Wer sind die „Blauen Männer“?

Leben mit dem kolonialen Erbe – ein Reisebericht

I would say again that I have no ‘real’ Orient to argue for. I do, however, have a very high regard for the powers and gifts of the peoples of that region to struggle on for the vision of what they are and want to be.” (Edward W. Said, Orientalism, London 2003)

„Testen Sie sich selbst: welches Bild steht Ihnen vor Augen, wenn Sie den Begriff „Tuareg“ lesen? Ist es das Bild aus dem GeoMagazin, das Gesicht eines Mannes, fast gänzlich hinter dem indigoblauen Chèche verborgen, Augen, die die Betrachtenden zu verfolgen scheinen? 2017 titelte der National Geographic eine Fotostrecke: „Tuareg: Die wilden Kerle der Sahara“? (Peter Gwin, Tuareg: Die wilden Kerle der Sahara. National Geographic. 22. März 2017) Und vor jeder Wüstentour die bange Standardfrage: Ja und, hast du keine Angst vor diesen Blauen Männern, diesen Rebellen?

Be-zeichnen(d) – Der Okzident erschafft sich seine Bilder des Orients

Mano Dayak, um 1950 im Air geboren, wuchs in der Sahara in einer Tuaregfamilie auf. Er besuchte eine Nomadenschule und ein Gymnasium in Agadez. Er verließ seine Heimat für ein Studium in den USA und in Paris, blieb seiner Herkunft verbunden und setzte sich bei seiner Rückkehr in die Zentralsahara für die Rechte der Tuareg ein. Dabei galt sein Augenmerk sowohl dem Erhalt der eigenständigen Kultur als auch der ökonomischen und politischen Eigenständigkeit.

Bei den Tuareg gilt Mano Dayak, der auf dem Weg zu politischen Verhandlungen mit Niger bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz ums Leben kam, als Nationalheld. Seine Autobiografie gibt Aufschluss über die Geschichte der Tuareg, ihr Leben als Nomaden in einer lebensfeindlichen Umwelt, ihren Kampf um Chancengerechtigkeit und einen eigenen Staat. „Wie hätte die übrige Welt erfahren können, dass hier zivilisierte Menschen leben, da doch die arabischen Händler durch ihre Berichte überall verbreiteten, dass wir Barbaren seien, die dem Rode trotzen und ihn mit Vergnügen austeilen, Ritter des Teufels, die man ausrotten müsse…“ (Mano Dayak, Geboren mit Sand in den Augen. Zürich 2001)

„Die“ Tuareg gibt es nicht. „Tuareg“, Singular „Targi“ oder „Targia“, wird etymologisch von der berberischen Bezeichnung des Landstriches Fezzan in Libyen abgeleitet – oder von arabisch „tawarique“, d.i. „von Gott verlassenes Volk“. „Die“ Tuareg nennen sich selbst Imuhar (Algerien und Libyen), Imushar (Niger) oder Kel Tamashequ – die, die Tamashequ sprechen. Ab und an ist auch von Kel Tagelmust, die die den Turban tragen, die Rede. Imidiwan, Freunde, heißen mehrere Stücke der Saharan Blues Band Tinariwen aus Algerien. Alhousseini Anivola aus dem Niger nennt eines seiner Alben Anewal, The Walking Man.

Was bedeuten diese Zuschreibungen und Benennungen? In der zugeschriebenen Bezeichnung liegt der durchaus despektierliche Blick von außen auf eine Volksgruppe, die Selbstbezeichnungen geben konkrete Hinweise auf die soziale und politische Geschichte und Identität der Kel Tamasheq/Imuhar.

Tawariq, die (von Gott) verlassenen? Alle etymologischen Herleitungen dieser Außenbezeichnung verweisen auf das Gefährliche, das Andere – aus dem Blick der Benennenden, so die Wiener Kultur- und Sozialanthropologin Anja Fischer.

Die Gott Verlassenen, die Verlassenen, der Begriff taucht im 16. Jahrhundert in Timbuktu in maurischen Schriften auf und wird von arabischen Quellen – in falscher etymologischer Herleitung – als „von Gott Verlassene“ verwendet, durchaus mit dem Ziel der Herabsetzung der nomadisch lebenden Kel Tamasheq/Imuhar. Und auch die nordafrikanischen arabischen Eroberer hielten sich an die ethymologische Deutung Tarka, die Verlassenen. Die europäischen Kolonisator*innen und Orientfahrer*innen übernahmen die Bezeichnung, angepasst in ihren Sprachen zu Tuareg. Der Begriff hält sich hartnäckig. Anja Fischer: „Als Tuareg wird eine nicht-staatliche, muslimische Gesellschaft von mehr als 1,5 Millionen Menschen bezeichnet. Sie leben in der Sahara und im Sahel verteilt. Diese Gesellschaft in der Zentralsahara bezeichnet sich selbst als Imuhar (und nicht Tuareg). Ursprünglich handelt es sich um eine nomadische Gesellschaft, deren Mitglieder nun oftmals sesshaft geworden sind. Kel Tamasheq fungiert auch als Eigenbezeichnung und identifiziert eine sehr heterogene Gesellschaft, die sich in einem Kulturraum bewegt, über eine der gemeinsamen Sprachen, allerdings ist die Gruppe der Tamaq-Sprachigen damit ausgegrenzt. Imuhar, Imasharen und Imushar sind sicherlich die politisch korrektesten Bezeichnungen.

