Wir werden wieder tanzen – werden wir?

Jüdische Stimmen nach dem 7. Oktober 2023

„Ich weiß nicht mehr, warum wir das alles tun. Wir geben uns so viel Mühe für eine Religion, obwohl wir nicht an Gott glauben, für eine Vergangenheit, an der kaum etwas gut war, für eine Zukunft, die maximal ungewiss ist, und für eine Identität, die wir selbst nicht mehr verstehen.“ (aus: Olga Grjasnowa, Juli, August, September, Berlin, Hanser, 2024)

Olga Grjasnowas Roman spielt in den drei Monaten vor dem 7. Oktober 2023. Dennoch ist der 7. Oktober ständig präsent. Lou ist Galeristin. Sie versucht nach einer Fehlgeburt ein Buch über AIDS zu schreiben. Sergej ist Pianist, hat aber Probleme, eine Tournee in Japan zu Ende zu spielen. Er schweigt zumeist, ist oft nicht erreichbar, sodass wir die Identitätskrise der beiden auch als Kommunikationskrise lesen können, die zur Identitätskrise wird. Wir erleben diese vorwiegend aus der Perspektive von Lou, die auch die beiden eben zitierten Sätze ausspricht. Das Private und das Politische, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, Religiöses und Säkulares vermischen sich. Lous Unsicherheit ist Indiz einer allgemeinen, stets latenten Unsicherheit, eines Unbehagens, das alle Personen im Roman, manche offener, manche weniger offen erleben, diejenigen, die in Israel leben, ebenso wie diejenigen, die wie Lou und Sergej in Deutschland – „bei denen“ sagt die israelische Verwandtschaft – leben.

Lou begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit. Sie reist zur Feier des 90. Geburtstags der Großtante Maia nach Gran Canaria, die einzige noch Überlebende er Shoah. Stimmt eigentlich, was sie erzählt? Was geschah wirklich? Wer spielte welche Rolle? Aber vielleicht – das scheint der halbwegs versöhnliche Schluss des Romans anzudeuten – kommt es gar nicht auf Antworten an? Und es bleibt immer „das ewige Dennoch“, von dem Leo Baeck sprach? Oder zeitgemäßer formuliert: auf den Satz, den sich Mia Schem, Überlebende des Massakers vom 7. Oktober 2023, tätowieren ließ: „Wir werden wieder tanzen“?

Annäherungen

Es ist schwer genug, sich an den 7. Oktober – ein Jahr danach – heranzuschreiben. Es ist vielleicht auch gar nicht möglich, sodass jeder Einstieg in einen Text, der sich mit dem 7. Oktober befasst, als untauglich oder gar unangemessen zurückgewiesen werden müsste.

Das Massaker der Hamas war – so schrieb Marina Münkler in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung mit der Überschrift „Das Massaker als Triumpf“„eine imperiale Geste zur Vernichtung der Juden“. Aller Juden! Der Angriff der Hamas galt nicht irgendeiner militärischen Einrichtung, sondern Zivilpersonen, allen Menschen, die Jüdinnen oder Juden sind, ungeachtet ihrer politischen Positionen, ihrer sozialen Stellung, ihrer gelebten oder nicht gelebten Religiosität, ihrer privaten Vorlieben, ihrer Persönlichkeit. Es war ein totaler Angriff: Auftakt zum Völkermord. Das Massaker „hat das Versprechen der Sicherheit zerstört, das der Staat Israel seinen Bürgern sowie den Juden in aller Welt seit seiner Gründung – trotz der permanenten Terroranschläge und Kriege – geboten hat: dass sie nie mehr schutzlos Pogromen und Massakern ausgesetzt sein würden, die jüdisches Leben in der Diaspora stets überschattet haben. Genau das war der Zweck des Massakers.“ Deshalb – so Marina Münkler – auch die penible Dokumentation des Massakers durch die Täter.

Der 7. Oktober markiert das Ende jeder Sicherheit. Es gibt keine Safe Spaces mehr, keinen Schutz, nirgendwo, nicht einmal in Israel, das doch gerade mit dem Versprechen, der ultimative Safe Space, der ultimative Schutzraum für Jüdinnen und Juden zu sein, werben konnte. Täglich erfahren Jüdinnen und Juden: Es geht denen, die ihre Häuser markieren, die sie beschimpfen, die sie attackieren, um alle Jüdinnen und Juden, um wirklich alle.

