„Wie man Fanatiker kuriert“
Das Vermächtnis des Amos Oz
Wer die Geschehnisse rund um die Staatsgründung Israels verstehen möchte, sollte den autobiographisch inspirierten Roman „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ von Amos Oz lesen. Vielleicht auch noch den „Judas“, in dem es um die Legenden von Verrat geht, die sich gerne um die Personen bilden, die anders als eine wie auch immer entstandene Mehrheit denken und handeln.
Amos Oz, der vielleicht mehr als manch andere Autor*innen den Literatur- oder meiner Meinung nach vielleicht sogar den Friedensnobelpreis verdient hätte, hat in seinem Leben mehr oder weniger alle Phasen israelischer Politik und Identitätsbildung durchlebt, vor und nach der Staatsgründung, im Kibbuz, beim Militär, in Hochschule und Literaturbetrieb sowie in der von ihm mitbegründeten Bewegung Schalom Achschaw (Peace Now). Er hat sich für die so genannte „Zwei-Staaten-Lösung“ engagiert, denn das Elend des so genannten Nahost-Konflikts, ein durchweg euphemistischer Begriff, ist nach seiner Ansicht nur lösbar, wenn beide Seiten auf Grundlegendes verzichten. „Es gibt keinen anderen Weg, als dieses kleine Haus in zwei noch kleinere Wohnungen aufzuteilen.“ (aus „Liebe Fanatiker: Drei Pladoyers“, Suhrkamp, Berlin 2018).
Im Jahr 2002 hat Amos Oz drei Vorträge in Tübingen gehalten. Zu einem vierten Vortrag hat er den palästinensischen Schriftsteller Iszat Ghazzawi eingeladen. Die vier Vorträge wurden in der Regenbogenreihe des Suhrkamp-Verlages veröffentlicht und sind im Buchhandel immer noch erhältlich („Wie man Fanatiker kuriert“, Berlin 2004).
Konflikte werden oft religiös überhöht, ein fast klassisch marxistisches Basis-Überbau-Phänomen. Hierzu erzählt Amos Oz den Witz, dass ein Mensch zufällig G‘‘tt trifft und sich traut, ihn (sie?) zu fragen, welche der drei (monotheistischen) Religionen im Recht sei. Die Antwort des Ewigen: „Ich bin nicht religiös. Von Religionen verstehe ich nichts.“
So entspannt argumentieren Fanatiker*innen nicht. Sie können nicht bis drei zählen. Sie können – so Amos Oz – „nur bis eins zählen, zwei ist eine zu große Zahl für sie. Sie zählen bis eins. Zur gleichen Zeit kann man feststellen, dass Fanatiker sehr häufig hoffnungslos sentimental sind.“ An anderer Stelle: „Dem Fanatiker liegt viel an Ihnen, er fällt Ihnen entweder permanent um den Hals, weil er Sie wahrhaft liebt, oder er will Ihnen den Hals umdrehen, sollten Sie sich als nicht erlösbar erweisen.“ Amos Oz treibt diesen Gedanken auf die Spitze: „Im Grunde liebt Bin Laden Sie. Der 11. September war ein Akt der Liebe. Er hat es zu Ihrem Besten getan, er will Sie verändern, er will Sie erlösen.“ Doch erfüllte Liebe scheut jede Veränderung, und so stellen Fanatiker andere Menschen vor die Wahl, entweder „Fanatiker“ oder „Verräter“ zu werden. Nur am Rande: Der bekannte Nazi-Propagandachef verwendete in seinen Reden das Attribut „fanatisch“ regelmäßig als Ehrenbezeugung für Anhänger*innen seiner Politik. Amos Oz: „Ich habe meine Wahl getroffen.“
Fanatiker*innen scheuen den Kompromiss. „In meiner Welt“, so Amos Oz, „sind Kompromisse ein Synonym für das Wort Leben.“ Und „Fanatismus“ ein anderes Wort für „Tod“. Amos Oz zitiert John Donnes Satz, dass niemand eine Insel sei. „Der Zustand der Halbinsel ist der wahrhaft menschliche Zustand. (…) Sinn für Humor, die Fähigkeit, sich in den anderen hineinversetzen zu können, die Halbinseln anzuerkennen – wenn wir alle uns darum bemühen, so kann das zumindest eine partielle Verteidigung gegen das fanatische Gen sein, das wir alle in uns tragen.“ Ein nachhaltiger „Relativismusschock“ kann drohen oder auch befreien. Mit der Erkenntnis: Der (oder die) andere hat „weder Hörner noch Schwanz“.
Iszat Ghazzawi formuliert die Aufgabe der Literatur in dieser Gemengelage: „Er (i.e. der Schriftsteller) sollte versuchen, die Geschichte aus dem Bann der Illusionen zu befreien.“ Illusionen, Projektionen, alles in allem eine eindimensionale Variante von Geschichts- oder auch von Religionspolitik – das ist die Mischung, die Konflikte, Kriege und Fanatismen am Leben hält. Zu diesen Illusionen und Projektionen gehört auch die Erinnerung an vergangenes Leid. Amos Oz: „Genauso verhält es sich im Fall von Juden und Arabern. Jede der beiden Parteien schaut auf die andere und sieht in ihr das Bild ihrer ehemaligen Unterdrücker.“ Oder wen sie auch immer für „Unterdrücker“ halten mögen.
Vielleicht versuchen wir uns mal in der Übung, die Worte „Juden“ und „Araber“ durch diverse andere Entitäten zu ersetzen. Vielleicht ist das das Vermächtnis des Amos Oz, das seine Literatur zu Weltliteratur macht. Oft zitiert er Yehuda Amichai: „An dem Ort, an dem wir recht haben, werden im Frühjahr niemals Blumen wachsen.“
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Februar 2019.)