Die Verwendung des Begriffs Tuareg suggeriert, dass es sich hier um eine soziale, kulturelle und politische Einheit handelt, was nicht mehr der Fall ist. Es grenzen sich einzelne Gruppen gemäß ihrer sozialen Gruppenzugehörigkeit sowie ihrer geographischen Herkunft voneinander ab. So wie sich die Nationalstaaten Mali, Niger und Algerien völlig anders entwickeln, so driften auch die Gruppierungen der Imuhar, Imascheren und Imuschar immer weiter auseinander und entwickeln eigene Identitätsmarker.

Ende der siebziger Jahre taucht mit dem neuen Musikstil, oft als Desert Blues oder Mali Blues bezeichnet, ein neues Wort auf: Ishumar. So nannten sich die jungen Männer, die durch Dürre, Armut, politische Auseinandersetzungen aus ihren Lebensgebieten vertrieben wurden und/oder in den Flüchtlingscamps in Mali groß wurden. Ishumar, ein Tamasheq Wort, abgeleitet vom Französischen ‚chômeur‘, Arbeitsloser. Ishumar steht für ein neues Verständnis politischer und gesellschaftlicher Identität, und der Desert Rock ist deren Ausdruck und Botschafter*in.

Die Anderen

Über die historische Herkunft der Imuhar gibt es viele Erzählungen. So sollen aus dem geographischen Raum der Levante hellhäutige Menschen, die Garamanten, nach Nordafrika gewandert sein und sich dann vom Norden aus um das zweite Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung in die damals fruchtbaren Gegenden der Sahara ausgebreitet haben. Gelegentlich wird aufgrund der Ähnlichkeit der Schriftsprache Tifinaq mit phönizischen Schriftzeichen auch diese Verbindung hergestellt. Poetischer ist die Rückführung auf Tin Hinan, eine Königin aus dem 4. Jahrhundert, Königin des Hoggar, deren Grabstätte man in Marokko gefunden haben will.

Der arabisch-muslimischen Expansion in Nordafrika ab dem 7. Jahrhundert wichen die Imuhar nach Süden aus – und wurden dort selbst zu Eroberern. Sie besetzten Gebiete im heutigen Sahel und machten sich die dort ansässigen Gruppen und Gesellschaften untertan, ein Kapitel in der Geschichte der Sklaverei und des Menschenhandels.

Von Süden gerieten die Imuhar seitens der dort herrschenden Volksgruppen unter Druck, die sich gegen die Vereinnahmung durch die Nomaden wehrten. Dürren und kriegerische Auseinandersetzungen unter den einzelnen Stämmen der Imuhar sind eine weitere Ursache für die fortwährenden Wanderbewegungen der Imuhar von Nord nach Süd und umgekehrt. Nomadische Gruppen sind von den klimatischen und jahreszeitlichen Bedingungen abhängig. Ganz besonders vom Wasser. Einer der wichtigsten Sätze in der Zentralsahara: Aman Iman, Wasser ist Leben. Die Imuhar beobachten ihre Umwelt und versuchen, das Gleichgewicht zwischen Natur, Mensch, Tier, Umwelt zu halten.

Obwohl die meisten Imuhar muslimischen Glaubens sind, spielen nach wie vor die Kel Esuf oder Issouf, die „Leute der Einsamkeit“ eine Rolle in ihrer Weltsicht, Geistwesen, die Gutes oder Schlechtes bringen können, Kräfte der Wüste und der Weite. Die Kel Issouf beobachten die Menschen und greifen manchmal in deren Tun ein. Die Menschen umgekehrt können die Kel Issouf nicht sehen, spüren aber die Eingriffe.

Einer der Pfeiler des gesellschaftlichen und sozialen Systems der Imuhar sind die sieben eigenständigen Hauptgruppen, Kel, schlecht übersetzt als „Stämme“. So unterschiedlich die einzelnen Gruppen agieren, leben, sich bewegen, wer zu einer von ihnen gehört ist kin und gehört dazu. Die sieben Hauptgruppen teilen sich weiter auf in Untergruppen und Gemeinschaften. Die bekanntesten Hauptgruppen im Bereich der Zentralsahara sind die Kel Ahoggar und die Kel Azjer und die Kel Ayr.

Der zweite Pfeiler der Gesellschaftsordnung der Imuhar waren die fünf Gemeinschaften, die eine Stratifizierung der Gesellschaft im Sinne von Ständen eher denn eine starre Klassentrennung darstellen. Dann gäbe es Adlige, Vasallen, Schmiede, Sklaven und Bauern. Anja Fischer lehnt allerdings die Existenz von Adligen und Vasallen als Mythos ab. Bei all diesen Bezeichnungen ist Vorsicht geboten, spiegeln sie doch den westlichen Blick auf eine Gesellschaft, die ihren eigenen Regeln folgt. Sie sind Hilfskonstruktionen und Übersetzung.

