(Un-)Doing Climate Fiction
Plädoyer für eine Science Fiction jenseits der Anthroposzene in fünf Sätzen
Während Berlin im Sommer 2024 schon jetzt unter der Hitze einer zukünftigen Sonne glüht, schreibe ich den ersten von fünf Sätzen, die in der Summe den Versuch dieses Textes ausmachen sollen und seine Suchbewegung skizzieren.
- Erster Satz: Climate Fiction ist eine Literatur des Anthropozäns.
- Zweiter Satz: Unsere Vorstellungen des Anthropozäns sowie des Klimas sind anthropozentrisch und das ist ein Problem.
- Dritter Satz: Anthropozän und Climate Fiction sind Bühnen der Anthroposzene.
- Vierter Satz: Eine Kritik des Anthropozäns muss auch eine Kritik der Anthroposzene sein oder sie reproduziert deren Modell noch in der Verneinung.
- Fünfter Satz: Post-anthroposzenisches Schreiben meint ein Ent- und Neulernen von Spezies, Anthropos, Welt und Klima.
Inwiefern diese fünf Sätze gerade auch eine andere, einerseits bereits bestehende, andererseits in jeder Gegenwart ausstehende, sich immer im Kommen befindende ästhetische Praxis bedingen, damit Klimaliteratur als Teil des kulturellen „Überlebenswissen(s)“ (Ottmar Ette, ÜberLebenswissen – Die Aufgabe der Philologie, Berlin 2004) akut werden kann, möchten die vorliegenden Thesen dabei zugleich als Frage aufwerfen. Zwischen dem Glühen der Gegenwart und dem Verglühen des Planeten ist es ein politisches Privileg der Künste, öffentlich zu fragen und zu untersuchen, inwiefern andere Formen des Klima-Schreibens auch das (Ent-) Lernen und Einüben eines anderen Lebens und Sterbens benötigen.
Doch bevor wir diese Ausblicke diskutieren, die uns schon jetzt betreffen, kommen wir zum ersten der fünf Sätze.
Erster Satz: Climate Fiction ist eine Literatur des Anthropozäns.
Was ist eigentlich Climate Fiction? Eine mögliche Antwort auf diese wahrscheinlich unmöglich zu beantwortende Frage können wir erhalten, indem wir danach fragen, was Climate Fiction eigentlich tut? Dann kann festgestellt werden, dass Climate Fiction in einer Verbindung von Fakt und Fiktion literarisch-unterhaltsam auf die bereits eintretenden wie wissenschaftlich prognostizierten klimatischen Krisen und Katastrophen der Gegenwart reagiert. Spätestens seit Barack Obama Kim Stanley Robinsons „Das Ministerium für die Zukunft“ in seiner Leseliste prominent erwähnte, wird der Begriff breiter rezipiert, was sich unter anderem in einer Vielzahl von Artikeln, Leselisten zum Thema äußert. Im weitesten Sinne handelt es sich dabei auch um eine Variante engagierter Literatur – vielleicht sogar mit dem Potential sich auf unser „Performing Climate“, also menschliches Klimahandeln, positiv auszuwirken.
Daniel Bloom, dem die Prägung des Begriffes Climate Fiction zumeist zugeschrieben wird, formuliert dies im Interview mit David Holmes wie folgt: „First I need to explain the way I coined the term and have tried to popularise it in English-speaking countries. Cli-fi can take place in novels or movies either in the past, the present, or the future, and it does not have to be dystopian if the authors or screenwriters don’t want to go down the doom and gloom road. A cli-fi novel could also be utopian, and present an optimistic and hopeful future for the readers. I never started with a fixed agenda, and for me cli-fi is open to definition by writers and critics (and readers). In general, I think cli-fi novels will take the position that climate change and global warming are real and are happening, but I am also open to the fact that some cli-fi novelists or screenwriters might take a skeptical view of global warming and climate change, as Michael Crichton did in his 1994 novel State of Fear. But I myself am deep green and very worried about the future of humankind due to what I see as devastating climate impact events coming down the road in the next 500 years, if we as a world community do not stop C02 emissions soon. So for me, cli-fi is a fiction genre that might be helpful in waking people up and serving as an alarm bell.“
Climate Fiction in diesem Sinne lässt sich als zumeist zwischen Science Fiction, Near Future und Gegenwartsroman spielendes Genre mit oftmals stark wissenschaftlichen Anteilen verstehen, die den aktuellen Klimawandel, das Wissen über sowie die Auseinandersetzungen bzw. Debatten um diesen nicht nur aufgreift, sondern auch engagiert mitprägen sowie moderieren will. Im Zentrum steht dabei, wie Bloom hervorhebt, „the future of mankind“ und unter dem Stichwort CO2 ein menschengemachter, insbesondere emissionsbasierter Klimawandel. Im daran schließenden Wechselspiel von Klimawandel und notwendig gewordenem, gesellschaftlich-kulturellem Wandel findet Climate Fiction ihren Ort und ihren spezifischen Einsatz.
