die Frage, wie dieser in und innerhalb der jeweiligen Organisationen gebilligt und verschwiegen wird.
In den Studien mit dem Kompetenzzentrum geht es um die Nachgeschichte der Shoah. In unseren Studien zu Antisemitismus fragen wir auch danach, wie Menschen heute die Erinnerung an die Shoah be- und verarbeiten und wie das dem Umgang mit Antisemitismus in institutionellen Kontexten der Gegenwart mit Antisemitismus zusammenhängt. Diese Studien setzen wir gemeinsam mit Marina Chernivsky um und mit unserem Forschungsteam – Leonie Nanzka und Sophie Sharon Döhlert. Außerdem habe ich in einem israelisch-deutschen Forschungsteam von 2018 – 2021 eine ethnografische Studie durchgeführt, zur Frage, wie Lehrer:innen aus vier Bundesländern über die Shoah in einer Weiterbildung in Israel lernen, wie Pädagog:innen selbst in Geschichtsbilder, Narrative und emotionale Bezüge zur Geschichte der Shoah einsozialisiert werden und welche Herausforderungen sie in der Vermittlung der Geschichte an Schüler:innen in der Gegenwart thematisieren (Zum englischsprachigen Forschungsbericht: German Teachers Learning about the Shoah in Israel – An Ethnography of Emotional Heritage and Contemporary Encounters).
Die genannten Themen haben viel miteinander zu tun. Es geht um den Umgang mit kollektiver, gesellschaftlicher, institutioneller Gewaltgeschichte. Mittlerweile gibt es eine gesellschaftliche Vorstellung davon, dass Gewaltgeschichte aufgearbeitet werden muss, dass Betroffene anzuhören und mit ihren Erfahrungen ernst zu nehmen sind. Das ist eine sehr junge Entwicklung. Das Nachdenken darüber, wie Gesellschaft mit der Geschichte von Gewalt in Institutionen und wie sie mit gesellschaftlich kollektiver Gewaltgeschichte wie dem Nationalsozialismus, der Shoah umgeht, hat sich wechselseitig dynamisiert. So orientierte sich die im letzten Jahrzehnt begonnene gesellschaftliche Aufarbeitung sexualisierter Gewalt durch Aufarbeitungskommissionen teilweise an Erfahrungen aus der Aufarbeitung der Shoah. Zentral ist dabei die Frage, wie Unrecht gesellschaftlich thematisiert, wie Gewalterfahrungen von Menschen aufgenommen werden können und wie an gesellschaftliche und institutionelle Gewaltgeschichte erinnert werden kann. Aufarbeitung kann der Dethematisierung entgegenwirken – dabei gilt es immer wieder zu verstehen, wie sich „Schweigen“ über spezifische Gewaltkonstellationen im Alltag praktisch vollziehen kann.
Norbert Reichel: Von welchem Gewaltbegriff geht ihr aus?
Friederike Lorenz-Sinai: Gewalt ist nicht von vornherein für alle präsent. Sie wird oft von Betroffenen thematisiert, auch von Zeug*innen der Gewalt, oft retrospektiv und sie wird in sozialen Verhältnissen verhandelt. Dies geschieht in Machtverhältnissen, in Hierarchien, Herrschaftsverhältnissen. Die Möglichkeit, Machtverhältnisse und Gewalt zu benennen oder die Benennung einzufordern, ist sehr ungleich verteilt, entlang von Alter, Status, Geschlecht und anderem.
Für die Forschung zu tabuisierten Gewaltphänomenen ist daher ein prozessuales Gewaltverständnis angemessen. Wir fragen weniger danach, ob es zu Gewalt gekommen ist oder nicht, wir fragen: wie wird Gewalt sozial ausgehandelt, mit Bedeutung versehen, welche Deutungen von Gewalt können sich durchsetzen?
Norbert Reichel: Die Begriffe der Gewalt und der Macht werden im alltäglichen Sprachgebrauch oft miteinander verwechselt.
Friederike Lorenz-Sinai: Das ist typisch für den deutschen Kontext. Macht wird hier eher negativ assoziiert und oft mit Gewalt gleichgesetzt. Hilfreicher finde ich die Unterscheidungen von Macht und Gewalt durch Hannah Arendt: Macht ist demnach Gegenstand von sozialen Prozessen, von Ermächtigung, von kommunikativer Aushandlung, auch wenn sie ungleich verteilt ist. Macht wird in diesem Verständnis missbraucht, wenn sie nicht mehr versprachlicht, nicht mehr ausgehandelt, sondern unbegründet bleibt, instrumentell durchgesetzt, oder unverständlich gemacht wird. Hier ist der Übergang von der produktiven Macht zu Machtmissbrauch und Gewalt.
Norbert Reichel: Wie verhalten sich unterschiedliche Ausformungen von Gewalt zueinander, verbale Gewalt, körperliche Gewalt, sexualisierte Gewalt, individuelle oder kollektive Gewalt? Und wie verhalten diese sich zur Macht, mit der Menschen sich anmaßen, Formen von Gewalt zu rechtfertigen, zu legitimieren, als Normalität hinzustellen?
Friederike Lorenz-Sinai: Das, was du in deinem letzten Satz beschrieben hast, ist Machtmissbrauch. Ich kann Macht gebrauchen, um etwas Gutes durchzusetzen, ich kann sie aber auch missbrauchen, um Gewalt anzuwenden, zu legitimieren, zu verschleiern. Es ist wichtig, die verschiedenen Phänomene der Gewalt einzeln zu begreifen, aber letztlich gibt es ein Kontinuum der Gewalt, in dem die einzelnen Phänomene zusammenhängen. Das lässt sich an antisemitischen Übergriffen zeigen. Diese sind vielfach eingebettet in Alltagssprache, in Andeutungen, Beleidigungen oder antisemitische Wortkombinationen, und können das Sicherheitsgefühl und Wohlbefinden beeinträchtigen. Der Körper reagiert, Betroffene fühlen sich unwohl, entwickeln schützende Praktiken und antizipieren weitere mögliche Übergriffe. Der Körper spielt bei allen Formen der Gewalt eine zentrale Rolle, auch wenn sich die Materialität der Gewalt nur auf einer rein verbalen Ebene abspielt.
