Weltbild Antisemitismus

Von der allmählichen Verfertigung eines Feindbilds beim Reden

„Unser Gehirn speichert Sprache nämlich nicht einfach in Form von Wörtern ab, deren Elemente durch grammatische Regeln frei kombiniert werden. Für jedes Wort vermerkt es auch, wie oft wir es lesen oder hören. Je öfter das der Fall ist, desto leichter wird ein Wort aktiviert, desto unauffälliger erscheint es uns, wenn wir ihm begegnen, und desto leichter geht es uns selbst über die Lippen. Das gilt nicht nur für einzelne Wörter, sondern vor allem auch für Wortverbindungen – unser Wortschatz besteht nicht vorrangig aus Wörtern, sondern aus häufig gehörten größeren sprachlichen Versatzstücken.“ (Anatol Stefanowitsch, in Jüdische Allgemeine 1. Februar 2018)

Anatol Stefanowitsch knüpft mit dieser Analyse an einen Klassiker der Sprachanalyse an: Victor Klemperers „LTI – Notizbuch eines Philologen“, erstmals 1947 erschienen. Heute könnte man Victor Klemperers Analyse der „Lingua Tertii Imperii“ vielleicht als Vorläufer der Kognitiven Linguistik lesen, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gut erprobte Instrumente zur Erfassung der Wirkungen menschenfeindlicher Sprache und Emotionen entwickelt hat.

Fiktive Wirklichkeit(en)

Sprache bildet Wirklichkeiten nicht nur ab, sie schafft sie. Monika Schwarz-Friesel formuliert diese doppelte Rolle von Sprache in ihrem Standardwerk „Sprache und Emotion“ (2007 in erster, 2013 in zweiter Auflage im Narr Francke Attempto Verlag erschienen): „Die Sprache hat also neben der realitätsabbildenden Funktion auch eine realitätskonstituierende Rolle. Die realitäts- und gegenstandskonstituierende Funktion von Sprache wird besonders deutlich, wenn wir auf fiktive Texte blicken. Der Produzent eines literarischen Werkes kreiert mittels sprachlicher Strukturen eine eigenständige Wirklichkeit. (…) / Fiktive Welten sind mögliche Welten.“ Ähnlich dürfte es sich mit der „Macht der Bilder“ in Filmen und Fernsehserien verhalten.

Manchmal werden selbst eindeutig als fiktiv erkennbare Texte der Unterhaltungsliteratur wie die Harry-Potter-Romane oder die Bücher von Otfried Preußler zu einer Bedrohung. Ein Zeuge Jehovas hatte vor längerer Zeit gegen die Verwendung der Verfilmung des Romans „Krabat“ von Otfried Preußler im Schulunterricht geklagt, da seine Kinder sich aufgrund seiner religiösen Überzeugung sich nicht mit Zauberei und Spiritismus auseinandersetzen dürften. Er las den Roman eben nicht als Unterhaltung, sondern als Erziehungsprogramm, das ihm und seinen Kindern Verbotene zu tun und womöglich sogar an Zauberei zu glauben. Das Bundesverwaltungsgericht entschied im September 2019, dass der Unterricht ein höheres Gut sei als die als verletzt dargestellten religiösen Gefühle des Klägers. Die Klage wurde abgewiesen.

Doch kein Urteil ist in Stein gemeißelt, kein Urteil hat Ewigkeitswert. Rechtsauffassungen können sich mit der Zeit verändern. Es ist vorstellbar, dass es einen Staat gibt, in dem die Harry-Potter-Romane und andere vergleichbare Bücher verboten werden, weil sie zur Zauberei aufriefen. Das sogenannte „Krabat-Urteil“ durchlief immerhin drei Instanzen. Ein katholischer Pfarrer erreichte im Juli 2019, dass die Lektüre der Harry-Potter-Romane in einer Schule in Nashville (Tennessee) verboten wurde. In Polen haben katholische Geistliche Harry-Potter-Romane verbrannt.

Bei gesellschaftspolitischen Entwicklungen verhält es sich nicht anders, nur mit dem Unterschied, dass es nicht so harmlos sein dürfte wie bei fiktiven Texten. Wenn lange genug behauptet wird, dass hinter all dem, was manche Menschen ärgere, die Verschwörung einer gefährlichen Clique stünde, glauben mit der Zeit immer mehr Menschen, dass es sich tatsächlich so verhält. Verschwörungstheorien werden schnell populär und teilweise sogar zu Religionsersatz oder Staatsphilosophie. Fiktive Erzählungen werden zu quasi-heiligen Büchern. Das gilt beispielsweise für Scientology oder das Mormonentum und nicht zuletzt für „Die Protokolle der Weisen von Zion“, nachweislich eine Fälschung der zaristischen Geheimpolizei, der Ochrana. Die „Protokolle der Weisen von Zion“ werden bis heute in manchen Ländern und von manchen gesellschaftlichen und politischen Gruppen nicht als Fälschung, sondern als Wahrheit gelesen und verbreitet.

