„Wir leben in dunklen Zeiten“

Zwi Rappoport zum jüdischen Leben nach dem 7. Oktober

„Der Prozess lief früher so ab: Man interessierte sich für etwas, besorgte sich mehr Informationen und bildete sich eine Meinung. Heute läuft der Prozess so: Man mag jemand, und jemand anderen hasst man, man brennt richtig vor Hass und dann sucht man nach mehr Brennstoff für den Hass. Ich meine jetzt nicht nur den Nahostkonflikt, es ist generell ein gesellschaftliches Phänomen, das dazu führt, dass Menschen aufeinanderprallen, die in parallelen Narrativen leben. Und alle sind an Maschinen angeschlossen, die ihren jeweiligen Hass immer weiter anstacheln.“ (Edgar Keret in einem Gespräch mit Johanna Adorján, Süddeutsche Zeitung 28. November 2023)

Der Titel der Dokumentation dieses Gesprächs mit Zwi Rappoport ist ein weiterer Satz von Edgar Keret in dem zitierten Interview. Es ist ein Satz, der so banal klingt, aber alles andere ist als banal. Es ist ein Satz, wie wir ihn alle – gleichviel ob jüdisch oder nicht jüdisch – zurzeit aussprechen könnten, in all unserer Ratlosigkeit nach dem 7. Oktober. Über diese Lage sprach ich mit Zwi Rappoport. Das Gespräch fand kurz vor den unter anderem von Katar vermittelten Freilassungen einiger Geiseln der Hamas im Austausch gegen in Israel inhaftierte palästinensische Frauen und Jugendliche statt. Wir haben das Gespräch an einigen Stellen behutsam durch diverse Verweise ergänzt, so beispielsweise das zitierte Interview mit Edgar Keret sowie den Mayor Summit Against Antisemitism vom 29. November bis zum 1. Dezember in Dortmund.

Zwi Rappoport ist Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe. Der Verband vertritt zehn jüdische Gemeinden. Zwi Rappoport ist auch Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund. Zur seiner Biographie finden Sie im Demokratischen Salon ein Gespräch unter dem Titel „Jüdisches Leben in der Nachkriegszeit“. Sie finden auch seine Rede im nordrhein-westfälischen Landtag zum 27. Januar 2023 unter der Überschrift: „Ich hoffe, ich behalte recht“.

Die erste Woche danach

Norbert Reichel: Der 7. Oktober veränderte die Welt in einer Art und Weise, wie wir sie uns in den schlimmsten Träumen nicht vorstellen konnten und auch nicht vorstellen wollten. Wie haben Sie den 7. Oktober erlebt?

Zwi Rappoport: Ich muss ehrlich sagen, dass wir die Dimension des 7. Oktober, weil es uns bis ins Mark getroffen hat, auch erst 24 Stunden später überhaupt begriffen haben. Es war der Shabbat vor Simchat Thora, der Gottesdienst verlief ganz normal. Viele, die shabbat-treu leben, haben das gar nicht mitbekommen, weil sie am Shabbat keine Nachrichten hören. Ich habe es mitbekommen, dann in die Gemeinde getragen. Wir waren fassungslos, wie alle Juden auf der ganzen Welt. Erst einmal, wie eine solche Fehlleistung vom Geheimdienst bis zum Militär überhaupt passieren kann, diese Unfassbarkeit, dass trotz modernster Technologien man wohl die Hamas unterschätzt hat. Das war die eine Seite. Dann trudelten nach und nach auch Zahlen und Details ein, die uns klar machten, dass das, was da stattfand, Pogrome sind, die uns an schlimmste Zeiten erinnerten. Unsere russischen Mitglieder dachten natürlich auch an das Zarenreich.

Norbert Reichel: Das war auch mein erster Gedanke.

Zwi Rappoport: Ich wurde sofort interviewt und habe versucht – das ist auch meine Aufgabe in leitender Stelle der Gemeinde – das Geschehen zu beruhigen, um der Unsicherheit zu begegnen. Aber es war auch eine Zeit, wo wir nicht wussten, was dann kam. Es gab ja hier in Deutschland keine Racheakte entsetzter jüdischer Bürger. Im Gegenteil: Es wurde gegen Israel protestiert und die Hamas wurde bejubelt. Sie kennen die Bilder aus Berlin, es wurden die traditionellen Süßigkeiten verteilt. Es war für uns unfassbar. Die israelische Reaktion war dann, wir haben nur eine Chance, Sicherheit wiederherzustellen, wenn die Terrororganisation Hamas beseitigt wird, gerade auch weil das Vertrauen in Israel beschädigt war. Kurze Zeit danach explodierte der Hass auf Israel, in ganz Europa, aber auch hier in Deutschland.

Dortmund zeigt Solidarität. An die 400 Personen fanden sich am Abend des 10. Oktober an der Reinoldikirche zu einer Kundgebung zusammen, um nach den mörderischen Angriffen der Hamas auf die israelische Bevölkerung ihre Solidarität auszudrücken und sich gegen antisemitischen Terror zu stellen. Foto: Ramiel Tkachenko, J.E.W.

