Wer hat den Farbfilm vergessen?

Oder über die Politisierung des Weihnachtsbaums

„Lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit. (…) Lass dich nicht erschrecken in dieser Schreckenszeit.“ (Wolf Biermann, Ermutigung)

Bei der Suche nach einem Thema für meine Bilanz des Jahres 2023 sah ich zufällig die ichweißnichtwievielte Wiederholung des Dokumentarfilms „Osthits – Die DDR in zehn Scheiben“ von Sven Hecker. Es ging um die Lieder, die man offiziell sang und singen konnte, und die, die man nicht singen oder nur nach „Korrekturen“ oder oft genug auch nur im Westen singen durfte. Natürlich war „Sag mir wo du stehst“ dabei, ein Lied, das auch ganz anders gesungen werden konnte als die SED-Spitze dachte, beispielsweise in Kirchen.

Wolf Biermanns „Ermutigung“ hat einen zuversichtlichen Titel und einen trotzigen Text. Trotz, Selbstbehauptung, der unbedingte Wille, niemals aufzugeben waren auch bitter nötig, wenn man sich die Schikanen vor Augen führt, unter denen mutige Künstler:innen in der DDR zu leiden hatten. Aber es ging auch ironisch und es ist kein Zufall, dass die einzige Bundeskanzlerin, die wir je hatten, bei ihrem Abschied, dem „Großen Zapfenstreich“, Nina Hagens „Du hast den Farbfilm vergessen“ spielen ließ. Diese Wahl zeigt, was sie von allen ihren Vorgängern und Nachfolgern – in der Regierung und in der Partei – unterscheidet: das Gefühl für Ironie.

Den Farbfilm vergessen haben heutzutage die meisten Politiker:innen der im Bundestag vertretenen Parteien. Eine davon braucht eigentlich nur eine Farbe, ein leichter Braunton würde reichen, die anderen präsentieren sich auf ihren Plakaten mit unterschiedlichen Farben, aber in ihrer politischen Kommunikation kennen sie eigentlich nur eins: Schwarz-Weiß. Entweder ist alles richtig, was sie tun, oder alles falsch, was die anderen tun. Die drei Parteien in der Bundesregierung verstehen sich sogar in der Kunst, alles falsch zu finden, was sie selbst veranlassen. Spätestens fünf Minuten nach jeder Kabinettsitzung erleben wir dieses Schauspiel in Schwarz-Weiß. Ich verrate ein Geheimnis: so schlecht ist die Bundesregierung nun wirklich nicht. Aber Kritik und Selbstkritik brauchen eben Farbfilm.

Den Farbfilm vergisst regelmäßig Friedrich Merz, so zuletzt, als er auf die Frage, was er unter „Leitkultur“ verstehe, antwortete, dazu gehöre, dass man sich einen Weihnachtsbaum kauft. Ob er das Kaufen eines Weihnachtsbaums demnächst zur Einbürgerungsvoraussetzung machen möchte, sagte er nicht, aber darum müsste er sich auch keine Sorgen machen. Viele Kinder aus arabischen, türkischen oder wenn man so will muslimischen Familien haben längst dafür gesorgt, dass ihre Eltern einen Weihnachtsbaum aufstellen, ohne Krippchen, aber einen Weihnachtsbaum. Davon gibt es viele bunte Bilder, von denen Friedrich Merz noch nicht so viele gesehen haben dürfte. Aber dafür muss man Verständnis haben, denn in der Zeit, in die er sich und das ganze Land zurückwünscht, die Zeit Konrad Adenauers, war der Farbfilm noch nicht alltäglich. Farbfernsehen gab es noch gar nicht. Wir erinnern uns an die nach Rhöndorf und Cadenabbia benannten Farben des im Herbst 2023 vorgestellten neuen CDU-Auftritts, in dem anstelle des Deutschen Bundestags der Präsidentenpalast aus Tiflis zu sehen war.