Vergleichbar populär war der 1868 von Hermann Ottomar Friedrich Goedsche unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe veröffentlichte Roman „Biarritz“, der eine geheime Zusammenkunft von Vertretern der zwölf Stämme Israels auf dem jüdischen Friedhof von Prag schilderte, in der die Übernahme der Weltherrschaft verabredet wurde. Der Roman wurde schon 1873 in einer russischen Schrift als Tatsachenbericht herausgegeben, dann auch 1919 in Deutschland, das Kapitel auf dem Judenfriedhof wurde 1926 vom Völkischen Beobachter nachgedruckt. Der englische Name des Autors, Elemente des historischen Romans sowie des Schauer- und Abenteuerromans sorgten dafür, dass der Roman gelesen wurde, ähnlich im 20. Jahrhundert wie Romane von Karl May, die sich als Tatsachenromane ausgaben und mit all ihren Stereotypisierungen nicht weißer und nicht christlicher Menschen ganze Generationen von jungen (und älteren) Menschen in ihrem Bild fremder Völker mehr beeinflussten als jeder schulische Geschichts- und Erdkundeunterricht dies vermochte.

Die edlen Ausnahmen, Winnetou, Hadschi Halef Omar oder Marah Durimeh, von Karl May als „Edelmenschen“ inszeniert, bestätigen diese Weltsicht geradezu, eben weil sie Ausnahmen sind und zumal sie sich alle – Winnetou in seinen letzten Worten –  zum Christentum bekennen. Die Karl-May-Gesellschaft verzeichnet John Retcliffe in ihrer „Bibliothek digitaler Reprints klassischer Abenteuerliteratur“. Diese „Bibliothek“ ist noch im Aufbau, es werden Mitwirkende gesucht, die über deutsche Ausgaben der diversen Autoren* verfügen, die dann digitalisiert werden können. Ob Kommentare folgen, bleibt abzuwarten. Und ob und wie antisemitisch Karl May selbst war und welchen Einfluss der zeitgenössische Antisemitismus auf sein Werk hatte oder was möglicherweise später von interessierten Bearbeiter*innen seines Werkes hinzugefügt wurde, ist eine spannende Forschungsfrage, der nachzugehen sich lohnen dürfte. Figuren wie Baruch Silberglanz und Judith Silberstein sprechen dafür, dass Karl May sich vom zeitgenössischen Antisemitismus nicht distanzierte, sondern die Zeichnung seiner Figuren zumindest einem vermuteten Publikumsgeschmack anpasste.

In ihrem Essay „Literarischer Antisemitismus – Judenfeindschaft als kultureller Gefühlswert“ erläutert Monika Schwarz-Friesel die Bezüge des Antisemitismus „als abendländisches Ressentiment“ mit einem „tief im kollektiven Gedächtnis verankert(en“ „Gefühlswert“, der „nicht nur den Alltag und die Politik im Umgang mit Jüdinnen und Juden, sondern auch viele Kunstwerke der vergangenen Jahrhunderte geprägt“ hat. Die von ihr angesprochenen Romane von Charles Dickens, Gustav Freytag, Wilhelm Raabe und Oscar Wilde – Karl May ist nicht dabei – sind alle Autoren* mit zum Teil heute noch hohen Auflagen. Sie präsentieren in ihren Romanen junge wie ältere (in der Regel männliche) Juden* ausschließlich als körperlich unangenehm und schmuddelig wirkende Erscheinung. Sie lösen bei Leser*innen unangenehme Gefühle aus, die wiederum bereits vorhandene antisemitische Ressentiments verstärken oder – falls noch nicht oder nur in nuce vorhanden – wecken. „Das Konzept des Anderen, des absoluten Feindes, des verkommenen Bösen findet künstlerisch in der Figur des jüdischen Antagonisten seinen belletristischen Ausdruck.“

Vom Ressentiment zum Mord

Was aus solcher Lektüre in den Jahren 1933 bis 1945 in Deutschland und weiten Teilen Europas wurde, ist bekannt: aus Ressentiment wurde Mord. Die interessante Frage hinter der Annahme, dass fiktive Welten Wirklichkeit werden können, ist die, warum es so schwierig ist, sich gegen fiktive und fiktionale Wirklichkeiten zu behaupten, die durch Sprache, durch Texte geschaffen werden.