Genauso finden wir in allen Gewaltformen, auch bei sexuellen oder anderen körperlichen Übergriffen, Übergangsformen zu anderen Gewaltformen. Verbale und körperliche Gewalt sind oft miteinander verbunden. Ein isoliertes Gewaltverständnis hilft hier nicht weiter. Wir müssen auf die Vorgeschichte und die Nachwirkungen schauen, dies multiperspektivisch, in den Auswirkungen auf die Betroffenen, auf die weitere Biographie. Aber auch: wie wirkt es sich aus auf soziale Räume, Zusammenhänge und Institutionen aus, wenn Gewalt dethematisiert, verschleiert, beschwiegen wird? Ein dynamisches und prozessuales Verständnis von Gewalt, von Gewalt als Kontinuum hilft, um die Auswirkungen von Gewalt zu erfassen, die Schwierigkeit der Thematisierung, und Gewalt nicht auf vermeintliche abgrenzbare Vorfälle oder Situationen zu begrenzen.
Was die Täter:innen denken
Norbert Reichel: Vielleicht konkretisieren wir diese Vorbemerkungen zum Schweigen und zur Gewalt an dem Gegenstand deiner Dissertation, dem Gewaltgeschehen in einer Jugendwohngruppe.
Friederike Lorenz-Sinai: Es ging um ein Team, das in zwei Wohngruppen mit Kindern und Jugendlichen mit der Diagnose einer geistigen Behinderung tätig war. Das Team orientierte sich an dem IntraActPlus-Ansatz, der auf Belohnung und Bestrafung beruht. Statt eines pädagogischen, entwickelte es ein streng behaviorales Verständnis von seinen Aufgaben.
Norbert Reichel: Ich habe den Ansatz gegoogelt und musste feststellen, dass dieser Ansatz gleichermaßen in Pädagogik und Wirtschaft sehr populär zu sein scheint, aus meiner Sicht ein sehr simpel gestricktes Reiz-Reaktions-Schema. Mich erinnert der Ansatz an die berüchtigten Milgram-Experimente – oder an das Stanford Prison Experience.
Friederike Lorenz-Sinai: In dem Team wurde einvernehmlich geklärt, aber auch nach außen kommuniziert und legitimiert, dass ein Bestrafungssystem installiert wurde. Die Analyse der Gewaltpraxis zeigt, wie das Bestrafungssystem letztlich der vollständigen Unterwerfung der Kinder und Jugendlichen unter die Vorstellungen und Vorgaben der Erwachsenen diente. Hier sehen wir das Kontinuum der Gewalt, Übergriffe in Grenzbereichen, Übergriffe, die mit dem Vokabular von IntraActPlus legitimiert wurden, beispielsweise stundenlanges Festhalten als Halteangebot, Essensentzug und Isolation als Zeichen von Konsequenz. All dies wurde mit teilweise euphemisierenden Begriffen legitimiert, die die Gewalthandlungen nicht reflektierten, sondern verharmlosten und legitimierten.
Norbert Reichel: Sind die Täter:innen sich dessen bewusst?
Friederike Lorenz-Sinai: Täter:innen, also illegitime Gewalt ausübende Personen, schweigen nicht in dem Sinne, dass sie stumm wären, nicht darüber reden würden. Sie sprechen gerade in institutionellen Kontexten oftmals viel über die Gewalt, aber in einer Sprache, die die Gewalt verschleiert, kodiert, umdeutet, euphemisiert. Ich würde nicht in einem intentionalen Verständnis argumentieren. Es geht weniger um die Frage, ob die Gewalt beabsichtigt oder sogar geplant war, sondern darum, wie sich Gewaltsysteme in institutionellen Kontexten formen. Die handelnden Personen sprechen sich nicht unbedingt vorher ab, im Alltag entwickeln sich Praktiken, bilden sich Routinen heraus, in denen gewalttätiges Verhalten normalisiert und untereinander legitimiert wird.
Wir gehen davon aus, dass das Wissen um die Gewaltakte durchaus damit einhergeht, dass diese Gewalt von außen nicht legitimiert wurde, sodass sich ein verschleierndes Vokabular herausbildet. Nicht in dem Sinne, dass jemand geplant verschleiert, sondern dass sich dies im Alltag schrittweise in den jeweiligen sozialen Konstellationen mit der Zeit entwickelt und auch in Narrativen spiegelt, im Falle dieser Wohngruppe in der Selbsterzählung des Teams, ein vermeintlich erfolgreiches Team zu sein, das diese schwierigen Kinder und Jugendlichen „behandeln“ kann. Im Gruppenkonzept wurde dementsprechend ein sehr medizinisches Vokabular verwendet und es zeigen sich mit fragwürdiger Erfolgskriterien, die ausschließlich auf Anpassung der Kinder zielen.
Norbert Reichel: Der Begriff der „Behandlung“: ich denke bei diesem Begriff sofort an den Nazi-Euphemismus der „Sonderbehandlung“ für die Ermordung von Menschen in den Vernichtungslagern und Erschießungsstätten. Unter den NS-Täter:innen gab es auch solche Selbsterzählungen vom erfolgreichen Team. Im Fall der von dir untersuchten Jugendwohngruppen fand ich solche Erzählungen beispielsweise in der Tagebuchnotiz aus dem Kreis des Teams, dass die Kinder am Abend lächelnd in ihren Betten gelegen hätten. Das werteten sie als Vertrauensbeweis.