Die Jüdische Allgemeine porträtiert jede Woche eine von der Hamas festgehaltene Geisel. Zum Jahrestag des Pogroms berichteten auch andere deutsche Zeitungen ausführlich, so zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung, die ZEIT, der Tagesspiegel, die FAZ. Ein Team der Süddeutschen Zeitung nannte die noch gefangen gehaltenen 97 Menschen (andere Quellen sprechen von 101 Menschen) und veröffentlichte eine Chronologie vom 7. Oktober 2023 bis zum 4. Oktober 2024. Für die ZEIT portraitierte Evelyn Finger das Weiterleben der Angehörigen von sechs Geiseln, darunter Angehörige der Familie Bibas. Kfir Bibas wurde im Alter von neun Monaten entführt und ist die jüngste Geisel in den Tunneln der Hamas. Für den Tagesspiegel schrieb Karin Christmann über Tal Shoham, dessen Kinder täglich fragen, wann ihr Papa zurückkehrt. Felix Wellisch besuchte für die taz den Kibbuz Kfar Aza, ein Jahr danach. Gelegentlich gibt es auch die ein oder andere Reportage darüber, was es bedeutet, in der Nähe der Grenze zum Libanon zu leben und mehrfach täglich einen Schutzraum aufsuchen zu müssen. Dennis Pohl beschrieb im Tagesspiegel den „Alltag in Reichweite der Hisbollah-Raketen“. Ohne den Iron Dome sähe es an vielen Orten in Israel längst aus wie in manchen Regionen Syriens, in den Dörfern des Sindschar-Gebirges oder in den von Russland besetzten Gebieten der östlichen Ukraine.

Beeindruckend sind die auf spotify veröffentlichten Worte von Jon und Rachel Goldberg-Polin, der Eltern von Hersh, der kurz vor seiner Freilassung mit fünf anderen Geiseln von den Terroristen ermordet wurde. Hersh war Fan des SV Werder Bremen, in dessen Stadion seit dem 7. Oktober 2023 regelmäßig Bilder der Geiseln gezeigt wurden. Anteilnahme in Deutschland!

Anteilnahme in Deutschland? Nicht bei allen. Jürgen Kaube kommentiert in der FAZ die antisemitische und antiisraelische – das kann man inzwischen nicht mehr trennen – Szene in Deutschland. Sprache ist Waffe: „Der Begriff ‚Genozid‘ sitzt locker.“ „Der Titel ‚Antisemit‘ soll für Rechtsradikale reserviert bleiben.“ Sascha Chaimowicz zog Anfang Oktober in der ZEIT eine Bilanz und kritisierte die in Deutschland grassierende Empathielosigkeit, die sich auch in unglücklichen Stellungnahmen der Bundesaußenministerin zeige, die meinte, dass die Tötung des Chefs der Hisbollah Hassan Nasrallah nicht im israelischen Sicherheitsinteresse wäre, obwohl gleichzeitig in Syrien (!) Menschen diese Tötung feierten.

Und junge Deutsche nehmen für sich in Anspruch, dass sie mit ihrem Mobbing – das ist noch sehr vorsichtig formuliert – gegen Israelis, gegen Jüdinnen und Juden die einzigen wären, die wirklich etwas aus der deutschen Geschichte gelernt hätten. Volker Weiß beschrieb in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung mit dem Titel „Treffen sich drei Antisemiten“, wie sich „Antiimperialisten, Islamisten und Impfgegner“ verbünden und damit das Spiel der Rechten erleichtern, die ohnehin schon ihre Sympathien für Putins Russland, sein Eurasien-Projekt sowie Xis China kaum verbergen wollen, sich aber auf der anderen Seite als Freunde Israels inszenieren, obwohl es ihnen nur darum geht, alle Menschen, die sie für Muslim:innen, für Linke oder für Liberale halten, als Unterstützer von Hamas und Hisbollah zu diffamieren. Linke spielen den Rechten in die Karten!

Wie aggressiv die Stimmung, wie bedroht Jüdinnen und Juden sind, dokumentieren die Statistiken von OFEK. Der Beratungsbedarf hat sich verfünffacht, in den ersten Wochen nach dem 7. Oktober hatte er sich sogar verzwölffacht, Dunkelziffern nicht eingerechnet, denn nicht alle wissen von dem Beratungsangebot, nicht alle, die es gebraucht hätten, dürften es in Anspruch genommen haben. OFEK ist nicht in allen Bundesländern gleichermaßen vertreten beziehungsweise bekannt. Von Juli 2017 bis zum September 2023 gab es 1.240 Anfragen, vom Oktober 2023 bis zum September 2024 1.858, davon etwas mehr als die Hälfte aus Berlin.