Für ihr Buch „Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert“ (Berlin / Boston, Walter de Gruyter, 2013) untersuchten Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz „Tausende von E-Mails, Briefen, Postkarten und Faxe, die an den Zentralrat der Juden in Deutschland und die Israelische Botschaft in Berlin aus allen Regionen Deutschlands und von den verschiedensten Personen geschickt wurden“. Es geht um den Zeitraum zwischen 2002 und 2012. Im Untersuchungszeitraum nahm „die Zahl der explizit antisemitischen und aggressiven Zuschriften deutlich zu. Explizite Hass- und Drohmails, wie sie ab 2006 zu beobachten sind, kommen in den Jahren 2002 bis 2005 noch nicht bzw. nur selten vor.“ Das hat sich inzwischen geändert. Die Aggressivität der antisemitischen Invektiven ist erheblich angestiegen, wie Monika Schwarz-Friesel (in: „Judenhass im Internet“, Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2019, auch über die Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich) und Julia Bernstein (in: „Antisemitismus an Schulen in Deutschland“, Weinheim / Basel, Beltz Juventa, 2020) belegen.

Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz nennen ein eindeutiges Kriterium dafür, wann eine Äußerung antisemitisch ist und wann nicht. „Ob eine Äußerung als antisemitisch zu charakterisieren ist, kann unzweideutig mittels text- und diskursanalytischer sowie kognitionslinguistischer Kriterien festgestellt werden (…). Von alltäglicher Verbal-Aggressivität (…) unterscheiden sich Verbal-Antisemitismen wesentlich dadurch, dass die Gruppenzugehörigkeit der Angegriffenen entscheidend für die verbale Gewalt ist: Menschen werden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Judentum abgelehnt angegriffen und negativ bewertet (…). So entsteht die Gewalt einer „Feindbildkonstruktion“.

Steter Tropfen höhlt den Stein, und dieser Schaden lässt sich – um im Bild des Sprichworts zu bleiben – nicht rückgängig machen. Mit der Zeit wird der Stein zerbrechen, zu Sand zermahlen. „Permanent gespeicherte, über Jahre hinweg erhaltene Einstellungen erweisen sich als resistent gegenüber Erfahrungswerten und rationalen Argumenten (…).“ Diese Einstellungen wirken auf das Langzeitgedächtnis (LZG) nicht nur des einzelnen Menschen, sondern auch großer Gruppen, werden zu kollektiv geglaubten und tradierten Wahrheiten. „Ein Vorurteil einer bestimmten Menschengruppe ist somit eine im LZG gespeicherte kognitive Stereotyprepräsentation, die an eine emotionale Negativeinstellung gekoppelt ist.“

Menschen werden fähig, andere Menschen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossenen Gruppe zu ermorden, weil durch „diese kognitive Repräsentation (…) grundlegende Gefühle wie Mitleid und Mitgefühl sowie moralische Empfindungen komplett ausgeblendet oder dem ‚höheren Ziel‘ untergeordnet werden. Nur so kann man etwa erklären, dass Selbstmordterroristen unschuldige Menschen mit in den Tod reißen.“ Oder dass bieder erscheinende Menschen in Babij Jar oder Riga-Kaiserwald dazu beitrugen, über 30.000 Menschen nur deshalb zu erschießen, weil sie Jüdinnen*Juden waren, oder in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern ihre tägliche Arbeit wie jede andere Arbeit auch taten und Menschen ohne Gewissensbisse in den Tod schickten.

Der*diejenige, der*die den Mordbefehl gibt, wird für diese Menschen mit der Zeit zu einer quasi-göttlichen Gestalt. Das erleichtert den alltäglichen Mord erheblich. Es wurde ja so von Gott und seinen Stellvertretern* auf Erden so befohlen. Viktor Klemperer verweist auf die „Selbstvergottung“ Hitlers: „Dass Hitler sich selbst mit unzweideutig neutestamentlichen Worten als den deutschen Heiland bezeichnet, habe ich mir nur einmal notiert (…). Unter dem 9. November 1935 trug ich ein: ‚Er nannte die bei der Feldherrnhalle Gefallenen ‚Meine Apostel‘ – es sind sechzehn, er muss natürlich vier mehr haben als sein Vorgänger –, und in der Beisetzungsfeier hieß es: ‚Ihr seid auferstanden im Dritten Reich.‘“ Spricht nicht Gott selbst, sprechen sein selbsternannter Stellvertreter, seine „Apostel“, seine „Priester“: „Von 1933 bis 1945 (…) hat dieses Zum-Gott-Erheben des Führers, dieses Angleichen seiner Person und seines Tuns an Heiland und Bibel Tag für Tag stattgefunden und immer ‚wie am Schnürchen geklappt‘, und nie konnte ihm im geringsten widersprochen werden.“