Die Adligen waren zuständig für die Führung, Prosperität und Schutz, die Vasallen Kamel- und Pferdezüchter, Kaufleute und Karawaniers, besorgten alles, was zur Ausübung der Führungsposition notwendig war. Den Schmieden kommt eine besondere Bedeutung zu. Sie stellten Schmuck und Waffen her, Zaumzeug und Werkzeuge. Vor allem: sie hatten Umgang mit den Elementen Feuer, Wasser, Sand, Metall. Damit bewegten sie sich zwischen der sichtbaren Welt der Menschen und der unsichtbaren Welt der Geistwesen. Man mied den Kontakt, wie auch Mano Dayak in seiner Autobiographie berichtet, in „heiliger Furcht“ vor den mystischen und magischen Kräften der Schmiede. Gerade weil sie sich zwischen den Welten und Zeiten bewegen konnten und damit über den alltäglichen Dingen standen, kam den Schmieden die Aufgabe zu, Streit zu schlichten, in Auseinandersetzungen und bei Verhandlungen und bei Heiraten zu vermitteln.

Sklaven, vor allem Hausa und Shongai aus dem Sudan, hüteten die Herden und verrichteten Haushaltstätigkeiten. Wenn man den Berichten folgt, war es üblich, dass Sklav*innen zur Familie gezählt wurden. In der jüngsten Forschung werden folgende soziale Unterschiede bzw. abgrenzbare Gemeinschaften identifiziert: Viehzüchter, Handwerker, Religiöse, Landarbeiter, Sklaven.

Den Frauen gehören die Zelte und ihr Inventar.  Die Frauen suchen sich die Männer aus, mit denen sie leben möchten und verstoßen die Männer, wenn diese den Erwartungen nicht gerecht werden oder sich nicht korrekt verhalten. Es ist eine matrilineare Gesellschaft. Mano Dayak schildert in seiner Autobiographie, wie seine Mutter ihm die Tradition seines Volkes in Gedichten, Liedern, Erzählungen und nicht zuletzt in der Schrift weitergab. Sein Vater lehrte ihn, mit der Wüste zu leben und sie zu lesen. Das Zelt, materiell wie symbolisch ein Raum, der Schutz, Geborgenheit und Identität stiftet. Kel Tamasheq – die die unter einem Zelt leben, gemeinsam, in lockerem Verbund.

In der Sahara und im Sahel gab es keine Grenzen, die Territorialstaaten begrenzten – die „Linien im Sand“ wurden erst von den Kolonialmächten gezogen. James Barr ist einer der Autoren, die die Folgen der kolonialen willkürlichen Grenzziehung im „Nahen“ bzw. „Mittleren“ Osten thematisiert haben. (A Line in the Sand – Britain, France and the Struggle that Shaped the Middle East. London, 2011). Der Effekt dieser Grenzziehungen für die Region Zentralsahara dürfte vergleichbar sein. Empfehlenswert auch Douglas Porch, The Conquest of the Sahara, New York 1984, und der am 3. Mai 2010 veröffentlichte Text „Grenzen in Afrika als Last und Herausforderung“: „In Afrika wurde diese Form von Staat in der Kolonialzeit eingeführt, es handelte sich um eine Neuheit, da die weitaus meisten vorkolonialen afrikanischen Staaten als Personenverbandsstaaten bezeichnet werden können. Der Personenverbandsstaat zeichnet sich im Gegensatz zum Territorialstaat dadurch aus, dass eine Menschengruppe und ihre politische Organisation primär den Staat bestimmt, während es von untergeordneter Bedeutung ist, welches Territorium sie besiedelt. Aus diesem Grund gab es im vorkolonialen Afrika das Phänomen wandernder Königreiche, die sich ein neues Siedlungsgebiet suchten, aber als Personenverband ihre Kontinuität bewahrten (…) Die Grenzen der nachkolonialen Staatenwelt Afrikas wurden weitgehend unverändert aus der Zeit der europäischen Kolonialherrschaft übernommen, was nichts anderes besagt, als dass die Europäer die heute noch gültigen Grenzen in Afrika zogen. Die Willkürlichkeit dieser Grenzziehungen ist bekannt, da es den Europäern primär um ihre eigenen Interessen ging und die Grenzen häufig das Ergebnis politischer Kompromisse waren, die in Verhandlungen gefunden wurden. In der Literatur wird oft als das grundlegende Problem nachkolonialer Staatlichkeit in Afrika die „Künstlichkeit“ der Grenzen genannt, als ob Grenzen nicht immer und überall künstlich wären.

