Unbequem und schmerzhaft

Erste Schritte zu einer neuen sozialdemokratischen Ostpolitik

„Wir müssen uns selbstkritisch fragen, was wir vor dem 24. Februar hätten anders machen müssen.“ (Lars Klingbeil am 9. Dezember 2023 auf dem Bundesparteitag der SPD)

Das Sakko offen, keine Krawatte, der oberste Hemdknopf offen, betont lässig. Mittlerweile ist dies der bevorzugte Aufzug bei den öffentlichen Auftritten des SPD-Chefs Lars Klingbeil. Aber die Worte, die er an diesem 9. Dezember 2023 sagt, als er ans Rednerpult in einem Berliner Kongresszentrum tritt, haben in der SPD nichts mit dieser Lässigkeit zu tun. Das liegt daran, dass der Vorsitzende Dinge äußert, die in seiner Partei weit von dem abweichen, was sie in den letzten Jahrzehnten als Standard kannte. Mehr noch: er kritisiert diesen Standard deutlich und nennt ihn einen Fehler.

Vier Erkenntnisse

Lars Klingbeil bezieht sich auf den Tag im Februar 2022, an dem sich mit der Invasion russischer Truppen in das gesamte Gebiet der Ukraine ein seit 2014 andauernder Konflikt zu einem offenen Krieg zwischen beiden Ländern entzündete. Klingbeil betont in seiner Rede, dass die SPD seit 2022 redlich bemüht sei, die Fehler der Vergangenheit aufzuarbeiten und zu beheben. Man sei zu bemüht gewesen, die Beziehungen nach Moskau nicht abreißen zu lassen. „Und dabei haben wir (…) verkannt und nicht gesehen, dass die Rahmenbedingungen dieser Beziehung sich längst verändert hatten. Dass das russische Regime unter Putin immer repressiver, aggressiver geworden ist, revisionistisch geworden ist. Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten haben wir das Trennende nicht gesehen. Und, liebe Genossinnen und Genossen, es war ein Fehler, sich vom System Putins nicht früher zu distanzieren. Russland hat sich aus dem System der gemeinsamen Sicherheit und der gemeinsamen Werteorientierung verabschiedet. Heute geht es darum, Sicherheit vor Russland zu organisieren.“

In seiner Rede bezieht sich der SPD-Vorsitzende auf einen Leitantrag des Parteivorstandes mit dem Titel „Sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch“, der auf diesem Bundesparteitag im Dezember 2023 verabschiedet werden soll. Er ist das Ergebnis eines Prozesses, der ungefähr ein Jahr zuvor, im Oktober 2022, begonnen hat. Auch da hatte Lars Klingbeil von Fehlern seiner Partei gesprochen, von „blinde(n) Flecken in unserem Umgang mit Russland“. Er hatte damals, vierzehn Monate vor diesem Parteitag, ebenfalls eine Rede gehalten und darin vier zentrale Fehler seiner Partei in den Beziehungen nach Moskau identifiziert:

  • Die SPD habe auf die deutsche historische Verantwortung geschaut und verkannt, dass Wladimir Putin Geschichte lediglich revisionistisch betrachte, als Werkzeug zur Legitimierung seiner aggressiven Politik.
  • Die SPD habe fälschlicherweise und zu lang an der Vorstellung festgehalten, engere deutsch-russische Wirtschaftsbeziehungen würden zur europäischen Stabilität beitragen.
  • Deutschland habe sich unter sozialdemokratischer Beteiligung energiepolitisch einseitig von Russland abhängig gemacht.
  • Dadurch sei das Vertrauen der Länder Mittel- und Osteuropas verspielt worden, die sich durch die deutsch-russischen Beziehungen bedroht gesehen hätten.

Diese vier Erkenntnisse waren nach dem Oktober 2022 in die Arbeit der Kommission Internationale Politik des SPD-Parteivorstandes eingeflossen, die bis Ende Januar 2023 den Leitantrag ausarbeiteten, der nun elf Monate später auf dem Bundesparteitag beschlossen werden soll. Bei der Vorstellung des Antrages hatte Lars Klingbeil seine Worte vom Oktober wiederholt, erneut von den eigenen Fehlern der Vergangenheit gesprochen und eindringlich dafür geworben, für den Leitantrag zu stimmen.