Befehle einer solchen Führergestalt werden „blindlings“ ausgeführt, ein Wort, dass Viktor Klemperer zu „den Pfeilerworten der LTI“ zählt und das „nicht viel seltener gebraucht (wird) als ‚fanatisch‘“. „Fanatisch“ ist die Grundeinstellung in der „Masse der mechanisierenden Wörter.“ Viktor Klemperer versteht Sprache als ein Gebäude, in dem die einzelnen Wörter als Werkzeuge oder Fundamente dienen, die den Zusammenhalt des gesamten Gebäudes sichern. Wer eine solche Sprache verinnerlicht, wird nicht mehr daran zweifeln, dass jede Abweichung zu einer Beschädigung, wenn nicht zum Einsturz des gesamten Gebäudes führen muss, der letztlich auch den eigenen Tod bewirkt. Schlussfolgerung: wer abweicht und damit das Gebäude gefährdet, muss vernichtet werden.

Freund oder Feind?

In einem solchen Gedanken- und Sprachgebäude dreht sich jede politische Debatte – ganz im Sinne von Carl Schmitt – nur noch um die Frage, wie sich Freund*in und Feind*in, Retter*in und zu Rettende, Erlöser*in und zu Erlösende zueinander verhalten. Vorübergehende Zustände werden zu einer ständigen Eigenschaft. Es gibt nur noch ein „Wir“ und „die Anderen“, nur noch Feind*in und Freund*in, nichts dazwischen. Die Gefühlslage der sich als Überlegene Inszenierenden stabilisiert sich, wird unerschütterlich oder „unverbrüchlich“, wie es in einer anderen Diktatur des 20. Jahrhunderts genannt wurde. Monika Schwarz-Friesel in „Sprache und Emotion“: „Diesbezüglich besteht ein erheblicher Unterschied zwischen ängstlich sein (im Sinne einer Eigenschaftsemotion) und sich ängstlich fühlen (im Sinne einer Zustandsemotion). Die seelische Grundbefindlichkeit eines Individuums konstituiert sich über die Eigenschaftsemotionen, und als Zustandsemotion erfahren diese dann jeweils eine zeitlich begrenzte Fokussierung auf einem bestimmten Aktivationsniveau.“

Ein auf den ersten Blick harmlos erscheinendes Beispiel zeigt, wie das funktioniert: Wenn ich mich über einen längeren Zeitraum finanziell benachteiligt fühle, entwickele ich mich möglicherweise zu einem Menschen, der der Meinung ist, dass er*sie grundsätzlich finanziell benachteiligt ist, dafür aber jemanden verantwortlich machen kann und – bei entsprechender propagandistischer Unterstützung – mit der Zeit verantwortlich machen darf, wenn nicht sogar machen muss, weil diese*r zu Unrecht, aus Habgier über bessere finanzielle Ressourcen verfügt und mir diese vorenthält. Es entsteht Ressentiment, und aus dem Ressentiment erwächst Gewalt, zunächst vielleicht nur in der Sprache, mit der Zeit jedoch in körperlicher Gewalt bis hin zum Mord.

So funktionieren Klatsch, Werbung und politische Propaganda, nicht nur im Hinblick auf Antisemitismus. NS- und Kommunismus-Vergleiche dienen in der politischen Auseinandersetzung nach 1945 oft dazu, eine*n politische*n Gegner*in nachhaltig zu diffamieren. Seit dem Zusammenbruch der DDR erleben dies Politiker*innen der gemäßigten wie der radikalen Linken in Deutschland regelmäßig, in beiden deutschen Staaten vor 1989 regelmäßig Politiker*innen, die sich in irgendeiner Form für den Dialog beider Seiten engagierten. Der „Wandel durch Annäherung“ (Egon Bahr) wurde von der damaligen westdeutschen Opposition als Versuch verstanden, den Kommunismus auch im “Westen“ einzuführen. Monika Schwarz-Friesel zitiert Willy Brandt, der im Frühjahr 1985 den Generalsekretär der CDU, Heiner Geißler, als „seit Goebbels der schlimmste Hetzer in unserem Land“ bezeichnete, und Helmut Kohl, der sich zwar damals gegen diesen Vergleich verwahrte, ihn aber 1986 selbst zur Charakterisierung von Michail Gorbatschow verwandte: „Er ist ein moderner kommunistischer Führer, der sich auf Public Relations versteht. Goebbels, einer von jenen, die für die Verbrechen der Hitler-Ära verantwortlich waren, war auch ein Experte für Public Relations.“