Ich habe versucht, gemeinsam mit dem Oberbürgermeister und dem Leiter des Muslimischen Rates in Dortmund eine gemeinsame Erklärung abzugeben. Das war sehr zäh und ging erst eine Woche später raus. Meine Mindestbedingung waren drei Punkte: dass man den Terror der Hamas verurteilt und die Freilassung der Geiseln unterstützt und dass man die Leute, die hier die Hamas zu Freiheitskämpfern verklären, für inakzeptabel erklärt. In diesem Zusammenhang hat mir der sehr gemäßigte Vertreter der Muslime in Dortmund gesagt, mir laufen die jungen Leute weg, wenn ich das so unterschreibe. Er hat es dann doch mitgemacht, weil wir natürlich auch sagen, dass wir das Leid der Menschen in Gaza und im Westjordanland sehen. Aber es war so wie in ganz Deutschland: Wir haben eine Demonstration organisiert. Da waren etwa 300 – 400 Leute. Es waren aber 3.000 bis 4.000 Leute bei den propalästinensischen Demonstrationen, die dann auch regelmäßig zu Pro-Hamas-Kundgebungen mutierten.

Wir haben in Dortmund einen engen Kontakt zur Polizei, die durch entsprechende Auflagen versucht hat, antisemitische Parolen zu verbieten. Das ist wohl im Großen und Ganzen gelungen, da wo nicht, ist Anzeige erstattet worden. Das was in Essen passiert ist, das könnte in Dortmund nicht passieren. Das wurde mir auch inoffiziell bestätigt. In Essen muss es sich wohl um ein totales Versagen der Polizei gehandelt haben. Da fehlten zum Beispiel Dolmetscher, die verstehen, was da gerufen wird.

Das ist das Politische. Das Persönliche wurde dann nach und nach klar. Dass wir hier in Deutschland im Jahr 2023 einen explodierenden Antisemitismus haben, der von allen Seiten kommt. Sie kennen die Äußerungen aus dem Bereich der Linken, die mit den bekannten postkolonialen Theorien Israel das Existenzrecht absprechen, weil es ein „Kolonial-Apartheid-Staat“ – in Anführungszeichen – wäre. Das, was sich bei der documenta schon eigentlich recht offen gezeigt hat, ist jetzt Mainstream bei einem wesentlichen Teil der Linken.

Zwi Rappoport. Foto: privat.

Wir beide haben in unserem letzten Gespräch auch über die Zeit um 1967 / 1968 in Berlin gesprochen, die ich als Student erlebt habe. Da lief das schon an, bevor es überhaupt Siedlungen im Westjordanland gab. Da war Israel „die Speerspitze des US-Imperialismus“. Da hat sich ja nichts geändert. Dass jetzt gerade die Kubbizim, die auf Frieden setzen, die Palästinensern geholfen haben, in ihren Krankenhäusern Krebspatienten und andere versorgt haben, die linke Friedensaktivisten sind, dass diese jetzt ermordet und entführt wurden, das ist besonders tragisch. Und linke Juden sind jetzt mehrfach isoliert, in der Mehrheitsgesellschaft ohnehin, und indem ihnen selbst auch kein Lebensrecht in Israel zugestanden wird. Das ist doppelt tragisch. Greta Thunberg kann man vielleicht noch abtun. Vielleicht wird sie von ihrem Umfeld manipuliert, aber sie war schon eine erwiesene Autorität.

Influencing

Norbert Reichel: Greta Thunberg wurde auch gehypt und hat einen privilegierten Zugang zu allen Medien. Sie hat sicherlich ihre Verdienste. Ich bin froh, dass sich in Deutschland Fridays for Future von ihren Auftritten distanziert hat. Edgar Keret wurde in dem schon zitierten Interview mit der Süddeutschen Zeitung sehr deutlich, in dem er sagte, „ich meine jetzt nicht sie als Person, sondern sie als Symbol: eine privilegierte junge Frau aus einem der reichsten Länder der Welt. (…) Sie hält auf ihrem Sofa sitzend eine Pappe hoch. Mehr tut sie nicht. Sie reist nicht nach Gaza, sammelt kein Geld für Essen, nichts. Hashtag ‚Stand with Gaza‘. Sie sitzt zwar, steht aber metaphorisch in ihrem gemütlichen nordischen Apartment für Gaza. Der Aktivismus von heute benennt nicht ein Problem und sucht nach einer Lösung.“ Das ist sehr emotional formuliert und zeigt die „doppelte Tragik“, von der Sie sprechen, denn Edgar Keret bezeichnet sich selbst als liberalen Linken. Eva Illouz, eine andere prominente Linke, äußerte sich wenige Tage zuvor – in der Süddeutschen Zeitung – ebenso kritisch über die sogenannte antikolonialistische Linke. Die Überschrift des Interviews spricht Bände: „Wir, die Linken? Nicht mehr“.

