Weltenwenden – Zeitenwenden

Ein Gespräch mit dem Osteuropahistoriker Martin Aust

„Eines ist sicher: Der Weltkrieg ist eine Weltwende. Es ist ein törichter Wahn, sich die Dinge so vorzustellen, dass wir den Krieg nur zu überdauern brauchen, wie der Hase unter dem Strauch das Ende des Gewitters abwartet, um nachher munter wieder in alten Trott zu verfallen.“ (Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie, 1916)

Gleichviel, ob „Zeitenwende“ oder „Weltwende“. Wer sich ein wenig in der Geschichte auskennt oder zumindest versucht, sich in ihr zu orientieren, wird sehr schnell begreifen, dass die Dinge sich oft genug nicht so entwickeln, wie sich das diejenigen vorstellen, die meinen, das Steuer – eine so beliebte Metapher von Politiker*innen – fest in ihren Händen zu halten. Zurzeit – gegen Ende des Jahres 2022 – erleben wir, dass manche Politiker*innen, darunter auch diejenigen, die sich auf den Begriff einer „Zeitenwende“ berufen oder diesen gar selbst propagiert und popularisiert haben, eher bestrebt sind, alles zu tun, damit diese „Zeitenwende“ nicht stattfindet. Sie verhalten sich in der Tat „wie der Hase unter dem Strauch“. Und das betrifft bei Weitem nicht nur den Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine, das betrifft den Klimawandel, den Hunger in großen Teilen der Welt und all die anderen Konflikte, die es oft erst dann in die Nachrichten schaffen, wenn unser Nordhalbkugelwohlstand gefährdet ist oder die Ereignisse so augenfällig sind, dass wirklich niemand mehr wegschauen kann – so wie zurzeit im Iran.

Historiker*innen könnten dazu beitragen, die „Zeitenwenden“, die „Weltwenden“ – wir sollten diese Begriffe bewusst im Plural verwenden – der Vergangenheit zu analysieren. Analogieschlüsse sind immer unvollkommen, gehen oft an den Wirklichkeiten – auch ein Plural – vorbei, zu oft, und mitunter scheint es so, als interessierten sich Politiker*innen nur wenig für historische Zusammenhänge. Die Entwicklung der Osteuropageschichte ist ein gutes Beispiel für das Wechselspiel zwischen Ignoranz auf der einen und solider Forschung auf der anderen Seite, das Fach leidet durchaus darunter, dass es nicht immer über die Ressourcen und die Zugänge zur Politik verfügt, über die es verfügen sollte. Der 24. Februar 2022 hat auch dies offengelegt.

Martin Aust, Foto: Barbara Frommann

Über diese und andere Fragen rund um die Geschichte der osteuropäischen Länder forschte und forscht Martin Aust, seit Oktober 2015 Vertreter des Fachs Osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn. Er hat sich intensiv mit Fragen der Interaktionen zwischen Russland, der Ukraine und Polen, stets auch im Kontext mit anderen Ländern und Mächten auseinandergesetzt, nicht zuletzt mit der Rolle der deutschen Staaten und Regierungen der vergangenen 100 Jahre. Thema seiner Habilitationsschrift waren „konkurrierende Erinnerungen“. Zuletzt erschienen die Bücher „Die Russische Revolution – Vom Zarenreich zum Sowjetimperium“ (München, 2017), „Die Schatten des Imperiums – Russland nach 1991“ (München 2019) und „Erinnerungsverantwortung – Deutschlands Vernichtungskrieg und Besatzungsherrschaft im östlichen Europa 1939-1945“ (Bonn 2021). Diese Bücher erschienen bei C.H. Beck, sind aber zum Teil auch über die Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich. Zuletzt erschien im Herbst 2022 in der edition suhrkamp der von Martin Aust gemeinsam mit Angelika Nußberger, Andreas Heidemann-Grüber und Ulrich Schmid geschriebene Band „Osteuropa zwischen Mauerfall und Ukrainekrieg“. Das hier dokumentierte Gespräch fand am 1. November 2022 statt.

Ein Fach mit einer langen Geschichte

Norbert Reichel: Welche Rolle spielt das Fach Osteuropäische Geschichte im Kontext mit anderen Disziplinen, die sich mit den osteuropäischen Ländern befassen, beispielsweise mit der Slavistik, der Polonistik oder der Bohemistik? Welche Rolle spielt es auch im Zusammenhang anderer Fächer, die sich mit der Philosophie, der Kultur, der Literatur, der Geschichte verschiedener Länder befassen und in der Regel in den Philosophischen Fakultäten der Universitäten zu Hause sind. Nun ist Osteuropäische Geschichte in diesen Fakultäten nicht das größte Fach.

Martin Aust: Es ist nicht das größte Fach, aber es ist ein Fach mit einer langen Geschichte. Es ist Mitte des 19. Jahrhunderts in und aus der Slavistik entstanden. Die ersten Professuren gab es in Deutschland im späten 19. Jahrhundert. Seitdem gehört das Fach zum Fächerkanon in Deutschland. Es war lange Zeit ein sehr politisiertes Fach. Als es damals im Kaiserreich entstand, verstand es sich in Abgrenzung vom Zarenreich. Das hat sich im Nationalsozialismus in extremer Weise fortgesetzt. Es gilt auch noch für die frühe Phase des Kalten Krieges, für die 1950er Jahre. Seit den 1960er Jahren gibt es einen Professionalisierungs- und Verwissenschaftlichungsschub, der eigentlich die Osteuropäische Geschichte hervorgebracht hat, die wir heute kennen.

Das Fach hat eine eigentümliche Zwitterstellung zwischen der Geschichtswissenschaft und – aufgrund ihrer Herkunft – der Nachbarwissenschaft der Slavistik. Philologische Kenntnisse sind wichtig, Fremdsprachenkenntnisse ganz zentral. Der dritte Zweig, das sind die Fächer, die sich regional definieren, in ihrer Zuständigkeit für eine bestimmte Region, ein bestimmtes Land, einen bestimmten Kontinent. All das kommt in diesem Fach zusammen und macht es – wie ich es finde – zu einem sehr faszinierenden Fach.

Norbert Reichel: Kann man in der Geschichte von einem Russo-Zentrismus des Fachs sprechen?

Martin Aust: Das ist ein Thema, das die Osteuropäische Geschichte lange begleitet hat. In der Tat ist es so, dass die Professuren für das Fach in Deutschland in der Mehrzahl mit Menschen besetzt ist, die den Schwerpunkt Russland haben. Aber das Fach befindet sich auch schon lange in einer Auseinandersetzung. Klaus Zernack (1931-2017) hat 1977 eine ganz grundlegende Einführung in das Studienfach Osteuropäische Geschichte geschrieben. Da hat er genau das beklagt. Der Russlandschwerpunkt sei viel zu ausgeprägt, wir bräuchten mehr Mittel- und Osteuropakompetenz.