Die Vorgeschichte

Bei den fast zwanzig Seiten umfassenden „Sozialdemokratischen Antworten auf eine Welt im Umbruch“ handelt es sich um einen außenpolitischen Rundumschlag, der weit über die Beziehungen zu Russland hinausgeht. Neben einer Bestandsaufnahme zahlreicher globaler Krisen und Konflikte werden darin die „Grundlagen sozialdemokratischer Außenpolitik“ neu definiert. Es ist die Rede davon, die eigenen Stärken klar zu benennen, den Multilateralismus und die internationalen Bündnisse, EU und NATO, zu stärken und die Wirtschafts-, Innovations- und Industriepolitik modern und strategisch zu gestalten. Die neue multipolare Weltordnung mit all ihren Chancen und Herausforderungen wird betont, ebenso wie die Notwendigkeit, auf die berechtigten Forderungen des globalen Südens nach Teilhabe an ihrer Gestaltung einzugehen. Und dann steht da, bereits im zweiten Absatz des Antrags: „Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist der bisher brutalste Bruch mit den Grundprinzipien der internationalen Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg mühsam errichtet wurde. Spätestens jetzt wird uns Europäerinnen und Europäern deutlich, dass die Umbrüche keinen Halt vor uns machen.“

Direkt zu Beginn dieses Papiers, das unter dem Eindruck globaler Veränderungen steht, wird explizit die russische Invasion vom 24. Februar 2022 als zentraler Grund dafür identifiziert, dass ein Umdenken in der Außenpolitik der deutschen Sozialdemokratie notwendig sei. Noch bemerkenswerter ist, wie prominent und häufig der Krieg in der Ukraine trotz zahlreicher weiterer globaler Konflikte in dem Antrag vorkommt. Zum Vergleich: Weitere akute Konfliktregionen des Nahen und Mittleren Ostens werden je einmal kurz erwähnt, Israel miteingeschlossen – und das zwei Monate nach dem 7. Oktober 2023 und dem Beginn des Krieges in Gaza nach den Terroranschlägen der Hamas. Ebenso nur ein einziges Mal taucht das Thema China-Taiwan auf. Der russische Angriffskrieg wird hingegen neunmal explizit benannt, jeweils begleitet von Ausführungen zu seinen Hintergründen und Auswirkungen. Lediglich die Klimakrise wird in dem Papier vergleichbar häufig thematisiert.

Nicht nur die Priorität, die dem russisch-ukrainischen Krieg in den „Sozialdemokratischen Antworten“ eingeräumt wird, ist auffällig. Viel prägnanter ist, welche Worte im Antrag gewählt werden, um ihn zu thematisieren – und vor allem die Erkenntnisse, die die SPD aus dem Krieg zu ziehen habe. In vielen Punkten tauchen die Äußerungen wieder auf, die Parteichef Lars Klingbeil seit Oktober 2022 immer wieder verwendet hat. So ist auch hier die Rede von der Fehleinschätzung der Beziehungen zu Russland. Die SPD habe den Fehler gemacht, Moskau weiter als gutwilligen Partner zu betrachten, den man durch die Stärkung wirtschaftlicher Verflechtung demokratisieren und in ein stabiles europäisches Sicherheitssystem einbinden könne. Stattdessen habe Deutschland „sich energiepolitisch in eine Abhängigkeit von Russland begeben, die eine sicherheitspolitische Dimension seiner Energieversorgung verkannt hat.“ Das sind beinahe Wort für Wort die Aussagen aus den Reden des SPD-Parteichefs. Im folgenden Absatz des Antrags heißt es: „Solange Russland sein imperialistisches Ziel der Eroberung und Unterdrückung souveräner Staaten verfolgt, kann es keine Normalisierung des Verhältnisses zu Russland geben.“ Und weiter: „Solange sich in Russland nichts fundamental ändert, wird die Sicherheit Europas vor Russland organisiert werden müssen.“ Auch hier lehnen sich die „Sozialdemokratischen Antworten“ stark an Lars Klingbeil an, dessen Handschrift immer wieder deutlich erkennbar ist.

