Wir sind alle Opfer
Wie sich Demokrat*innen manchmal selbst im Weg stehen
In den USA gehört es heute zum guten Ton, „dass Angehörige marginalisierter Gruppen – und ihre Alliierten – sich an der Uni nicht mehr mit Worten, Kommentaren und Bildern auseinandersetzen müssen, die Unbehagen, Unwohlsein oder gar den Flashback eines Traums verursachen können. Redner*innen mit entsprechendem Trigger-Potenzial sollen von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen, wieder aus- bzw. idealerweise gar nicht erst eingeladen werden.“
Eva Berends, Saba-Nur Cheema und Meron Mendel präsentieren in ihrem Buch „Triggerwarnung – Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen“ (Berlin, Verbrecher Verlag, 2019) 20 Fazetten einer amerikanischen Debatte, die inzwischen die deutsche Öffentlichkeit erreicht hat. Die Beiträge sind in drei Kapitel mit den Titeln „Verortungen“, „Verstrickungen“ und „Verhandlungen“ aufgeteilt. Das Buch schließt mit dem vielleicht durchaus ironisch verstehbaren Titel: „Zehn Punkte für den ultimativ richtigen Umgang mit Betroffenheiten, Identitäten und Allianzen“.
Das Buch enthält Beiträge und Definitionen der verschiedenen „Fettnäpfchen“ aktueller „Identitätspolitik“(en). Es ist leider kaum möglich, alle Artikel in dieser Rezension gleichermaßen zu würdigen. Ich erlaube mir, mich auf Auszüge zu beschränken, darf aber auch auf meinen Artikel „Den Teufel mit Beelzebub austreiben“ verweisen, der den Beitrag von Lena Gorelik („Oder kann das weg? Über Sexismus, Rassismus und die Freiheit der Kunst“) zitiert. Die Autor*innen, die jetzt zu kurz kommen, bitte ich um Vergebung. Aber ich plädiere ja auch dafür, das Buch zu kaufen, alle Beiträge zu lesen und immer wieder darin zu lesen. Das Buch gehört in die Handbibliothek.
Die Beiträge provozieren bewusst. Einige Beispiele: „Es gibt doch ein Richtig oder Falsch?!“ (zum Thema Deutsch und Anti-Deutsch), „Alles nur geklaut“ (zur Cultural Appropriation), „Alles richtig gemacht, und mit Sternchen“ (zum „Bilderbuchfeminismus von #MeToo“), „Zu queer um wahr zu sein“. Es gibt einen Artikel über den Echo-Skandal um Kollegah, ein Interview mit Macher*innen des Missy Magazine und und und…. Und alle Artikel in einer hinreißenden Sprache!
Möglicherweise ist aber auch eine Triggerwarnung zum Buch angebracht: Mancher Artikel könnte Beifall von der falschen Seite provozieren. Klarstellung: Es geht nicht darum, das Ob eines Eintretens gegen Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit in Frage zu stellen. Es geht ausschließlich um das Wie. Die Kernthese aller Beiträge ist schlechthin die, dass wir mit einem reinen Betroffenheitsdiskurs unsere Chancen deutlich mindern, uns gegen die Neue Rechte und ihren identitär-aggressiven Diskurs zu behaupten.
Schluss mit dem Gejammer, rein in die Debatte
Wer sich gegenüber der Neuen Rechten nur als Opfer definiert, bleibt in der Defensive. Denn damit nimmt man oder frau oder they sich jede Möglichkeit, sich in der politischen Debatte, die immer Streit sein muss, zu behaupten.