Jüdische Stimmen

Über die Analyse von Beratungsstatistiken, Reportagen, Porträts, medialer Präsenz kann man sich durchaus dem Thema annähern. Detaillierte Analysen jüdischer und nicht-jüdischer Autor:innen enthält beispielsweise der Band „Nach dem 7. Oktober – Essays über das genozidale Massaker und seine Folgen“. Er wurde von Tania Martini und Klaus Bittermann herausgegeben und erschien in der Edition Tiamat.

Die Erziehungs- und Sozialwissenschaftlerin Meltem Kulaçatan prägte kurze Zeit nach dem 7. Oktober 2023 im Demokratischen Salon den Begriff der „Empathiesperre“, Ksenia Svetolova sprach in ihrem Beitrag zum Buch „7. Oktober – Stimmen aus Israel“ von einem „Empathy Gap“. Ich möchte den Versuch wagen, drei Bücher etwas ausführlicher vorzustellen, die sich aus jüdischen Perspektiven dem 7. Oktober nähern:

  • Das erste Buch trägt explizit den Titel „Schutzraum“. Es erschien bei Hentrich & Hentrich und wurde herausgegeben von Oded Wolkstein und Maayan Eitan im Auftrag von The Israeli Institut for Hebrew Literature in Kooperation mit dem Institut für Neue Soziale Plastik. Das Buch enthält einschließlich der einleitenden Texte von Oded Wolkstein und Stella Leder zehn Beiträge jüdischer Schriftsteller:innen aus Israel und Deutschland.
  • Das zweite Buch ist der Almanach des Leo-Baeck-Instituts 2024, herausgegeben von Gisela Dachs: „7. Oktober – Stimmen aus Israel“. Es enthält 20 Beiträge von Wissenschaftler:innen, Journalist:innen und Literat:innen. Der Band erschien bei Suhrkamp im Jüdischen Verlag. Gisela Dachs erwähnt im Vorwort, dass auch versucht wurde, palästinensische Autor:innen zu gewinnen. Dies sei jedoch nicht gelungen.
  • Das dritte Buch erschien bei Rowohlt und wurde von Dana von Suffrin herausgegeben: „Wir schon wieder – 16 jüdische Erzählungen“. Es handelt sich um Texte ganz unterschiedlichen literarischen Charakters von in Deutschland und in Österreich lebenden jüdischen Autor:innen. Es sind nicht unbedingt „Erzählungen“ im literaturwissenschaftlichen Sinne, aber alle erzählen in ihren Texten von der Komplexität und den Widersprüchen unserer Zeit.

Zu Wort kommen in den drei Büchern jüdische Autor:innen, aus Israel wie aus anderen Ländern, vor allem aus dem deutschsprachigen Raum. Sie alle fordert der Versuch, Unfassbares fassbarer zu machen. „Essay“ mag vielleicht ein Begriff sein, der sich auf alle Texte anwenden ließe, auch auf die erzählerisch gestalteten oder gar lyrischen Texte. Es sind eben im besten Sinne des Wortes „Versuche“. Gelingende Versuche! Denn was kann einem Text Besseres geschehen, als dass er nicht vermeintlich sichere Antworten, nicht Bekenntnisse dokumentiert, sondern stattdessen die Fragen erfahrbar macht, die gestellt werden müssen und mit denen wir als Leser:innen die Texte weiterschreiben könnten.

(Eine dieser Fragen betrifft das Vorgehen der israelischen Regierung. Gehen Netanjahu und vor allem seine rechtsextremen Koalitionspartner zu weit? Unter den Autor:innen der hier vorgestellten Bücher gibt es kaum Sympathien für die aktuelle israelische Regierung, aber dies ist eine weitere Unwägbarkeit in den Versuchen, sich zu positionieren. Es ist schon ein Unterschied, ob eine deutsche Außenministerin – sie möge hier als wohlmeinende Vertreterin ihrer Zunft verstanden werden – sich von der Seitenlinie äußert oder ob man unmittelbar selbst, über Familienmitglieder, über Verwandte oder Bekannte, über Freund:innen – ich wage es kaum, diesen eigentlich verharmlosenden Begriff zu verwenden, aber leider finde ich keinen anderen – „betroffen“ ist.)