Dass ein Leitantrag, der solch deutliche Formulierungen enthält, bei der SPD zur Abstimmung steht, wäre vor dem Februar 2022 völlig undenkbar gewesen. Dass er zudem noch vom Parteivorstand selbst eingereicht wurde – vor Beginn der offenen russischen Invasion absolut unvorstellbar! In den vergangenen Jahrzehnten waren Bemühungen um enge deutsch-russische Beziehungen ein Kernpfeiler der sozialdemokratischen Außen- und Europapolitik. Das Grundprogramm der SPD von 2007 definiert die Russische Föderation als einen „unverzichtbaren“ Partner der Bundesrepublik, im Programm zur Bundestagswahl 2021 steht prominent eine Aussage, die nun im Dezember 2023 komplett revidiert werden soll: „Frieden in Europa kann es nicht gegen, sondern nur mit Russland geben.“

Bis zuletzt hatte die neue SPD-geführte Bundesregierung vor zwei Jahren versucht, die sich seit Monaten anbahnende Eskalation des Krieges zu verhindern. Noch am 15. Februar 2022 – auf den Tag genau vor zwei Jahren zum Zeitpunkt des Schreibens dieser Zeilen – hatte der erst zwei Monate zuvor vereidigte Bundeskanzler Scholz eine Verhandlungsreise zunächst nach Kiew und anschließend weiter nach Moskau unternommen. Im Anschluss an lange Gespräche mit den Präsidenten beider Länder gab der Bundeskanzler eine gemeinsame Pressekonferenz mit Wladimir Putin. Der russische Staatschef leitete sie ein mit einem Exkurs zur großen Bedeutung der russisch-deutschen Beziehungen und betonte, „dass Deutschland zu den wichtigsten Partnern Russlands“ gehöre. Er habe bei den Gesprächen den Eindruck gewonnen, „dass auch der Herr Bundeskanzler gewillt ist, weiter pragmatisch und gegenseitig vorteilhaft mit Russland zusammenzuarbeiten.“ Weiterhin nannte Putin die „besondere Rolle in der bilateralen Zusammenarbeit spielt die Energiewirtschaft“, und gab einen Überblick über die Geschichte der deutsch-russischen Partnerschaft im Energiesektor seit den 1970er Jahren – nicht zufällig die Zeit nach dem Beginn der Neuen Ostpolitik der sozialdemokratisch geführten westdeutschen Bundesregierung.

Im Anschluss an Wladimir Putins Ausführungen gab dann Olaf Scholz eine Einschätzung der Lage und der Gespräche ab. Wie sein Vorredner pochte er zu Beginn darauf, dass Deutschland und Russland „historisch und kulturell eng miteinander verflochten“ seien und diese Beziehungen „tief und vielfältig“ seien, wie beispielsweise „die mehr als 90 aktiven Städtepartnerschaften und der rege Kultur-, Jugend- und Bildungsaustausch“ bewiesen. Und wie auch der russische Präsident sprach der deutsche Bundeskanzler von der Bedeutung und dem Potenzial der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern.

Und schließlich kam Olaf Scholz zum Grund seines Besuches: den über die letzten Monate an der russischen Westgrenze zusammengezogenen Truppen, die das westliche Nachbarland Ukraine bedrohten, und der damit verbundenen akuten Gefahr eines ersten Invasionskrieges gegen einen souveränen europäischen Staat seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Der, wie der Bundeskanzler es nannte, „wohl schwersten und bedrohlichsten Krise, die wir seit sehr, sehr langer Zeit in Europa erleben.“ Doch er gab sich zuversichtlich, betonte die Bedeutung der diplomatischen Möglichkeiten, die „noch lange nicht ausgeschöpft“ seien und sprach von seinem dringenden Wunsch, „diese Dinge im Wege des Dialogs“ zu lösen, da eine Sackgasse dieses Weges ein „Unglück für uns alle“ bedeute. Wladimir Putin hörte dem deutschen Gast aufmerksam zu, lächelte unergründlich. Auf die Rückfragen der anwesenden Presse antwortete er anschließend mit denselben ahistorischen Vergleichen über einen angeblichen Angriffskrieg der NATO auf Jugoslawien in den 1990er Jahren und unbelegten Behauptungen über angebliche Genozide an ethnischen Russinnen und Russen im Donbass seit 2013, die für die Russische Föderation nicht hinnehmbar seien. Dennoch reiste der deutsche Bundeskanzler voller Zuversicht aus Moskau ab, eine Eskalation abgewendet zu haben. Eine Woche später marschierten fast 200.000 russische Soldaten in der Ukraine ein. Am 27. Februar 2022 rief Olaf Scholz im Deutschen Bundestag die ‚Zeitenwende‘ der deutschen und europäischen Politik aus.