Diesem Imperativ sind Taten gefolgt: vor allem nach 1989 und 1991, nach dem Ende des sowjetischen Kommunismus in Europa, sind viele Ressourcen hinzugekommen. Beispielsweise hat sich das Herder-Institut in Marburg endgültig gewandelt, von einem Institut der Ostforschung zu einem Institut der Ostmitteleuropaforschung. Ostforschung – das war ein alter Forschungszweig, der nach dem Ersten Weltkrieg entstanden ist, als die Deutschen von ihrer Kulturträgerfunktion in Mittel- und Osteuropa schwärmten und dachten, sie könnten die Menschen dort lehren, was Kultur und Zivilisation wäre. Das hatte am Herder-Institut nach dem Zweiten Weltkrieg noch eine Heimstätte. Nach 1989 wurde das endgültig überwunden.

Es gibt neue Institute wie das GWZO in Leipzig (Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa), das als ausgesprochenes Ostmitteleuropainstitut gegründet wurde. Man sollte auch das Deutsche Historische Institut in Warschau erwähnen. Nach 1991 gab es einen Zugewinn an Ukraine-Kompetenz in der Osteuropäischen Geschichte, der uns allerdings nach dem neuerlichen Überfall Russlands auf die Ukraine als noch zu schwach erscheint und in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen wird.

Norbert Reichel: Manche sagen, dass die Osteuropäische Geschichte in den vergangenen 20 bis 30 Jahren vernachlässigt worden wäre, weil viele Politiker*innen ihre Notwendigkeit aus einer angenommenen Bedrohung aus dem Osten, konkret aus Russland, begründeten. Diese hätte sich mit der Auflösung der Sowjetunion erledigt.

Martin Aust: Ganz schwieriges Thema. Die Osteuropäische Geschichte musste auch Einbußen erleben. Es gibt mehrere Universitätsstandorte, an denen es keine Osteuropäische Geschichte mehr gibt, Hannover, Frankfurt am Main, Marburg. Da gab es Kürzungen. Aber man muss sagen, dass dies auch für andere Fächer gilt wie die Wirtschaftswissenschaften, ganz stark gilt es für die Politikwissenschaften, die von diesen Kürzungen viel mehr betroffen waren, in Maßen auch für die Slawistik. Auch das Bundesinstitut für internationale und osteuropäische Studien in Köln, das im Jahr 2000 geschlossen wurde, war eine ganz wichtige und zentrale Einrichtung. Das versucht man so langsam mit der Gründung des ZOIS, des Zentrums für osteuropäische und internationale Studien in Berlin, wettzumachen, das 2014 gegründet wurde. Vor allem die Sozialwissenschaften, die Politikwissenschaften, die Wirtschaftswissenschaften haben einen großen Nachholbedarf. Da hat die Politik in der Tat gedacht, ein Teil der Friedensdividende nach 1989 beziehungsweise 1991 könnte darin bestehen, dass man diese Fächer nicht mehr benötigt. Das hat sich im Nachhinein als schwerwiegender Fehler herausgestellt.

Norbert Reichel: Das wurde zuletzt auch in der Ausgabe des September 2022 der Zeitschrift Politik & Kultur thematisiert, u.a. mit einem Artikel von Katja Makhotina zum Fach Osteuropäische Geschichte. Thematisiert wurden auch die Indologie und andere Fächer, die sich mit östlich und südlich von Deutschland liegenden Ländern, in und außerhalb Europas beschäftigen. Dies betrifft auch kleinere Länder in unserer Nachbarschaft, beispielsweise die Niederlandistik. Die an den Universitäten von der Politik bereitgestellten Ressourcen scheinen sich mir an Konjunkturen zu orientieren.

Martin Aust: Das ist mit Sicherheit so. Wenn man fair ist, muss man in der Tat eingestehen, dass wir in der Geschichtswissenschaft mehr Osteuropakompetenz brauchen, aber auch mehr Stellen brauchen für eine Geschichtsschreibung, die sich mit Ländern in Afrika, in Asien oder in Amerika beschäftigt.

Norbert Reichel: Man merkt es vielleicht auch an den Bezeichnungen. Es gibt ja nun nicht so etwas wie eine Westeuropäische Geschichte als Fach. Das ist schön nach Ländern sortiert: Frankreich, Italien, Spanien, das Vereinigte Königreich. Und dann sind wir gleich bei der Afrikanistik. Je größer der Raum ist, den ein Fach abdecken soll, um so schwieriger wird es vielleicht mit Differenzierungen. Es stellt sich für mich auch die Frage, welche Auswirkungen das auf die Beziehungen zwischen den verschiedenen Ländern in Mittel- und Osteuropa hat. So hat bis zur Trennung der Tschechoslowakei in zwei Staaten kaum jemand außer den damit befassten Expert*innen gewusst, dass das Tschechische und das Slowakische zwei Sprachen sind.

Martin Aust: Unserem Fach möchte ich dieses Bewusstsein schon attestieren. Es gab immer eine Binnengliederung. Allen war klar, dass es keinen homogenen osteuropäischen Raum gibt, sondern dass dies ein Rahmen ist, mit vielen verschiedenen Kulturen, die aber sich aufeinander beziehen und in einem engen Austauschverhältnis zueinanderstehen. Diese enge Interaktion kann Konflikt und Krieg bedeuten, aber auch Nähe, Freundschaft, Verwandtschaft. Man hat das anfangs in Ostmitteleuropa gruppiert, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, in Südosteuropa, der gesamte Balkan, in Nordosteuropa mit Litauen, Lettland, Estland, dann schließlich das Ostslawische mit Russland, der Ukraine und Belarus. Aber dieser Regionen sind – wie wir schon sagten – unterschiedlich stark im Fach berücksichtigt.

Norbert Reichel: Was ist mit Ländern wie Georgien, Armenien, Aserbaidschan? Diese Länder werden in deinem Buch „Der Schatten des Imperiums“ alle bedacht.

Martin Aust: Es gibt einige Kolleginnen und Kollegen, die sich mit diesen Ländern beschäftigen. Beispielsweise Oliver Reisner in Tbilissi – das ist so eine Brücke zwischen der georgischen und deutschen Geschichtswissenschaft. Mit Aserbaidschan beschäftigt sich hier in Bonn Zaur Gasimow, zu Armenien hat Maike Lehmann gearbeitet. Wir haben durchaus Leute, die sich damit beschäftigen. Sie sind aber für den Fachaustausch zu ihren Ländern auf die internationale Community angewiesen. Wir haben nicht so eine Breite, wie es sie in Deutschland für Polen oder Russland gibt.