Christof Marx benennt in dem zitierten Text „Grenzen in Afrika als Last und Herausforderung“ sehr genau die Folgen dieses ungleichen Aufeinandertreffens von Kulturen und die Unterwerfung eines Kulturraumes unter das Diktat der Kolonialmächte. In Algerien richtete die französische Kolonialmacht Schulen inklusive Schulpflicht für die ihrer Meinung nach schriftunkundigen Berber und Imushar ein, kurzum für alle, die nicht schon anderweitig einer europäischen Schulbildung zugeführt worden waren. Mano Dayak berichtet in seiner Autobiographie „Geboren mit Sand in den Augen“ (Zürich 1976), auch er wurde von seinen Eltern solange wie möglich vor diesem Zugriff versteckt, um dann doch in einer sogenannten Nomadenschule „in die Falle“ zu geraten. Dass Mano Dayak durch seinen erzwungenen Schulbesuch eine Laufbahn einschlagen konnte, die ihn zum Mittler zwischen Okzident und Orient und zur herausragenden Figur seiner Herkunftsgesellschaft machen sollte, ist eine Geschichte. Der Schmerz, der Zorn, die Angst und die Gewalt, mit der Kinder aus dem Familienverbund und ihrem bekannten Leben herausgerissen und fern ihres Zeltes beschult wurden, ist die andere Geschichte, die sich tief in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat.

Rebellen

Die willkürlich und gradlinig gezogenen Grenzen der Staaten Libyen, Algerien, Burkina Faso, Mali und Niger sicherten die Interessen der Kolonialmächte und zerschnitten den Lebensraum der Imuhar, bedrohten und vernichteten ihre nomadische Lebensweise. Karawanenwege und Zugänge zu Wasserstellen und Oasen wurden unterbrochen. Die Identität einer losen Gemeinschaft, die sich am selben Kulturraum, durch die gleiche Lebensweise als Nomaden, amawal, an derselben oder dergleichen Sprache orientierte, geriet unter erheblichen Druck und wurde gesellschaftlich an den Rand gedrängt. Die einstigen Herren der Karawanenwege und des Sklavenhandels wurden zu Getriebenen und Ausgegrenzten. Das Verhältnis der Imuhar zu den Nachbarn ist nach wie vor geprägt von gegenseitiger Abneigung. Fast scheint es so, als scheine hinter dieser tiefen Abneigung der Wunsch durch, diesen Herren der Wüste ihr Verhalten als Herrscher und Sklavenhändler heimzuzahlen.

In Algerien wird neben Arabisch als zweite Amtssprache Tamazight, eine Berbersprache, akzeptiert, nicht jedoch Tamasheq. Nach wie vor besteht in Algerien Schulpflicht zwischen sechs und fünfzehn Jahren. Die Kinder der Imuhar leben bis zu ihrem sechsten Lebensjahr oft immer noch in nomadischen Verhältnissen, haben ihre Rolle bei der Versorgung der Familie und wachsen mit Tamasheq auf. Wenn sie in die Schule kommen, werden sie häufig zum ersten Mal mit Arabisch konfrontiert und können dem Unterricht nicht oder nur mit Mühe folgen. Dies mag ein Grund sein, warum viele junge Tuareg Schwierigkeiten mit einem Schul- oder einem Berufsabschluss haben. Sie leben, in Algerien zwar nicht verfolgt, dennoch am Rande der Mehrheitsgesellschaft, schreibt Chris Elliott: „Es ist zweierlei, tatsächlich nomadisch und staatenlos zu leben oder dies unter der Zuschreibung einer nomadischen und staatenlosen Lebensweise zu tun.“ Aber warum zieht sich wie eine Spur im Sand das Bild der Imuhar als wilde Rebellen, gnadenlos und hinterhältig im Kampf und zerstritten untereinander durch die Geschichte und bestimmt ihr Bild in Europa?

Aufschluss und Hinweise gibt die Expedition von Paul Francois Xavier Flatters, geboren 1839, gestorben 1881 in der Sahara. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts gab es Pläne, durch eine Transsahara-Route den Zugriff Frankreichs auf Afrika zu sichern. Diese Pläne wurden zunächst durch die politischen Ereignisse in Europa auf Eis gelegt, nicht zuletzt 1871 schienen die Träume durch Sieg des Norddeutschen Bundes unter Führung Preußens im Deutsch-Französischen Krieg und der Ausrufung des Deutschen Kaiserreiches in Versailles 1871 begraben.

Unter der Ägide des Ministers für Verkehrswesen und heftiger Lobbyarbeit der in Algier tätigen Handelsunternehmen nutzten die Franzosen 1880 die politische Situation, um den ehrgeizigen Plan einer Transsahara Eisenbahnlinie doch umzusetzen und Frankreich wieder ins Spiel um die Macht auf dem Kontinent zu bringen. Hauptmann Paul Flatters wurde 1880 mit einer ersten Expedition zu den Kel Ajjer beauftragt, kurz drauf mit einer zweiten Expedition zu den Kel Ahoggar. Letztere warnten ihn aus gutem Grund, ihr Gebiet zu betreten, sie könnten nicht für seine und seiner Männer Sicherheit sorgen. Die Narrative unterschieden sich hier ein wenig, es ist möglich, dass die Kel Ahoggar, von den Verhandlungen mit Vertretern der Kolonialmacht sicher nicht in Gänze informiert, erst langsam begriffen, dass mit dem Bau einer Eisenbahn schwerwiegende Eingriffe in ihren Kulturraum passieren würden. Sicher ist, dass sie Flatters warnten, ihr Gebiet zu betreten, geschweige denn, um hier Vorsondierungen für eine Eisenbahnlinie zu unternehmen.