Zwi Rappoport: Sie haben recht, aber die Distanzierung bei Fridays for Future International fehlt. Dort gab es auch schon im letzten Jahr solche Stimmen. Wie gesagt, es geht jetzt auch um die Verbindung mit den brutalen Internetauftritten bei Instagram, TikTok und so weiter. Ich bin Mitglied der Medienkommission der Landesanstalt für Medien. Da haben wir kürzlich über eine Studie diskutiert, wie sich gering informierte junge Menschen hauptsächlich über die sogenannten sozialen Medien informieren. Das waren etwa 60 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund, junge Leute, die kein Abitur anstreben, deren Eltern bereits in prekären Situationen lebten. Diese hören keine Nachrichten. Sie hören diese so nebenbei über Instagram, über TikTok, halten die auch für glaubwürdiger. Die offiziellen Nachrichten der öffentlich-rechtlichen Medien verstehen sie nicht, die sind zu kompliziert, in den sozialen Medien haben sie es mit realen Personen zu tun, die ihnen sagen, was Sache ist. Das sind die Influencer, die überwiegend ihre Position gegen Israel bezogen haben.

Spätestens mit dem Gegenschlag der Israelis hat sich ja auch die Stimmung in der Bevölkerung gedreht. Den Krieg der Bilder haben die Israelis schon verloren. Das führt eben auch dazu, dass Hunderttausende in Frankreich und in Großbritannien antisemitisch auftreten. Diese Trennung in Anti-Zionismus und Judenhass hat sich inzwischen als illusionär herausgestellt, auch für uns. Hinzu kommt, dass die Leute verunsichert sind, weil die Lebensversicherung Israel, an die wir immer geglaubt haben, in Frage gestellt ist, zunächst durch das Verhalten von Netanjahu und jetzt durch das Versagen der politischen und militärischen Führung. Auch das Leben der Juden in der Diaspora ist zerbrechlicher geworden. Dementsprechend kann man sagen, dass es gerade bei jungen Familien Überlegungen gibt, schicken wir die Kinder in den Kindergarten, in die Schule? Da versuche ich gegenzuhalten, denn dann würde genau das passieren, was die Hamas-Sympathisanten wollen.

Ich kann auch guten Gewissens sagen, dass wir aufgrund der ausgezeichneten Polizeiführung gesichert sind wie noch nie. Es gibt eine Diskrepanz zwischen der objektiven Sicherheit, der konkreten Gefahr und dem subjektiven Sicherheitsgefühl der Mitglieder unserer Gemeinden, die jetzt Angst haben. Wir versuchen das wie gesagt mit objektiven Fakten zu vermitteln, dass wir so sicher sind wie noch nie.

Bedrohte Sicherheit

Norbert Reichel: Es gibt meines Erachtens zwei Linien. Die eine ist die Frage der Sicherheit für Jüdinnen und Juden hier in Deutschland, die andere ist die Frage nach der Sicherheit, der Lebensversicherung in Israel angesichts des Zustands der israelischen Regierung. Die Situation im Westjordanland hat noch ihre ganz eigene Geschichte. Vielleicht sprechen wir noch ein wenig über die Situation hier in Deutschland. Sie haben eben die Polizei in Dortmund gelobt. Ist das in anderen Gemeinden nicht so?

Tür der Synagoge in Halle mit Einschusslöchern nach dem Mordanschlag vom 9. Oktober 2019 (Yom Kippur 5781). Wikimedia Commons.

Zwi Rappoport: Es hängt wie immer von einzelnen Personen ab. Ich weiß, dass es in Münster auch sicher ist. Es gibt aber auch Gemeinden, in denen man die Auffassung hat, dass nicht genug getan wird. Man muss das auch bundesweit sehen. Der Antisemitismus bleibt ja nicht an den Grenzen Nordrhein-Westfalens stehen. Ich denke, dass die Berliner Polizei auch aufgrund jahrzehntelanger Versäumnisse hilflos ist. Da gibt es No-Go-Areas für Jüdinnen und Juden. Selbst in Frankfurt. Dort fand Mitte November die Ratstagung des Zentralrats statt. Dort treffen sich Delegierte aller Gemeinden. Sie findet einmal im Jahr statt. Das ist das höchste Gremium des Zentralrats. Ich nahm auch teil. Ich habe mehrfach mit Leuten aus dem Osten Deutschlands gesprochen, die Bedenken hatten, ob sie genug geschützt sind.

Ich muss Ihnen auch von einem Vorfall erzählen. Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben offen antisemitisch angegangen worden. Es war ein Zufall oder vielleicht doch kein Zufall. Ich kam mit unserem früheren Rabbiner Avichai Apel aus der Tiefgarage. Vor dem Hotel standen ein paar grölende junge Leute, junge Erwachsene, so etwa 30 bis 35 Jahre alt. Wie sich nachher herausstellte, waren das Wiesbadener Football-Fans, die von einem Football-Spiel in Frankfurt kamen. Sie kamen aus der Hotelbar, ich weiß jetzt nicht, ob sie in dem Hotel auch übernachtet hatten. Da schrie einer „Drecksjuden!“

Ich habe in 77 Jahren durchaus Ansätze von Antisemitismus mitbekommen, aber so lauthals und frank und frei noch nie. Es war eine Provokation. Da gab es viele Juden, die mit Käppchen erkennbar waren. Auch Rabbi Apel trug ein Käppchen. Ich habe in dem Moment nur reagiert, indem ich sagte, „was soll denn das?“ Da sagte ein anderer der vier oder fünf jungen Männer „gemach, gemach“, und sie gingen weg. Ich habe noch hinterhergerufen: „was seid ihr doch für eine coole Truppe“. Rabbi Apel ist zur Polizei gegangen, hat die Leute angezeigt, sie wurden auch wohl festgenommen. Aber die Details spielen hier keine Rolle. Es scheint inzwischen schon ein Sport zu sein. Es waren weiße Deutsche, wie man so sagt: Biodeutsche.