In gewisser Weise sind vor allem die von Oded Wolkstein und Stella Leder sowie von Dana von Suffrin herausgegebenen Bände literarische Experimente. Sie verbinden eine Fülle von Zugängen oder wenn man so möchte literarischen Gattungen, manchmal mehrere in einem Text, mit lyrischen, erzählerischen, fiktionalen oder eher philosophischen und journalistischen Versuchen. Der von Gisela Dachs herausgegebene Band ist explizit eine Sammlung weitgehend journalistisch gehaltener Texte. Allerdings enthält auch er literarische Annäherungen, zum Beispiel zwei Gedichte von Gad Kaynar Kissinger und eine Parabel von Etgar Keret.

Ich werde nicht alle Beiträge gleichermaßen würdigen können. Meine subjektive Auswahl möge man mir nachsehen und vielleicht selbst nachlesen, um all die Aspekte zu entdecken, die ich nicht ausreichend würdige und die vielleicht auch meiner Sicht der Dinge widersprechen. Das Prinzip der Machloket gilt immer.

Erster Versuch: Schutzräume

Der von Oded Wolkstein und Stella Leder herausgegebene Band „Schutzraum“ enthält zehn Texte von israelischen und nicht-israelischen Autor:innen, die im Jahr 2023 in Israel und 2024 in Deutschland veröffentlicht wurden. Oded Wolkstein reflektiert in seinem Vorwort über den Begriff der „Traumatisierung“ und formuliert die Hypothese, dass „Trauma“ eben keine Narbe einer am Körper sichtbaren Verletzung sei, sondern ein nicht lokalisierbarer, nicht zuschreibbarer Schmerz. Die Literatur sei in der Lage, „die Wundmale jenes Moments zu kerben, in dem wir gefangen sind“. Stella Leder, Mitbegründerin des Instituts für Neue Soziale Plastik, ergänzt in ihrem Beitrag mit dem Titel „Shelter, Schutzraum, Resonanzraum“: „Ich schreibe in der Vergangenheit und erschrecke selbst dabei. Bis zum 7. Oktober war Israel dieser sichere Hafen. Aber die Botschaft der Hamas war eindeutig und wurde von den Adressaten verstanden. Die Adressaten waren in erster Linie der Staat Israel und alle seine Bürger:innen und in zweiter Linie Jüdinnen und Juden, außerhalb Israels: ‚Für euch gibt es keinen Schutzraum!‘“

Die Autor:innen versuchen die zerstörte, aufgebrochene Welt wieder neu zusammenzusetzen. Joshua Cohen schreibt 18mal den eigenen Namen untereinander. Was ist Geschichte? Nur eine Theorie? Und was machen junge und ältere Menschen aus ihrer eng geführten Theorie? „In der Vorstellung der globalen Linken werden Palästinenser somit zu Schwarzen und People of Color, und die Israelis werden zu Weißen. Absolut irrwitzig, und trotzdem ist es auf lustige Weise tröstlich, mir meinen alten jemenitischen Vermieter in Tel Aviv als weißen Typen vorzustellen.“ Aber ganz so lustig ist es nun nicht, denn der Gedanke liegt nicht fern, dass eines Tages auf einer Party „(falls ich noch auf Partys eingeladen werde), (…) eine hübsche Frau (oder ein Mann, das spielt keine Rolle) am Martini nippt und sich laut fragt: ‚Wie konnte Khamenei das nur zulassen? Warum hat der Iran nicht die Gleise bombardiert?“

Elisa Albert berichtet unter dem Titel „Süsser Travelogue“ über eine Reise aus den USA nach Israel. Sie wollte den Kibbuz Be’eri besuchen, wo ihr Großvater gelebt hatte, aber entschied sich anders. „Ich verbrachte den Schabbat-Abend des sechsten Oktobers am Strand, ignorierte ihre Nachrichten und gönnte mir ein Festmahl bestehend aus Hummus mit Ful und einem Fay-Weldon-Taschenbuch, das ich zuvor bei Halpers erstanden hatte, dem sagenhaften Secondhand-Buchladen auf der Allenby-Straße.“ Der Schock kommt erst später. Der letzte Satz: „Erst als ich wieder zurück in New York angekommen war, packte mich die Angst.“ Der Text wurde im Rückblick geschrieben. Im Mittelteil enthält er eine Reflexion aus der New Yorker Distanz, kursiv gesetzt, Sätze, die immer mit dem eigentlich einschränkenden „ich glaube“ eingeleitet werden, aber in ihrem Inhalt dieses „ich glaube“ zur psychologischen Gewissheit werden lassen: „Ich glaube, dass Glaube nicht statisch ist. (…) Ich glaube an die Widersprüchlichkeit als Mittel, sich vor Fundamentalismus zu schützen. Ich glaube, dass die bekennend Säkularen in Fundamentalismus verfallen können. Ich glaube, dass Ignoranz immer und überall eine bewusste Entscheidung ist. Ich glaube, dass Wut die heftigste Form von Schmerz ist. Ich glaube, dass es schon immer zu spät gewesen ist. Ich glaube daran, mein Bestes zu geben. Ich glaube an den Schabbat. Ich glaube, dass Schalom Bayit, ein harmonisches Miteinander, wichtiger als die meisten anderen Dinge ist. Ich glaube ans Lernen. Ich glaube an die Kunst. Ich glaube an die mit gebrochenem Herzen. (…)“ Bekenntnis? Eine Litanei der Sich-Selbst-Vergewisserung? Glaubenssätze, fern jeden Schutzes, der sich nur in der Sprache findet?