Es mag sein, dass der Amenokal, der Anführer, der Ahoggar, Ahitaghel, selbst nicht fest im Sattel saß und seinerseits einen Beweis für seine Führungskraft gegenüber seinem Kel suchte. Sicher ist, dass Paul Flatters nichts auf die Warnungen des Amenokal gab und mit zwei Führern der Kel Ifora auf den Weg machte. Aghitaghel überredete Flatters, sich von seinen Führern zu trennen und sich einheimischen Führern anzuvertrauen. Der Legende nach haben sich die Iforar den Ahoggar angeschlossen. Sicher ist, dass die Kel Ahoggar Flatters und seine Begleitmannschaft, 92 französische Soldaten, Ärzte und Ingenieure und 300 Kamele zum Brunnen von Tadjmut lockte. Dort warteten 600 Imuhar unterschiedlicher Stämme unter Führung der Ahoggar. Sie vernichteten die waffentechnisch weit überlegenen Erkunder, nur 14 Franzosen sind den Berichten nach lebend aus der Schlacht am Brunnen herausgekommen und flüchteten in die Wüste. In der sie sich nicht auskannten, deren Gesetze sie nicht verstanden und deren Zeichen sie nicht lesen konnten. Sie irrten zu Fuß 700 Meilen von ihrem Ausgangspunkt in Ouargla entfernt, verdurstend und verhungernd gen Norden, beobachtet von den Imuhar, die den Verdurstenden und Verhungernden immer wieder Säcke mit Datteln und Wasser hinlegten, beides vergiftet. Einmal noch kam es zu einem Feuergefecht zwischen den Imuhar und den Franzosen. Nur wenige Männer der Expedition Flatters gelangten zurück. Das Image der Imuhar als äußerst brutal und hinterhältig vorgehenden Rotten, denen nicht zu trauen ist, hat hier seinen Ursprung.

Auch in den folgenden Jahrzehnten kämpften die Imuhar um den ihnen vertrauten Kulturraum – Massaker gab es auf beiden Seiten. Der sogenannte „Kaocen Aufstand“ im Jahr 1917 markiert einen bedeutsamen Einschnitt in der Geschichte der Imuhar. Im Air im Grenzgebiet zwischen Mali und Niger erhoben sich die Imuhar in Folge einer weiteren ausgedehnten Hungersnot unter Führung des Amenokal Ag Mohammed Wau Teguidda Kaocen (1880–1919) gegen die französische Kolonialregierung. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, Kaocen und seine Mitkämpfer wurden zum Tode verurteilt und in Agadez hingerichtet.

In der Literatur wird dieser Aufstand als seitens der Imuhar militärisch und strategisch gut vorbereitet und ausgeführt beschrieben. Umso bitterer muss – so Mano Dayak – die Erkenntnis für die Imhuar gewesen sein, dass sie ihre Eigenständigkeit und rechtliche Souveränität verloren hatten, eine Zäsur im kollektiven Gedächtnis. Kaocen, eine einflussreiche und geachtete Persönlichkeit, hatte immerhin zu nichts geringerem aufgerufen, als sich als Imuhar, als eine nationale Gemeinschaft, zu versammeln. 1916 soll er – ich zitiere Chris Elliott – mit ungefähr diesen Worten zum selbstbewussten Widerstand aufgerufen haben: Ich möchte, dass Ihr die Imuhar seid, die Ihr seid. Ich rufe Euch dazu auf Euch zu einem einzigen Haupt, zu einem einzigen Arm mit Euren Brüdern vereint, so dass wir die Franzosen von unserem Land vertreiben können.“ Das war neu und gilt als Wendepunkt im Kampf gegen die Kolonialmächte und für einen eigenständigen Kulturraum und zeigte nachhaltige Wirkung für die Idee einer „Nation der Nomaden“.

Bereits in den 1920er Jahren führten anhaltende Dürreperioden dazu, dass die in der Zentralsahara und im Sahel lebenden Gesellschaften um die vorhandenen und immer geringer werdenden Ressourcen konkurrierten und es auch zwischen den Imuhar und ihren Nachbarn Verteilungskämpfe gab. In den 1950er und 1960er Jahren verließen die Kolonialmächte zwar den von den Imuhar bewohnten Kulturraum, das Land, auf dem sie sich bewegten, wurde aber unter die neu entstehenden Territorialstaaten Algerien, Mali, Niger, Tschad, Libyen und Burkina Faso aufgeteilt. Fortschreitende Desertifikation und politisches Einschreiten der Territorialstaaten schränkten das nomadische Leben zusehends ein und führte zu weiteren Auseinandersetzungen und Konflikten, vor allem im Norden von Mali. Die großen Dürren dezimierten die Vieherden, die für das Leben und Auskommen der Imuhar so wichtig sind.