Ich habe das letztens erzählt und hörte, das sei unter jüngeren Leuten im Alter von 30 bis 40 nichts Neues, auch in der Schule, in der Universität. Ich habe ältere Leute gefragt, die sagten, das habe es vorher so nicht gegeben. Es scheint wohl in den letzten zehn Jahren in den Schulen immer öfter vorzukommen. Für die junge Generation war es nichts Besonderes. Aber sie sagten, es habe damals keine Anlaufstelle gegeben, die Lehrer hätten auch nicht gewusst, was sie machen sollten. Es gab noch keine Stellen wie RIAS, SABRA oder ADIRA, die auch eine Art Empowerment schaffen sollen. Ich höre jetzt auch gerade von meiner Tochter, dass im Gymnasium ihrer Kinder eine jüdische Schülerin in der neunten Klasse offen antisemitisch angegangen worden ist. Die Situation in Deutschland war immer latent antisemitisch, jetzt ist sie offen antisemitisch.

Norbert Reichel: Und gewalttätig dazu.

Zwi Rappoport: Und gewalttätig dazu. Das war auch der Grund, warum ich auf den jungen Mann nicht aktiv zugegangen bin, der mich in Frankfurt beschimpft hat. Ich habe bei der Polizei auch nicht sagen können, wer gebrüllt hat. Eine andere Zeugin konnte das. Ich war perplex und es kam aus der Menge. Meine Tochter sagte, gut, dass du das so gemacht hast, du hättest auch einen auf die Schnauze bekommen können.

Norbert Reichel: Das höre und lese ich immer wieder. Auch Leute, die dazwischengehen, werden bedroht und angegriffen…

Zwi Rappoport: …und für ihre Zivilcourage bitter bestraft.

Die Berichterstattung

Norbert Reichel: Das ist das eine, was ich wahrnehme. Auf der anderen Seite nehme ich die Berichterstattung in den – so nenne ich das einmal – Qualitätsmedien als sehr differenziert wahr. In meinem Essay „Das Pogrom“ habe ich versucht, die ersten vierzehn Tage nach dem 7. Oktober in verschiedenen Qualitätsmedien auszuwerten. Dort wird durchgehend versucht, die Zusammenhänge zu klären, mit einer eindeutigen Verurteilung des Terrorangriffs. In der ARD ist mein Eindruck allerdings gemischt. In den beiden Presseclubs nach dem 7. Oktober wurde sehr differenziert argumentiert, auch klar gesagt, was die Hamas zu verantworten hat, nicht nur den Terrorangriff, auch gegenüber der eigenen Bevölkerung, und was ihre Unterstützer auch hier in Deutschland zu verantworten haben. Im Weltspiegel und anderen Magazinen sehe ich das nicht immer so. Da wird das Bild doch sehr verschoben und ich sehe vor allem die Auswirkungen des Vorgehens der israelischen Armee in Gaza. Die Geiseln, die ermordeten Kibbuzim und Besucher:innen des Festivals werden nur am Rande erwähnt. Wenn überhaupt.

Zwi Rappoport: Es kommt immer auf die Leute an, die die Sendungen machen. Ich sehe auch sehr unterschiedliche Berichte. Ich muss aber auch sagen, dass diese im Vergleich zu der sehr israelkritischen Berichterstattung über Jahrzehnte zu bewerten sind, die für mich in ihrer Einseitigkeit eine wichtige Rolle spielt. Ich muss nicht betonen, dass ich Kritik an der israelischen Regierung, gerade an der jetzigen Netanjahu-Regierung nicht nur akzeptiere, sondern sie auch teile. Über Jahrzehnte lief diese David-Goliath-Geschichte, es wurde immer nur vom Leid der Palästinenser berichtet. Das führte auch dazu, dass wir völlig enttäuscht über die fehlende Reaktion der meisten Deutschen auf die Gräueltaten der Hamas sind. Das habe ich am 9. November auch gesagt.

Es ging kein Aufschrei durch die Gesellschaft. Es gab keine Lichterketten. Es gab keine Musiker, die wie damals beim Anschlag auf das Bataclan oder auf Charlie Hebdo oder bei 9/11 Solidaritätskonzerte gaben. Bei 9/11 waren wohl etwa 200.000 Menschen am Brandenburger Tor. Jetzt bekommt man gerade einmal 10.000 Leute dahin. Ich habe mich schon gefragt, woran die fehlende Anteilnahme, die mangelnde Empathie liegt. Auch wenn ich mir die Kulturszene anschaue, da werden 260 Leute auf einem friedlichen Open-Air-Festival massakriert – ich schaue mir das nicht mehr an, das prägt sich so sehr ein, Gruppenvergewaltigungen, neben den toten Freunden – wenn man das alles liest, hatten die nur ein Ziel: möglichst viele Juden töten und die jüdische Seele zu erniedrigen, gerade auch die sexualisierte Gewalt, da müssten doch alle Frauengruppen aufstehen. Heute sind noch nicht alle Ermordeten identifiziert. Inzwischen werden auch Archäologen mit der Identifikation der Ermordeten befasst.