Norbert Reichel. Mein Eindruck: wir haben viel Expertise, die einbezogen werden könnte, wenn es darum geht, politische Prozesse zu gestalten. Ich habe auch den Eindruck, dass ihr international ganz gut vernetzt seid.

Martin Aust: Der Internationalisierungsgrad war in den letzten 30 Jahren ausgesprochen hoch. Osteuropäische Geschichte ist ein Fach, das in den USA, in den osteuropäischen Ländern, auch in Japan sehr intensiv bearbeitet wird. Die zentrale Institution, wo sich dieser gesamte internationale Betrieb jährlich im November trifft, das sind die Annual Conventions der amerikanischen Organisation ASEEES. Das wird sich reduzieren, weil wir zurzeit keine institutionelle Kooperation mit Russland haben. Wir haben nach wie vor individuelle Kontakte, aber keine institutionelle Kooperation mehr mit russischen Kolleg*innen. Die Internationalität des Faches bleibt erhalten, aber die Gewichte werden sich verschieben. Gerade jetzt nimmt die Kooperation mit der ukrainischen Wissenschaft an Fahrt auf.

Norbert Reichel: Was lässt sich zur Situation der russischen Wissenschaft sagen?

Martin Aust: Am wichtigsten ist es, sich klarzumachen, dass sich die russische Geschichtswissenschaft zurzeit in zwei Gruppen aufteilt. Die eine ist ins Exil gegangen, da haben wir nach wie vor Kooperationen, Gespräche. Die andere Gruppe bleibt aus ganz unterschiedlichen Gründen, auch aus familiären Gründen, im Land. Diejenigen, die dortbleiben, sind mit der Frage konfrontiert, wie sie mit dem Zugriff des Regimes auf Geschichtspolitik und Geschichtswissenschaft umgehen. Wahrscheinlich gibt es Menschen, die es mitspielen, sei es aus Überzeugung, sei es aus Unterwürfigkeit, und es wird andere geben, die versuchen werden, ihre Nischen zu finden und diese Anforderungen zu unterlaufen. Wie sich dies im Einzelnen darstellt, das ist für uns zurzeit noch schwer erfassbar. Da braucht es noch Zeit, dies zu beobachten. Es wird aber eine Frage sein, die uns lange begleiten wird. Vieles wird auch vom weiteren Kriegsverlauf abhängen.

Imperialismus und Faschismus

Norbert Reichel: Ein wichtiges Thema ist meines Erachtens die Frage, wie wir mit Begriffen wie Imperialismus, Faschismus, Kolonialismus umgehen. Das sind nicht zuletzt auch Kampfbegriffe, aber sie haben ihren historischen Hintergrund. Du beginnst dein Buch „Die Schatten des Imperiums“ mit diesem Thema. Was bedeutet es, wenn jemand Putin als „Faschisten“, als „Imperialisten“ bezeichnet? Wird man mit solchen Bezeichnungen der Sache gerecht oder ist es vielleicht sogar kontraproduktiv?

Martin Aust: Ich finde, dass wir als Historikerinnen und Historiker versuchen sollten, die wissenschaftliche Logik im Umgang mit solchen Begriffen zu erläutern. Diese Begriffe sind Hilfsinstrumente, Maßstäbe, Schablonen, die wir über Beobachtungen legen. Wir fragen uns, ob die Begriffe helfen, diese Beobachtungen genauer zu fassen. Das kann zu starken Übereinstimmungen führen, aber auch zu Abweichungen, die aber ebenso zu Erkenntnissen führen können.

Der Begriff des Neo-Imperialismus, des Imperialismus, hilft meines Erachtens in der Tat zurzeit weiter. Das lässt sich aus zahlreichen Äußerungen von Putin herauslesen. Putin stand lange Zeit im Verdacht, er wolle die Sowjetunion wieder herstellen. 2005 hat er in einer Rede vor der Föderalen Versammlung in Russland den Untergang der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet.

Norbert Reichel: Vor 17 Jahren!

Martin Aust: Vor 17 Jahren. Es wurde damals in der Öffentlichkeit bei uns nicht so sehr wahrgenommen, dass Putin seine Einschätzung daran festmachte, was dies für Russinnen und Russen außerhalb der Grenzen der Russischen Föderation von 1991 bedeutete. Darauf wollte er hinaus. Und auch der erneute Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 rechtfertigt er aus seiner – wie wir sagen würden sehr schrägen – Lesart der Geschichte Russlands. Es geht ihm darum, ein Imperium wieder zu errichten, das auf der Größe der russischen Nation beruht. Das ist auch eine Konzeption, die es im späten Zarenreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter Nationalisten gab, die sagten, man müsste die Vielfalt in diesem Vielvölkerstaat so gestalten, dass klar ist, dass die russische Nation die unangefochtene Führungsrolle spielt, dass dieses Imperium als Imperium der Russen betrachtet würde.

Das hat damals nicht geklappt, weil die Russen alleine dieses Imperium nicht unterhalten konnten. Putin hat in seiner Fernsehansprache vom 21. Februar 2022 sehr deutlich gemacht, er halte es für einen historischen Fehler, dass auf dem Territorium des ehemaligen Zarenreiches viele Nationalbewegungen ihre eigenen Staaten gründen konnten. Das ist eine Kritik an Finnland, Litauen, Lettland, Estland, Belarus, der Ukraine und Georgien. Diese Lesart der Geschichte setzt sich mit Putins Kritik an Lenin und Stalin fort. In seinen Ansprachen vom 21. und 24. Februar 2022 hat er ihnen vorgeworfen, sie hätten die Russifizierung und die Zentralisierung der Sowjetunion nicht weit genug vorangetrieben. Aus Putin spricht inzwischen ein Imperialist, der das Imperium im Sinne der russischen Nation wiederbeleben möchte.

Norbert Reichel: Und ethnisch begründet?

Martin Aust: Das wird schwierig, weil es in Russland zwei Identifikationsmöglichkeiten gibt. Man kann sich einerseits als russisch begreifen, dann spricht man über Kultur, Sprache, Literatur, und man kann sich russländisch begreifen, dann spricht man über den Staat, die Zugehörigkeit zu diesem Staat. Diese Zugehörigkeit ist wiederum nicht daran geknüpft, dass man ethnisch russisch ist, sie steht auch anderen offen. Russland ist nach wie vor ein Vielvölkerreich. Diese starke idealtypische Differenzierung verschwimmt, weil Putin das auch nicht so idealtypisch strikt angeht, sondern weil er es vor allem historisch angeht und versucht, aus der Tiefe der Geschichte Russlands zu erklären. So verschwimmen die Grenzen. Aber der Plan, ein Imperium wiederherzustellen, ist klar erkennbar. Putin nennt es nicht so, aber der Plan ist klar, dass es darum geht, andere Nationen im Sinne Russlands zu unterwerfen, zu erobern und in die Russländische Föderation einzugliedern. Das ist nun einmal ein Strukturmerkmal des Imperialismus.