Das Dilemma der „Friedenspartei“ SPD

Zurück in den Dezember 2023, zum zweiten Tag des SPD-Bundesparteitags:

Noch vor Parteichef Klingbeil hat Rolf Mützenich gesprochen, der Vorsitzende der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion. Seit dem 24. Februar 2022 hatte er sich wiederholt schwerer Kritik ausgesetzt gesehen, weil er – entgegen der realen Kriegs- und Politiklage – immer wieder zu Verhandlungslösungen mahnte und zur Vorsicht bei Waffenlieferungen mahnte, um das Risiko zu minimieren, in den Krieg hineingezogen zu werden. Im Sommer 2022 stand Mützenichs Name neben 69 anderen auf einer Liste des „Zentrums gegen Desinformation des nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine“, weil ihm vorgeworfen wurde, mit seinem Werben dafür, Gesprächskanäle nach Russland offenzuhalten, russische Propagandanarrative zu bedienen. Auch wenn der SPD-Fraktionschef mittlerweile eingelenkt und sich wiederholt öffentlich dafür ausgesprochen hat, die Ukraine bei ihrem Verteidigungskampf so lange wie notwendig zu unterstützen, werden seine Äußerungen zum russischen Angriffskrieg nach wie vor außerordentlich kritisch beobachtet. An diesem 9. Dezember 2023 nun räumt Mützenich auch eigene Fehleinschätzungen der Beziehungen zu Moskau ein. Er habe „das imperiale Denken“ Wladimir Putins „komplett unterschätzt“, gesteht er – trotz der Lektüre des geschichtsrevisionistischen Essays zur Einheit Russlands und der Ukraine, den der russische Präsident im Sommer 2021 veröffentlicht hatte. Kurz nach Erscheinen des Essays hatte Russland begonnen, Truppen an der ukrainischen Grenze zusammenzuziehen.

Schon ein Jahr zuvor hatte Putin anlässlich des 75. Jahrestags der deutschen Kapitulation gegenüber den Alliierten einen Essay verfasst, in dem er den Hitler-Stalin-Pakt aus sowjetischer Perspektive rechtfertigte und die Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 der westlichen Appeasement-Politik, dem nationalsozialistischen Deutschland und – skurrilerweise – Polen zuschob. Dieser Essay war im Sommer 2020 von der russischen Auslandsvertretung an verschiedene Institute für osteuropäische Geschichte an deutschen Universitäten geschickt worden, mit der Empfehlung, ihn zukünftig als Grundlage für die Osteuropaforschung zu verwenden. Diese Beiträge des russischen Präsidenten waren in der deutschen Universitätslandschaft als alarmierende Hinweise für die zunehmende russische Aggression gegenüber der Ukraine wahrgenommen worden. Rolf Mützenich waren diese Warnzeichen offenbar entgangen.

Natürlich müsse die Partei „auch Fehler bekennen, auch Missverständnisse“, so fährt der SPD-Fraktionschef am 9. Dezember 2023 fort. Beispielsweise die lange unter Mithilfe der Sozialdemokraten praktizierte Politik von „Wandel durch Handel“, die in den „Sozialdemokratischen Antworten“ explizit als ein solcher Fehler bezeichnet wird. So deutlich wird Mützenich in seiner Rede jedoch nicht. Abseits des in wenigen Sätzen abgelegten Eingeständnisses seiner persönlichen Fehleinschätzung geht er stattdessen in die Gegenoffensive gegen seine Kritiker, denen er vorwirft, die SPD für ihre Russland-Politik an den Pranger zu stellen, um von eigenen Verfehlungen vor Beginn der russischen Invasion abzulenken. Und auch jetzt wirbt er wieder dafür, „dass wir keine Chance unterlassen, um dieser Diplomatie eine Chance zu geben! Und wer, wenn nicht wir müssen in diese Richtung auch weiterhin denken?“ Was Rolf Mützenich jedoch dabei verkennt, ist, dass zu aufrichtigen Verhandlungen zwei Parteien gehören, die auch an konstruktiver Diplomatie interessiert sind. Und einen solchen willigen Verhandlungspartner gibt es derzeit nicht auf der russischen Seite, die keine Anzeichen macht, ihren seit fast zwei Jahren andauernden brutalen Angriffskrieg beenden zu wollen.

