Nie wieder ist jetzt!

Die Gedenkrede von Zwi Rappoport am 9. November 2023

Zwi Rappoport, Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden Westfalen-Lippe, eröffnete die Ausgabe 22 des Jüdischen Echos Westfalen (J.E.W.) vom Dezember 2002 mit einem Vorwort, indem er ausführlich aus seiner Gedenkrede am 9. November 2023 in Dortmund zitierte. Die genannte Ausgabe von J.E.W. enthält auch den Hinweis auf eine interaktive Karte, die eine umfassende Darstellung der Gräueltaten der Hamas am 7. Oktober 2023 ermöglichen soll. „Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung stellt sich die Situation wie folgt dar: 1.400+ Menschen getötet, 241 Menschen entführt, 40 Menschen vermisst, 4.834+ Menschen verletzt.“ Die Karte ermöglicht einen Blick auf das Schicksal jedes einzelnen dieser Menschen, nennt die Namen. Die J.E.W.-Redaktion schreibt: „Gemeinsam können wir dafür sorgen, dass die tragischen Ereignisse des 7. Oktobers auf eine zugängliche Art und Weise dargestellt werden, die die Erinnerung und die Gefühle der Opfer respektieren.“ Die ZEIT dokumentierte am 14. Dezember 2023 den Schrecken, dem drei Expert:innen begegnen, deren Aufgabe es ist, die Ermordeten zu identifizieren.

Gedenkfeier im Landtag Nordhein-Westfalen am 25. Oktober 2023. Von links nach rechts: David Klapheck, Geschäftsführer der Synagogengemeinde Köln, Alexander Sperling, Geschäftsführer des Landesverbandes der JG von Westfalen-Lippe, Irith Michelsohn, Vorsitzende der JKG Bielefeld, Ekaterina Solodkaia, Geschäftsführerin der UPJ, Zwi Rappoport, Paul Jurecky, Geschäftsführer des KKL, Norert Römer, ehemaliger Fraktionsvorsitzender der SPD, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Antisemitismusbeauftrage des Landes NRW. Foto: Landtag NRW / Bernd Schulte.

Ich danke der Zeitschrift J.E.W., namentlich dem Chefredakteur Ramiel Tkachenko, für die Genehmigung, Vorwort und Redeauszug im Demokratischen Salon zu veröffentlichen. Den Text veröffentlichen wir gleichzeitig mit der Dokumentation eines Gespräches, in dem Zwi Rappoport unter der Überschrift „Wir leben in dunklen Zeiten“ (Edgar Keret) über die Entwicklungen in Jüdischen Gemeinden sowie in der deutschen Politik und Gesellschaft nach dem 7. Oktober 2023 berichtete.

Zwi Rappoport fasste im Vorwort die Einleitung seiner Gedenkrede mit folgenden Sätzen zusammen:

„Der 7. Oktober 2023 war ein Tag, der alle anständigen Menschen auf der ganzen Welt schockiert und tief erschüttert hat. Deshalb habe ich in meiner Gedenkrede im Dortmunder Opernhaus – anlässlich des 85. Jahrestages des 9. November – in erster Linie über diese erneute Katastrophe gesprochen, die über unser Volk hereingebrochen ist.

Dabei habe ich zunächst über die Flucht meines Vaters aus Nazi-Deutschland in das damalige Mandatsgebiet Palästina berichtet. Dort bin ich 1946, zwei Jahre vor der Gründung des Staates Israel geboren. 1954 sind wir nach Münster zurückgekehrt, die Stadt, aus der mein Vater vertrieben worden war.

In der Gedenkrede fuhr Zwi Rappoport wie folgt fort:

„Meine Mutter war über den Entschluss meines Vaters, nach Deutschland zurückzukehren, sehr unglücklich. Zu tief war die Kluft zwischen ihr als Jüdin und ihrer nicht-jüdischen, deutschen Umwelt. Den Sieg der Alliierten über Hitler-Deutschland empfanden die meisten Deutschen damals als Zusammenbruch und Niederlage und nicht – wie sie – als Befreiung. Das Nachkriegsdeutschland war für sie, wie sie sich einmal ausdrückte, „ein riesiger jüdischer Friedhof“, in dem die Täter weiterlebten. Bei jedem halbwegs erwachsenen Menschen musste man sich fragen: Was hat dieser oder jener wohl während der Nazizeit getan? Gibt man wohl möglich einem Mörder die Hand?

Ich schildere diese Gedanken und Gefühle meiner Mutter so ausführlich, weil sie deutlich machen: Mit dem 8. Mai 1945 waren Nazismus und Antisemitismus keineswegs verschwunden. Vielmehr gab es eine braune Kontinuität, die es den NS-Eliten erlaubte, ihre Karrieren im Nachkriegsdeutschland fortzusetzen und selbst die höchsten Staatsämter zu besetzen. Zudem führte die tiefe Verstrickung weiter Teile der deutschen Gesellschaft in den Komplex der Enteignung, Entrechtung und Vernichtung der Juden dazu, dass die nationalsozialistischen Verbrechen verdrängt, verschwiegen oder geleugnet wurden.

