Über den günstigen Augenblick hinaus
Gedanken zu Jenny Erpenbeck aus aktuellem Anlass
Im Mai 2024 haben wir gelernt: Jenny Erpenbecks Roman „Kairos“ hat im englischsprachigen Raum stärker eingeschlagen als im deutschsprachigen. Mit dem International Booker Prize haben wir es schwarz auf weiß. Das Feuilleton wird nicht müde zu wiederholen, dass Erpenbecks Roman in Deutschland bei Erscheinen keines Preises für würdig befunden worden war. Als aktuell im Ausland promovierende Literaturwissenschaftlerin überrascht mich das gar nicht – weder die Auszeichnung in Großbritannien, noch die Verblüffung im Feuilleton meines ‚Heimatlandes‘.
Die Frankfurter Sonntagszeitung vom 26. Mai 2024 versucht auf die Nachricht vom International Booker Prize hin „störrisch“, Jenny Erpenbeck vom Label der „Ost-Literatur“ zu befreien: „‚Kairos‘ ist kein Buch für eine Ost-West-Debatte“. Aber ‚es‘ hat natürlich damit zu tun, sowohl der Roman selbst als auch sein Erfolg im englischsprachigen Raum. Denn was immer man genau damit meint, wenn man den Roman als „Geschichte einer Überwältigung“ beschreibt, „der Ort und Zeit als unverzichtbare, aber bescheidene Dramaturgen dienen“, sind es die historischen Rahmenbedingungen, die die Romanhandlung nicht nur bestimmen, sondern für die Leser so interessant machen. Etwas treffender dann doch die Beschreibung von „Kairos“ auf Literaturkritik.de vom November 2021, die Erzählerin betreibe eine „Archäologie“, eine „Befreiung eines untergegangenen Landes von den Schlacken und Verkrustungen, die die inzwischen vergangene Zeit aufgetürmt hat“, erzähle die „Geschichte des östlichen Deutschland zwischen 1949 und 1989“. Diese Beschreibung kommt auch der Form des Romans näher, der nämlich dem Prozess einer Aufarbeitung von historischem Erinnerungsmaterial folgt: dem Auspacken von Kartons (Karton I, Karton II), von deren Material ausgehend den Lesern die Geschichte dargeboten wird.
Es ist eine schlicht größere Neugier und Lockerheit in Bezug auf DDR- und post-DDR-Literatur und ein gerade im universitären Bereich sehr aufgeschlossenes Verhältnis zu deutschsprachiger Gegenwartsliteratur im angloamerikanischen Raum, die für Erpenbecks Erfolg mitverantwortlich sind. Ganz im Gegenteil zu Deutschland, wo DDR-bezogene Themen als nicht besonders sexy gelten. Das gilt auch für den DEFA-Film. In Großbritannien und Nordamerika war es die aktuelle oder gerade emeritierte Professor:innengeneration, die anfing, DEFA-Filme öffentlich zu zeigen und neue Zugänge zu DDR-Gesellschaft und -Literatur zu formulieren. Man denke auch an einschlägige Monografien der 1990er Jahre, wie „Anatomy of a Dictatorship: Inside the GDR 1949–1989“ (1995) der Historikerin Mary Fulbrook und ihrer Konzeptualisierung der DDR als „participatory dictatorship“. Oder an das Buch “The Powers of Speech: The Politics of Culture in the GDR” (1995) von David Bathrick. Und das zu einer Zeit, als Wolfgang Emmerichs sehr akkurate, aber eben westdeutsch geprägte DDR-Literaturgeschichte in die soundsovielte Auflage ging.
Die damalige englischsprachige Forschungsliteratur ist frei von jenen polemischen Spitzen, die man bei deutschsprachigen Wissenschaftler:innen mitunter beobachten kann – ohne dabei naiv zu sein. 1993, nur vier Jahre nach der Wende wurde an der Amherst University in Massachusetts die DEFA Film Library gegründet, die sich der Vermittlung des Filmerbes der DDR im angloamerikanischen und internationalen Raum verschrieb, seither DEFA-Filme auf Englisch untertitelt, Teaching Guides veröffentlicht und alle zwei Jahre eine Sommerschule veranstaltet. Und da wir vom International Booker Prize sprachen: Natürlich sitzen unter anderem an britischen und amerikanischen Universitäten Übersetzer:innen deutschsprachiger Gegenwartsliteratur – so beispielsweise die Professorin Karen Leeder an der Universität Oxford, die Gegenwartslyrikerinnen wie Ulrike Almut Sandig übersetzt, aber eben auch Durs Grünbein und Volker Braun.