Beim Faschismusbegriff stellt sich das etwas anders dar. Den gibt es auch in der englischsprachigen Variante von „Rushism“, so auch in der Ukraine sehr weit verbreitet. So wird versucht, das Regime Putins in seiner Ähnlichkeit zu faschistischen Staaten zu begreifen. Aus ukrainischer Perspektive ist das nachvollziehbar. Aus deutscher Perspektive, auch aus der Perspektive des Historikers sehe ich das etwas anders. Beim Faschismus wären die Vergleichsmaßstäbe Deutschland und Italien in den 1920er, 1930er und frühen 1940er Jahren. Es gibt Ähnlichkeiten, wenn wir auf die Ebene der staatlichen Akteure schauen, wenn wir uns anschauen, wie sich eine Diktatur entwickelt, an deren Spitze ein unangefochtener Führer steht, der starke nationalistische Programme entwirft, diese Programme zum Anlass von Expansion nimmt, der Religion und Militär nutzt, um dies zu rechtfertigen. Das hat durchaus einen faschistischen Anstrich.

Wenn man jedoch auf die Gesellschaft in Russland schaut, stößt man nicht auf diese unangefochtene Begeisterungswelle, die dies in den Menschen auslöst. Wenn man die öffentlichen Veranstaltungen mit Putin in Russland anschaut, sieht man, dass für diese Veranstaltungen die Menschen herbeigekarrt werden müssen. In Russland gibt es Menschen, die den Krieg unterstützen, die einen aus Überzeugung, andere aus Loyalität, es gibt Menschen, die sich apathisch verhalten und eigentlich gar nicht wissen wollen, was in der Ukraine passiert, und es gibt Menschen, die den Krieg offen kritisieren, die aus Russland auswandern. Auf mich macht das den Eindruck einer sehr fragmentierten Gesellschaft. Diese Begeisterung, dieser Rausch, der faschistische Gesellschaften prägt, für das faschistische Projekt, für die Gewalt, die damit verbunden ist, das findet man in dieser großen Breite, wie es sie in Deutschland und in Italien gab, in der russischen Gesellschaft nicht. Die Zahl der Menschen, die den Krieg unterstützen, ist leider hoch genug, um unfassbaren Schaden und entsetzliche Kriegsverbrechen mit Putins genozidaler Kriegsführung in der Ukraine auszurichten, aber wenn man mit dem Begriff des Faschismus arbeitet, sehe ich schon Abstufungen zu Deutschland und Italien in den 1930er Jahren.

Norbert Reichel: Für die Anwendung des Faschismusbegriffs fehlt – so verstehe ich deine Analyse – die Existenz einer faschistischen Massenbewegung. Putin versucht zwar, auch über das Bildungssystem seine Sicht der Dinge durchzusetzen, aber eine Massenbewegung, wie es sie im Dritten Reich gab, scheint mir in Russland nie dagewesen zu sein.

Martin Aust: Das sehe ich genauso. Es gab mal den Versuch, eine Art Putin’sche Jugendbewegung zu gründen, „die Unsrigen“. Das hat sich im Sande verlaufen. Die Jugend Russlands ist in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts großgeworden, sie ist sehr medien- und internetaffin, sie lebt auf Facebook, Instagram und TikTok. In dieser Welt lebt Putin überhaupt nicht, er nutzt angeblich auch das Internet nicht.

Norbert Reichel: Im Grunde verfügt Putin nicht über das Charisma, das ein Hitler, ein Mussolini oder auch ein Stalin hatten.

Martin Aust: Das ist richtig. Es gab eine Phase, in der Putin sehr populär gewesen ist. Das waren die 2000er Jahre, auch noch die frühen 2010er Jahre, eine Zeit, in der es Putin gelungen ist, den Menschen den Eindruck zu vermitteln, er selbst habe die turbulenten 1990er Jahre im Rahmen der Transformation beendet und es bräche jetzt eine Ära der Stabilität an. Die sprudelnden Einkünfte aus dem Öl- und Gasexport haben in der Tat dazu geführt, dass es zu einem breit wahrnehmbaren Zuwachs von Wohlstand kam. Das haben die Menschen Putin zugerechnet. Sie übersahen, dass er und seine Unterstützer zu den Akteuren gehörten, die mit ihrer schamlosen Bereicherung dazu beitrugen, dass die 1990er Jahre so schwierig und wild waren wie sie es nun einmal waren. Ihm ist es geglückt, dieses Image zu vermitteln, dass er diesen Wandel herbeigeführt habe.

Seine Rückkehr in das Präsidentenamt im Jahr 2012 brachte seinem Ansehen einen ersten Knick. Das sahen viele Menschen in Russland kritisch. Diesen Popularitätseinbruch hat er mit der Annexion der Krim kompensiert. Das hat einige Monate zu einer merklichen patriotischen Aufwallung geführt, auch zu einer Zunahme seiner Popularität. Aber seitdem sinkt sie. Genaue Zahlen kennen wir nicht, weil man angesichts der Verhältnisse in Russland den dortigen Umfragen nicht trauen kann, aber es ist wahrnehmbar, dass seine Popularität abnimmt. Ich habe den Eindruck, Putin ist am Ende einer Fahnenstange angelangt. Zu den Popularitätswerten der 2000er Jahre wird er nicht zurückkehren können.

Projektionsfläche Russland

Norbert Reichel: Auf der anderen Seite gibt es diese Putinbegeisterung bei rechten und sehr rechten Parteien in den westeuropäischen Ländern, aber beispielsweise auch in östlichen Ländern wie in Ungarn oder bei verschiedenen Parteien in einigen anderen Staaten des ehemaligen sowjetisch beeinflussten Raumes.

Martin Aust: Das schreibt die Geschichte einer starken Projektion von Sehnsüchten auf Russland fort. Das sind gerade in Deutschland, in Frankreich, vor allem in den westlichen Ländern, zum großen Teil Menschen, die entweder nie oder nur selten in Russland waren, nicht russisch sprechen, auch niemanden aus Russland kennen, die aber dort eine Projektionsfläche finden, mit Patriotismus, Nationalstolz, Ablehnung von Feminismus und LSBTIQ*.

Norbert Reichel: Ich lese immer wieder mit viel Gewinn in dem Buch „Der Russlandkomplex“ von Gerd Koenen.