Friederike Lorenz-Sinai: Darin drückt sich die Wunschvorstellung aus: wir als Team machen hier erfolgreiche Pädagogik. Das Gruppenkonzept orientierte sich allerdings vor allem an einem medizinisch-therapeutischen Paradigma, nicht an einem pädagogischen. Es ist eine bestimmte Form von Selbstbestätigung. Reaktionen, die auch auf Angst hindeuten könnten, werden in Vertrauen umgedeutet, die Kinder sind ruhig, sie machen alles mit.
Die Frage, ob die Mitglieder des Teams wissen, was sie da machen, ist allerdings hoch ambivalent. Es gibt offenbar ein implizites Wissen, dass es problematisch sein könnte, was sich auch in den Verschleierungspraktiken findet. Zugleich gibt es eine teaminterne Idee, dass das, was man tut, in irgendeiner Form gerechtfertigt ist, weil es nicht anders ginge, sozusagen alternativlos wäre, und dass niemand von außen verstehen könne, was wir hier tun und warum. Solche Erzählungen, Narrationen, bilden sich in Gewaltkontexten und stabilisieren sie.
Was erzählen die Opfer?
Norbert Reichel: Sie schaffen Normalität, und in dieser Normalität richten sich dann offenbar auch die Opfer ein. Manche denken offenbar sogar, diese Strafe habe ich doch verdient. Solche Berichte gibt es auch immer wieder in Berichten misshandelter Frauen, die die Gewalt ihres Ehemannes oder Partners auf diese Weise rechtfertigen. Vielleicht auch eine Art Stockholm-Syndrom?
Friederike Lorenz-Sinai: Das ist genau der Punkt, warum die Einordnung und Deutung von Gewalt ein sozialer interaktiver Prozess ist. Die meiste Gewalt vollzieht sich in Nahbeziehungen, nicht in Verhältnissen unter Fremden. Das bezieht sich auf häusliche Gewalt, auf Gewalt in institutionellen Kontexten, auch im Verhältnis zwischen Wächter:innen und Gefangenen können solche Nahverhältnisse entstehen. Betroffenen haben oft eine Beziehung zu den Täter:innen, die nicht nur negativ konnotiert sein muss. Dazu können auch gute Erinnerungen an angenehme Situationen gehören.
In Nahbeziehungen in der Familie oder im institutionellen Kontext unterliegen die Gewalthandlungen einer hohen Tabuisierung und die Täter:innen haben eine große Macht, die Gewalt nach außen zu legitimieren. Diese Legitimierung und Normalisierung wirkt auch auf die Betroffenen, die die Logik der Täter:innen teilweise übernehmen und die ihnen angetane Gewalt legitimieren. Wie du sagtest, im Sinne von: ich habe es doch verdient. Oder ich muss das aushalten. Oder im Fall von Antisemitismus an Schulen: die anderen lachen, die Lehrer:innen reagieren nicht. Vielleicht überreagiere ich, bin ich zu empfindlich. Diese Übernahme der Normalisierung von Gewaltverhältnissen, oder auch der Logik der Täter:innen kann dazu führen, dass Gewalthandeln lange nicht thematisiert und eingeordnet wird. Teilweise wird dies erst aus der Retrospektive möglich, beispielsweise nach Verlassen der Institution, nach Beendigung einer Beziehung.
Norbert Reichel: Zu dieser Erkenntnis, was da wirklich geschah, gehört wohl auch ein Gefühl der Sicherheit: um über die erfahrene Gewalt sprechen zu können, müssen sich Opfer sicher fühlen, wohl auch die Angst vor den Täter:innen verlieren. Das erklärt vielleicht, warum viele Opfer sich erst Jahre, oft Jahrzehnte nach der Gewalterfahrung zu Wort melden. Aber zunächst wirkt, dass die geschlagene Frau den schlagenden Mann liebt, dass das geschlagene Kind die schlagenden Eltern oder die schlagenden Erzieher:innen liebt.
Friederike Lorenz-Sinai: Das ist ein wichtiger Punkt in der Forschung bei der Thematisierung von Gewalt, der Wunsch nach Eindeutigkeit in den Rollen der Betroffenen und der Täter:innen, nach geradezu holzschnittartigen Figuren. Das bildet nicht ab, was dort geschieht. Auch bei den beiden Wohngruppen war das so: nach der Freistellung der Erzieher:innen sagten manche Kinder, sie hätten ihre Erzieher:innen vermisst, denn diese waren über viele Jahre ihre primären Bezugspersonen, die sie versorgt haben, die für sie da waren. Diese Ambivalenz muss man berücksichtigen und ernst nehmen, um die Realität der Gewaltverhältnisse zu begreifen.
Norbert Reichel: In deiner Arbeit analysierst du einige Metaphern des Schweigens, den „Mantel des Schweigens“, das „Brechen des Schweigens“. Was muss geschehen, damit die Opfer den „Mantel des Schweigens“ wegwerfen, wann fangen sie an zu erzählen, was muss geschehen?
Friederike Lorenz-Sinai: Ich habe versucht, diese durchaus griffigen und sinnvollen Metaphern kritisch zu analysieren. Sie verweisen auf Substanzen, der Mantel, die Mauer, etwas das zwischen der Gewalt und dem Thematisieren steht und durchbrochen werden muss. Das ist durchaus stimmig, weil die Metaphern schon zeigen, dass es ein ungeheurer Akt ist, der Normalität, der Dethematisierung, Euphemisierung und Bagatellisierung von Gewalt etwas entgegenzusetzen.