Dieser Teil von Mützenichs Rede, in dem er auf die sozialdemokratische Historie als Friedenspartei pocht, kommt bei vielen der Delegierten im Veranstaltungssaal deutlich besser an als viele der anderen Aussagen an diesem 9. Dezember 2023. Denn dass die Entscheidungen, die auf diesem Bundesparteitag getroffen werden sollen, besonders von der Parteilinken nicht besonders gut aufgenommen werden, ist wenig überraschend. Sich von jahrzehntelang entwickelten Überzeugungen zu verabschieden, ist weder ein einfacher noch ein angenehmer Prozess. Besonders der linke Flügel der SPD blickt voller Stolz auf eine mittlerweile über hundertjährige Parteitradition als Befürworterin von Friedens- und Entspannungspolitik zurück.

Bereits kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs wandten sich im Deutschen Kaiserreich zahlreiche sozialdemokratische Abgeordnete gegen den innenpolitischen Burgfrieden der im Reichstag vertretenen Parteien und verweigerten ihre Stimmen für eine Verlängerung der Kriegskredite. Zu ihnen zählte unter anderen Karl Liebknecht, dessen Protest gegen den Kurs der SPD mit zur Spaltung der Partei beitrug. Aus den linken Abgeordneten um ihn herum bildete sich 1915 zunächst die „Gruppe Internationale“ (ab 1916 unter dem Namen „Spartakusbund“ bekannt), aus der 1917 die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) hervorging.

Das missverstandene Erbe Willy Brandts

Auf diese Tradition als unermüdliche Verteidiger des Friedens und der Verständigung wird sich in der SPD auch heute noch gern berufen. Dazu zählt im Besonderen auch die Neue Ostpolitik Willy Brandts nach 1969. Sowohl Lars Klingbeil als auch Rolf Mützenich erwähnen die von Bundeskanzler Brandt und seinem Berater Egon Bahr proklamierte Politik des „Wandel durch Annäherung“ in ihren Reden am 9. Dezember 2023 explizit und verwahren sich gegen deren Verunglimpfung aus anderen politischen Lagern. Er „werde als Vorsitzender nicht zulassen“, betont Klingbeil, „dass das Erbe von Willy Brandt beschädigt wird“. Und der Bundestags-Fraktionsvorsitzende nennt es eine „Schande“, dass „die Entspannungspolitik der sozialdemokratischen Partei, von Willy Brandt und vielen anderen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, (…) in eine Linie mit dem Angriffskrieg von Präsident Putin zu bringen“ versucht werde.

Doch genau hier scheint nicht nur im linken Flügel der SPD, sondern auch bei den Parteispitzen ein Denkfehler vorzuliegen. Es ist nicht die Neue Ostpolitik Willy Brandts selbst, die kritikwürdig ist, ganz im Gegenteil: Ihre historischen Verdienste sind im demokratischen Spektrum unbestritten, von der Überwindung der Hallstein-Doktrin – der Aufgabe des von 1955 bis 1969 geltenden Alleinvertretungsanspruches der westdeutschen Bundesrepublik – über die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnischer Grenze und der damit verbundenen historischen Aussöhnung mit Polen bis hin zum deutsch-deutschen Grundlagenvertrag 1972. Es sind nicht diese Erfolge – die das Fundament für den Weg zur Wiedervereinigung legten – die man kritisch betrachten muss. Hochproblematisch ist vielmehr das stete Sich-Berufen der SPD auf die Neue Ostpolitik in den vergangenen zehn Jahren, um auf eine friedliche Verständigung mit Russland zu pochen, während diese in Wirklichkeit in immer weitere Ferne gerückt ist; das Augenverschließen vor der Tatsache, dass Russland mit der Annexion der Krim bereits vor fast exakt zehn Jahren die Souveränität seines westlichen Nachbarlandes und die Sicherheit in Europa schwer beschädigt hat, während gleichzeitig die Abhängigkeit der deutschen Industrie von russischem Erdgas weitergewachsen ist.