Vielleicht wollte Helmut Kohl nur sagen, dass man*frau die Techniken der „Public Relations“ für gute wie für schlechte Dinge verwenden könne und sich nicht auf das verlassen sollte, was der Öffentlichkeit präsentiert werde, doch sorgt er mit dem Goebbels-Vergleich natürlich dafür, dass alle, die ihm zuhören, automatisch denken, dass Nazis und Kommunisten einander immer schon ähnelten und sich auch auf immer gleichen würden, eine Variante der sogenannten „Hufeisentheorie“; die auch im Jahr 2020 immer noch unter konservativen Geistern eine gewisse Popularität genießt. Dass Helmut Kohl natürlich mit einem solchen Satz selbst „Public Relations“ betreibt, merken viele seiner Zuhörer*innen zumindest zunächst nicht.

Monika Schwarz-Friesel verweist auf die Wirkung einer „Analogierelation“, in der – wie bei der Nutzung von Metaphern und Allegorien auch – Dinge, Ereignisse, Bilder von Personen – miteinander verknüpft, die nichts miteinander zu tun haben. Doch was bedeutet das für eine Analyse des Antisemitismus?

Die Gewalt der Analogien

Diese Analogiebildung funktioniert auch in der Bewertung historischer Ereignisse. Wenn ich anfange, die Opfer von Diktaturen, Pogromen oder Kriegen miteinander zu vergleichen, schaffe ich nicht nur Opferkonkurrenzen, sondern auch Opferhierarchien. Opfer ist Opfer, Opfer bleibt Opfer – so lautet die Botschaft, die jemand verwenden kann, um eigenes Leid zu beschreiben, das hinter dem anderer natürlich nicht zurückstehen darf und kann. Die deutsche Erinnerungskultur kennt zahlreiche solcher Verfahrensweisen, sich selbst als das eigentliche Opfer zu bezeichnen und damit den Opferstatus der 1933 bis 1945 vertriebenen, schikanierten und ermordeten Menschen zu relativieren. Widerstand gegen diese Bagatellisierung wiederum kann Aggressionen bewirken, die sich dann in der Anklage der Opfer der anderen Seite äußern. Jüdinnen*Juden wurden und werden in der Geschichte immer wieder als diejenigen verdächtigt, die Finanzen und Politik gleichermaßen beherrschten. Sie wurden und werden gleichzeitig als Kommunist*innen und als Kapitalist*innen gebrandmarkt. Jüdische Politiker*innen wurden und werden gleichermaßen mit Stalin und Hitler verglichen, nicht zuletzt dann, wenn es um Israel geht. Sie sind in diesem Gedankengebäude immer Täter*innen, nicht Opfer.

Monika Schwarz-Friesel: „So führt einerseits die Rebellion gegen die im staatlichen Diskurs angemahnte Moralverpflichtung, andererseits die emotionale Entlastungsstrategie zu einer teils aggressiven, teils trotzigen Abwehrhaltung (‚Schuld an unserem schlechten Gewissen haben nur die Juden‘). Dann ist man froh, wenn man am Opfer Täterprofile zu entdecken glaubt, schlechte Eigenschaften, die das Schuldgefühl relativieren.“

Bei mancher Kritik, mancher Anschuldigung gegen Israel als Staat oder gegen israelische Staatsorgane geht es den selbsternannten „Kritiker*innen“ weniger darum, sich mit einer Opfergruppe, in diesem Fall den Palästinenser*innen, zu solidarisieren, sondern in erster Linie darum, Israel und allen Jüdinnen*Juden als Kollektiv das Recht abzusprechen, sich auf die Shoah, den Holocaust, zu berufen. In diversen sozialwissenschaftlichen Studien erhält der Satz, dass Jüdinnen*Juden zu viel über den Holocaust sprächen, in Deutschland regelmäßig hohe, oft mehrheitsfähige Zustimmungsraten. Fast ebenso erfolgreich sind die Zustimmungsraten zu der Behauptung, dass Israel gegenüber den Palästinenser*innen sich verhielte wie der Nazi-Staat gegenüber den Jüdinnen*Juden, eine bei aller Infamie das allgemeine Ressentiment verstärkende „Analogierelation“ im Sinne der Beschreibung von Monika Schwarz-Friesel.