Ein prozessuales Gewaltverständnis wendet den Blick darauf, dass es eben ein Prozess ist, bis über die erlebte Gewalt gesprochen werden kann. Es muss überhaupt auch die Möglichkeit bestehen, darüber sprechen zu können. In den Wohngruppen waren viele Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen, die Unterstützung durch andere gebraucht hätten, um ihre Gewalterfahrungen präzise und nach außen zu thematisieren. Aber auch Menschen, die körperlich dazu in der Lage sind, Gewalt zu thematisieren, brauchen eine Struktur, einen Resonanzraum, in dem das, was sie sagen, auch aufgenommen wird. Aus der Gewaltforschung wissen wir, dass Betroffene Signale senden, Hilfe suchen, es aber oft lange dauert, bis sie wahr- und ernstgenommen werden, bis ihren Bedürfnissen und Bedarfen und nicht zuletzt der Wichtigkeit einer institutionellen Aufarbeitung entsprochen wird.
Im Herbst 2023 veröffentlichen wir vom Forschungsverbund ForuM eine aktuelle Studie zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche. In den Fallstudien unseres Teilprojekts untersuchen wir die systemischen Bedingungen und die Prozesse der Aufarbeitung von Gewalt im Kontext von Kindertagesstätten und Gemeinden. Dabei wird auch deutlich, wie Betroffene Gewalterfahrungen dokumentieren und thematisieren und wie damit von institutioneller Seite umgegangen wird.
Norbert Reichel: Institutionen haben das nicht so gerne, wenn außerhalb über internen Machtmissbrauch und Gewalt gesprochen wird.
Friederike Lorenz-Sinai: Das ist ein großer Widerspruch. Wir haben mittlerweile eine Situation, in der die Stimmen von Betroffenen politisch relevant gesetzt werden. Es gibt Anlaufstellen, die ausdrücklich zu dem Zweck geschaffen wurden, dass sich von Gewalt Betroffene dorthin wenden können, wie das Hilfeportal sexueller Missbrauch bei der „Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ (USBKM) oder Stellen zur Meldung und Dokumentation von Übergriffen, wie beispielsweise RIAS in Bezug auf Antisemitismuserfahrungen.
Gleichzeitig haben es Menschen nach wie vor schwer, mit der Thematisierung von Gewalterfahrungen in institutionellen Kontexten gehört zu werden, weil die Beweisführung an sie zurück delegiert wird. Die Vorstellung, dass es im eigenen institutionellen Kontext zu Gewalt gekommen ist, wird oft abgewehrt. Statt der Bedürfnisse der Betroffenen steht dann die Hinterfragung ihrer Wahrnehmungen und Äußerungen im Mittelpunkt. So ist der Umgang mit thematisierter Gewalt oft wenig betroffenenorientiert, sondern auf den Schutz des Images der Institution ausgerichtet.
Die Antisemitismus-Studien
Norbert Reichel: Diese Strategie der Institutionen klingt ein bisschen nach „Plea-Bargaining“. Aber auch hier gilt für die Täter:innen die Unschuldsvermutung, für die Opfer mitunter unerträglich. Das rechtfertigt natürlich in keiner Weise die Versuche mancher Institutionen, das Geschehene mit formaljuristischen Argumenten abzumoderieren. Diese Versuche scheitern aber zum Glück in der Regel. Der Rechtsstaat hat durchaus Zähne. Aber es muss natürlich auch erst einmal zu einem Verfahren kommen. Betrachten wir das Thema aus der Sicht eurer Studien zum Antisemitismus. In der Praxis wird ja auch hier viel verschwiegen.
Friederike Lorenz-Sinai: FH Potsdam und Kompetenzzentrum haben in Berlin mit einer Studienreihe zum Antisemitismus in Schulen begonnen, die Ergebnisse veröffentlichen wir in einer Reihe zu Antisemitismus in institutionellen Kontexten im Beltz-Verlag). Wir schließen zurzeit die Studie in Baden-Württemberg ab und werten aktuell die Daten zu den Studien in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen aus. Darüber hinaus haben wir bundesweit zum Umgang mit Antisemitismus in gedenkstättenpädagogischen Teams geforscht und beginnen aktuell mit Studien zu Antisemitismus im Kontext der Polizei. Wir gehen multiperspektivisch vor.
Unsere Studien umfassen bisher fünf qualitative Regional-Studien, die wir schrittweise zusammenführen, sodass wir auch vergleichen können, wie Antisemitismus von jüdischen Schüler:innen, auch von ehemaligen Schüler:innen wahrgenommen wird, wie sich nichtjüdische Lehrer:innen verhalten, wie sie Antisemitismus wahrnehmen, deuten und damit umgehen.
Norbert Reichel: Ihr werbt intensiv für die Teilnahme. Es ist ja nicht so einfach, Lehrer:innen für diese Studien zu gewinnen. Wie geht ihr vor?
Friederike Lorenz-Sinai: Wir laden offen über verschiedene Kanäle, soziale Netzwerke und über Gemeinden zur Teilnahme ein, wir schreiben Schulen an und bitten zudem Interviewpartner:innen um Vermittlung an weitere potenzielle Interviewpartner:innen. Die Erhebungen machen wir durch Gruppendiskussionen und narrative Interviews, sowohl mit den jüdischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, als auch mit den Lehrkräften und anderen Fachkräften aus dem Kontext Schule. Wir geben eine Frage als Stimulus ein, halten uns selbst zurück und regen zu Gesprächen an. Diese offenen Verfahren sind in der Forschung sehr wichtig, weil das Sprechen gerade über Antisemitismus sehr stark von öffentlichen Diskursen geprägt wird. Bei leitfadengestützten Verfahren würden sich vor allem die nicht-jüdischen Lehrkräfte wahrscheinlich sehr stark an diesen Diskursen orientieren, zum Beispiel im Rahmen der öffentlichen Erinnerungskultur. Wir wollen mit den offenen Verfahren einen Erinnerungsfluss anregen, bei dem sie auch ihre eigenen biographischen, auch emotionalen Erfahrungen mit Antisemitismus in ihrer Sozialisation und im beruflichen Kontext ansprechen und so eigene Relevanzsetzungen vornehmen können.