Darüber hinaus verkennt das ständige Pochen auf die Errungenschaften von „Wandel durch Annäherung“ in der heutigen Zeit realpolitische Fakten: dass nämlich ein Ansatz, der während des Kalten Krieges auf die Verständigung mit Moskau als sowjetischem Hegemon Ost- und Mitteleuropas setzte, seit dem Ende der bipolaren Blockkonfrontation nicht mehr tragfähig ist, weil er die souveränen Sicherheitsinteressen der nach 1990 unabhängig gewordenen Länder der Region ignorieren würde. Und zudem, dass die linke Friedensbewegung während des Kalten Krieges, an der sich in den 1970er und 1980er Jahren auch Teile der SPD gegen den eigenen Bundeskanzler Helmut Schmidt beteiligten, teilweise von Ost-Berlin und von Moskau unterwandert worden war, um sie zum Werkzeug antiamerikanischer Propaganda zu machen. Dafür scheint jedoch ausreichende Selbstreflexion zu fehlen, zumindest ist sie weder aus den Worten des Parteichefs noch aus denen des Fraktionsvorsitzenden herauszuhören.

Dieser Mangel an Selbstkritik setzt sich fort bei vielen, die allem Anschein nach trotz des neuen Leitantrags vom Dezember auch heute noch nicht anerkennen können, dass „Wandel durch Handel“ – bewusst benannt in Anlehnung an das außenpolitische Erfolgsmodell von Brandt und Bahr – vielleicht ursprünglich konstruktiv gedacht war, rückblickend jedoch gescheitert ist. Für die mittel- und osteuropäischen Verbündeten Deutschlands – besonders für die Ukraine –, und auch für die Bundesrepublik selbst, hat diese Politik mehr Schaden angerichtet, als sie Nutzen erbracht hat. Und dabei mangelte es an Warnungen dieser Partner nicht. Doch statt diese ernst zu nehmen, wurde unter Befürwortung wichtiger SPD-Politikerinnen und -Politiker der Bau der Erdgaspipeline Nord Stream II vorangetrieben. Bedenken über die sicherheitspolitischen Auswirkungen auf die Ukraine, Polen oder die Staaten des Baltikums wurden weitestgehend ausgeblendet, denn es handele sich bei der Pipeline um ein rein privatwirtschaftliches Projekt. Noch wenige Monate vor Beginn des russischen Angriffskrieges hatte auch der neugewählte sozialdemokratische Bundeskanzler Scholz genau diese Position vertreten. In Mecklenburg-Vorpommern spielte die dortige sozialdemokratische Ministerpräsidentin Manuela Schwesig eine wesentliche Rolle dabei, Nord Stream II voranzubringen, seit 2021 durch die eigens zu diesem Zweck gegründete, fadenscheinig betitelte „Stiftung Klima- und Naturschutz“. Diese hatte Kritikern zufolge vor allem das Ziel, US-Sanktionen gegen den Bau der Pipeline zu umgehen. Seit der russischen Invasion 2022 werden die Stiftung, ebenso wie die Beteiligung Schwesigs, von einem auf Antrag der Opposition in Mecklenburg-Vorpommern gegründeten Ausschuss im Landtag untersucht.

Parteiinterne Aufarbeitung unerwünscht?

Immerhin in Teilen der SPD ist mittlerweile die Erkenntnis angekommen, dass ein reines Benennen dieser Fehler der Vergangenheit nicht ausreichend ist. Beim Bundesparteitag im Dezember stehen auch einige Anträge auf der Tagesordnung, die weit über das hinausgehen, was in den „Sozialdemokratischen Antworten auf eine Welt im Umbruch“ formuliert wird. Neben dem Leitantrag des Parteivorstandes liegen noch sechs weitere zur Abstimmung vor, die ebenfalls eine Aufarbeitung der sozialdemokratischen Position gegenüber Russland fordern. Eingebracht wurden sie aus verschiedenen Richtungen, durch den SPD-Unterbezirk Bad Tölz-Wolfratshausen, den Landesverband Berlin, den Stadtverband Leipzig oder in Online-Themenforen. Ihre Titel sind sprechend: „Krieg in der Ukraine – Übernahme der Verantwortung für eigene Fehler und keine Zusammenarbeit mehr mit Autokrat*innen und Agress“ [sic!], „Die blinden Flecken der SPD-Ostpolitik aufarbeiten!“, „Einrichtung einer Kommission zum Aufarbeiten der Russland- und Gaspolitik der SPD“ und „Für eine konsequente sozialdemokratische Russlandpolitik!“ liest man im Antragsbuch. Die Forderung nach einer unabhängigen Kommission aus Expertinnen und Experten taucht wiederholt auf. Was eine solche genau untersuchen soll, das ist von Antrag zu Antrag unterschiedlich. Der Berliner Landesverband fordert eine Aufarbeitung der „gegenüber dem russischen Regime praktizierte(n) Politik der Beschwichtigungen“. Wissenschaftlich solle „die Rolle der SPD als Partei aber auch einzelner sozialdemokratischer Politiker*innen (aktueller und ehemaliger Amtsträger*innen)“ untersucht werden, und auch, „ob es dabei persönliche Vorteilsnahmen in wirtschaftlicher oder anderer Form durch aktive Politiker*innen der SPD gab.“