Kurz und gut: wir sind einfach noch fassungslos. Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Ich werde das in meinem Alter noch überstehen, aber was ist mit meinen Kindern, meinen Enkeln?

Staatsräson?

Norbert Reichel: Was ist in zehn Jahren, was in zwanzig Jahren? Dieses Jahr war der 9. November ncht nur der 85. Jahrestag des Novemberpogroms vo 1938, sondern auch der 100. Jahrestag des Hitlerputsches. Der schlug fehl, aber zehn Jahre später war Hitler an der Macht. Einen Putschversuch hatten wir mit den Reichsbürgern um Prinz Heinrich XIII. auch, die Möchtegern-Putschist:innen sitzen in Untersuchungshaft. Aber Analogien sind immer fragwürdig. Ich hoffe jetzt nicht, dass in zehn Jahren ein Höcke an der Macht ist. Ich glaube es auch nicht.

Titelseite Jüdisches Echo Westfalen (J.E.W.) 22 (Dezember 2023 – Kislew 5784). Foto: Ramiel Tkachenko, J.E.W.

Zwi Rappoport: Die Situation in Weimar war auch eine andere als heute. Ein wesentlicher Unterschied: Die Regierenden in Deutschland, im Bund und in den Ländern, haben alle die entsprechende Sensibilität und die politische Überzeugung, dass Israel sich nicht nur selbst verteidigt, sondern auch die westlichen Werte. Ich glaube, dass Israel für die westlichen Werte wie Humanität, Menschlichkeit, Toleranz den Kopf hinhält. Bei aller Kritik.

Norbert Reichel: Wie bewerten Sie die Wirksamkeit der deutschen Innenminister? Es kann ja nicht sein, dass diese von den einzelnen Polizeipräsidenten abhängt.

Zwi Rappoport: Fangen wir mal ganz oben an. Nancy Faeser ist mir nicht sonderlich sympathisch, aber sie war schon vor dem Massaker eingeladen, auf der Ratsversammlung in Frankfurt zu sprechen. Sie hat sich unzweideutig in allen Bereichen geäußert. Sie hat mich überzeugt. Die Razzien, die sie eingeleitet hat, die Verbote, das geschah dann auch schnell.

Norbert Reichel: Das Hamas-Verbot, das Verbot von Samidoun, das hätte längst geschehen müssen und können. Es gibt sogar EU-Beschlüsse zur Hamas. Auch die Razzien in Bezug auf das Islamische Zentrum Hamburg waren längst überfällig.

Zwi Rappoport: Naja, better late than never. Es hat natürlich auch Symbolwirkung. Es ist schön, wenn Politiker von der Staatsräson reden und dass Antisemitismus nicht akzeptabel ist. Aber er ist da und er ist massiv da. Ende November, Anfang Dezember gab es in Dortmund einen Mayor-Summit europäischer Bürgermeister gegen Antisemitismus, gemeinsam mit der amerikanischen Organisation „Combat Antisemitism“ sowie dem Center for Jewish Impact. Ich habe dort ein Grußwort gesprochen, ich höre, dass es immer mehr Bürgermeister gibt, die über Antisemitismus sprechen wollen. Auf alle Fälle ist auch das ein Zeichen. Geplant war die Veranstaltung schon lange vor dem 7. Oktober. Ich gab wenigstens das erhoffte einheitliche Signal gegen Antisemitismus. Mehr kann es nicht sein. In der Times of Israel las ich, dass die Restaurantbesitzer in England um mehr Solidarität bitten, weil Leute Angst haben, dorthin zu gehen. England ist schlimm, auch Amsterdam, Frankreich ohnehin. Wir sind vielleicht wegen der – wie man so sagt – „historischen Verantwortung“ noch nicht so betroffen wie in anderen Ländern, aber uns reicht es, was da auf den deutschen Straßen geschieht.

Norbert Reichel: Die Times of Israel berichtete auch darüber, dass die als Geiseln entführten Kinder von der Hamas gezwungen wurden, sich Videos des Massakers anzuschauen. Ich empfehle immer wieder, man möge die Times of Israel, Haaretz oder in deutscher Sprache die Jüdische Allgemeine lesen, um sich ein objektives Bild des Massakers und der Leiden der Entführten und der Familien der Entführten und Ermordeten zu machen. Sehr verdienstvoll ist auch die deutsche Journalistin Anastasia Tikhomirova, die sich intensiv mit dem Antisemitismus von Muslimen und Linken, in der Clubszene auseinandersetzt und darüber in mehreren deutschen Zeitungen berichtete.

Zwi Rappoport: Die Tatsache, dass palästinensische Gruppen viel mehr Menschen für ihre Demonstrationen mobilisieren können als wir, ist für mich schon ein Anzeichen für die Empathielosigkeit in der deutschen Bevölkerung.

Norbert Reichel: Empathielosigkeit ist die eine Seite, die andere eine fürchterliche Unbildung. Sie sagten, dass sich viele Leute auf TikTok und Instagram verlassen.