Bei der Polizeistudie werden wir ähnlich vorgehen. Wir richten uns an Polizist:innen in der Ausbildung sowie an berufstätige Beamt:innen. Wir führen zurzeit Interviews mit Menschen aus jüdischen Gemeinden in Sachsen und Thüringen. Es geht auch hier um Schule, denn Schule ist der Ort, in dem die Erfahrungen mit Antisemitismus immer wieder eine Rolle spielen, gerade durch den Zwangskontext, dem Schule unterliegt. Wir werden die verschiedenen Ergebnisse aufeinander beziehen und kontrastieren.
Norbert Reichel: Welche Ergebnisse liegen bereits vor?
Friederike Lorenz-Sinai: Wir haben bundeslandübergreifende, aber auch bundeslandspezifische Ergebnisse. Bundeslandübergreifende Ergebnisse beschreiben wir mit dem Konzept der Perspektivendivergenz. Wir rekonstruieren unterschiedliche Ansatzpunkte, Wahrnehmungen, Einordnungen von Antisemitismus bei den nicht-jüdischen Lehrer:innen sowie bei den jüdischen Schüler:innen. Ich beginne mit den ehemaligen beziehungsweise aktuellen jüdischen Schüler:innen, die etwa zwischen 15 und 30 Jahre alt sind. Nicht alle jüdischen Schüler:innen erfahren Antisemitismus in Deutschland. Aber alle jüdischen Familien teilen miteinander, dass sie sich innerlich auf die Möglichkeit von Antisemitismus vorbereiten, diesen antizipieren, dass sie sich Gedanken über Schutz und Sicherheit machen müssen und sich mit anderen Bedrohungen und Belastungen auseinandersetzen als nicht-jüdische Familien.
Norbert Reichel: Ein erster Aspekt ist der ständige Polizeischutz, den jüdische Familien in der jüdischen KiTa, in der Schule, in der Synagoge erleben.
Friederike Lorenz-Sinai: Antisemitismus beschäftigt die Familien auch dann, wenn keine jüdische KiTa oder Schule gewählt wurde. Auch diejenigen, die sagen, sie hätten selbst keine Übergriffe erfahren, berichten aus ihrem Umfeld, dass es solche Übergriffe gegeben hat. Oder sie bereiten sich auf die Möglichkeit von Übergriffen gegen sich oder ihre Kinder vor. Sie stellen sich Fragen: wie thematisiere ich meine Zugehörigkeit, meine jüdische Identität, meine Familiengeschichte, Feiertage, die Reisen, die ich mache, die Sprachen, die wir in der Familie sprechen. Viele Interviewpartner:innen beschreiben die Auseinandersetzung mit Antisemitismus als Alltagserfahrung.
Exotisierung und Entkontextualisierung
Norbert Reichel: Wie reagieren die Lehrer:innen?
Friederike Lorenz-Sinai: Erkennbar sind verschiedene Phänomene, die selbst schon Gewaltelemente enthalten. Verbreitet ist Exotisierung. Interviewpartner:innen schilderten, dass sie, als ihre Lehrer:innen erfuhren, dass Schüler:innen Jüdinnen:Juden sind, teilweise als Expert:innen für die Shoah oder für den Nahostkonflikt adressiert und vor der Klasse dazu aufgerufen wurden, darüber zu informieren, andere aufzuklären, ihre Meinung zu äußern. Besonders unangenehm wurde es für die interviewten jüdischen Kinder und Jugendlichen, wenn sie nicht primär als Kinder und Jugendliche angesprochen wurden, die den Schutz der Erwachsenen brauchen und einfordern dürfen, sondern als Expert:innen, die erklären sollen, wie man Antisemitismus erkennt, die Antisemitismus melden sollen, damit Lehrer:innen reagieren können.
Diese Exotisierung ist ein zentraler Befund. Hier ist die Relationierung mit den Lehrer:innen von Bedeutung. Auch diese haben sich ja freiwillig gemeldet. Das sind engagierte Lehrer:innen, die Antisemitismus ernst nehmen. Wenn es aber um den schulischen Alltag geht, zeigt sich, dass sie die Wahrnehmung der jüdischen Schüler:innen nicht einbeziehen.
Zwei Beispiele von vielen, die uns Lehrkräfte aus der baden-württembergischen Studie erzählt haben: auf einer Klassenfahrt ließen die Schüler:innen eine Flasche kreisen und der letzte Schluck war der „Judenschluck“. Der „Judenschluck“, das spielt auf Gier an, auf das Bedürfnis, alles was übrig ist zu vereinnahmen. Oder eine Leseecke wird in eine „Judenecke“ umbenannt. Damit wird im Grunde eine Art Ghetto nachgestellt und unreflektiert stehen gelassen. Das Sprechen über die darauffolgenden Interventionen orientiert sich aber nicht an den Bedarfen jüdischer Schüler*innen, die solche Situationen potenziell miterleben. Stattdessen wird Antisemitismus oft als ein eher abstraktes Problem thematisiert, über das sich empört wird und dass über Bildung und Begegnung zu bearbeiten sei.
Norbert Reichel: Wie reagierten die Lehrer:innen auf solches Verhalten?