Leider ist die Rechte geschickter als ihre gut meinenden Gegner*innen. Sie setzt offensiv und aggressiv ihre Positionen als einzige und ewige Wahrheit in die Welt und die „Linke“ reagiert mit Sprechverboten! Was nicht gesagt werden darf, ist nicht vorhanden. Am besten schaffen wir den Diskriminierungsbegriff gleich mit ab. „Das Credo der gelebten Vielfalt macht die offene Selbstaufwertung übers Anderssein in linken Zusammenhägen schlicht unmöglich. Es bleibt die Flucht ins Leiden, im Opferstatus gefeit zu sein vor der eigenen Aggression.“ (Charlotte Busch: „Mimosen, Mimesis und Mimimi – Zwischen linker Solidarität und betroffenheitspolitischer Vereinzelung“)
Schluss mit dem Gejammer, rein in die Debatte – das ist eine der zentralen Forderungen von Charlotte Busch: „Die nötige Einsicht, dass sich politische Kämpfe in der Regel nicht im Safe Space ausfechten lassen, sondern in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Unerträglichen, erfordert deshalb den Mut, in die Konfrontation zu gehen, sich vulnerabel zu zeigen. Dafür bedarf es einer Besinnung auf den universalistischen Moment des Betroffenseins – und damit ist nicht aufgeklärte Rationalität, sondern die lebendige Erfahrung gemeint: Mimesis statt Mimimi.“
Es geht letztlich darum, deutlich zu machen, dass Betroffenheit etwas damit zu tun hat, was eine liberale Demokratie auszeichnet: Minderheitenschutz, Toleranz und Rechtsstaatlichkeit bei gleichzeitig klarer Kante gegen diejenigen, die Toleranz und Minderheitenschutz in Frage stellen und damit den Rechtsstaat aushöhlen. Robert Habeck formulierte dies am 1.9.2019 anlässlich der Wahlergebnisse in Brandenburg und Sachsen. Wir dürfen es denjenigen, deren „Geschäftsmodell Ausgrenzung und Hass“ sind, nicht durchgehen lassen, sich selbst als die Ausgegrenzten zu inszenieren.
Differenzierung statt Essentialismus, auch wenn es schwerfällt
Die „Rechte“ differenziert nicht – man denke an AfD-Politiker*innen mit ihren Invektiven gegen das „rot-grün versiffte“ Erbe der 68er. „Linke“ sollten, ja müssen hingegen differenzieren, auch wenn es schwer ist, mit Differenzierungen Gehör zu finden. Ein treffendes Beispiel: der Umgang mit Antisemitismus: „Antisemitismus nur in der Aufzählung von gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeiten zu nennen, reicht nicht aus. Es geht auch darum, die Anfälligkeit für antisemitische Verschwörungstheorien und die Überidentifizierung mit der unterdrückten Palästinenserin zu hinterfragen.“ (Saba-Nur Cheema: „Es gibt doch ein Richtig oder Falsch?! – Antideutsche und andere Dogmaten“). Antisemitismus ist und bleibt der Indikator für die Stabilität einer liberalen Demokratie.
Sama Maani („Warum wir Linke über den Islam nicht reden können – Zur Ideologie der ‘vollen Identität‘“) dekonstruiert den essentialistischen Diskurs rechter wie linker Kritiker*innen am Beispiel der Debatten um den „Islam. Allein schon die Vermutung, dass die Herkunft aus einem arabischen Land oder aus der Türkei geradezu automatisch mit dem Islam als Religion und dann oft genug in dessen radikalen bis extremistischen Spielarten zu identifizieren wäre, verhindert jede wirksame Auseinandersetzung mit illiberalen Positionen und mitunter auch eine Klärung der Identität eines Gesprächspartners. Maani referiert das Erlebnis eines iranischen Asylbewerbers, bei dessen Interview der Dolmetscher „sich weigerte zu übersetzen, dass er Atheist sei. Er sagte mir: ‚Du bist Iraner, also bist du Schiit“.
Maani fordert eine „emanzipatorische Religionskritik“, die Menschen erkennen lässt, „dass weder ‚Kulturen‘ noch Religionen unauflöslich mit bestimmten Ländern, Gesellschaften oder Individuen verknüpft sind, dass Menschen ihre Religion auch ändern, dass Religionen, wie im Lauf der Geschichte immer wieder der Fall, schlicht aussterben können, vor allem, dass Individuen nicht auf ‚ihre‘ Kultur oder ihre (vermeintliche oder tatsächliche) Religion reduzierbar sind.“
Das ist für einen ‚wahrhaft Gläubigen‘ natürlich Ketzerei, aber nicht nur für diesen, sondern auch für „Vertreter des linken Spektrums.“ Islam, Islamismus, Scharia, Fundamentalismus, Menschenrechtsverletzungen – entweder alles eins oder – genauso unsachgemäß – der Versuch, einen Islam ohne Scharia zu definieren und damit Islam und Islamismus zu verschiedenen Religionen zu erklären. Manche erwecken sogar den Eindruck, als sei der Islam vor dem 20. Jahrhundert „eine feministische Glaubenslehre mit einer feministischen Glaubenspraxis gewesen.“ Fehlende Differenzierung, fehlende Kenntnis der Regionen, in denen sich der Islam entwickelt (hat), fehlende historische Reflexion führen dazu, dass „Liberale und Linke“ den „neuen rassistischen Hetzer(n) (…) immer wieder auf den Leim (…) gehen.“
Es kann böööse enden
Sind alle Wertvorstellungen gleichberechtigt? Ist es rassistisch, Wertvorstellungen eines Menschen aus einem nicht europäisch geprägten Kulturkreis zu kritisieren? Ist es unzulässig, jemanden zu kritisieren, der die Rechte von Frauen abschaffen oder zumindest einschränken will? Ist jede Kritik am Islam schon „Islamophobie“?