Dementsprechend ist es naheliegend, beispielsweise aus journalistischer Perspektive, mit Jane Tversted und Martin Zähringer, zu schließen: „Climate Fiction ist nach einer engeren Definition die Literatur, die den menschengemachten Klimawandel anerkennt und thematisiert – teils lange, bevor die Debatte darum im Mainstream angekommen war.“ Damit aber erscheint Climate Fiction im Kern als eine emphatische Literatur des Anthropozäns. Oder anders formuliert: Das Anthropozän erweist sich als doppelt privilegierter Schauplatz der Climate Fiction. Denn nicht nur spielen die Geschichten der Climate Fiction auf den Schauplätzen des Anthropozäns – zugleich sind sie selbst auch Produkte dieser Schauplätze.
Zweiter Satz: Unsere Vorstellungen des Anthropozäns und von Klima sind anthropozentrisch und das ist ein Problem.
Den Begriff des Anthropozäns haben Paul J. Crutzen und Eugene F. Stoermer bereits um die Jahrtausendwende in die Diskussion eingebracht: „Considering these and many other major and still growing impacts of human activities on earth and atmosphere, and at all, including global, scales, it seems to us more than appropriate to emphasize the central role of mankind in geology and ecology by proposing to use the term ‚anthropocene’ for the current geological epoch. The impacts of current human activities will continue over long periods. According to a study by Berger and Loutre, because of the anthropogenic emissions of CO2 , climate may depart significantly from natural behavior over the next 50,000 years. To assign a more specific date to the onset of the “anthropocene” seems somewhat arbitrary, but we propose the latter part of the 18th century, although we are aware that alternative proposals can be made (some may even want to include the entire holocene).“
Laut Crutzens und Stoermers Vorschlag wäre der Beginn des Anthropozäns also auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts und damit letztlich auf die Zeit der Industrialisierung zu datieren. Doch egal wie der Beginn des Anthropozäns datiert wird, im Fokus stehen für die Autoren die beziehungsweise eine Theatermetapher nutzend, „the central role of mankind in geology and ecology“. Ökologie und Geologie werden zum Auftrittsort und zur Szene einer Menschheit, die in diesen – zu fragen wäre: wieder? – eine zentrale Rolle einnimmt. Damit aber schreibt das Konzept des Anthropozäns eine Kulturgeschichte des europäischen Klimadenkens seit dem 18. Jahrhundert fort wie sie beispielsweise bereits bei Johann Gottfried Herder im Sinne eines menschlichen „Doing Climate“ angelegt ist. Wie Eva Horn in ihrem Buch „Zukunft als Katastrophe“ (Frankfurt am Main 2014) aufzeigt, ist die „Grundidee einer Anthropologie des Klimas“ von der Vorstellung geprägt, „dass der Mensch, sein Körper wie seine Kultur, wesentlich vom Klima gemacht werde.“
Doch gleichzeitig entwickelt Herder in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ eine prometheische Vision des klimaschaffenden Menschen durch „Polizei und Kunst“: „Nun ist keine Frage, daß, wie das Klima ein Inbegriff von Kräften und Einflüssen ist, zu dem die Pflanze wie das Tier beiträgt und der allen Lebendigen in einem wechselseitigen Zusammenhange dienet, der Mensch auch darin zum Herrn der Erde gesetzt sei, daß er es durch Kunst ändre. Seitdem er das Feuer vom Himmel stahl und seine Faust das Eisen lenkte, seitdem er Tiere und seine Mitbrüder selbst zusammenzwang und sie sowohl als die Pflanze zu seinem Dienst erzog, hat er auf mancherlei Weise zur Veränderung desselben mitgewirket. Europa war vormals ein feuchter Wald, und andre jetzt kultivierte Gegenden waren’s nicht minder: es ist gelichtet, und mit dem Klima haben sich die Einwohner selbst geändert. Ohne Polizei und Kunst wäre Ägypten ein Schlamm des Nils worden: es ist ihm abgewonnen, und sowohl hier als im weitern Asien hinauf hat die lebendige Schöpfung sich dem künstlichen Klima bequemet. Wir können also das Menschengeschlecht als eine Schar kühner, obwohl kleiner Riesen betrachten, die allmählich von den Bergen herabstiegen, die Erde zu unterjochen und das Klima mit ihrer schwachen Faust zu verändern. Wie weit sie es darin gebracht haben mögen, wird uns die Zukunft lehren.“
Was mit dem mythopoetischen Rückgriff auf Prometheus beginnt, führt bei Herder zu einem historischen Ausblick auf menschliche Transformationsmacht, den nur die Zukunft wird bestätigen oder falsifizieren können. Anders formuliert: Herder skizziert in diesen Zeilen nicht allein eine klimatisch informierte Anthropologie, sondern auch eine anthropozentrische Perspektive auf das Klima, die den Menschen als einen das Klima verändernden und erschaffenden Akteur denkt. Zugleich weist er diese Perspektive beziehungsweise die Frage nach ihren Grenzen oder ihrer Grenzenlosigkeit als eine spekulative aus, die der Überprüfung bedarf: Erst die Zukunft, so Herder, wird zeigen, wie weit die menschliche Fähigkeit zur Gestaltung beziehungsweise Veränderung des Klimas wirklich geht.