Zwi Rappoport: Das ist richtig. Es wird auch schon wieder alles geleugnet, das ist alles nicht wahr, die Israelis übertreiben.

Norbert Reichel: Das sagte auch Edgar Keret in dem schon genannten Interview. Er sagt, es gibt Leute, die nun die Frage erörtern, ob jetzt nun auch Babys enthauptet wurden oder nicht. Als wenn das das einzige Verbrechen gewesen wäre. Es gab ja auch die Bilder der Kinder in Käfigen. Dieses Bild stimmte nicht, aber manche denken dann, alles andere wäre auch falsch. Das ist der Krieg der Bilder, von dem Sie sprachen.

Sie sprachen auch von der Sitzung der Medienkommission bei der Landesanstalt für Medien. Wurde dort auch darüber diskutiert, wie man mehr und valide Informationen den Zielgruppen nahebringen könnte, die sich bisher nur auf soziale Medien verlassen? Ich denke auch an die Lehrkräfte, die in den Schulen erleben, dass der Bedarf zu reden, groß ist, es zwar die ein oder andere Handreichungen gibt, die die Ministerien verschicken, aber das ist dann oft auch so komplex und so viel, dass es sich in der kurzen Zeit gar nicht verarbeiten lässt.

Zwi Rappoport: Meine Tochter erzählte mir, inhaltlich sei in der Schule gar nicht gesprochen worden. Wir hatten eigentlich erwartet, dass die Schule eine Position bezieht, aber das ist auch nicht passiert, obwohl es eine liberale Schule ist. Die Landesmedienanstalt hat seit zwei Jahren ein Programm „Strafen statt Löschen“, das sie mit der Generalstaatsanwaltschaft in Köln und einigen Medien durchgeführt haben. Hassreden, nicht nur Antisemitismus, werden auf Straftatbestände untersucht und dann an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Das Programm wurde inzwischen in anderen Bundesländern übernommen. In der Sitzung, von der ich Ihnen erzählte, wurde informiert, dass die Zahlen nach dem 7. Oktober stark gestiegen wären und dass bei dem Monitoring besonders auf Antisemitismus geachtet werden. Das waren nun 650 Stellen, aber es ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Gegen die mediale Wucht kommen sie nicht an. Und die Betreiber, beispielsweise Elon Musk, verdienen an der Polarisierung! Ich befürchte, dass diese asozialen Medien nicht zu stoppen sind.

Im Grunde bräuchten wir eine große Bildungsoffensive so wie man einen großen wirtschaftlichen Einsatz bräuchte, um die Lage in Gaza zu deradikalisieren. Gaza ist von reichen arabischen Staaten umgeben, aber Katar gibt das Geld offenbar an die reichen Bonzen der Hamas und nicht an die Bevölkerung oder das Geld verschwindet im wahrsten Sinne des Wortes unter der Erde.

Israels Dilemma

Norbert Reichel: Einer der Hamas-Führer sagte kürzlich, es gehe ihm um den dauerhaften Krieg, die Bevölkerung in Gaza interessiere ihn nicht.

Zwi Rappoport: Etwas weniger deutlich heißt es dann, unser Volk ist bereit, Opfer in Kauf zu nehmen. Die fehlende Distanz zur Hamas – das stimmt mich pessimistisch. Auf israelischer Seite bin ich optimistisch. Das ist vielleicht das einzige Positive, das herauskommt, dass die Ära Netanjahu vorbei ist. Aber was kommt dann? Wie ist die Stimmung? Die Rechtsradikalen in der Regierung stacheln an. Es gibt verstärkte Siedlergewalt. Ich habe gehört, dass auch die Beantragung von Schusswaffen deutlich gestiegen ist. Ich kann auch nicht verstehen, dass es mehr als zehn Stunden gedauert hat, bis die israelische Armee zu Hilfe kam. Die eine Sache ist das politische Versagen der israelischen Regierung, die andere ist die Frage, welche Ansprechpartner gibt es auf der palästinensischen Seite? Abbas? Man misst Israel bewusst mit demokratischen Maßstäben, ist auch besonders kritisch, aber man muss auch erwähnen, dass auf der anderen Seite ein korruptes Clanwesen herrscht, das keinerlei demokratische Grundregeln akzeptiert. Israel ist in einem absoluten Dilemma. Sie versuchen in allem zu zeigen, dass sie sich an das Völkerrecht halten, aus dem ihm das Recht auf Selbstverteidigung zusteht. Ich finde allerdings die Frage schon komisch, denn jedes Land hat doch eigentlich das Recht und die Pflicht, seine Bürger zu schützen! Aber offenbar muss man das in Bezug auf Israel noch einmal betonen.

Norbert Reichel: MENA-watch hat das Recht auf Selbstverteidigung in einem eigenen Eintrag seines Nahost-Lexikons sehr deutlich beschrieben. Da ist eigentlich alles klar. Der Ukraine wurde dieses Recht sofort zugestanden – wenn wir mal von einigen verirrten Stimmen absehen, die der Ukraine die Eigenstaatlichkeit absprechen.

Zwi Rappoport: In einer Zoom-Konferenz habe ich mit der nordrhein-westfälischen Integrationsministerin sprechen können, Josefine Paul. Sie sagte, wir schauen jeden Morgen, wie es der Israel-Fahne geht. Bei der Ukraine-Fahne haben wir das nie machen müssen. Das nur als bildliches Beispiel.