Die Regierungen von Mali und Niger, regiert von Militärs, die sich in das von den Kolonialmächten hinterlassene Machtvakuum geputscht hatten, taten wenig bis nichts, um der Bevölkerung in der katastrophalen Lage zu helfen, die Imhuar waren nicht einmal als Bevölkerung im Blick der Regierung. Viele Imuhar- Familien sahen sich gezwungen, ihr vertrautes Leben aufzugeben und in den Städten nach Arbeit zu suchen. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass die ansässige Bevölkerung nicht gerade auf die Imuhar mit ihrer so anderen Sprache und Lebensweise warteten. Die Imuhar erlebten weitere Marginalisierung und Ausgrenzung und waren gezwungen, Arbeiten anzunehmen, die sonst niemand übernehmen wollte, z.B. Arbeit in den Uran Minen in Niger.

Bereits Anfang der 1960er Jahre griffen die Imuhar in Mali zu den Waffen. Ihr Aufstand wurde jedoch schnell niedergeschlagen. Die Imuhar flohen in die entstehenden Flüchtlingslager in Algerien und – Libyen. Und hier beginnt ein neues Kapitel. Andrea Böhm beantwortete in der ZEIT die Frage: „Was hat der tote Gaddafi mit dem Putsch in Mali zu tun?“. Gaddafi rekrutierte viele seiner Söldner aus den Reihen der Flüchtlinge und setzte sie in den von ihm unterstützten Auseinandersetzungen u.a. im Tschad und im Libanon ein. Zudem verschaffte er sich Respekt und Anerkennung der den Imhuar, indem er ihnen Jobs im Versorgungssektor in Libyen anbot, z.B. in Krankenhäusern.

1990 explodierte die Situation in Niger und Mali erneut. Diesmal waren die Imuhar besser vorbereitet und besser ausgerüstet. In den Flüchtlingslagern hatte sich aus dem Wunsch und dem Willen, Eigenständigkeit und Souveränität wiederzuerlangen, Widerstand formiert und zur Gründung der Front Populaire de Libération National (FPLN) geführt.

Der bewaffnete Aufstand der Imuhar in Mali und Niger ist als Teil einer Reihe von Kriegen in den multiethnischen Territorialstaaten zu verstehen, die ihre Ursache in der Implementierung kolonialen westlichen Staatsverständnisses in Gesellschaften, die eigenen traditionellen Organisationsmodellen folgten. Georg Klute erläutert diese Zusammenhänge in seinem Buch „Tuareg – Aufstand in der Wüste – Ein Betrag zur Anthropologie der Gewalt und des Krieges (Köln 2013). Und zunächst gehörten diese Auseinandersetzungen zu den „small wars“, an denen die internationalen Power Brokers wenig Interesse hatten, da es weder um Rohstoffe noch um politische/stellvertretende Einflussbereiche ging.

Die Imuhar, inzwischen gut ausgebildete Kämpfer, sahen ihre Chance, sowohl in Mali als auch in Niger. Sie griffen Regierungsgebäude in Gao an. Mali geriet in den Strudel eines Bürgerkrieges, an dem sich unterschiedliche Imuhar-Milizen und Formationen beteiligten.

Mano Dayak, Anführer der Témoust Befreiungsfront (FLT), bemühte sich in direktem Kontakt mit den Anführern der unterschiedlichen Fraktionen die blutigen Auseinandersetzungen zu beenden und gleichzeitig für die Imuhar gleichberechtigten gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Status und eine Beteiligung an einer neuen Regierung in Mali. Er kämpfte sowohl gegen den Unwillen der regionalen Machthaber, als auch gegen das Unverständnis und die Ungeduld in den eigenen Reihen, auf kriegerische Mittel zu verzichten und die politischen und diplomatischen Möglichkeiten auszuschöpfen. Er kämpfte für eine Welt, in der die Imuhar einen sicheren und Festen Platz haben. Er scheiterte. Es kam zu politischen Rückschlägen und Massakern. Dayak versuchte, die westliche Öffentlichkeit, vor allem die in der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich über die Vorgänge in Mali und Niger zu informieren. Transparenz, Gespräche, Verhandlungen. 1995 stand das Ziel vor Augen. Aber die Unterzeichnung eines Friedensabkommens zog sich hin.

Im Epilog seiner Autobiographie heißt es: „Aber im Dezember 1995 war der Friedensvertrag immer noch nicht mehr als ein Stück Papier. Mano beschloss daher, den Premierminister des Niger davon zu überzeugen, den Vertrag endlich in die Praxis umzusetzen. Am 15. Dezember bestieg er das Flugzeug in der festen Überzeugung, zu einem dauerhaften Frieden zu gelangen. Die Cessna explodierte beim Start.“ Mano Dayak wurde zum Symbol des Traums der Imuhar von Souveränität und Gemeinschaft. Nach ihm ist der größte und höchste natürliche Felsbogen im Tadrart, Algerien benannt, ihm widmen Musikgruppen ihre Stücke. Zu den traditionellen Schmuckstücken der Imuhar gehören silberne Anhänger, die nach ihren jeweiligen Formen und Mustern den einzelnen Kel zugeordnet sind. Es gibt eine Neuschöpfung, die inzwischen denselben Stellenwert wie die traditionellen Stücke hat, dieses Zeichen der Zugehörigkeit ist nach Mano Dayak benannt.