Martin Aust: Ich halte dieses Buch für ein ganz wichtiges Buch. Skeptisch war ich nur gegenüber einer Stelle am Schluss des Buches. Dort schrieb Gerd Koenen, dass sich dieser „Russlandkomplex“, diese Projektionsfläche Russland, nach 1945 und dann erst recht 1989 mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten aufgelöst habe. Ich fand, schon damals war zu beobachten, dass diese sehr gegensätzlichen Russlandbilder weiterhin in Deutschland zu greifen waren. Es gab in den Medien auch immer deutliche Kritik an dem Autoritarismus und Zentralismus Putins, an seiner Einschränkung von Medienfreiheit, von Rechtsstaatlichkeit. Es gab aber auch immer eine große Faszination. Das ganze Jahr über wurde das russlandkritische Programm abgespult, aber in der Weihnachtszeit gab es dann wieder diese Filme, in denen alte Größen wie Gerd Ruge (1928-2021) in die Transsibirische Eisenbahn steigen und auf der Zugfahrt über die Weite der russischen Seele nachdenken. Das bedient starke Sehnsüchte in der deutschen Gesellschaft.

Norbert Reichel: Die folkloristische Variante waren Alexandra (1942-1967), Ivan Rebroff (1931-2008), beide keine Russ*innen, sondern Deutsche, und der Chor der Don-Kosaken, die es meines Wissens immer noch gibt.

Martin Aust: Das gab es immer in Deutschland und es wurde wieder populär mit PEGIDA und anderen „Montagsdemonstrationen“ oder „Spaziergängen“. Da tauchten dann Leute auf, die Schilder hochhielten, auf denen stand: „Putin, hilf!“ Da gibt es eine ganz große gefühlte Russlandnähe. Das ist schon merkwürdig, hier in einem demokratischen Land mit Presse- und Meinungsfreiheit, mit guter sozialer Absicherung zu leben und zu glauben, dass Putin helfen könne. Da ist wohl ganz schwer etwas durcheinandergeraten. Das zeigt, dass dieser Russlandkomplex nach wie vor sehr lebendig ist. Auch die Äußerungen von Harald Welzer, Richard David Precht, Ulrike Guérot zum Krieg in der Ukraine weisen alle in diese Richtung. Die Überlegung – Überlegung möchte ich es gar nicht nennen – die Ansicht, man könnte die Augen verschließen vor Putins genozidaler Kriegsführung und Putins Kriegszielen und könnte einen irgendwie gearteten Frieden vermitteln, weil Einigkeit mit Russland der entscheidende Faktor für Frieden in Europa wäre, das ist für mich der ultimative Beleg, dass wir immer noch in diesem „Russland-Komplex“ leben.

Norbert Reichel: Da hat die SPD ja einiges zu beigetragen. Stand so auch im Parteiprogramm. Markus Meckel berichtete, er habe versucht, Gerhard Schröder nach seinem Amtsantritt als Bundeskanzler zu überzeugen, dass die erste Reise nicht nach Moskau, sondern nach Warschau gehen sollte. Da habe noch die alte Linie von Egon Bahr gewirkt, Russland First im deutschen Blick auf Osteuropa.

Martin Aust: Die SPD befindet sich zurzeit in schwierigen Gesprächen. Es gibt Politiker wie Rolf Mützenich oder Ralf Stegner, die nach wie vor auf dieser Fährte unterwegs sind, während andere versuchen, das kritische Gespräch in der SPD auf den Weg zu bringen.

Norbert Reichel: Oft ist dieser unkritische Blick auf Russland gekoppelt mit einem genauso unkritischen Anti-Amerikanismus, der noch aus der Zeit des Vietnamkriegs und der späteren Friedensbewegung Ende der 1970er Jahre stammt und sich in den Amtszeiten von George W. Bush und Donald J. Trump – mit der Unterbrechung in der Anfangszeit von Barack Obama – nachhaltig erneuerte. Das sieht schon fast aus wie ein Nullsummenspiel zwischen den USA und Russland.

Martin Aust: Absolut. Das beginnt schon nach dem Ersten Weltkrieg, als viele der Ansicht waren, dass sich Deutschland und Russland beziehungsweise die Sowjetunion in der Versailler Nachkriegs-Ordnung miteinander verbünden müssten. Das war immer auch mit einer starken Amerika-Kritik verbunden. Das sind kommunizierende Röhren. Ich würde nach wie vor sagen, dass Russland und die USA die beiden Länder sind, die politische Debatten in Deutschland am stärksten emotionalisieren. Und dies geschieht nicht unabhängig voneinander, sondern ist stark aufeinander bezogen. Auf der linken Seite ist es ja schon reflexartig. Sobald der linken Seite etwas zu Russland gesagt wird, erfolgt die Replik: aber die USA, aber die NATO!

Das ist ein Kapitel, darüber müsste man gesondert sprechen. Der völkerrechtswidrige Einmarsch in den Irak ist ein Thema, Vietnam ist ein Thema, viele Umsturzversuche, die von der CIA befördert wurden, sind ein Thema, aber daraus lässt sich nicht ableiten, dass man sich jetzt reflexartig einer aggressiven Politik Russlands an den Hals wirft und diese beschönigt.

Bilder der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg

Norbert Reichel: Ein populärer Akteur in der Debatte ist Timothy Snyder. Ich schätze ihn, die „Bloodlands“, auch „Black Earth“, die man meines Erachtens im Kontext lesen muss. Aber bei ihm gibt es auch einige schwierige Stellen, die Widerspruch geradezu herausfordern.

Martin Aust: Das ist in der Tat eine große Herausforderung. Timothy Snyder ist ein eindrucksvoller Historiker. Als erstes würde ich sein Buch „The Reconstruction of Nations“ nennen, das 2003 erschien (Untertitel: „Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus 1569-1999“). Es geht um die Nationenbildung auf dem Gebiet des ehemaligen Großherzogtums Litauen seit dem späten 16. Jahrhundert. Auf diesen großen strukturellen makroperspektivischen Überblick ließ er eine Reihe von dazu passenden Biographien und Familiengeschichten folgen. Das fand ich methodisch und geschichtswissenschaftlich sehr eindrucksvoll.

Zu „Bloodlands“: Es bringt die Perspektiven, die vor allem Menschen in Polen, in der Ukraine, in Belarus, in den baltischen Ländern auf den Zweiten Weltkrieg hatten, mehr in die Öffentlichkeit als sie das zuvor waren. Aber die Art und Weise, wie er in diesem Buch versucht, die ganze Geschichte des Zweiten Weltkriegs auf eine Interaktionsgeschichte von Stalinismus und Nationalsozialismus zu trimmen, Gewalt aus der Konkurrenz und Interaktion dieser beiden Systeme zu begreifen, überzeugt letztlich nicht. Dabei wird auch ausgeblendet, dass es auch außerhalb der „Bloodlands“ stalinistische und nationalsozialistische Gewalt gab, die in diesem Buch gar nicht vorkommt.