Es sind die Bilder, die niemanden loslassen. Yaara Shehori in seiner „Einladung an die Trauer“: „Und noch immer hoffe ich, dass sie gerettet werden. An ihren Handgelenken die Einlassbändchen des Festivals. Einen Monat später kann man Solidaritätsbändchen kaufen.“ Die Hoffnung: „Uns sind bereits Wunder geschehen. Ein Meer, das sich teilt. Ein Kind, das zurückkommt. Alle Kinder. Alle Menschen. Und ein Fluss aus Tränen umspült uns.“ Oder bleibt – so Tehila Hakemi, die am 7. Oktober schwanger war und immer wieder an Kfir Bibas denkt – nur ein andauerndes Zählen der Tage, der Ermordeten, der Geiseln, der gefallenen (welch Euphemismus) Soldaten? Yaara Shehori: „Wir sind die Wartenden. Wir warten auf sie, so wie man uns beigebracht hat, zu warten. El na refa na. Bitte, heile uns.“

Alle Texte des Buches verdienen es, mehrfach gelesen zu werden, immer wieder, gerade auch in ihren Widersprüchen, Maxim Biller, der feststellt, dass er auf einmal um tausend Jahre gealtert ist, Maayam Eitan, die kein Geld mehr für die Miete im November hat und fragt, ob man „Israel mit Schulden verlassen und einfach nie wiederkommen“ könne, Tehila Hakemi, die schreibt, dass sich Zeit jetzt anders anfühle, Asaf Schur, der nach dem Sinn von Schreiben und Lesen fragt und bekennt: „Die Anthologie widert mich an.“ Dror Mishani bekennt: „Hätte ich mich oder meine Familie an jenem Schabbat verteidigen müssen, hätte ich versagt.“ Welche Gefühle sind legitim? Die Antwort kann nur lauten: Alle. Und dann fragen wir weiter.

Zweiter Versuch: De profundis

Der Band „7. Oktober – Stimmen aus Israel“ ließe sich als ein jüdisches „De profundis“ lesen, nicht immer mit Bezug auf einen erbetenen göttlichen Beistand, wohl aber immer mit dem Versuch verbunden, vielleicht doch eine humane, humanistische Auflösung des gordischen Knotens der ständigen Gewalt zu finden. Die Autor:innen lassen sich weitestgehend dem liberalen Spektrum der israelischen Politik zuordnen, mehrere beziehen sich ausdrücklich auf die Demonstrationen gegen die vor dem 7. Oktober geplanten und vorerst aufgeschobenen Justizreformen der Regierung unter Benjamin Netanjahu.

Andrea Livnat, Historikerin und Herausgeberin des Portals haGalil, benennt bereits im Titel ihres Beitrags den durch den 7. Oktober ausgelösten Wandel: „Vom ‚Platz der Demokratie‘ zum ‚Platz der Entführten‘“. Nicht nur das Anliegen der Demonstrierenden verdient Beachtung, auch die Art und Weise, wie sie sich äußern: „Der Platz macht den Schmerz der Familien, aber auch das Trauma der ganzen Nation greifbar. Auch hier ist an jeder Ecke die unglaubliche Kreativität zu sehen, mit der die Israelis reagieren. Große und kleine Kunstinstallationen bestimmen den Ort. In der Mitte des Platzes ist der lange Schabbat-Tisch mit 230 Plätzen zu finden.“ In der Mitte des Buches sind 16 Bilder von Street Art und Graffiti aus Tel Aviv zu sehen. Navit Inbar kommentiert diese Bilder. Sie bietet auch Führungen an.