Als Teil jener Zukunft von der Herders Text spricht, geben unsere Gegenwart und der Begriff des Anthropozäns relativ eindeutige Antworten auf die in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit gestellte Frage nach der klimatischen Handlungsmacht des Menschen, die sich als ebenso verheerend wie katastrophal-effektiv erweist. Die Antwort auf die Frage „wie weit“ die menschengemachte Veränderung des Klimas gehen kann, lautet für viele heute offenkundig: „Viel zu weit.“
In diesem Sinne schreibt noch die Climate Fiction von heute mit ihren narrativen Szenarien des Klimawandels den Herderschen Ausblick auf einen Klima-Anthropozentrismus fort, und damit auch die Geschichte des die Welt und das Klima verändernden Anthropos und dessen Handeln in Auseinandersetzung mit der Natur. Auf diese Weise wird die Rede über Klima und Klimawandel in zeitgenössischen Diskussionen zum Ort eines überraschenden Re-Entrys: War „der Mensch“, immer im Kollektivsingular und immer männlich, spätestens seit den 1980er Jahren Gegenstand einer ganzen Reihe von ihn ebenso dezentrierenden wie relativierenden Diskursen, zeigt er sich jetzt, nach einer Vielzahl kritischer post-anthropozentrischer und posthumanistischer Debatten, als back in the game, als re-zentrierte Figur und privilegierter Akteur in den Dramaturgien des Klimatischen sowie der Erdzeitalter.
Dieser letztlich anthropologisch grundierte Anthropozentrismus des Anthropozäns ist ebenso problematisch wie ideologisch – eskamotiert er doch ebenso historische wie kulturelle und politische Kontexte im Namen „des Menschen“. In diesem Sinne ist beispielsweise Christophe Bonneuils in seinem Essay „The Geological Turn“ (in: The Anthropocene and the Global Enviromental Crisis – Rethinking modernity in a new epoch, London 2015) vorgetragene Kritik einer Biologisierung des Gesellschaftlichen durch den Begriff des Anthropozentrismus zu verstehen: „The Anthropocene is not only ‘Man’s’ moment in the history of the Earth; it is also the species’ moment in the understanding of human history. A biological category, the ‘species’ or the ‘population’, rather than specific social groups bearing situated cultural values and taking particular socio-economic and technical decisions, is elevated to a causal explanatory category in the understanding of human history.“
Und er folgert, das Anthropozän sei ein „naturalistic grand narrative of an undifferentiated humanity uniformly concerned by and responsible for global environmental change.” Anders formuliert, und um an die Autorin Meehan Crists Essay „Der sichtbare Horziont – Die Klimakrise als traumatische Erfahrung“ anzuschließen: Die Geschichte des Anthropozäns verschleiert beispielsweise „die Tatsache, dass sie marginalisierte Menschen ohne Mitspracherecht beinhaltet, die keine Verantwortung für die Zerstörung tragen, die sie durchleben.“
Daniela Zyman hat daher in „Das Lachen der Quallen – Zur künstlerischen Gegenforschung jenseits des Menschen“ (Köln 2024) zu Recht festgehalten, dass „die verfängliche Benennung des neuen geostratigrafischen Zeitalters nach der Figur des Anthropos nicht wenig Verwunderung und sogar Empörung ausgelöst [hat]. Mit der Verbreitung des Begriffs verfestigte sich auch der Eindruck, dass sich selbst in den Naturwissenschaften eine unkritische Anthropologie eingenistet habe. Wer ist denn dieser Anthropos, die ganze Menschheit womöglich? Sei nun tatsächlich die gesamte Menschheit für die Schieflage des Planeten zur Verantwortung zu ziehen, wo es bekanntlich eine überschaubare Anzahl schwer industrialisierter und oftmals militarisierter Nationen war und weiterhin ist, die ein Übermaß an Energien und Ressourcen konsumieren und Schadstoffe wie auch Radionuklide emittieren? Oder ist die Bezeichnung als Verweis auf eine neue menschliche Schicksalsgemeinschaft der Klimageschädigten zu verstehen? […] Die Rede vom schicksalhaften Band, das vermeintlich die Menschheit unter dem Vorzeichen des Anthropozäns vereint, verschleiert die historischen Auslöschungen, die zur Begründung der humanistischen Neuzeit in Europa geführt haben.“
Als eine Konsequenz dieser Perspektive erscheint das Anthropozän mit seiner Anthropozentrik weniger als ein Schauplatz des Universellen, sondern vielmehr als Ort, der „dem modernen, rationalen, weißen und maskulinen Subjekt der Aufklärung eine selbstherrliche Bühne“ bietet, „von der aus er das Erdgeschehen weiterhin beherrsch(t).“ Dieser politischen wie gesellschaftlichen Konstellation entspricht zugleich ein ästhetisches Moment, das ich als nächstes in den Fokus rücken möchte.