Die öffentlichen Auftritte, in denen Snyder die Thesen dieses Buches in immer neue politische Ansagen übersetzt, sind schwierig. Er stellt sich in Deutschland hin und sagt, die Deutschen müssten, wenn sie an den Zweiten Weltkrieg denken, sich vergewissern, dass ihre Verantwortung als erstes der Ukraine zu gelten hätte, weil die Eroberung, Ausbeutung und Unterjochung der Ukraine das Hauptkriegsziel Hitlers gewesen wäre. Das ist schlicht und ergreifend falsch. Einerseits haben es die Menschen in der Ukraine verdient, dass wir in Deutschland die Erfahrungen, die sie unter der deutschen Besatzung machen mussten, erheblich stärker zur Kenntnis nehmen, da haben wir wirklich Defizite, aber wenn man das in Exklusivitäten, in Singularitäten, in Superlative überführt, gerät die Erinnerungskultur auf eine schräge Bahn. Wir müssen sehr viel Mühe investieren, wenn wir erkennen wollen, welche Erfahrungen Belaruss*innen, Ukrainer*innen im Zweiten Weltkrieg gemacht haben.

So fürchterlich momentan Russlands genozidaler Angriffskrieg in der Ukraine ist, sollte das nicht dazu führen, dass wir in der deutschen Erinnerungskultur jetzt von einem Extrem ins andere verfallen. Der Blick auf die Opfer des Zweiten Weltkriegs war viel zu lange zu russozentrisch. Wir sollten das nicht dadurch kompensieren, dass wir jetzt nur noch über die ukrainischen und belarussischen Opfer sprechen und die russischen Opfer im Zweiten Weltkrieg vergessen.

Norbert Reichel: An „Bloodlands“ faszinierte mich – unbeschadet Ihrer berechtigten Kritik – eine Landkarte, auf der die sogenannte Molotow-Ribbentrop-Linie des geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Pakts vom 23. August 1939 eingezeichnet ist. Abgesehen von den Grenzen der baltischen Staaten, die jetzt zur Europäischen Union gehören, sind das im Großen und Ganzen die Grenzen, die die Alliierten in Teheran, Jalta und Potsdam gezogen hatten und die nach wie vor die aktuelle Ostgrenze der Europäischen Union bestimmen. Sowjetische und deutsche imperiale Einflusssphären in Europa hatten nicht nur eine lange Vorgeschichte, sondern auch eine lange Nachwirkung, über den Kalten Krieg hinaus. Das sieht in Putins Reden alles irgendwo schon so aus, als ginge es darum, die Staatenbildungen nach dem ersten Weltkrieg rückgängig zu machen und wieder zu einer Art Dreikaisereck zurückzukehren, als es all die ost- und mitteleuropäischen Staaten, die heute der Europäischen Union angehören oder ihr – wie Georgien und die Ukraine – beitreten möchten, nicht gab. Seine Verweise auf Peter den Großen, Katharina II. und Alexander II. sprechen meines Erachtens Bände.

Martin Aust: Das ist vollkommen richtig. Stalinismus und Nationalsozialismus sind konkurrierende imperiale Projekte, die für eine kurze Zeit vom Hitler-Stalin-Pakt bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion kooperierten, aber dennoch sind es vollkommen entgegengesetzte Projekte. Das deutsche Projekt bestand darin, räumlich über die Grenzen des Friedens von Brest-Litowsk von 1918 hinauszugehen, möglichst die gesamte Sowjetunion zu erobern und die dort lebenden Menschen zu vernichten, zu deportieren oder zu versklaven. Stalins Projekt bestand darin, das Sowjetimperium so weit wie möglich nach Westen auszudehnen, was ihm als Resultat des Zweiten Weltkriegs auch geglückt ist.

Decolonizing

Norbert Reichel: Im Grunde sind nach dem Ersten und erst recht nach dem Zweiten Weltkrieg die großen europäischen Kolonialreiche eines nach dem anderen zusammengebrochen. Die Auflösung begann schon in den 1920er Jahren, sie vollendete sich dann nach 1945. Die Briten verloren ihre Besitzungen – wie man das so nannte – außerhalb Europas ebenso wie Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande, dann auch Portugal im Zuge der Nelken-Revolution in den 1970er Jahren. Spanien hatte seine außereuropäischen Einflussbereiche schon 1898 verloren. Nur ein Kolonialreich blieb weitgehend unberührt: die Sowjetunion, die erst 1991 einen Großteil ihrer zentralasiatischen, der baltischen und der osteuropäischen Kolonien wie der Ukraine, Belarus, Armenien, Aserbaidschan und Georgien verlor.

Martin Aust: Mein Blick hat sich nach dem 24. Februar 2022 noch einmal geändert. In meinem Buch „Die Schatten des Imperiums“ habe ich die These vertreten, dass die Auflösung der Sowjetunion ein ganz starker Einschnitt ist, der sich aber von der Auflösung des Zarenreichs nach 1917 unterscheidet. Die Sowjetunion war mehr oder weniger eine Re-Integration des Zarenreichs.

Norbert Reichel: Auch weil es gelang, die Zugeständnisse des Friedens von Brest-Litowsk wieder rückgängig zu machen.

Martin Aust: Das war 1991 anders. Die Grenzen Russlands von 1991 bilden einen Zustand Russlands aus dem späten 17. Jahrhundert ab. Im Hinblick auf das, was in der Zeit danach hinzuerobert wurde, war 1991 ein Schnitt. Man kann sich fragen, wie Russland danach mit dem imperialen Erbe umgeht. Das Imperium aber ist Vergangenheit. Wir sehen jetzt, dass diese Einschätzung falsch war. Das Imperium ist aus den Köpfen nicht verschwunden, vor allem nicht aus Putins Kopf. Der Krieg ist der Versuch, dieses Imperium gewaltsam wiederherzustellen. Darin steckt auch eine gewisse Ähnlichkeit zu Großbritannien und Frankreich. Die waren im 20. Jahrhundert lange Zeit mit Dekolonisationsbewegungen konfrontiert, eigentlich schon nach dem Ersten Weltkrieg. Aber auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg haben sie sich gewaltsam gegen die Auflösung der Imperien gestellt, Frankreich in Vietnam und im Algerienkrieg, Großbritannien noch in den 1960er Jahren in Kenia. Das wiederholt sich jetzt im Falle von Russland.