Friederike Lorenz-Sinai: Die interviewte Lehrkraft benennt dies als antisemitisch, relativiert aber auch sofort: das meinen die Schüler:innen nicht antisemitisch, das haben die irgendwo aufgeschnappt, die haben einfach keinen persönlichen Bezug zu lebenden Jüdinnen:Juden und deshalb ist es notwendig, dass sie mit lebenden Jüdinnen:Juden in Kontakt kommen. Wir sehen: hier wird etwas erkannt und benannt, aber sofort setzt die Relativierung ein. Die Intention wird in Frage gestellt, Antisemitismus als Pubertätsthema, als Nachplappern relativiert. Die Lehrer:innen ordnen solche Vorfälle nicht in gesellschaftliche Überlieferungen ein, sondern verstehen sie als individuelles Bildungsproblem der Schüler*innen, die das irgendwo aufgeschnappt haben. Der Vorfall wird entkontextualisiert.
Als Lösungsansatz wird in unserem Datenmaterial oft Begegnungspädagogik mit Jüdinnen und Juden thematisiert. Begegnung kann für sich genommen sinnvoll sein, aber sie wird hier in den Kontext der Gewaltbearbeitung gestellt. Aus diesem Grund ist die Initiierung von Begegnung als Antwort auf antisemitische Vorfälle problematisch. Es wird in der Fallschilderung nicht darüber nachgedacht, dass ein:e jüdische:r Schüler:in mit in der Runde sitzen könnte, und wir sind natürlich wieder bei der genannten Exotisierung, die Jüdinnen:Juden, denen man in dieser Begegnungspädagogik begegnet, sind eben die Expert:innen. Das ist die eine Seite. Die andere: Jüdinnen:Juden werden über die Begegnungspädagogik objektiviert, sie werden zu Bildungs- und Anschauungsobjekten. Es geht nicht um die Aufklärung über den Gehalt antisemitischer Begriffe und den Schutz potenziell anwesender jüdischer Schüler:innen, sondern ausschließlich um die Vermittlung von Bildungswissen.
Damit wird auf Jüdinnen:Juden großer Druck aufgebaut, sie sollen als Bildungsobjekte funktionieren, an denen die nicht-jüdischen Schüler:innen sehen sollen, die sind ja gar nicht so, die sind Menschen wie du und ich.
Norbert Reichel: Bildung via Rückdelegation. Juden:Jüdinnen werden federführend verantwortlich gemacht, den Antisemitismus zu bekämpfen. Habt ihr mal mit Mitarbeiter*innen von „Meet A Jew“ darüber gesprochen?
Friederike Lorenz-Sinai: Ja, das Projekt „Meet a Jew“ kann auch als Selbstermächtigung gedeutet werden, weil Jüdinnen:Juden hierbei selbst die Begegnung anbieten und gestalten.
Norbert Reichel: Vielleicht wäre es einfach wichtig, Lehrer:innen zu vermitteln, dass sich Begegnungspädagogik in einem Spannungsfeld zwischen Exotisierung und Empowerment abspielt. Vielleicht wird es dann auch differenzierter. Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die RIAS-Meldestellen, die es inzwischen in einigen Bundesländern gibt? Ziel ist es, dass antisemitische Gewalt jeder Art dort gemeldet werden soll, damit eine entsprechende Intervention bis hin zur Strafverfolgung – bei Volksverhetzung ebenso wie bei Körperverletzungen oder Nötigung – möglich wird. Funktioniert das Konzept aus eurer Sicht?
Friederike Lorenz-Sinai: Kurz vorweg: auch verbale Angriffe wirken sich körperlich aus. Das kann mit Unwohlsein und beklemmenden Gefühlen verbunden sein sowie mit dem Rückzug aus Gruppen, in denen sich antisemitisch geäußert wird. Antisemitismus ist tief in die Alltagssprache eingelassen und wirkt sich zugleich weit über die sprachliche Ebene hinaus aus.
In Baden-Württemberg gibt es eine Melde- und Berichtspflicht. Unser Befund ist, dass die Meldepflicht an sich erst einmal wenig bewirkt. Jedoch wird ein Thema damit politisch relevant gesetzt und als professionelle Aufgabe sichtbar. Deutlich wird, dass sich die Lehrer:innen in Baden-Württemberg ausdrücklich auf die Meldepflicht beziehen. Das zeigt, dass diese politische Setzung etwas auslöst. Im Datenmaterial zeigt sich aber auch, dass es Lehrer:innen oft schwerfällt, antisemitische Situationen einzuordnen. Die Meldepflicht muss daher ergänzt werden um Sprechräume für Lehrer:innen, in denen sie Fälle besprechen können. Im Material werden Übergriffe beschrieben, aber darauf folgen oft Schleifen der Relativierung. Lehrer:innen thematisieren zudem die Passivität und ausbleibende Reaktionen innerhalb von Kollegien angesichts antisemitischer Übergriffe. Die Meldepflicht kann insofern ein Sprechanlass sein, der Auseinandersetzungen und Interventionen anregt.
Norbert Reichel: Indem sie Bewusstsein schafft. Schwieriger wird es, wenn es juristisch relevant wird. Bei einem Strafbestand wie „Volksverhetzung“ tun sich auch die Gerichte schwer.
Friederike Lorenz-Sinai: Das ist ein interessantes Thema. Das, was strafrechtlich relevant ist, sind antisemitische Angriffe mit eindeutigem Bezug zum Nationalsozialismus, Zeigen des Hitlergrußes, Hakenkreuze. Hier haben wir viele Beispiele, wie Lehrer:innen beginnen, sich in den Gruppendiskussionen über das Thema auszutauschen. Erst einmal erzählen sie, dass es so etwas in ihrer Schule nicht gäbe, dann erinnern sie aber im Verlauf des Gesprächs, dass da mal etwas war, wie beispielweise eine Pinnwand in der Schule, auf der ein Hakenkreuz eingeritzt war. Im Gespräch wird sich darüber verständigt, dass da doch schon längere Zeit etwas war, und nicht nur an einer Pinnwand, dass aber immer unklar war, wer das war, es auch Entsetzen unter Kolleg:innen gab. Wären diese Taten auf bestimmte Täter:innen rückführbar, wären sie strafbewehrt.