Dritter Satz: Anthropozän und Climate Fiction sind Bühnen der Anthroposzene.
Climate Fiction tendiert als Literatur des Anthropozäns immer wieder, wie dieses selbst, zu einer Reproduktion anthropozentrischer Diskurse, Imaginationen und Narrative. Dabei schreibt sich die aktuelle Klimaliteratur auch mit ein in die ohnehin zu konstatierende, anthropologische bis anthropozentrische Prägung der Künste in der Moderne und die mit ihr verbundenen Bewegungen des Ausschlusses und der Verdrängung. Denn gerade Literatur und Theater zeichnen sich im Übergang zur Moderne beziehungsweise seit dem Beginn der Aufklärung durch eine Tendenz zur Anthropologisierung künstlerischer Praktiken und Formen aus. Hierzu Helmut Pfotenhauer in „Literarische Anthropologie“ (Stuttgart 1987): „,Literarische Anthropologie‘ ist ein Ausdruck für einen, vor allem im 18. Jahrhundert denkwürdigen Sachverhalt: die Verbindung von Anthropologie und Literatur als wechselseitige Ermutigung, Reflexion, Kritik. (…) Was Wunder, dass Anthropologie sich Unterstützung von den ästhetischen Praktiken erwartet und die Literatur zur Reflexion jener menschlichen Ganzheit ermuntert? Was Wunder, dass Literatur sich als Anthropologie sui generis versteht, nämlich als einen authentischen, durch Selbsterfahrung und Selbstreflexion gewonnenen Aufschluss über die Natur des Menschen.“
Die ästhetische Form, die diesem umfassenden Anspruch in der Überkreuzung des Beginns von Aufklärung, Anthropozän (im Sinne von Crutzen und Stoermer) und moderner Anthropologie der Künste literarisch am ehesten entspricht, ist der Roman. Mit seinem Fokus auf menschliche Lebens- und Gefühlswelten beziehungsweise -kulturen sowie ihre Zusammenhänge erweist er sich schon bald als privilegierter Schauplatz und Aufführungsort der Spezies. Er wird in der Folge zu einem der zentralen Medien der Institution des modernen Anthropos und seiner Welt. Für das moderne Drama hat Peter Szondi in seiner „Theorie des modernen Dramas“ eine ähnliche Diagnose vorgelegt, die – ohne dass er 1956 bereits über das entsprechende Begriffsvokabular verfügen würde – eine fundamentale anthropozentrische Prägung der ästhetischen Form des Dramas konstatiert: „Die Alleinherrschaft des Dialogs, das heißt der zwischenmenschlichen Aussprache im Drama, spiegelt die Tatsache, dass es nur aus der Wiedergabe des zwischenmenschlichen Bezuges besteht, dass es nur kennt, was in dieser Sphäre aufleuchtet.“ Fremd bleiben musste dem Drama deshalb, so Szondi, „vollends das Ausdruckslose, die Dingwelt, wenn sie nicht in den zwischenmenschlichen Bezug hineinreichte.“
Anders gesagt: All das, was jenseits oder diesseits des menschlichen Subjektes liegt, fällt aus dem Bereich der dramatischen Darstellung heraus – eine Tendenz, die sich auch mit Hinblick auf die Entwicklung bürgerlicher Schauspielpraxen bestätigen lässt. So folgert die Theaterwissenschaftlerin Gerda Baumbach in ihrer „Anthropologie des Schauspielers“: „Bürgerliche Akzeptanz erhielt Schauspielen durch die alleinige Festlegung auf die Nachahmung und Darstellung des Menschen durch den Menschen. […] Davon leitet sich die Auffassung vom Schauspielen her: mit Stimme, Mimik, Gesten und Motorik die Gefühle und Gedanken anderer Personen so darzustellen, als ob sie es tatsächlich seien. Darin erschöpft sich nahezu die Kunst des Schauspielers als Darsteller verifizierbarer Personen.“ Um es mit den Worten des aufklärerischen Schauspielers und Autors August Wilhelm Iffland (Gotha 1785) zu sagen: „Natur auf der Bühne, ist also: Menschendarstellung.“