Und es gärte weiter unter den Imuhar.  Und es war nicht nur der edle Wunsch nach eigener Souveränität, der die Imuhar antrieb, sondern auch ihrerseits Rassismus und Abgrenzung. Andy Morgan, Journalist mit den Schwerpunkten Politik und Gesellschaft in Westafrika, beschreibt die Konfliktlinien sehr klar: „Many Touareg could not see why the Bambara, Soninké and Malinké people of the south should impose their language, culture and socialist ideas on them, especially as these ‘blacks’ had never actually vanquished the Touareg in battle, which, although painful, might at least have given their new overlords some kind of legitimacy. And, yes, racism was part of mix as well. Some northern Touareg and Arab leaders argued that they came from noble Cherifian lineages that went right back to the Prophet Mohammed and, as such, found the idea of being subservient to less ‘favoured’ southern blacks completely unacceptable.

2012 schien der Traum sich doch noch zu erfüllen, der Traum von einem eigenen Territorium der Imuhar. Am 6. April 2012 erklärten die Imuhar das Gebiet Azawad im Norden Malis bestehend aus den Regionen Timbuktu, Gao und Kidal und anschließende Gebiete Nigers, in die sich die Imuhar nach der Rebellion der 1990er Jahre zurückgezogen hatten, zum freien eigenständigen Staat. Die Fahne des neuen Staates war schnell omnipräsent, in der kleinen Wüstenstadt Djanet fuhr kaum ein Auto, in dem die Fahne nicht das Rückfenster zierte.

Was war geschehen? Als 2011 deutlich wurde, dass das System Gaddafi in Libyen keine Zukunft mehr haben würde, verließen die Imuhar-Kämpfer den Dienst des Diktators und machten sich auf den Weg nach Niger und von da aus nach Mali. Es waren gut ausgebildete Männer unter der Führung von Ag Mohammed Najem, eines Mitgliedes der Kel Iforas und ehemals Oberst der libyschen Streitkräfte. Die Nationale Bewegung zur Befreiung des Azawad (MNLA) übernahm zunächst das Heft des Handelns und vereinte Kämpfer aus Zusammenschlüssen der Rebellion von 1991-1995.

Die militärische Operation der Imuhar kam im Grenzgebiet zu Niger und zu Mauretanien kostete etliche Opfer in der Zivilbevölkerung und unter den zur Verteidigung ausgesandten Regierungssoldaten. Mali wandte sich an den Internationalen Gerichtshof. Gleichzeitig fanden in Bamako Massaker unter den Angehörigen der Imuhar statt. Die MNLA rief einseitig die Unabhängigkeit Azawads aus, der aber von keinem anderen Staat anerkannt wurde. Und wieder wurde der Kampf der Imuhar Teil einer anderen Auseinandersetzung, eines anderen Krieges. Eine Splittergruppe des Al Qaida Netzwerks, Ansar Dine, hatte der MNLA ihre Unterstützung zugesagt, verfolgte aber schnell eigene Ziele, vornehmlich die Einführung der Scharia. Das war aber nicht das Ansinnen der MNLA. Die Allianz mit Ansar Dine zerbrach und wurde zur erbitterten Gegnerschaft. Ansar Dine vertrieb die Kämpfer der MNLA aus Timbuktu, Gao und Kidal und führte dort die Scharia ein. Im Juni 2013 schlossen die MNLA und die malische Regierung eine Waffenruhe.

Targuité?

Gibt es so etwas wie Targuité, Tuaregness? Diese Frage stellte beispielsweise Frédéric Deycard in einem Essay über die politische Kultur und die Mobilisierungen der Tuareg im Niger. Das Image der Imuhar wird heute – da trägt Mano Dayaks Ansatz, seine Heimat über den direkten Kontakt und Tourismus im Westen zugänglich zu machen und den Okzident für die Imuhar zu interessieren, Früchte – tatsächlich zum großen Teil über die vielen Imuhar eigenen, oft auch von ehemaligen Rebellen geleiteten Agenturen in Agadez, Djanet und Tamanrasset. Dies hat den Kontakt zu Nicht-Regierungs-Organisationen geprägt. Die Interaktion von Tourismus und der Arbeit der Nicht-Regierungs-Organisationen schafft durchaus ein Bild, das dem Spiegelbild dessen gleicht, was der Okzident sehen und erleben will.

Der Tourismus ist allerdings auch ein Weg zur ökonomischen Eigenständigkeit, diesen Aspekt hat Mano Dayak erkannt und gefördert. Von den Einnahmen aus dem Tourismus leben viele Familien. Bricht der Tourismus ein, sowie zurzeit wegen der Pandemie, bleibt vielen Imuhar nur der Ausweg in Aushilfejobs, man hält sich mühsam über Wasser. Männer, die in Tamanrasset fest in einer Autowerkstatt oder einem Kiosk angestellt sind, nehmen sich für die Trekkingtouren mit bestimmten Agenturen, für die sie als feste Freie arbeiten, Urlaub. Der Verdienst spricht für sich. Dazu kommen die Kontakte untereinander und der Aufenthalt in der Wüste.