Daneben gibt es viele antisemitische Situationen in Schulen, die gewaltförmig sind und sich sehr bedrohlich auswirken können, aber strafrechtlich nicht erfasst werden können. Ein Beispiel ist die Re-Inszenierung antisemitischer Gewaltgeschichte in Kinderspielen. So schilderte eine Lehrkraft, dass es ein Spiel in einer Klasse gab, bei dem sich Schüler:innen gegenseitig in die Klasse schubsten und die Klasse dabei als Gaskammer bezeichneten. Ein solche gewaltvolle Szene ist nicht strafrechtlich relevant, wirft aber viele Fragen auf. Wie kommen die Kinder auf dieses Spiel, was bearbeiten sie damit, wie wirkt es sich auf den sozialen Raum aus.
Dissonanzen
Norbert Reichel: Ob dieses Spiel strafrechtlich relevant ist, würde ich – unabhängig vom Thema der Strafmündigkeit – gerne einmal näher untersuchen, aber das ist jetzt nicht unser Thema. Das Beispiel zeigt aber, wie fließend die Übergänge zwischen verschiedenen Formen der Gewalt sind. Ist es möglich, die Reaktion auf Antisemitismus zu typisieren?
Friederike Lorenz-Sinai: Es gibt im Grunde drei Reaktionen. Einmal, dass es gar nicht dazu kommt, dass die Situation als Antisemitismus eingeordnet wird. Lehrkräfte ordnen antisemitische Handlungen dann als pubertäres Spiel oder Provokation ein. In diesem Verständnis wächst sich Antisemitismus vermeintlich von selbst aus.
Norbert Reichel: Katharina Rutschky hatte mal den Begriff des „jugendlichen Irreseins“ erfunden.
Friederike Lorenz-Sinai: Eine solche Einordnung hatten wir schon 1959 bei der sogenannten „Schmierkampagne“. Konrad Adenauer sprach von „Flegeleien“, unterschied allerdings am 16. Januar 1960 in einer Fernsehansprache den Angriff auf die Kölner Synagoge von diesen „Flegeleien“, die eine „Tracht Prügel“ verdienten, als „politisch“. Die Erklärung der Gewalt als altersbedingte Phase marginalisiert das Problem in seiner Kontinuität und infantilisiert junge Menschen, die durchaus in der Lage wären, Verantwortung zu übernehmen für ihr Handeln. Eine zweite Variante umfasst den Vorschlag zur Begegnung mit Jüdinnen und Juden und der Besuch jüdischer Orte. Wir sprachen schon darüber, dass es übergriffig sein kann, auf diese Weise zum Anschauungsobjekt gemacht zu werden. Die dritte Variante ist die Erinnerung an die Ermordeten, indem Gedenkstätten aufgesucht werden. Das klingt überspitzt, aber das sind die drei dominanten Umgangsweisen, die wir finden, und das bei Lehrer:innen, die wir als bemüht erleben, die sich auch kritisch gegen Antisemitismus äußern.
Norbert Reichel: Dann ist auch immer die Rede von „Vorurteilen“ – ein Begriff, der an der Tradition von Antijudaismus und Antisemitismus völlig vorbeigeht. Das sind keine „Vorurteile“; das sind fest gefügte Weltanschauungen.
Friederike Lorenz-Sinai: Auf diese Weise wird Antisemitismus immer auf Jüdinnen:Juden zurückgeführt. Antisemitismus ist hingegen eine Gewalt gegen Jüdinnen:Juden, die nicht an die Präsenz von Jüdinnen:Juden gebunden ist. Es ist ein Problem der Dominanzgesellschaft und muss daher innerhalb der Dominanzgesellschaft gelöst werden. Adorno hat das schon benannt. Es ist eben nicht so, dass Antisemitismus ein falsches Urteil wäre, das durch Begegnung revidiert werden könnte.
Norbert Reichel: Bei dem Begriff der Dominanzgesellschaft wäre ich vorsichtig. Es ist ja nicht so, dass es in der Gesellschaft eben eine dominante Mehrheit und eine dominierte Minderheit gäbe. In einer Mehrheitsgesellschaft gibt es ebenso viele verschiedene Positionen wie es sie in Minderheitsgesellschaften gibt.
Friederike Lorenz-Sinai: Über dieses Problem haben wir viel nachgedacht. Welche binären Logiken und Ordnungen machen wir auf, wenn wir die jüdischen Schüler:innen und die nicht-jüdischen Lehrer:innen kontrastieren? Wir müssen auch diese Ambivalenzen herausarbeiten, es geht um die Praktiken des Umgangs mit Antisemitismus, die in sich widersprüchlich und ambivalent sind, mit all ihren gesellschaftlichen Erzählungen und Schweigepraktiken, Tabuisierungen und Selbstviktimisierungen. Das Grundproblem der Binarität lässt sich nicht ganz auflösen. Wir haben uns dafür entschieden, von jüdischen Perspektiven zu sprechen, weil es lange in der Forschung die Tendenz gab, Antisemitismus nur aus nicht-jüdischer Perspektive zu untersuchen. Das hat sich inzwischen etwas geändert.