Gleiches aber lässt sich über weite Teile der Romankulturen sagen, die noch heute die Bilder der Literatur bestimmen und in deren historisch-strukturellen Zusammenhang sich auch die Climate Fiction von heute verortet. Ich möchte den Satz Ifflands daher wie folgt modifizieren: „Die Bühne des Romans ist also: Menschendarstellung.“ Genauer: Literatur ist im Zusammenhang der europäisch geprägten, bürgerlichen Neuzeit eine Anthropologie „in action“: Das Lesen und Schreiben von Romanen, Erzählungen, Briefen, Tagebüchern (re-)produziert bzw. instituiert ein Wissen vom Menschen und von der Menschlichkeit, von der menschlichen Welt und dem was es bedeutet, ein Mensch beziehungsweise kein Mensch zu sein.
Um das Paradigma des Anthropozäns kritisch zu reformulieren, möchte ich deshalb vorschlagen, es als eine szenische Praxis und damit als eine Inszenierung bzw. einen Ort des Auftretens und Erscheinens zu denken. Der Begriff, den ich hierfür vorschlage, ist der der Anthroposzene. Als These formuliert: Das Anthropozän ist immer auch mit Anthroposzenen verbundenen – szenischen Dispositiven, die kontinuierlich Imaginationen, Narrative, Bilder und Modelle des „Menschen“, der „Menschlichkeit“ und der „Menschheit“ als Teil der symbolisch-biopolitischen Ordnung moderner Gesellschaften reproduzieren und generieren. In diesem Sinne beschreibt der Begriff der Anthroposzene ein „Doing Species“ oder „Doing Human“, dass nicht nur einen bereits existierenden Anthropos reproduziert, sondern kontinuierlich in und durch Diskurse sowie andere Praktiken ästhetisch instituiert sowie all jene Ausschlüsse produziert, die den Bereich des Nicht-Menschlichen betreffen. Der Neologismus der Anthroposzene beschreibt in diesem Sinne einen Modus der Repräsentation und Ostentation, in dem in Szene gesetzt, vorgespielt sowie vorgemacht und gezeigt wird, was menschlich und was nicht-menschlich ist, was Menschen tun und was sie nicht tun etc.
Vierter Satz: Eine Kritik des Anthropozäns muss auch eine Kritik der Anthroposzene sein oder sie reproduziert deren Modell noch in der Verneinung.
Der Begriff der Anthroposzene konzeptionalisiert ein kulturelles „Doing Species“, das den künstlerischen Praktiken selbst inhärent ist. Er verweist darauf, dass „die Menschheit“ oder „der Mensch“ selbst dann als symbolisch zentrale Referenzen in Szene gesetzt werden können, wenn beispielsweise ein Roman kritisch gegenüber menschlichen Verhaltensweisen, Kapitalismus, Umweltzerstörung ist. Das Paradigma des Anthropozäns in Frage zu stellen, meint deshalb notwendig auch eine Kritik am anthroposzenischen Dispositiv, seinen machtvollen Praktiken und institutionellen Formationen. Oder als Frage formuliert: Wie sehr werden die Künste noch in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Klimawandel durch anthroposzenische Formen des Wissens und Handelns definiert, die strukturell Anthropozentrismus reproduzieren?
Die Formen der Darstellung selbst erscheinen damit als potentielle Orte und Medien der Sedimentierung anthropozentrischer Formationen: Nicht allein die Inhalte, sondern die Erzählformen selbst, generieren in diesem Sinne anthropozentrische und anthropologisierende Effekte. Mit Hinblick auf Climate Fiction stellt sich damit die Frage, wie diese nicht nur Klima als ein Thema verhandeln kann, dass durch anthropozentrische wie anthropozentrierende Erzählformen definiert wird und sie reproduziert, sondern inwiefern sie als literarisches Genre in der Lage ist, anthroposzenische Privilegien zu entlernen?