Nach 1945 wurde es schwieriger, das Ressentiment gegen Jüdinnen*Juden auszuleben, aber nicht unmöglich, denn der Antisemitismus fand auch und gerade an Hochschulen eine neue Begründung. Monika Schwarz-Friesel: „Statt explizit auf Juden zu verweisen, werden vage Paraphrasen wie ‚jene einflussreichen Kreise‘, oder ‚jene gewisse Religionsgemeinschaft‘ benutzt. Über referenzielle Verschiebung wird auf ‚Israel‘, die ‚Israel-Lobby‘, oder die ‚Zionisten‘ referiert. Zugleich werden uralte judeophobe Stereotype (Rachsucht, Kindermord, Blutkult) auf Israel projiziert. Anstelle von ‚internationalem Finanzjudentum‘ wird ‚internationales Finanztum‘ gesetzt, (…) „Rothschild“ ist eine bekannte Chiffre für die Stereotype des jüdischen Wuchers und Finanzwesens. Der Topos des „jüdischen Weltenübels“ wird heute kommuniziert als ‚Israel ist die größte Gefahr für den Weltfrieden‘“.

Daraus könnte frau*man schließen, dass jemand, der*die jemanden mit dem Nationalsozialismus in Verbindung bringt oder sogar explizit mit Goebbels oder anderen prominenten Nazis vergleich, damit nicht mehr oder weniger sagt, wen er*sie für die größte Bedrohung hält. Die Goebbels-Vergleiche von Willy Brandt und Helmut Kohl hatten keine nachhaltige Wirkung, die Verglichenen, Heiner Geißler und Michail Gorbatschow, gelten heute als gute Demokraten. Die Vergleiche Israels und israelischer Politiker*innen sowie von Jüdinnen*Juden im Allgemeinen mit Nationalsozialismus, Rassismus oder Apartheid haben jedoch immer wieder Konjunktur, nachhaltig!

Das binäre Konstrukt – ein Glaubenssystem

In ihrer Studie „Judenhass im Internet“ dokumentiert Monika Schwarz-Friesel die ständige Radikalisierung der letzten Jahre. Ob diese dem Medium „Internet“ geschuldet ist, ist schwer zu sagen, aber letztlich für eine Beschreibung des Phänomens und eine Begründung der nachhaltigen Wirkung des Antisemitismus unerheblich. Es wäre sicherlich interessant zu untersuchen, wie sich die Sprache von Antisemit*innen zu der auf andere Gruppen bezogenen Sprache verhält. Die 2015 von Karim Fereidooni in Heidelberg eingereichte Dissertation legt nahe, dass sich Inhalte und Form diskriminierender Äußerungen und Verhaltensweisen unabhängig von der Gruppe der Betroffenen einander gleichen (Titel der Dissertation: „Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen von Referendar*innen und Lehrer*innen ‚mit Migrationshintergrund‘ im deutschen Schulwesen. Eine quantitative und qualitative Studie zu subjektiv bedeutsamen Ungleichheitspraxen im Berufskontext“).

Vergleichbar werden Antisemitismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (Wilhelm Heitmeyer) damit noch nicht. Es gibt Analogien der Form, Analogien in der Nutzung von Medien. Die Kontinuität, Permanenz und Penetranz antisemitischer Weltbilder über die Jahrhunderte besteht jedoch unabhängig von der Form und unabhängig vom gewählten Medium. Für Antisemit*innen galt und gilt grundsätzlich und andauernd Alarmstufe Rot. Es ist noch nicht einmal erforderlich, dass Jüdinnen*Juden irgendwo in der Nähe präsent sind. Es reicht aus, dass es sie irgendwo auf der Welt überhaupt gibt. Antisemit*innen glauben fest daran, dass Jüdinnen*Juden sie in ihrer Existenz selbst aus der Ferne bedrohen.

Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz: „Obwohl selbst in keiner Weise von Beschneidung oder Bombenalarm betroffen, schreiben Antisemiten, als ginge es um ihr Leben. Konkreter und persönlicher könnten Gefühle nicht sein. Solche intensiven Gefühlswerte sind normalerweise nur bei persönlicher Betroffenheit zu konstatieren, d.h. wenn es sich um eigene existenzielle und familiäre Angelegenheiten handelt. Der intensive Hass wird gespeist aus einem kulturellen Wahn-Sinn. Es ist ‚Wahn‘ aus der Perspektive von nicht antisemitisch eingestellten Menschen, es ist ‚Sinn‘ für Antisemiten. Ihr Glaube erzeugt ‚Tatsachen‘, die im Kreislauf des sich immer um die gleichen Stereotype drehenden Weltdeutungssystems den Status der Wahrheit haben.“

Antisemitismus wirkt als „Glaubenssystem“, „ein für Fakten geschlossenes Weltbild, in dem sich pseudo-rational alles kohärent zusammenfügt.“ Letztlich wirkt das gesamte System in sich plausibel, wenn frau*man der Grundannahme zustimmt. Es verhält sich mit dem Antisemitismus nicht anders als mit dem Glauben mancher Menschen daran, dass die Erde keine Kugel, sondern flach ist, oder daran, dass die Welt vor etwa 6.000 Jahren geschaffen wurde und es keine Evolution gibt. Kreationist*innen und Flatearthers entwickeln von ihrer Grundannahme ausgehend ein durchaus nachvollziehbares in sich kohärentes System. Im Grunde tun dies auch Religionen, die die Existenz eines oder mehrerer Götter, möglicherweise sogar die Göttlichkeit von Menschen, ein Leben vor der Geburt oder nach dem Tode in sich schlüssig behaupten.

Wer sich solchen Grundannahmen argumentativ widersetzt, läuft Gefahr, in hitzige, mitunter aggressiv geführte Debatten verwickelt zu werden, die oft genug sogar gewalttätig enden. Im Hinblick auf die Geschichte des christlichen Antisemitismus belegt das Eskalationspotenzial des Vorwurfs, die wahre Botschaft des Christentums zu leugnen, diese These. Worte werden Taten: „Wörter aktivieren in unseren Langzeitgedächtnis in wenigen Millisekunden mentale Repräsentationen, setzen Gefühle frei, lassen spezifische mentale Bilder entstehen (….). Menschen lassen sich mehr beeinflussen, als sie denken, da viele Prozesse unbewusst ablaufen und sich der Kontrolle entziehen (…) Menschliche Sprachrezeption zeichnet sich dadurch aus, dass sie automatisch, wie ein Reflex, abläuft.“

Der Aufbau eines in sich schlüssigen Gedankengebäudes auf einer falschen Grundannahme wie sie beispielsweise die Annahme einer jüdischen Weltverschwörung darstellt, begründet die Hartnäckigkeit des Antisemitismus beziehungsweise der Besessenheit der Antisemit*innen. Ein weiterer Grund liegt in der „strikt binären Kodierung“. Antisemit*innen verstehen sich als “Wir-Gruppe“, die der Gruppe der „Anderen“, die „die Juden“ sind, unversöhnlich gegenübersteht. „Wir“ – das ist die Gruppe der Guten und Bedrohten, „die Anderen“ – das ist die Gruppe der Bedrohenden und Bösen.

Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz entnehmen den Zuschriften an den Zentralrat der Juden und an die Israelische Botschaft ebenso wie den diversen Äußerungen im Internet, „wie homogen dieses Weltdeutungssystem in den Köpfen vieler Menschen verankert ist, nicht zu erschüttern durch Fakten und Aufklärung, nicht zu durchbrechen durch das Wissen um die Gräuel des Holocaust und die Folgen vorurteilsbehafteten Denkens.“ Und wer die „Anderen“ erfolgreich bekämpfen will, muss daher ihre kollektive Schuld und ihre kollektiv vertretenen bösen Absichten entlarven.

Ein Experiment gegen die Denkfaulheit

Eine besondere Infamie erfüllt die Strategie von Antisemit*innen, sich vom Antisemitismus zu distanzieren und damit selbst für glaubwürdig, alle anderen aber für unglaubwürdig zu erklären. Antisemitisch sind immer die Anderen. Die Linke verdächtigt die Rechte, die Rechte die Linke, die Mitte beide Seiten, Rechte, Linke und Mitte gemeinsam die Muslime, doch antisemitische Positionen gibt es bei allen. Sie werden lediglich unterschiedlich begründet und erfüllen unterschiedliche Funktionen bei der Rechtfertigung der jeweils eigenen Integrität. Die Rechte argumentiert rassistisch, die Linke antiimperialistisch, die Mitte übernimmt Argumente von beiden Seiten, formuliert sie lediglich moderater, die Muslime argumentieren antikolonialistisch. Begründungen aus mehr oder weniger heiligen Schriften, zu denen mitunter auch eher weniger seriöse historische Werke oder politische Manifeste gehören, zitieren sie alle. Bei allen findet sich das seit Jahrhunderten bekannte und ständig variierte Repertoire der Verdächtigungen, unter denen Jüdinnen*Juden zu leiden hatten, Geldgier, Machtgier, Mordgier, religiöser und politischer Wahn, Weltverschwörung.