Für die zweite und dritte Generation nach den Kriegen und Lagern haben sich die „Sitten“ gelockert. Man trägt nicht mehr unbedingt den Chèche, langärmeliges Hemd und weite Hose. In den Städten sind die traditionellen Kleidungsstücke längst Jeans und T-Shirt abgelöst. Während einer Trekkingtour aber trägt die Begleitmannschaft selbstverständlich die traditionelle Kleidung. Das Bild, das in der touristischen Begegnung vermittelt wird, ist eine Geschichte.

Kaocen, Mano Dayak, Azawad – Symbole auf der Suche der Imuhar nach Souveränität: Thema ist ein Begriff von Souveränität, die sich weniger in einem Territorialstaat und „einer Nation“, als an der Zugehörigkeit sowohl zu einem Gebiet als auch zu einer Gemeinschaft versteht. Was kennzeichnet Zugehörigkeit in dieser Gemeinschaft, die aus derart politisch und gesellschaftlich diversen Mitgliederschaften besteht und geographisch so weit verteilt ist? Auch heute verdienen Imuhar ihren Lebensunterhalt als Viehhändler, in der Viehzucht und in der Landwirtschaft, oder sie sind LKW- Fahrer oder arbeiten im Tourismus. Geblieben ist die nomadische Selbstdefinition, auf die auch urbane Gruppen zurückgreifen. Anja Fischer spricht von post-nomadischen Lebensweisen. Nomadische Elemente, Mobilität, Flexibilität, Solidarität, Sprache und Schrift und nicht zuletzt die Musik des Desert Blues, werden zu identitätsstiftenden Elementen. Andy Morgan schreibt: Through their music and poetry, the Tuareg share their inner-battles and wider struggles with the world.”

Die Generation der Imuhar, die die Kriege erlebt und in den Lagern aufgewachsen sind sowie ihre Kinder leben in der Musik von Tinariwen, Terakraft, Taminkrest und Bombino, um nur http://terakaftband.com/einige zu nennen. Die Band Tinariwen entstand 1979 in einem der libyschen Camps. Ihre Gründungsmitglieder stammen aus der Gegend um Kidal und kannten das Leben als Ishumars aus erster Hand. Sie ließen sich später von Gaddafi als Soldaten anheuern. Der Desert Rock ist von der westlichen Rockmusik ebenso beeinflusst wie von afrikanischen Musiktraditionen. Instrumente aus beiden Kulturräumen finden Verwendung. Gesungen wird auf Tamasheq. Tinariwen gilt als die erste Band des Desert Rock, die elektrische Gitarren verwendete. Die Texte spiegeln die Lebenserfahrung und das Lebensgefühl der Ishumar. Es geht um den Verlust von Heimat, die Solidarität und den Zusammenhalt unter Freunden, den Respekt vor der Wüste und die Sehnsucht nach ihr. Seit den 90er Jahren hat der Desert Blues der Imuhar, die sich in diesem Zusammenhang als Tuareg bezeichnen, einen festen Platz im Repertoire nicht nur der großen Desert Blues auf dem afrikanischen Kontinent, sondern auch auf den Festivals in Europa. Die Musik ist Botschafterin der kulturellen Identität der Imuhar.

Aber verweist die Musik auch auf das, was in der Literatur als Targuité bezeichnet wird? Im Grunde ist Targuité ein weiterer Hilfsbegriff. Chris Elliott warnt vor einer emphatischen Schlussfolgerung in der Analyse einer politischen und sozialen Identität „der Tuareg“: „Was nun ist ‚Targuité‘? Die Anthropolog*innen können sich nur in einem Punkt sicher sein – diese Frage kann nur ein Tuareg beantworten.“

Vielleicht gibt der Desert Blues hier zumindest einen Anhaltspunkt. Die Musik von Tinariwen fehlt bei keiner Wüstentour in den Autos der Tuareg. Hier ein Stück aus dem Album Elwan der Gruppe. Ténéré, Tamascheq, heißt Leere, leeres Land, Wüste. Der Plural des Wortes ist Tinariwen. Hier der englische Text des Songs „Ténéré Tàqqàl – What has become of the Ténéré?”

The Ténéré has become
an upland of thorns
where elephants
fight each other
crushing tender grass
under foot.

The gazelles have found refuge
high in the mountains
the birds no longer return
to their nests at night
the camps have all fled.

You can read the bitterness
on the faces
of the innocents
during this difficult
and bruising time
in which all solidarity
has gone.

The strongest impose their will and leave the weakest behind
many have died battling
for twisted ends.
And joy has abandoned us
exhausted by all this duplicity.”

Beate Blatz, Köln

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im April 2022, alle Internetlinks wurden zuletzt am 10. April 2022 aufgerufen. Die Reise, die Beate Blatz hier beschreibt, fand im Februar 2022 statt. Es war nicht ihre erste Reise in diese Region. Übersetzungen aus dem Englischen alle von Beate Blatz.)