Dies aber bedeutet, den Fokus in den Auseinandersetzungen mit der Climate Fiction insbesondere auf ihre Darstellungs- und Erzählformen zu legen. Dabei wird auf besondere Weise relevant, wie die Künste und damit auch die Climate Fiction von Anthropozän und Klima erzählen. Zugleich tritt die fortdauernde engagiert-emphatische Arbeit an diesen Formen der Darstellung in den Fokus, wobei deutlich wird, dass diese Schreibweisen immer wieder dem Konformismus des Anthropozäns entwendet werden müssen. „Doing Climate“ als „Doing Climate Fiction“ hat das Potential, Klimahandeln und seine instituierten Praktiken in Prozesse der Transformation zu überführen – gerade indem sie beispielsweise die überkommenen Formen des Welt-Erzählens zergliedert und neu erfindet, Subjekte oder Aktanten diesseits menschlicher Protagonist*innen erschreibt oder auch Szenen schafft, die den Menschen zu einem Aktanten unter anderen machen. Denn dies ist vielleicht die drohendste Gefahr für ein post-anthroposzenisches Schreiben von Climate Fiction – sich in einem Antagonismus zum Anthropos zu verfangen, der den Schreibenden die Dialektik der Entgegensetzung aufzwingt und letztlich wieder nur den Re-Entry des privilegierten Akteurs mit dem Namen „Mensch“ beschreibt. „Doing Climate Fiction“ wäre vor diesem Hintergrund immer auch mit einem „Undoing Climate Fiction“ verbunden, einem Entlernen der Gegenwart und der Klimazukünfte sowie Klimafiktionen, die heute in dieser Gegenwart imaginiert werden können.
Insofern ist es vielleicht kein Zufall, dass die US-amerikanische Science-Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin in ihrem 1985 erschienenen Buch „Always Coming Home“ (deutsche Übersetzung: „Immer nach Hause“) über ein zukünftiges, aufgrund von Klimawandel halb im Meer versunkenes Kalifornien erzählerisch wie auch theoretisch eine Praxis des „und“ realisiert. Immer nach Hause ist ein Roman und gleichzeitig viel mehr als ein Roman. Das Buch (vielleicht an dieser Stelle die unkomplizierteste Bezeichnung) erweist sich als eine Sammlung unterschiedlichster Textarten, erweist sich als eine öffentliche Übung in Weltenbau und praktiziert eine fiktive Archäologie und Ethnologie der Zukunft.
„Immer nach Hause“ ist auch deshalb das vielleicht umfangreichste und formal avancierteste Werk, dass die Autorin hinterlassen hat. Grundsätzlich handelt das Buch von einem post-post-apokalyptischen Kalifornien, in dem die Kesh als späte Nachfahren des 20. Jahrhunderts neue Lebensweisen realisiert haben, die von den Prägungen der alten, kapitalistischen Welt sozial, kulturell und ökonomisch weit entfernt sind. Um Le Guin selbst zu zitieren: „Die Leute in diesem Buch könnten einst lang, lang nach unserer Zeit in Nordkalifornien gelebt haben werden.“ Gleichzeitig ist diese Welt nicht Setting eines mehr oder weniger interessanten Plots. Vielmehr bilden diese Welt, die mit ihr verbundenen Lebensweisen sowie das Erzählen von ihnen in verschiedensten Genres und Textarten Le Guins Fokus.
Lesen wir einen dieser Texte einer Archäologie der Zukunft über die Leute (im englischen Original: „people“): „Zu den Wesen oder Geschöpfen, die in den Fünf Häusern der Erde leben und als Erdleute bezeichnet werden, gehören die Erde selbst, Gestein, Erdreich und geologische Formationen, der Mond, alle Quellen, Flüsse und Süßwasserseen, alle derzeit lebenden Menschen, Wild, Haus- und Nutztiere, einzelne Tiere, Geflügel und bodenbewohnende Vögel und alle Pflanzen, die von Menschen gesammelt, gepflanzt oder genutzt werden. / Die Leute des Himmels, genannt Vierhausleute, Himmelsleute oder Regenbogenleute, umfassen die Sonne und die Sterne, die Meere, wilde Tiere, die nicht gejagt werden, alle Tiere, Pflanzen und Geschöpfe, die eher als Gattung denn als Individuum betrachtet werden, Menschen, die als Stamm, Volk oder Spezies betrachtet werden, alle Leute und Wesen in Träumen, Visionen und Geschichten, die meisten Vogelarten, die Toten und die Ungeborenen.“