Norbert Reichel: Ich möchte zum Abschluss unseres Gesprächs noch einmal den Bogen zwischen der Gewalt in pädagogischen Kontexten und der Gewalt des Antisemitismus spannen. Bei der Aufarbeitung von Gewalt in pädagogischen und in kirchlichen Kontexten, in der Heimerziehung gibt es einen großen gesellschaftlichen Konsens, dass das aufgearbeitet werden muss. Beim Antisemitismus habe ich aber den Eindruck, dass der gesellschaftliche Konsens fehlt, dass es überhaupt Antisemitismus gibt und wenn er thematisiert wird, gibt es mit Sicherheit Äußerungen, dass das, was da gerade benannt wird, doch kein Antisemitismus ist. Beim israelbezogenen Antisemitismus ist dieses Argumentationsmuster gängig, aber es deutete sich ja auch in deinen Berichten über die Reaktionen in den Schulen auf diverse Vorfälle an.
Friederike Lorenz-Sinai: Diese Analyse teile ich. Allerdings haben es Betroffene auch in den kirchlichen Kontexten schwer, sie werden innerhalb der Institution diffamiert, ausgeschlossen, diese Grundstruktur finden wir da auch. Aber die Parteilichkeit in der Gesellschaft für die Betroffenen ist mittlerweile relativ hoch, nicht zuletzt die Kirchenaustritte werden darauf zurückgeführt. Seit ein bis zwei Jahrzehnten ist der Resonanzboden größer geworden. Beim Antisemitismus ist das anders. Die Nachgeschichte der Shoah hat viel damit zu tun. Der Antisemitismus setzte sich nach 1945 fort, dazu gehört auch der Umgang mit Displaced Persons, die Verweigerung der Rückgabe geraubten jüdischen Eigentums, jüdischer Kulturgüter. Die Anfeindungen setzten sich unmittelbar fort, auch in der Sprache. Es gibt auf der anderen Seite den offiziellen Bruch, eine öffentliche Übernahme der Verantwortung, kollektiver Schuld, es gibt die Antisemitismusbeauftragten. Aber es gibt eben nur eine öffentliche Anerkennung, die sich nicht im privaten, im gesellschaftlichen Feld fortsetzt. Das ist die grundsätzliche Dissonanz beim Thema Antisemitismus. Es fehlt die Empathie für die Betroffenen, es fehlt das Mitdenken der jüdischen Perspektive, auch in dem missverständlichen Begriff des „jüdischen Lebens“.
Norbert Reichel: Wir haben im Begriff des „jüdischen Lebens“ die ganze Spanne zwischen Exotisierung und Empowerment. Die Gefahr besteht, dass beispielsweise einfache Shabbatkerzen zu Exotismus pur werden. Vielleicht sind deshalb auch Netflix-Serien wie „Unorthodox“, „Shtisel“ oder „Rough Diamonds“ für ein nicht-jüdisches Publikum so attraktiv.
Friederike Lorenz-Sinai: Distanz wird so auf jeden Fall aufrechterhalten. Jüdische Betroffene erfahren in der Tat nicht die Parteilichkeit, die gesellschaftliche Akzeptanz. Je weiter wir in den Alltag hineinschauen, auch bei der Opferberatung gegen rechte Gewalt. Das Feld hat sich entwickelt, aber es tun sich viele noch schwer damit, auch Betroffene von Antisemitismus zu beraten, aber auch Institutionen, wo sich Vorfälle ereignen, spezialisierte Beratung anzubieten. Deshalb haben sich Beratungsstellen wie OFEK oder SABRA gegründet, die sich explizit auf Antisemitismus beziehen. OFEK ist zum Beispiel die erste Fachberatungsstelle in Deutschland, die sich ausschließlich auf die Beratung bei antisemitischer Gewalt spezialisiert.
Norbert Reichel: Ich sehe auch eine doppelte Exotisierung, die der Juden:Jüdinnen und die der Muslim:innen. Manche Kreise behaupten, dass der Antisemitismus nur bei Muslim:innen relevant wäre. Das gehört meines Erachtens auch zu der Dissonanz, von der du sprichst.
Friederike Lorenz-Sinai: Die Externalisierung des Antisemitismus auf muslimische Schüler:innen ist ein bundeslandübergreifender Befund. Einerseits wird Antisemitismus an pubertierende Jugendliche, anderseits an Muslim:innen externalisiert. Aber es gibt einen Unterschied bei der Bewertung der beiden Gruppen: bei als muslimisch beschriebenen Schüler:innen wird die Familie für antisemitisches Verhalten verantwortlich gemacht, bei nicht-muslimischen Schüler:innen heißt es, die haben das irgendwo aufgeschnappt, die familiäre Tradierung wird dann nicht erwähnt. Wir wollen uns perspektivisch damit befassen, wie der Umgang mit Rassismus und Antisemitismus in institutionellen Kontexten zusammenhängen, gerade auch, weil Lehrer:innen die Phänomene vielfach vergleichen und Rassismus teilweise als sichtbarer einordnen.
Norbert Reichel: Sichtbarkeit hat auch etwas damit zu tun, ob jemand gehört wird oder sich Gehör verschaffen kann.
Friederike Lorenz-Sinai: Der Blick auf den praktischen Vollzug des Schweigens kann helfen, bevor man sich für bestimmte Präventions- und Interventionskonzepte entscheidet. Zunächst sollten wir fragen, wie Gewalt überhaupt thematisiert oder eben nicht thematisiert wird. Wie wird legitimiert, relativiert, euphemisiert, wie werden Gewaltvorfälle im institutionellen Kontext be- und verschwiegen? Wir bräuchten auch einen kritischen Blick auf die eigene Fachsprache in den Institutionen. Das war in der Wohngruppe ein zentraler Punkt, ist es aber auch bei der Intervention gegen Antisemitismus.
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Juli 2023, Internetzugriffe zuletzt am 3. Juli 2023, Titelbild: pixabay. )