Vielleicht ist es bei der Ukraine auch die geographische Nähe, dass es einen Ruck durch die Bevölkerung gab, sodass die meisten die Position der Regierung teilten, dass man einem Land zu Hilfe kommen muss, das überfallen wurde. Das ist bei Israel überhaupt nicht der Fall. Dahinter steckt das „Ja, aber“. Oder wie der UN-Generalsekretär sagte, es entstand „nicht im luftleeren Raum“, das hätte Israel nun von 56 Jahren Besatzung. Obwohl es gar nicht darum geht. Man kann die Besatzung kritisieren. Da gibt es keinen Dissens. Hier geht es um das Abschlachten von unbeteiligten und unschuldigen Zivilisten, Männern, Frauen, jeden Alters, Kindern. Das wurde nicht annähernd angesprochen.

Norbert Reichel: Die Frage ist auch, was Guterres mit seinem Hinweis auf den „nicht luftleeren“ Raum antriggern wollte. Das könnte man ganz unterschiedlich füllen. Er triggert etwas an, das die antikolonialistische Linke und auch – ich sage mal – unbedarfte arabische (und türkische) Jugendliche zu vorschnellen und falschen Schlüssen verleitet, durchaus in der Tradition der bisherigen Beschlüsse der Vereinten Nationen.

In Berlin gibt es das Violence Prevention Network, dessen Geschäftsführer Thomas Mücke von einer Verdreifachung der Anfragen besorgter muslimischer Eltern berichtete. Muslimische Eltern sorgen sich um die Radikalisierung ihrer Kinder! Ich habe auch beim nordrhein-westfälischen Innenministerium nachgefragt, ob es bei Wegweiser eine ähnliche Entwicklung zu berichten gebe, aber leider keine Antwort erhalten. Aber ich höre immer wieder von Lehrkräften und denjenigen, die Lehrkräfte ausbilden, wie hoch der Gesprächsbedarf in den Schulen ist.

Zwi Rappoport: Aber da braucht man natürlich Fachkompetenz. Da gibt es erhebliche Versäumnisse in der Bildungsarbeit, gerade auch was die Lehrer und die Erzieher angeht. All das, was wir immer schon wussten, wird in einer solchen Situation schon besonders deutlich und es ist eine Situation wie sie noch nie da war. Das empfinden alle auch als eine Zeitenwende. Oder sagen wir besser eine Zäsur. Ich habe mich dazu verstiegen, am 9. November von der dritten Schuld zu sprechen, die in Deutschland passiert, wenn wir nichts tun. In Anlehnung an Ralph Giordanos Buch „Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein“ (Hamburg 1998). Ralph Giordano bezog die Zweite Schuld auf all die Politiker, deren NS-Vergangenheit nicht daran hinderte, dass sie höchste Ämter übernahmen, Globke, Oberländer, Kiesinger.

Norbert Reichel: Sehr kritisch äußerte sich Benjamin Ortmeyer am 26. November 2020 anlässlich einer Neuauflage des Buches von Ralph Giordano in der Jüdischen Allgemeinen. In diesem Artikel ging es um die NS-Vergangenheit des GEW-Gründers und FDP-Mitglieds Max Traeger und somit die Bereitschaft der größten deutschen Bildungsgewerkschaft, sich der eigenen Geschichte zu stellen.

Zwi Rappoport: Und jetzt dieses Schweigen. Ich glaube schon, dass manche Deutsche ihre eigene Geschichte entlasten, indem sie Israel unterstellen, den Palästinensern das anzutun, was sie den Juden angetan haben.

Unheilige Allianzen

Norbert Reichel: Das ist verbreitet, gerade die Plakate, auf denen zu lesen steht: „Free Palestine from German Guilt“. Schlussstrichforderung von links.  

Zwi Rappoport: Die Auseinandersetzung mit dem, was die Väter und Mütter, die Großväter und Großmütter getan haben, hat ja auch im Grunde nicht stattgefunden.

Norbert Reichel: Ich denke, die deutsche Erinnerungskultur muss sich jetzt, spätestens jetzt, noch einmal ganz neu aufstellen, gerade auch mit all diesen antikolonialistischen Relativierungen der Shoah in den letzten beiden Jahren. Jetzt erst recht. Das Verhalten der antikolonialistischen Linken macht mir da vielleicht sogar die meisten Sorgen.

Zwi Rappoport: Aber auch, weil Sie und ich – ich will nicht sagen – da beheimatet sind, irgendwo aber zu denen eine Nähe haben. Das Volk interessiert sich dafür genau so wenig wie für das Heizungsgesetz. Wenn Sie jemanden auf der Straße fragen, ob sie den Begriff des Postkolonialismus kennen oder was damals in Recklinghausen passierte oder in Kassel, da ist vielleicht nur hängengeblieben, dass die Juden diese schöne Schau versaut haben. Sie kennen sicher Meron Mendel und sein Buch „Über Israel reden“. Er hat bei uns über das Buch gesprochen und er ist – wie wir alle – auch ratlos, verzweifelt, und dann erleben wir auch noch, dass bei der Findungskommission der Documenta Sixteen sich wieder dieselben Probleme zeigen. Auch die Ruangrupa-Gruppe hat sich wieder entsprechend geäußert.