Die Aufzählung vereint Disparates, lässt in der Aufzählung Erscheinendes in Differenz treten. Dabei zitiert sie zur Lebenszeit der Autorin bekannte, anthropologische Formen des Wissens sowie Formen literarisch-aufklärerischer Anthropologie, die sie durch die Perspektive einer Archäologie der Zukunft – dem zukünftigen fiktiven Rückblick auf eine ebenso fiktive zukünftige Welt die bereits in der Vergangenheit der zurückblickenden Epoche liegt – umarbeitet. Auf diese Weise macht Le Guin zugleich deutlich, dass wir ein Erzählen über das Erzählen von Zugehörigkeiten und Verbindungen lesen. Wir lesen ein Wissen nicht das Wissen über diese Verbindungen und Zugehörigkeiten. Auf diese Weise erzählt „Immer nach Hause“ vom Erzählen selbst, von den vielen kleinen Geschichten, die Welt und Welten weben und verweben. Le Guins Roman zeigt dieses Erzählen ganz offen im Spiel mit der Form: Denn dieser Welt entspricht nicht die eine literarische Gattung, sondern viele. Das Erzählen des Erzählens und des Welten-Werdens, das mit ihm verbunden ist, macht hier eine ganze Breite literarischer Formen notwendig – von Gedichten und Liedern oder Dramentexten, über Märchen und mythische Geschichten, von Shortstories und Wörterbüchern über anthropologische Aufsätze zu Sitten und Festen der Kesh. Der Vielfalt der Textarten entspricht dabei die Vielfalt der Lücken, die Raum gibt und auch offenhält für immer wieder anderes. Doch all dies erzählt vor allem von einer Landschaft – einem komplexen Raum aus Räumen – und auch von einer verlorenen Landschaft der eigenen Kindheit der Autorin, aus der Texte hervorgehen.
Langsam aber stetig gehen wir als Lesende in diese Landschaft bis wir in ihr verschwinden oder zu verschwinden scheinen – alleine, mit anderen oder wie das Buch zeigt: Mit „Leuten“. Die „Leute“ – dass können beispielsweise menschliche oder auch nichtmenschliche Tiere sein. Oder mit Le Guin: „wenn wir im Spiel Geschichten erfanden und die Tiere sprechen ließen, wusste ich nie, was die Kojotin sagen würde.“
In diesem Sinne ist es vielleicht nicht überraschend, dass gerade aus Le Guins Schreiben von Klima, Leuten und Landschaft – das uns heute auch als ein fernes Echo Herders erscheinen mag – eine Tragetaschen- oder Beuteltheorie des Erzählens entsteht, die dezentrierend von einem versammelnden Raum der Erzählung ausgeht, der unterschiedlichste Elemente in Kopräsenz bringt. Der Mensch muss nicht verschwinden, aber er verwandelt sich, wenn menschliche Tiere zusammen mit anderen Leuten, Dingen, Aktanten, im Text oder zwischen Texten erscheinen, Aktanten werden können, erzählen, mit-berichten. Dem gemeinsamen Erscheinen, daran hat der Philosoph Jean-Luc Nancy zeitlebens erinnert, wohnt eine eigene Politizität inne. Ein anderes Wort dafür ist Mit-Sein – ohne Grundlage, ohne Telos – Verwandlung.
Manchmal beginnt diese Erfahrung des Mit-Erscheinens, der Transformation und der Arbeit an der Anthroposzene vielleicht in subtilen Momenten und Erzählungen der Wahrnehmung: Mit der Erfahrung, dass uns ein Blick ohne menschliches Subjekt trifft. Das geschieht den Figuren in Aiki Miras Roman „Proxi. Eine Endzeit-Utopie“ (Frankfurt am Main 2024):
„Beklemmung steigt in ihr auf. ,Das hier ist ein Ort, der uns ständig beobachtet.‘
,Du meinst: Proto sieht sieht.‘
,Ich meine mucho Mashara, Sus! Mucho -‘
Ein dumpfer Schlag.
Ein Körper?
Kollabiert?
Kawi?
Tell wagt es nicht, nachzuschauen und damit Proto aus dem Blick zu verlieren: ,Aight? Oki? Sus?