Das geht in die gleiche Richtung wie der mecklenburg-vorpommerische Untersuchungsausschuss, doch in diesem Fall kommt die Initiative aus den eigenen Reihen. Im Antrag des Stadtverbandes Leipzig wird das SPD-Geschichtsforum vom 9. März 2022 zitiert: „Da wurde lange das Appeasement gegenüber Putins Russland mit dem mörderischen Krieg Deutschlands begründet – und ausgeblendet, dass die Ukrainer die ersten Opfer des deutschen Angriffskrieges gegen die Sowjetunion waren.“ Und: „Da wird Willy Brandts Ostpolitik zum Selbstzweck erhoben (…)“. Der Antrag umfasst nur vierzehn Zeilen in drei Absätzen, doch prägnanter als er es tut, könnte er die Notwendigkeit einer kritischen Aufarbeitung der sozialdemokratischen Politik der letzten Jahrzehnte kaum darstellen.

Kurz vor Beginn des Bundesparteitages gab der Vorsitzende der Leipziger SPD, Holger Mann, einer der Mitverfasser, dem Online-Medium Telepolis ein Interview über den Antrag und den mit ihm verbundenen Hoffnungen. Obwohl die Antragskommission im Vorfeld der Abstimmung den Delegierten die Ablehnung des Antrags empfohlen hatte, freue er sich auf den kritischen Austausch, sagte Mann, da dieser dem Erkenntnisgewinn diene. Ihm sei bewusst, dass viele in der SPD dem Positionswechsel der Partei gegenüber Russland kritisch gegenüberstünden: „Welche Menschen ändern mal eben so ihre in vielen Jahrzehnten erworbenen Positionen, nur weil jemand im Parteivorstand sagt: ‚Leute, wir haben da einiges zu überdenken und müssen vieles anders ausrichten‘? Nein, derer muss man sich persönlich annehmen.“, sagte Mann. Und betonte zusätzlich noch: „Wir sind weiter der Meinung, dass der Aufarbeitungsprozess noch nicht abgeschlossen ist.“

Wie recht er damit hatte, konnte er noch nicht wissen, als er dieses Interview gab. Wie von der Antragskommission empfohlen lehnen die Delegierten des Bundesparteitags den Vorstoß des Leipziger Stadtverbandes ab, ebenso wie zwei weitere, die ebenfalls eine unabhängige Untersuchung der SPD-Russlandpolitik durch externe Expertinnen und Experten fordern. Der Leitantrag des Parteivorstandes, der angenommen wird, enthält keinen derartigen Passus. Und auch die anderen Anträge, die sich – teils weit über die Forderungen in den „Sozialdemokratischen Antworten“ hinausgehend – für eine Aufarbeitung der sozialdemokratischen Fehler im Umgang mit Ost- und Mitteleuropa einsetzen, werden abgelehnt.

Hier muss erwähnt werden, dass auch einige Vorstöße aus dem linken Parteiflügel, deren Forderungen in die Gegenrichtung der vom Parteivorstand ausgerufenen neuen ostpolitischen Linie abzielen, abgelehnt werden. So gibt es mehrere Anträge, die fordern, man solle sich wieder um Verhandlungen mit Russland bemühen. Sie verkennen genau das, was Lars Klingbeil seit dem Oktober 2022 wiederholt betont, Rolf Mützenich in seiner Rede im Dezember 2023 jedoch nicht erwähnt hat: dass Russland in der aktuellen Lage kein vertrauenswürdiger und konstruktiver Verhandlungspartner ist.