Norbert Reichel: Meron Mendel hat in einem Interview für ZEIT-Campus darüber gesprochen. Ich darf ihn vielleicht zitieren: Ich habe nichts gegen Kontextualisierung an sich, dennoch frage ich mich, warum es vielen so schwerfällt, erst mal die Dimension des Verbrechens an sich anzuerkennen und angesichts dieser unfassbaren Grausamkeit einen Moment innezuhalten, einen Moment still zu sein. Ich kann mich nicht erinnern, dass nach den Massakern in Srebrenica während des Bosnien-Kriegs oder im ukrainischen Butscha sogleich die Forderung nach einer Kontextualisierung der Verbrechen erhoben wurde. Warum wird die Kontextualisierung ausgerechnet dann reflexhaft eingefordert, wenn Israelis abgeschlachtet werden? Natürlich sollte man auch in Zukunft über die Besatzung des Westjordanlands, über Israels Siedlungspolitik, über die nationalistische Regierung diskutieren, aber nicht in jenem Moment, wenn ganze Familien noch zu Grabe getragen werden. Und kontextualisieren heißt auch, beide Seiten zu beleuchten und nicht nur über die israelische Besatzung zu sprechen, sondern auch darüber, dass die Hamas-Terroristen alles andere als Freiheitskämpfer für die palästinensische Sache sind. Was am 7. Oktober geschehen ist, hat überhaupt nichts mit dem politischen Anliegen der Palästinenser:innen zu tun.“

Auf die Frage, ob ihm etwas Hoffnung gebe, antwortete er: „In meinem aktuellen Bewusstseinszustand kann ich mir kaum einen positiven Ausblick ausmalen. Für mich ist das alles wirklich noch sehr schwer zu begreifen. Aber genau das wollte die Hamas erreichen: jegliche Hoffnung zerstören, jegliche Chance, aufeinander zuzugehen. Das ist die Logik hinter dieser Grausamkeit. Was mir aber hilft, mich mental am Leben hält, ist meine muslimische Familie, die Eltern und Geschwister meiner muslimischen Frau, die sehr empathisch sind. Dafür bin ich sehr dankbar.“ 

Zwi Rappoport: Das Ironische ist: In der Nachkriegszeit hat man über die eigene Verstrickung geschwiegen, man hat sich aber auch nicht offen antisemitisch geäußert. Bei mir war es in diesem Punkt ganz gemütlich. Ich habe in der Schule eigentlich keinen Antisemitismus erlebt, vielleicht auch, weil es tabuisiert war. Das war auf jeden Fall angenehmer als das, was mir Schüler in den 2000er und 2010er Jahren erzählt haben. Vielleicht habe ich manches damals in meiner Position als Richter auch nicht mitbekommen, obwohl antisemitische Übergriffe und Beleidigungen bei vielen Juden und Jüdinnen zum Alltag gehörten. SABRA und RIAS versuchen jetzt, das Lagebild klarer zu erfassen.

Norbert Reichel: RIAS gibt es leider noch nicht allen Ländern. Aber vielleicht wachen jetzt auch diejenigen auf, die bisher Vorbehalte gegen die Meldestelle hatten. In Nordrhein-Westfalen hat es ja auch lange gedauert.

Zwi Rappoport: Wir haben eine unheilige Allianz von links und rechts. Und wenn Frau Wagenknecht jetzt mit ihrer neuen Partei kommt, blüht uns noch manches. Die Einzige, die wirklich eine tolle Frau ist, ist Petra Pau. Aber hilflos schauen wir auf die Entwicklung in Israel und auch auf die Entwicklung hier in Deutschland. Gott sei Dank sind sich die demokratischen politischen Parteien einig. Das ist die politische Unterstützung, aber wir fühlen uns allein gelassen, was die Bevölkerung betrifft. Ich erinnere mich an ein Wort von Hannah Arendt, die sagte, die, die wir fürchten mussten, das waren nicht unsere Feinde, sondern unsere Freunde. Es fühlte sich an wie in einem leeren Raum. Ein bisschen ist das jetzt auch so. Die Kirchen haben viel zu spät und formal reagiert. Ich habe interne Mails gesehen, die betonten, man müsse jetzt reagieren, weil man dann, wenn es in Gaza losgehe, der jüdischen Seite nicht mehr zumuten könne, wenn man als Kirche einen Ausgleich zwischen den Opfern in Gaza und den Opfern in Israel fordere.

Norbert Reichel: Die israelische Armee bemüht sich sehr. Ob das immer gelingt, ist eine andere Frage.

Zwi Rappoport: Ich sehe hier einen qualitativen Unterschied. Die israelische Armee versucht, so weit möglich die Zivilisten zu schonen, ihre Angriffe anzukündigen, mit Anrufen, SMS und vielem mehr. Der Hamas hingegen ging und geht es nur darum, so viele Juden wie möglich zu töten.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2023, Internetlinks zuletzt am 30. November 2023. Das Titelbild zeigt ein Gemälde von Benzi Brofman, Foto: Hanay, Wikimedia Commons.)