Dieses moralische Versagen der deutschen Gesellschaft nach 1945 hat der Schriftsteller Ralph Giordano die zweite Schuld genannt.

Heute, einen Monat nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel, frage ich mich, ob die deutsche Gesellschaft nicht im Begriff ist, eine dritte Schuld auf sich zu laden.

Da wird das Land, das von den Holocaust-Überlebenden und ihren Nachfahren aufgebaut wurde, brutal überfallen. An einem Tag werden so viele Menschen ermordet wie seit dem Holocaust nicht mehr. Die Hamas-Terroristen töten wahllos wehrlose Menschen gleich welchen Alters oder Geschlechts. Ganze Familien werden gemeinsam erschossen oder in ihren Häusern lebendig verbrannt. Babys werden enthauptet, Frauen vergewaltigt, ihre Leichen geschändet.

Zudem verschleppen die Terroristen mindestens 240 Menschen jeden Alters, die nun in den unterirdischen Tunneln in Gaza gefangen gehalten werden.

Und wie reagiert die deutsche Öffentlichkeit auf diese furchtbare Katastrophe, die die Juden in Israel, in Deutschland und in der ganzen Welt bis ins Mark getroffen hat?

Es gibt einige Solidaritätsbekundungen und Pro-Israel Demonstrationen mit viel zu wenigen Teilnehmern. Dass Israels Sicherheit und der Schutz jüdischen Lebens deutsche Staatsraison sind, fehlt in keiner Politikerrede.

Draußen im Land aber sieht das Bild ganz anders aus.

Judenhass in all seinen Erscheinungsformen explodiert auf deutschen Straßen. Seit dem Terrorangriff der Hamas sind die antisemitischen Straftaten in Deutschland sprunghaft gestiegen. Die Pro-Palästina Demonstrationen mutieren regelmäßig zu Pro-Hamas Veranstaltungen, bei denen die Terroristen bejubelt und als Widerstandskämpfer gefeiert werden.

Wir fragen uns voller Sorge: Müssen wir nach dem versuchten Massenmord eines Rechtsextremisten in Halle 2019, der nur durch eine massive Holztür verhindert wurde, nun mit einer ähnlichen Bedrohung von muslimischer Seite rechnen? Oder von Linksextremisten? Oder von allen gemeinsam? Das ist keine Panikmache! Solche unheiligen Allianzen zwischen linkem, rechtem und islamistischem Antisemitismus werden immer häufiger auf Demonstrationen sichtbar.

Und wo bleibt die Unterstützung der deutschen Zivilgesellschaft, die beim Angriff auf die Ukraine noch Solidarität und Mitmenschlichkeit gezeigt hat?

Wo bleibt der kollektive Aufschrei, wo sind die Lichterketten, wo sind die Kirchen, die Gewerkschaften, die Wirtschaftsverbände? Wo sind die Künstler, die Vereine, die Schulen, die Universitäten und die Intellektuellen? Und wo sind die Musiker, die sich doch mit den 260 Jugendlichen solidarisieren müssten, die auf einem friedlichen Open-Air-Musikfestival von der Hamas regelrecht abgeschlachtet wurden?

Dieses kalte Schweigen, diese mangelnde öffentliche Anteilnahme, diese Gleichgültigkeit vieler Menschen ist beschämend und macht uns fassungslos. Wir fühlen uns weitgehend allein gelassen.

Dabei ist der Angriff auf Israel und die Jüdische Gemeinschaft in Deutschland ein Angriff auf uns alle und unsere gemeinsamen Werte, wie Menschenwürde, Menschlichkeit und Toleranz.

Diese Grundwerte unserer liberalen Demokratie sind in großer Gefahr!

Wir erinnern heute an die Reichspogromnacht vor 85 Jahren.

Der 9. November 1938 ist uns ein immerwährendes und mahnendes Beispiel dafür, welche schrecklichen Folgen Untätigkeit, Schweigen und Wegducken haben können.

Deshalb gilt:

Wer heute schweigt, macht sich mitschuldig. Wer heute schweigt, wird morgen selber betroffen sein.

Wir brauchen viel mehr Engagement, Mut, Unterstützung und Entschlossenheit aus der Mitte der Gesellschaft.

Nie wieder ist jetzt.“

(Anmerkungen: Veröffentlichung im Demokratischen Salon im Dezember 2023, Internetlink zuletzt am 15. Dezember 2023. Titelbild: Hans Peter Schaefer).