Der Band enthält mehrere Texte, die als Reportagen gelten dürfen, beispielsweise den Text von Amir Tibon „7. Oktober 2023, 6:29 Uhr“. Der Autor beschreibt die zehn Stunden, der er mit seiner Familie in der stickigen Luft eines Schutzraums ausharrte und der Versuchung widerstand, ein Fenster zu öffnen, bis ihn sein Vater befreite. Gershon Baskin dokumentiert in seinem Text „Geiselverhandlungen“ seine Gespräche mit Dr. Ghazi Hamad, mit dem er in den vergangenen 18 Jahren inoffiziell, aber immer in Rückkopplung mit der israelischen Regierung, verhandelte, unter anderem über die Freilassung von Gilad Shalit, die mit der Freilassung von 1.027 palästinensischen Häftlingen erkauft wurde, darunter Yahya Sinwar, der das Massaker des 7. Oktober maßgeblich geplant und organisiert hatte. Der Kontakt bricht nach einigen Wochen ab. „Nach über 17 Jahren Kontakt ist der Mann, den ich schon so lange kenne, ein anderer geworden, einer, der seine Leute in Gaza im Stich gelassen hat und der jetzt der offizielle Hamas-Sprecher für diesen Krieg ist.“ Anna Smoliarova beschreibt, was es bedeutet, etwa 40 Kilometer entfernt vom Gaza-Streifen zu wohnen, von Be’eri, wo sich die Druckerei befindet, die israelische Führerscheine druckt und die wenige Tage nach dem Massaker ihre Arbeit wieder aufnahm. Der in Berlin lebende Journalist Assaf Uni dokumentiert seine Reise von Berlin nach Be’eri: „Ich hatte Berlin im Frühherbst verlassen und kam im Winter zurück. Ich bin heimgekehrt, dachte ich, aber wo ist daheim?“

Eine Frage ohne Antwort? Andrea Livnat schreibt, sie sei „pessimistisch“. „Die Zeit wird die Wunden nicht heilen, die der 7. Oktober uns zugefügt hat. Die Hoffnung ist, dass die Zeit zumindest den Platz der Entführten überflüssig machen wird, ihn nur noch als Mahnmal dienen lässt, wenn alle Geiseln zurück in Israel sind.“ Sie schrieb diesen Text im Frühjahr 2024. Lilah Nethanel, Literaturwissenschaftlerin und Romanautorin, gibt ihrem Text den einfachen Titel: „7. Oktober 2024“. Sie zitiert unter anderem den palästinensischen Autor Emil Habibi, der in seinem Buch „Der Peptimist oder Von den seltsamen Vorfällen um das Verschieden von Said dem Glücklosen“ (eine deutschsprachige Ausgabe erschien 1992 bei Lenos) „das Verschwinden des anderen als gemeinsamen Nenner von Israelis und Palästinensern“ bezeichnet habe. Was veränderte der 7. Oktober? „Das Schlimmste dabei ist, das uns allen, Israelis wie Palästinensern gleichermaßen unser teuerster Herzenswunsch genommen wurde: der Wunsch, dass die Dinge einen Sinn haben. Dass man an etwas glauben kann. Dass es irgendeine Rechtfertigung oder wenigstens Erklärungen gibt.“ Es habe sich auch die Sprache verändert, sie spiegele Gewöhnung an die Katastrophe.

Hilft Beten? Etgar Keret thematisiert dies in seiner Parabel „Andacht“. Jechiel-Nachman betet unablässig, doch eines Tages zweifelt er. Es ist der 22. Tischri 5784, der 7. Oktober 2023. Er möchte seine Kippa abnehmen, die Schläfenlocken abschneiden. Aber er wendet sich an den Rabbi Nechemia Mittelman, der ihm erklärt, er habe nicht „vollkommen genug“ gebetet. Jechiel-Nachman wird zu einem Sisyphos: „Wie ein Mensch, der ein schweres Klavier einen Hügel hinaufzuschieben versucht, schwitzte und schnaufte Jechiel-Nachman beim Beten, schnaufte und schwitzte, bis all die profanen Gedanken mit Stumpf und Stiel ausgerottet waren und für noch mehr Andacht und Glauben Platz gemacht hatten, die ihn nun mit aller Macht überschwemmten.“ Als zwei der Entführten freigelassen werden, ist er erleichtert und denkt, er könne „das nächste Gebet mir selbst widmen“. Er stürzt beim Gebet und stirbt an der Kopfverletzung. In der Welt Gottes, in der alles „absolut, vollständig gut“ ist spricht er viele Stunden mit dem Allmächtigen: „Und Gott hörte ihm mit endloser Geduld zu und nickte barmherzig mit dem Kopf – immer, auch bei den Malen, wo er nicht den leisesten Schimmer einer Ahnung hatte, wovon Jechiel-Nachmann eigentlich redete.“