Einige Anträge auf dem Bundesparteitag gehen sogar noch darüber hinaus: So wird in einem Einzeiler des SPD-Kreisverbandes Erlangen-Stadt gefordert, die Bestellung von Lockheed F-35-Kampfjets im Rahmen der Aufrüstung der Bundeswehr zu stornieren. Und in einem weiteren Antrag, sprechenderweise eingebracht von der Arbeitsgemeinschaft SPD 60plus, wird betont: „SPD bleibt Friedenspartei“. Angeprangert werden angebliche Scharfmacher im politischen Diskurs, die sich für weitere Waffenlieferungen an die Ukraine einsetzten und somit riskierten, die NATO in den Ukrainekrieg hineinzuziehen. Namentlich wird hier gegen die FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack Zimmermann geschossen, die immerhin „Vorsitzende des Verteidigungs- und nicht des Kriegsausschusses“ sei. Ebenso wie der Grünen-Politiker Anton Hofreiter und der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz sei sie einem „Teufelskreis (…) dieser Kriegslogik verfallen“ und diene „jenen, die Interesse an der Lieferung von mehr Waffen haben.“ Dieser „Gewöhnung an die Kriegslogik“ müsse man entgegenwirken, so heißt es in dem Antrag – natürlich unter Berufung auf die Neue Ostpolitik, denn: „Das haben wir von Willy Brandt und Egon Bahr gelernt. Frieden und Sicherheit in Europa sind ohne Russland nicht zu denken.“ Da sind sie wieder, diese „in vielen Jahrzehnten erworbenen Positionen“, wie Holger Mann sie in seinem Interview genannt hatte. Ganz offensichtlich herrschen diese alten Überzeugungen in nicht unwesentlichen Teilen der Sozialdemokratischen Partei auch im Jahr 2023 weiterhin vor.

Apropos Marie-Agnes Strack Zimmermann und Anton Hofreiter: Beide waren im April 2022 nach Kiew gereist, um sich vor Ort ein Bild von der Lage in der Ukraine zu machen. Der Dritte im Bunde war der SPD-Mann Michael Roth, zu diesem Zeitpunkt Beisitzer des Parteivorstandes. Diese Konstellation war kein Zufall: Strack-Zimmermann sitzt dem Verteidigungsausschuss des Bundestages vor, Hofreiter leitet den Europa- und Roth den Auswärtigen Ausschuss. Die Reise war, neben dem offensichtlichen Zweck, die angegriffene Ukraine der deutschen Solidarität zu versichern, auch als deutliches Signal ans Bundeskanzleramt gemeint. Olaf Scholz war zu diesem Zeitpunkt noch nicht nach Kiew gereist. Und Michael Roth trat in den folgenden Monaten wiederholt als lautstarker Kritiker der Ukraine-Politik der Bundesregierung wie auch der Linie seiner eigenen Partei auf. Wiederholt bemängelte er, wie auch Strack-Zimmermann, die Zögerlichkeit bei den Waffenlieferungen und forderte ein stärkeres deutsches Engagement für die Verteidigung der Ukraine auf. Im Dezember 2023 nun erntet er parteiintern die Früchte seiner lauten Kritik: Bei der Wahl des Parteivorstands kandidierte Michael Roth erneut als Beisitzer, verfehlt jedoch die erforderlichen Stimmen für eine Wiederwahl und tritt nicht zu einem zweiten Wahlgang an. Die Reaktionen der Delegierten im Saal sinddeutlich: Das Ergebnis dieses ersten Wahlgangs wird besonders aus Teilen des Plenums mit höhnischem Beifall, Pfiffen und sogar Jubeln quittiert. Es ist eine Abrechnung des linken Parteiflügels mit dem unliebsamen Kritiker lange liebgewonnener Überzeugungen.

Lars Klingbeil wählte am 9. Dezember 2023 klare und scharfe Worte, der SPD-Parteivorstand rief mit den „Sozialdemokratischen Antworten auf eine Welt im Umbruch“ offiziell einen Kurswechsel in der Ostpolitik aus. Doch einige Anträge, zahlreiche Reaktionen auf die Rede des Parteichefs und der Umgang mit Michael Roth machen deutlich, wie recht Holger Mann hatte: Der Aufarbeitungsprozess der sozialdemokratischen Osteuropa- und Russlandpolitik ist noch lange nicht abgeschlossen. Oder, um es mit den Worten Willy Brandts zu sagen: „Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.

Cornelius Lilie, Bonn

(Anmerkungen: Der Autor ist Doktorand an der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn. Er ist Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung. Erstveröffentlichung im Februar 2024, Internetzugriffe zuletzt am 21. Februar 2024. Titelbild: Willy Brandt am 13. März 1961 im Weißen Haus bei John F. Kennedy. Foto: Marion S. Trikosko. Wikimedia Commons.)