Unsere Wahrnehmung, dass 1991 das Sowjetreich verhältnismäßig gewaltfrei auseinandergefallen ist, ist so nicht mehr haltbar. Wir sehen jetzt im Abstand von 30 Jahren, wie bedeutsam die Idee des Imperiums im Kopf Putins und in den Köpfen der Eliten ist. Sie stellen sich gewaltsam dagegen, aber um dem eine optimistische Note hinzuzufügen, es ist auch jetzt schon absehbar, dass dieses Projekt scheitern wird. Es gibt so viele Sollbruchstellen, in Russland, in den Nachbarländern, sodass nicht vorstellbar ist, dass die Absicht Putins funktionieren wird.  

Norbert Reichel: Zum Beispiel Kasachstan, das die deutsche Außenministerin demonstrativ – so möchte ich das nennen – Ende Oktober, Anfang November 2022 besuchte.

Martin Aust: Kasachstan hat immer schon versucht, eine trivektorale Politik zu betreiben und gute Beziehungen zu Russland, zur Europäischen Union und zu China zu erhalten. Das ändert sich jetzt gerade, obwohl der neue Präsident, Qassem Toqajew, sein Überleben russischen Interventionstruppen verdankt, als er mit Demonstrationen konfrontiert wurde. Jetzt ist er sehr auf Distanz zu Russland bedacht. Kasachstan nimmt – wie auch andere zentralasiatische Staaten – Flüchtende aus Russland auf, die sich der dortigen Mobilisierung entziehen. Kasachstan lässt Demonstrationen gegen Putins Krieg zu.

Norbert Reichel: Wir müssen unsere westliche Perspektive erheblich verändern. Ich denke an das Buch von Ivan Krastev und Stephen Holmes „Das Licht das erlosch“ (deutsche Übersetzung 2019 bei Ullstein). Eine ihrer Thesen lautet, dass die 1989 und 1991 aus dem sowjetischen Machtbereich, aus der Sowjetunion beziehungsweise aus dem Warschauer Pakt ausgeschiedenen Staaten sich zunächst auf das Vorbild der westlichen Demokratien verließen, mit der Zeit jedoch auch aufgrund der westlichen Oberlehrer-Attitüde diese Form der Nachahmung des Westens aufgaben. Agnieszka Ƚada-Konefał, die stellvertretende Direktorin des Deutschen Polen-Instituts hat die damit entstandenen Probleme, in dem Gespräch, das ich mit ihr im Oktober 2022 führen konnte, beschrieben. Dies darf durchaus als Belastung für die deutsch-polnischen Beziehungen betrachtet werden.

Martin Aust: Wir müssen uns klarmachen, dass 1989 für die Menschen in der DDR, in Ungarn, in Polen, in der Tschechoslowakei, in Estland, in Lettland, in Litauen ein ganz großer Zugewinn an Handlungsspielraum und Selbstbewusstsein gewesen ist. Diese Menschen haben es geschafft, ihre Länder vom Kommunismus zu befreien und das in stillen und friedlichen Revolutionen. Das ist etwas ganz Fantastisches. Das konnten sie aber nicht in politische Gestaltungsmacht umsetzen, weil bei der deutschen Wiedervereinigung und dann beim Beitritt zur Europäischen Union Bonn beziehungsweise Brüssel gesagt haben, hier sind die Spielregeln, so funktioniert das, das ist der Katalog, den müsst ihr jetzt abarbeiten, und wenn ihr das geschafft habt, könnt ihr euch melden und beitreten. Da reduziert sich dieser Gewinn von Handlungsspielraum und Selbstertüchtigung auf einen Beitrittsprozess, in dem es nur noch darum geht, es zu tun oder zu lassen. Das hat der Begeisterung für die Rückkehr nach Europa sehr viel Abbruch zugetan. In den Ländern wurde jetzt darüber nachgedacht, wer sind wir eigentlich, wer ist Europa, was für ein Europa wollen wir. Das ist mit Sicherheit eine Quelle für Populismus. Das sehen wir in Polen, das sehen wir in Ungarn.

Wir brauchen eine neue Ost- und Mitteleuropa-Strategie

Norbert Reichel: Manchmal habe ich den Eindruck, dass Putin Polen – um nur dieses Beispiel zu nennen – sogar einen Gefallen getan hat. Die aktuelle polnische Regierung lässt ja keine Gelegenheit aus, Bonn und Brüssel anzugreifen. Kaum jemand in Polen möchte die EU verlassen, aber man lässt sich nicht vom Westen diktieren, was man zu tun oder zu lassen hat. Jetzt aber haben die Politiker*innen des Westens, in Berlin, in Paris, in Brüssel erst einmal gemerkt, welche Gefahr Pol*innen in Russland sehen, und das auch schon vor dem 24. Februar 2022. Untersuchungen des Deutschen Polen-Instituts belegen, dass in Deutschland bei der Frage nach einer politischen, wirtschaftlichen und militärischen Bedrohung sich die Einschätzungen der Deutschen an die in Polen weitgehend angenähert haben. In Deutschland schaut man vielleicht heute aufmerksamer auf Polen, auf die baltischen Staaten, auf die Ukraine. In Ungarn sieht es noch etwas anders aus.

Martin Aust: Das ist ein komplexes Beziehungsgefüge. Es war ja immer irgendwie frappierend, dass alle Äußerungen zur Nation, zur Gesellschaftspolitik von Putin, Orbán, von Kaczyński ähnlich klangen, es aber außenpolitisch einen ganz tiefen Graben zwischen Polen und Russland, vor allem aber auch zwischen Putin und Kaczyński gab und gibt. Kaczyński ist heute noch der Auffassung, dass die Präsidentenmaschine, in der sein Bruder nach Smolensk flog, von Russland zum Absturz gebracht wurde.

Dieser erneute Überfall Russlands auf die Ukraine hat nun die Strafmaßnahmen der EU gegen Polen und Ungarn wegen Rechtsverstößen stark in Frage gestellt. Aus polnischer Sicht ist auch nicht mehr nachvollziehbar, warum Orbán an seiner Linie gegenüber Putin festhält. Ob das Ganze tatsächlich in eine neue Kooperation der Europapolitik mündet, müssen wir abwarten. Ich fände das ausgesprochen wünschenswert und notwendig. Es müsste eigentlich damit anfangen, dass die deutsche Regierung, vor allem die SPD, eingesteht, dass sie Jahrzehnte lang auf dem Holzweg war und dass es ein großer Fehler war, die Befürchtungen aus Polen und aus den baltischen Staaten nicht zur Kenntnis zu nehmen. Ob in der SPD der Erkenntniswille dazu ausreicht, das ist die kritische Frage Nummer 1. Die kritische Frage Nummer 2 ist die, ob bei Kaczyński die Einsicht so weit geht, dass es das deutsch-polnische Verhältnis belastet, seine Reparationsforderungen ausgerechnet am 3. Oktober zu stellen.