Selbst Angela Merkel hatte gelegentlich keinen Farbfilm eingelegt. Am 16. Oktober 2010 verkündete sie ex Cathedra: „Multikulti ist gescheitert“. Schon damals wusste eigentlich niemand so recht, was „Multikulti“ eigentlich war oder sein sollte. Manche verstanden darunter vielleicht die vielen neuen italienischen, griechischen, türkischen, auch die chinesischen Restaurants, die sich in den 1960er Jahren in Deutschland etablierten. Das, was es dort zu essen gibt, wurde in der Tat multikulturell oder wie man heute sagen würde, „crossover“. So kam die Sahne in die Carbonara, so wurde das Essen fast aller Länder immer soßiger, weil Deutsche eben nun einmal so gerne schöne cremige dicke fette – ich wage es, das furchtbare F-wort zu verwenden, no body-shaming – Soßen essen. Mit der Zeit löste Ketchup – auch keine deutsche Erfindung – manche Soßen ab, aber das Prinzip blieb gleich. Die deutsche „Leitkultur“ assimilierte zugewanderte Küchen, Resistance was futile. Wer wissen will, wie die Deutschen fremdes Essen assimilierten, lese die Habilitationsschrift von Maren Möhring, im Jahr 2012 im Münchner Oldenbourg-Verlag unter dem Titel „Fremdes Essen – Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland“ erschienen. Das Buch erhielt 2013 den Wissenschaftspreis Kulinaristik. Maren Möhring berichtet auch, wie sich deutsche Gaststätten zunächst gegen die Eröffnung ausländischer Restaurants wehrten und wie sich der Staat dazu verhielt.

Die Grünen mochten schon immer den Farbfilm, aber da ihr Grün ungeachtet ihrer Wahlerfolge ein wenig verblasste, gründeten sie eine Gruppierung mit dem Namen „Bunt-Grün“. Die Bunt-Grünen aus Kreuzberg-Friedrichshain mokierten sich, dass die grüne Spitzenkandidatin für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin erzählte, als Kind wäre sie so gerne „Indianerhäuptling“ geworden. Die Kandidatin schämte und entschuldigte sich. Niemand wusste wohl, dass die „Indianer“, die Native Americans, die First Nations, in Deutschland unter dem I-Wort dank der wunderbaren Winnetou-Filme der 1960er Jahre zu Lieblingen der Nation geworden waren, im wahrsten Sinne des Wortes, ähnlich wie Queen Elisabeth II., Papst Johannes XXIII., John F. Kennedy, Gus Backus und Roberto Blanco. Sie waren immer die Guten, die Bösen unter den „Indianern“ waren immer nur die, die von bösen „Bleichgesichtern“ zu exzessivem Alkoholkonsum verführt wurden. Ab dem 25. August 1967 gab es in der Bundesrepublik Deutschland auch Farbfernsehen, in der DDR startete das Farbfernsehen am 7. Oktober 1969 zu ihrem 20. Jahrestag, Halbzeit ihres Bestehens. Die Liebe zum Farbfilm der Grünen hatte einen Grünstich mit einem Hauch von Lila, in der DDR hatte vieles, wenn auch nicht alles, einen Graustich, in der gesamten Bundesrepublik sah man Schwarz oder Rot, manchmal beides zugleich. Anarchofarben waren es allerdings nicht.

Das neue CDU-Parteiprogramm braucht keinen Farbfilm. Es atmet den Geist einer Zeit, zu der der Himmel über der Ruhr nur selten blau war. Nur zur Erinnerung: Bis 1966 regierte in Nordrhein-Westfalen die CDU, nicht die SPD. Einen anderen Geist atmete die berühmte Rede von Christian Wulff vom 3. Oktober 2010. Der entscheidende Satz: „Der Islam gehört zu Deutschland“. Der Satz steht nicht im neuen CDU-Parteiprogramm, aber immerhin konzediert es, dass Muslime (ungegendert) zu Deutschland gehören, wenn sie „unsere Werte“ teilen. Umkehrschluss: Tun sie offenbar qua Religion wohl normalerweise nicht, Resistance is futile. Nun ist es mit den „Werten“ wie mit „Leitkultur“ und „Multikulti“ oder „Bunt-Grün“, nicht so einfach, vor allem wenn man „Werte“ wie sie das Grundgesetz enthält mit einer diffusen „Leitkultur“ verwechselt, die offenbar alles ist außer „Multikulti“. Muss auch niemand wissen, denn als politische Kampfbegriffe eignen sich diese Begriffe vorzüglich. Und wenn man gendert, erst recht!