Dies sind einige der Fragen, denen Gabi Taub nachgeht. („Wenn die Wahrheit verboten ist – Warum westliche Staats- und Regierungschefs sich weigern, dschihadistischen Terror beim Namen zu nennen und wie die akademische Welt das Streben nach Wahrheit durch ein Wahrheitsverbot ersetzt“, englisches Original: „There’s no Link Between Being Weak and Being Right“).
Gabi Taub kommt zu dem Schluss, dass „Wahrheit“ und „Empowerment“ nicht unbedingt übereinstimmen müssen. Ein ausschließlich anti-rassistisch motiviertes Erkenntnisinteresse kann den Blick auf die Wirklichkeit vernebeln. Taub berichtet von einer Diskussion über aus arabischen Ländern in Israel eingewanderte Jüdinnen und Juden, die aufhörte, „als ich meinen Gesprächspartner fragte, ob er glaube, dass Israel die patriarchalischen Familienstrukturen muslimischer Migranten hätte respektieren sollen. Er bezeichnete die Frage selbst als rassistisch. Für ihn galt, dass man solche Dinge nicht sagt, egal ob sie wahr oder falsch seien, da sie eine unterdrückte Gruppe in einem unguten Licht erscheinen ließe.“
Das kann böse enden, sehr böse. Taub: „Während das Immunsystem der Demokratie langsam erst aus seinem Schönheitsschlaf erwacht, füllen derweil die Feinde der Demokratie das Vakuum. Während die politische Linke und das Zentrum damit beschäftigt sind, ihr eigenes Gewissen zu reinigen, erstarkt an ihrer Stelle die extreme Rechte.“
Und als weiterer Verstärker funktionieren diejenigen, die meinen, sich Positionen der Rechten, beispielsweise zur Zuwanderung, zum Islam, zu Gender-Themen zu eigen machen zu müssen. Dass und wie eine solche illiberalisierende Politik scheitert, lässt sich an Wahlergebnissen in manchen sich dem „Westen“ zurechnenden Ländern belegen. Der Fall Dänemark zeigt, wie ein exkludierender illiberaler Diskurs letztlich alle Seiten infiziert. Die dänische Sozialdemokratie hat bei der letzten Wahl nicht – wie manche in der deutschen SPD glauben – deshalb gut abgeschnitten, weil sie eine illiberale und demokratiefeindliche Politik zur Zuwanderung verfolgt, sondern weil eine illiberale und demokratiefeindliche Politik zur Zuwanderung durch den Dauerbeschuss der „Rechten“ zum Mainstream geworden ist. Das gilt natürlich auch für die Versuchung in konservativen Parteien. Markus Söder scheint das begriffen zu haben.,
Gesellschaftliche Mehrheit(en) sichern
All dies könnte den Schluss nahelegen, dass es um nicht mehr und nicht weniger geht als um kulturelle Hegemonie. Während Liberale und Linke sich in ihr Schneckenhaus zurückziehen, betreibt die identitär orientierte Rechte ihr kulturelles Projekt. Welche Erfolgschancen dieses Projekt hat, hängt auch davon ab, wie es den Gegner*innen dieses Projekts gelingt, sich nicht nur als bedrohte Spezies zu präsentieren, sondern ihre eigene liberale und demokratische Botschaft zu verkünden.
Hadija Haruna-Oelker („Aufstieg von rechts – Welche Schuld trägt links?“) zitiert in diesem Zusammenhang mit Recht Antonio Gramsci, der beschrieb, warum es in der Politik nicht ausreicht, parlamentarische Mehrheiten zu erreichen, sondern dass es gesellschaftliche Mehrheiten braucht. Genau dies versucht die Rechte, wissend, dass „Ein Prozent“ mitunter ausreichen mag, eine komplette Gesellschaft zu destabilisieren.
Wir spielen das Spiel der Rechten, wenn wir uns auf deren Themen einschwören lassen, sei es durch Übernahme der „rechten“ Themen, sie es im Konkurrenzkampf um den wahren und eigentlichen Opferstatus. Also: raus aus der weinerlichen Betroffenheit, raus aus der Identitätsfalle, rein in die offene kritische und kreative gesellschaftlichen Debatte! Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die selbstbewusste Behauptung der Werte des liberalen und demokratischen Rechtsstaats.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2019, Internetlinks wurden am 17. September 2022 überprüft.)