Nicht erst seit der Konjunktur von Katja Hoyers Buch wissen wir, dass das Interesse an Ost-Themen auch mit einer fehlgehenden Faszination einhergehen kann – Ostalgie nicht nur als innerdeutsches, sondern internationales Phänomen. Ich selbst traf einmal mit einem Doktoranden einer renommierten amerikanischen Universität zusammen, der nicht nur ein Faible für DEFA-Filme hatte, sondern in seiner Freizeit gern über ebay und dergleichen Internetbörsen neben DEFA-Filmplakaten, nach alten FDJ- und Stalinartefakten stöberte. Damit konfrontiert blieb ich, wie ich in Thüringen zu sagen gelernt habe: „Ohne Worte“. Einen derart ‚verspielten‘ Umgang mit der Geschichte des Kommunismus, wurde mir klar, kann man sich als aus Deutschland kommende Nachwuchswissenschaftlerin nicht leisten, und noch weniger, in der Öffentlichkeit darüber zu reden – sei es auch nur ironisch gemeint.
Zu früh gehegter Ostalgie-Verdacht kann allerdings die Sicht darauf verstellen wie sich die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen von DDR-Literatur, DEFA-Filmen und Gegenwartsliteratur mit oder ohne DDR-Bezug im deutsch- und englischsprachigen Raum gegenseitig befruchten können. Wie die Debatte um Hoyer und die jetzige Kurzdebatte um Erpenbeck beweist, wirken sie gegenseitig als Korrektiv beziehungsweise setzen sich gegenseitig ins Verhältnis. Die Rezeption von Hoyers Buch im englischsprachigen Raum war problematisch. Ich erinnere mich, wie ich das Buch etwas befremdet im Buchladen meines Vertrauens in St Andrews in der Hand hielt. Aber wenn man in Deutschland Germanistik studiert hat, ist es auch beeindruckend, mit welcher Geschwindigkeit es Autorinnen wie Fatma Aydemir oder Jenny Erpenbeck in die Lehrpläne britischer Bachelorstudierenden schaffen. 2021 in St Andrews lasen Bachelor-Studierende der German Studies im ersten Studienjahr im ganzjährigen Modul „The Making of Today’s Germany 1945-1989“ und im Folgemodul „1989-2020“ Emine Sevgi Özdamars „Der Hof im Spiegel“ (1999) und Jenny Erpenbecks „Dinge, die verschwinden“ (2009). Und sie sahen neben Fassbinders „Die Ehe der Maria Braun“ (1979) auch Konrad Wolfs „Der geteilte Himmel“ (1964).
Kurze Frage zum Schluss: Suchen Sie schon länger nach einem Geschenk für eine:n Berlin-Fan im Ausland? „Marzahn, mon Amour“ (2019) von Katja Oskamp kann man schon seit 2022 in englischer Sprache erwerben. Gelistet unter anderem für den Warwick Prize for Women in Translation, gewann der von Jo Heinrich übersetzte Roman 2023 den Dublin Literary Award.
Carla Steinbrecher promoviert seit 2021 an den Universitäten St Andrews und Bonn zur Rezeption Chiles in Literatur, Film und Hörspiel der DDR. Sie ist aktuell Koordinatorin des German Screen Studies Network (GSSN) mit Sitz in St Andrews, das sich u.a. für die Popularisierung deutschsprachiger Filmkultur in Großbritannien einsetzt.
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Mai 2024, Internetzugriffe zuletzt am 27. Mai 2024. Titelbild: Jenny Erpenbeck beim Erlanger Poetenfest 2021. Foto: AmreiMarie. Wikimedia Commons.)