Keine Antwort.“
Die kurze Szene ist maximal überdeterminiert. Unterwegs in einem Solarcamper in einer Landschaft nach dem Ende aller Landschaften, artikulieren die Figuren die Erfahrung von eben dieser Landschaft mit Namen „Proto“ beobachtet zu werden. Die kurzen im Layout voneinander abgesetzten Sätze wirken wie ihrem anthropozentrischen Kontext entnommen – wer hier mit wem wie kommuniziert wird ebenso fraglich, wie die nicht zu klärende Frage, wer hier nicht antwortet: Kawi oder die Landschaft selbst, von welcher Tell den eigenen Blick nicht abzuwenden wagt – denn die Landschaft, „Proto sieht sieht.“
Die verkürzte Sprache des Notats wie auch die Dopplung des Verbs „sehen“ kündigt hier den allzu verbindenden, romanhaften Zusammenhang der menschlichen Welt sowie ihres anthroposzenischen Schreibens auf. Auf diese Weise lässt sie einerseits die Landschaft als Aktant erscheinen in dem die Notate – „Ein dumpfer Schlag. / Ein Körper?“, die Abwesenheit einer Antwort, Namen – sich ereignen. Andererseits werden die Handlungen und Ereignisse selbst fremd – kaum einem Subjekt zuschreibbar, singuläre, auch durch den Satz voneinander getrennte, kleinste Einheiten. So als ob in ihnen das Echo einer Beobachtung mitschwingen würde, die Walter Benjamin mit Bezug auf Kafka formuliert hat: der „Auflösung des Geschehens ins Gestische“ entspricht eine Ästhetik, die, bei Aiki Mira durch die Verräumlichung in der Landschaft, „der Gebärde des Menschen (…) die überkommenen Stützen (nimmt)“. Während die Gebärden und Gesten auf diese Weise fremd beziehungsweise in ihrer A-Familiarität wahrnehmbar werden, treten zugleich andere Aktanten hervor, teilen sich mit und erlangen Präsenz.
Beide Beispiele – sowohl Ursula K. Le Guins öffentliches Weltenbauen aus disparatesten Textteilen und Schreibweisen als auch Aiki Miras radikale Reduktion romanhafter Lebenswelt- und Kontextgestaltung, aus der heraus sich erst die Gegenwart der Kopräsenzen abzeichnet – zeigen ein „Unlearning“: ein erzählerisches Entlernen der Anthroposzene. Sie arbeiten mit daran, dass die Grenzen des Anthropos und der Spezies nicht die Grenzen der Sprache(n) und des Erzählens werden, dass Neues dort gemeinsam erscheint, wo der Fokus sich weitet, anthroposzenische Strukturen der Institutionen reduziert und abgebaut werden.
Sie sind Beispiele für eine Prä- oder auch Post-Climate-Fiction, die gewissermaßen eine neue-alte Welt schreibt, die nicht entdeckt werden kann aber lebbar wird und immer im Kommen begriffen ist. Oder mit Ursula K. Le Guin (in „Immer nach Hause“):
„,Das ist die Neue Welt‘, werden wir verwirrt, doch überglücklich rufen. ,Wir haben die Neue Welt entdeckt!‘ / ,Oh nein‘, wird Coyote sagen. ,Nein, dies ist die alte Welt. Die Welt, die ich gemacht habe.‘ / ,Du hast sie für uns gemacht!‘ werden wir verblüfft und dankbar ausrufen. ,So weit würde ich nicht gehen‘, sagt Coyote.“
Fünfter Satz: Post-anthroposzenisches Schreiben meint ein Ent- und Neulernen von Spezies, Anthropos, Welt und Klima.
(Anmerkung: Und damit endet der Text zwar nicht, aber er bricht ab. Denn dieser fünfte Satz, kann und will nur einen Ausblick geben auf einen notwendig fortzusetzenden sowie zu führenden Polylog, Was post-anthroposzenisches Schreiben ist oder sein könnte, bleibt bis auf Weiteres ein notwendig unabgeschlossener Aushandlungsprozess – damit die Science Fiction, damit die Climate Fiction, die wir lesen und schon heute (mit)schreiben weiter aus der Zukunft kommt und uns – Wer wäre dieses uns? Wäre es nicht selbst Teil des Ent- und Neulernens der Gegenwart? – immer wieder neu begegnen kann.)
Michael Wehren, Berlin
Michael Wehren studierte Theaterwissenschaft und Philosophie. Künstlerische Arbeiten an den Schnittstellen von Performance, Medienkunst und Theater als Regisseur, Dramaturg, Autor. Forschung sowie zahlreiche Veröffentlichungen insbesondere zur der Aktualität der Brecht’schen Lehrstücke, Körperpolitiken, intersektionalen Perspektiven auf Klassismus in den Künsten, dem transmedialen und transgenerationalem Nachleben der Shoah sowie Theorien des Dritten. Seit 2023 Redaktionsmitglied von DAS SCIENCE FICTION JAHR. Schreibt (SF), forscht, arbeitet und lebt in Berlin.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2024, Internetzugriffe zuletzt am 1. November 2024. Der Text wird – in etwas anderem Format, aber inhaltlich identisch – gedruckt in dem zum Kongress „Klimafiktionen 2024“ erscheinenden Band veröffentlicht. Titelbild: Kristian Zahrtmann (1843-1917), Prometheus. Wikimedia Commons.)