Da gibt es sehr große Hürden, man kann nur hoffen, dass es der Politik gelingt, über diese Hürden hinwegzukommen. Es wäre auch sehr stark im deutschen Interesse. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass der Ansehensverlust Deutschlands in Mittel- und Osteuropa unfassbar groß ist. Eine Europäische Union, in der Frankreich und Deutschland sagen, solange wir den vielzitierten Motor am Laufen halten, würde Europa funktionieren, gibt es nicht mehr. Wenn Deutschland Gestaltungs- und Integrationskraft in Europa zurückgewinnen will, muss es entschieden auf Polen und die baltischen Staaten zugehen und dies in neue Kooperationen und Formate mit Frankreich einbinden. Ob dazu in der SPD die Kraft ausreicht, ist für mich eine offene Frage. Die Grünen sehen das klar, bei der SPD habe ich meine Zweifel.

Norbert Reichel: Die Zweifel habe ich auch. Ich habe den Eindruck, dass Olaf Scholz keine andere Politik macht als Angela Merkel, auch in der Verständigung beziehungsweise Nicht-Verständigung mit Frankreich. Wirklich hilfreich wäre jetzt, dass das, was einmal zwischen Polen, Frankreich und Deutschland als Weimarer Dreieck begann, ein gutes und wirksames Instrument wäre, Europa voranzubringen. Ich habe aber nicht den Eindruck, als wenn das vom Bundeskanzler und seiner Partei so gesehen wird. Deutsche Alleingänge oder rein bilaterale Absprachen helfen nicht weiter. Die EU wird nicht auseinanderfallen, aber Deutschland macht schon den Eindruck, als ginge es um Germany First. Und das kann Putin nur gefallen.

Martin Aust: Ich habe schon den Eindruck, dass die Debatte in Deutschland der Dramatik der Situation hinterherhinkt. Man ist immer noch in der Routine gefangen, dass wir ein großes und wirtschaftsstarkes Land in der Mitte der EU sind. Aber niemand kann sagen, ob das so bleiben wird. Und wenn es so bleiben soll, dann muss die Kooperation mit den osteuropäischen Ländern eine ganz neue Qualität bekommen.

Norbert Reichel: Möglicherweise liegt das Dilemma auch darin begründet, dass viele Deutsche gerne so etwas wie eine große Schweiz wären. Über China will ich jetzt gar nicht reden. Im Koalitionsvertrag steht, dass eine neue China-Strategie entwickelt werden soll. Die soll – so kürzlich die Außenministerin – nächstes Jahr vorliegen. Bis dahin kann noch einiges geschehen.

Martin Aust: Eigentlich wäre es jetzt an der Zeit, in der Chinapolitik Lehren aus der Russlandpolitik zu ziehen. Aber danach sieht es gerade nicht aus, wenn man sieht, mit welchen Botschaften der Bundeskanzler nach China fliegen wollte. Das steht alles noch in einem enormen Spannungsfeld zu dem, was Annalena Baerbock „wertebasierte Außenpolitik“ nennt. Die wird man nicht eins zu eins umsetzen können, aber wenn man schon mit Autokratien Verträge schließt, sollte man zumindest sehen, dass man nicht von der einen Abhängigkeit in die andere hineinkommt. Wenn Deutschland da nicht umsteuert, wird die Bilanz in einigen Jahren oder Jahrzehnten umso bitterer ausfallen.

Norbert Reichel: Was könnte denn jetzt ein entsprechendes Geschichtsbewusstsein dazu beitragen? Ich mag den Begriff der „Erinnerungskultur“ so wie er oft verwendet wird eigentlich nicht, man müsste den Begriff meines Erachtens im Plural verwenden.

Martin Aust: Bei diesem Thema finde ich immer sehr überzeugend, was meine Bonner Kollegin Katja Makhotina dazu sagt. Man muss Opfern eine Stimme geben und ihren Nachfahren zuhören, was deren Erinnerungswünsche sind. Wenn man das in außenpolitische Programmatik überführt, entstünde daraus ein Programm des Zuhörens, das es erleichtert, Zugang zu anderen Gesellschaften zu finden. Das halte ich für zentral. Wenn man danach fragt, was man eigentlich tun muss, um diese Russo-Zentrik und Russo-Fantastik zu überwinden, betritt man ein Feld, dass noch viel größer ist als das Feld der Erinnerungskultur.  

Der Russland-Reflex hat in Deutschland ja eine lange Geschichte. Russland ist nach wie vor wichtig, aber man muss es unbedingt durch Kenntnisse anderer Kulturen und Gesellschaften ergänzen, die sich auf gleichem Kenntnisstand bewegen. Das betrifft zurzeit in erster Linie die Ukraine. Wer in Deutschland kennt ukrainische Literatur, Musik, Kunst? Wenn man auf der Straße nach Russland fragt, werden vielen Menschen Namen einfallen. Im Fall der Ukraine ist das anders Da brauchen wir ein ganz anderes Kultur-Aufbauprogramm. Sicherlich gilt das auch für andere Länder in Ost- und in Mitteleuropa. Nur so können wir die Asymmetrie in der Kenntnis von Kultur in Deutschland ausgleichen.

Norbert Reichel: Wir dürfen sie natürlich nicht durch eine neue Asymmetrie ersetzen. Es gibt Stimmen, die verlangen, dass russische Autor*innen nicht mehr gelesen, russische Musik nicht mehr gespielt werden soll. Aufmerksamkeit verdient auch die russische Oppositionskultur, die oft unter Gefahr für Leib und Leben versucht sich zu behaupten.

Martin Aust: Ich habe den Eindruck, dass es in Deutschland genügend Menschen gibt, die das auch so sehen. So wie es die große Hilfsbereitschaft gegenüber ukrainischen Geflüchteten gibt, sollten wir auch einen genauso offenen Blick für all die Menschen haben, die sich dem Krieg widersetzen, von denen manche zu uns gekommen sind. Denen müssen wir Perspektiven bieten. Auch der Ansatz, den Krieg aus einer langen Geschichte russischer Kultur erklären zu wollen und nicht aus einem imperialen Verständnis dieser Geschichte, scheint mir ein Reflex angesichts der fürchterlichen Nachrichten aus der Ukraine zu sein.  

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Januar 2023, Internetzugriffe zuletzt am 3. Januar 2023, Titelbild: Arina Nâbereshneva, Submissive Chain Swallowing Artist, das Bild wurde dem Demokratischen Salon von Katja Makhotina zur Verfügung gestellt.)