Religiosität ist eines der kritischen Themen, die in dem Buch immer wieder thematisiert werden. So spricht der Kulturhistoriker Gilad H. Shenhaw über radikale Formen des Messianismus, beispielsweise des Rabbiners Amichai Friedman. Er zitiert eine von dessen Reden in voller Länge. „Friedman ist keine Einzelstimme, sondern drückt eine breitere Stimme in der rechtsextremen Öffentlichkeit aus.“ Demgegenüber stehen humanistische Versionen des Messianismus wie sie Leo Baeck oder Herman Cohen formuliert hätten. Fania Oz-Salzberger argumentiert vergleichbar im Hinblick auf den Begriff des „Zionismus“. Sie gibt eine „Kurzanleitung für Zionismus in schweren Zeiten oder: Warum ich trotz allem eine humanistische Zionistin bin“.

Die Soziologin Eva Illouz, die sich immer als Linke verstand, betont, dass humanistische Werte unteilbar sind und konstatiert die dramatische Veränderung auf der linken Seite: „Wir sind jetzt gehalten, uns für ein Lager zu entscheiden: zwischen dem Kampf gegen Islamophobie und dem Kampf gegen Antisemitismus. Zwischen tugendhafter Zensur und freier Meinungsäußerung. Zwischen den Menschen in Gaza und dem Existenzrecht Israels.“ Dies ist aber – wie sie sagt – auch nichts Neues. Die Brandeis University in Massachusetts wollte Ayaan Hirsi Ali die Ehrendoktorwürde verleihen, zog sich aber zurück, als eine Petition verbreitet wurde, dass „sich muslimische Studenten angesichts einer solchen Verleihung unwillkommen fühlen dürften“. Beim Chicago Dyke March im Jahr 2017 wurden zwei Teilnehmerinnen ausgeschlossen, weil sie Regenbogenflaggen mit Davidstern trugen. Weitere Beispiele folgen, nicht zuletzt die Einlassungen von Judith Butler, in denen man „kaum je Worte wie ‚Terrorismus‘, ‚Muslimbruderschaft‘ oder ‚politischer Islam‘ finden“ kann.

Die auch im deutschsprachigen Raum populäre Romanautorin Ayelet Gundar-Goshen arbeitet als klinische Psychologin. Sie ließ ihren neuen Roman erst einmal liegen und arbeitete mit Überlebenden des Massakers, teilte ihren Schmerz, stellte fest, „wie sehr die Genesung der Überlebenden von der wiedergewonnenen Fähigkeit abhängt, der Wirklichkeit ins Auge zu schauen und ein kohärentes Bild davon aufzubauen. Mehr noch, der persönliche Heilungsprozess der Überlebenden ist die private Form dessen, was uns allen als Gesellschaft abgefordert wird: Die Schaffung einer neuen Erzählung, die uns eint, einer Geschichte, die das Trauma anerkennt, aber daneben auch noch anderes zulässt.“ Doch wo beginnt eine Erzählung, wo endet sie? Kann sie überhaupt enden? Ayelet Gundar-Goshen berichtet aus ihrem Studium, ein Dozent habe eine ihrer Geschichten abgelehnt, weil sie kein Ende hätte, sondern nur einen Anfang. „Dieser Satz hat mich seit dem Krieg täglich begleitet.“

Aber vielleicht gibt es doch eine Perspektive. Ayelet Gundar-Goshen verlangt von ihren Patient:innen (ist das überhaupt der passende Begriff?), „über den gegenwärtigen Zeitpunkt hinauszudenken.“ Sie schließt sich David Grossmann an, der seinen Text mit dem Satz „Noch immer stürzen wir in den Abgrund“ überschreibt, aber mit der Hoffnung abschließt, „an den Punkt zu gelangen, von dem aus man an einem besonders klaren Tag den äußersten Zipfel des Paradieses sieht.“ Gideon Reuven, der sich als Kultur- und Sozialhistoriker zurzeit mit dem Luxemburger Abkommen von 1952 befasst, fragt mit Lea Goldberg: „Wird einst die Zeit von Vergebung und Gnade kommen?“ Lea Goldberg schrieb dies im Jahr 1943. Gideon Reuven: „Die Zeit ist gekommen, Lea Goldbergs Frage mit einem lauten ‚Ja‘ zu beantworten.“ Dies ist auch der letzte Satz des Buches.