Tina Hildebrandt hat mit Christian Wulff über seine heutige Sicht der damaligen Rede gesprochen, das Interview wurde am 13. Dezember 2023 online und in der Printausgabe veröffentlicht. Christian Wulff sagte, dass er die Rede immer bei sich trage: „Ich werde manchmal am Gemüsestand angesprochen: ‚Ich fand Sie immer überzeugend, aber Ihr Satz mit dem Islam war falsch, das werden Sie doch heute sicher einsehen.‘ Ich lese dann vor, was ich auch gesagt habe: ‚Es müssen sich alle an unsere gemeinsamen Regeln halten‘ und ‚unsere Art, zu leben, akzeptieren. Wer das nicht tut, wer unser Land und seine Werte verachtet, muss mit entschlossener Gegenwehr aller rechnen. Das gilt für fundamentalistische ebenso wie für rechte oder linke Extremisten.“

Christian Wulff nennt konkrete Punkte, wie eine erfolgreiche Integrationspolitik aussehen könnte. Das wäre schon einmal ein Programm, über das sich diskutieren ließe, aber leider spielt Christian Wulffs liberale Einstellung in der heutigen CDU (und leider auch in den anderen heutigen demokratischen Parteien einschließlich der Grünen) nur eine untergeordnete Rolle. Er sagte zu Tina Hildebrandt, dass sich in der derzeitigen Diskussion Menschen „vor die Alternative gestellt sehen, beispielsweise Moslems (sic!) oder Deutsche zu sein. Diese Polarisierung ist aus meiner Sicht eine der größten Gefahren, weil dann der Kampf der Kulturen einsetzt. Das bedrückt mich.“ Das spiele der Hamas und anderen Demokratieverächtern in die Hände. „Einer meiner muslimischen Mentees, nach internationalem Studium in jeder Hinsicht bestens in Franken integriert, berichtete mir, seine Frau wurde seit dem 7. Oktober mehrfach in Anwesenheit der Kinder wegen ihres Kopftuchs, das sie freiwillig trägt, angepöbelt. Sie solle doch dahin gehen, wo die Muslime regieren. Es ist absolut unerträglich, wenn sich Juden in Deutschland fürchten müssen, wegen ihrer Kippa angegriffen zu werden. Aber genauso wenig darf eine Frau angepöbelt werden, die Kopftuch trägt. Stellen Sie sich vor, was das bedeutet: Eine Mutter muss ihren Kindern erklären, warum ihnen solcher Hass entgegenschlägt. Und ja, ich kenne Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft, die sagen: Ich habe meinen Kieferorthopäden gewechselt, weil da eine Auszubildende mit Kopftuch ist. Solche Beispiele finde ich verheerend, weil diese erfolgreiche Integration verweigern.“

Christian Wulff räumt ein, dass sein Satz im heutigen Deutschland nicht mehrheitsfähig sei. Das sei jedoch kein Grund, ihn für falsch zu erklären. Das neue CDU-Parteiprogramm kommentiert er in zwei Sätzen: „Reden von früheren Bundespräsidenten müssen sich nicht wörtlich in Parteiprogrammen wiederfinden. Mein Satz ist längst Realität in Deutschland.“ Wie nicht nur die vielen Weihnachtsbäume in muslimischen Familien zeigen. Wenn jedoch der Weihnachtsbaum zum Politikum erklärt wird, singt vielleicht bald jemand in arabischer, türkischer oder deutscher Sprache etwas Ähnliches wie damals Wolf Biermann sang. Nur gilt die „Ermutigung“ dann irgendwann nicht mehr für die gesamte Gesellschaft, sondern nur für eine bestimmte Gruppe. Und wenn es so weit kommt, helfen weder Farbfilm noch Farbfernsehen.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2023, Internetzugriffe zuletzt am 25. Dezember 2023.)