Julia Bernstein beschreibt Antisemitismus als „gesamtgesellschaftliches, gruppen- und milieuübergreifendes Phänomen. (…) Auch in eigenen Gruppenformationen gibt es einen ‚blinden Fleck‘, sodass Antisemitismus in der Eigengruppe nicht auffällt, aber bei anderen Gruppen erkannt und kritisiert wird. So kritisieren Linke z.B. oft ausschließlich den Antisemitismus von Rechten, ohne sich der Tradition und Verbreitung sekundären und israelbezogenen Antisemitismus in der deutschen Linken bewusst zu sein. Ähnlich verhält es sich mit Angehörigen der ‚demokratischen Mitte‘, die Antisemitismus oftmals ausschließlich als Problem von Links- und Rechtsextremist*innen betrachten. Auch in der Debatte um Antisemitismus von Muslimen und Geflüchteten geht es zum Teil weniger um eine Antisemitismuskritik, denn um eine Verschiebung und Entlastung des deutsch-nationalen Kollektivs von Antisemitismus.“

Das ist der Grundtenor der Antisemit*innen. Und wenn es nicht ausreicht, Jüdinnen*Juden als Kollektiv anzugreifen, hilft heute fast immer der Verweis auf Israel: „Als ‚kollektiver Jude‘ wird Israel zum Projektionsfeld judenfeindlicher Phantasien.“ Israel ist omnipräsent und offenbar auch omnipotent: „Der Staat Israel steht bei den Stereotypkodierungen oft im Mittelpunkt. (…) Es gibt kaum ein Schreiben in dem großen Textkorpus, das nicht auf Israel Bezug nimmt und diese Referenz zum Anlass judenfeindlicher Diffamierung und Delegitimierung werden lässt.“ Alles in allem ist dies nicht mehr und nicht weniger als eine Spielart des „Luzifer-Effekts“ im Sinne von Philip Zimbardo, dem Versuchsleiter des Stanford Prison Experiments. Israel ist der abtrünnige Engel, der Dämon, der von allen gemeinsam bekämpft werden soll. Gut nur, dass die Gemeinschaft der selbsternannten Engel sich nicht einig ist, wer denn unter ihnen nun der reinste Engel ist. So rückt gelegentlich der Antisemitismus in den Hintergrund, wenn die größere Gefahr von einem der anderen Engel ausgeht, beispielsweise von den Muslimen, der Rechten oder der Linken, denen dann für den Zeitraum der Auseinandersetzung um den ersten Platz unter den Engeln der Antisemitismus als disqualifizierendes Merkmal angehängt werden kann.

Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz präsentieren zur Illustration dieser Strategien und Methoden des Antisemitismus ein kontrafaktisches Manifest, in dem Deutschland und Griechenland während der großen Finanzkrise 2008 die Rolle einnehmen, die BDS-Aktive und andere selbst ernannte „Israelkritiker*innen“ Israel und Palästina zuschreiben, alles im Stil der von ihnen analysierten Zuschriften formuliert: „Mit Abscheu und Entsetzen haben wir aus der Presse erfahren, dass die bundesdeutsche GSG9 wieder einmal in SS-Manier mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen anständige junge Menschen aufrechter Gesinnung vorgegangen ist, die lediglich einen verzweifelten Freiheitskampf gegen den Staatsterror Deutschlands führen. Angeblich handelte es sich um einen ‚Anti-Terror-Einsatz‘. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein faschistisches Verbrecherregime, das wie gehabt im Geiste der primitiven Germanen Andersdenkende brutalisiert und mutwillig zerstört und sich genau wie unter Hitler mit großer Aggressivität gegenüber seinen europäischen Nachbarn verhält. Seine rassistische und unglaublich egoistische Finanzpolitik ist eine Schande für die gesamte zivilisierte Welt, entspricht aber genau der Gesinnung dieses grausamen Tätervolkes. Was Deutsche zur Zeit mit den armen, unglücklichen Griechen machen, ist empörend und bedroht den Weltfrieden! Deutschland sollte schnellstmöglich aufgelöst und unter UN-Aufsicht gestellt werden. Wir werden jedenfalls alle aus Deutschland kommenden Produkte von nun an konsequent boykottieren. PS: Wir sind wirklich keine Deutschenhasser, aber unser Gewissen lässt uns angesichts der Verbrechen dieses Unrechtsstaates nicht mehr schweigen.“

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2020, Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)