Dritter Versuch: Die Sprache tanzen lassen

Dana von Suffrin formuliert ihre Hoffnungen im Vorwort. Doch zunächst die Bestandaufnahme: „Wir sind hier, obwohl uns eigentlich niemand haben wollte“. Fakt oder Ironie? Oder beides? Irgendwo angesiedelt zwischen „Klezmer und Chagall“ auf der einen Seite, „Auschwitz“ auf der anderen. Folklorisierung jüdischen Lebens ist das eine, die lange Kette der Gedenktage die andere. Hilft Psychoanalyse? Dana von Suffrin zitiert Zvi Rix: „Auschwitz werden uns die Deutschen niemals verzeihen!“ Und dann der zweite Absatz, der mit dem Wort „Dennoch“ beginnt. Das Buch ist – so schreibt sie – „ein kleines Hinterzimmer“, „ein imaginärer Tisch“. „Ich hoffe, dass irgendwo zwischen den Palästina-Demos, die Studenten vom Bodensee und aus dem Wendland organisiert haben, um laut ‚Free Palestine from German Guilt‘ zu skandieren, und dem Seminarraum in München es unser Hinterzimmer wirklich gibt. Es ist wirklich nur ein Zimmer, es ist kein Zoo, es ist kein Ghetto, es ist nicht einmal ein jüdisches Viertel, wir sitzen dort einfach am Tisch und streiten in Frieden, wir schon wieder.“ Es sind nicht nur Hoffnungen, nicht nur Selbstvergewisserungen, die wir in den Texten des Buches finden, der Ton mancher Texte lässt sich vielleicht am besten mit dem Attribut „aufgebracht“ charakterisieren,

Nachdem Adriana Altaras auf einem Spaziergang über Heinrich Heines Loreley-Gedicht (der Titel ist nicht von Heine!), über Jacques Offenbach, ihren Freund Robbi, der von Düsseldorf nach Tel Aviv gezogen war, und ein denkwürdiges Erlebnis bei Markus Lanz nachgedacht hat, kommt Maxim Biller und denkt in seinem Brief an Dana von Suffrin darüber nach, ob er sich überhaupt an dem Projekt beteiligen sollte. Unter welchem Titel? Was triggern all die Titel, die es schon in diversen Anthologien und Filmen gibt? Irgendwie ist es immer daneben. Wie soll man schreiben? Wie Heine? Nein, eher wie Kafka? Und das in deutscher Sprache, die gar nicht so schlecht ist, „wie schön sie sein kann und wie einfach und traurig und universal das Leben und die Literatur (…), wenn man beim Schreiben und Verlegen seinen eigenen Kopf behält – und sich nicht von Leuten instrumentalisieren lässt, die aus Schriftstellern wie dir, Elfriede Jelinek oder mir moderne Onkel Toms machen wollen. / Und darum mache ich jetzt wieder allein weiter.“

Die Welt ist voller Zweifel. Nicht nur jüdischer Zweifel. „Wir schon wieder“ ist auch ein Buch über die diversen Identitäten von Jüdinnen und Juden in Deutschland und Österreich. Yevgeniy Breyger lebt in Wien. Er wurde in Charkiw geboren. Er denkt über die Popularität von Nawalny im Westen nach, obwohl dieser „sich wiederholt öffentliche homophob, sexistisch, rassistisch, russischnational und westkritisch äußerte, teilweise faschistisch“. Pro-ukrainisch äußerte sich Nawalny nicht, im Gegenteil, das war nicht der Grund seiner Kritik an Putin. Wie damit umgehen? „Der Zweck meiner Kritik hätte sein sollen, darauf hinzuweisen, dass der Westen sich weiterhin mehr damit beschäftigte, russische Held:innen zu suchen (…), als damit, die Ismen und Grausamkeiten der russländischen Gesellschaft zu sehen und ihnen zu widersprechen, auch demjenigen Teil der Gesellschaft, der sich gern als regimekritisch geriert.“ Russland und der Nahostkonflikt oder wie man ihn auch immer nennen mag. Es verhält sich ähnlich und die beiden Themen interagieren. „Eine ehemals befreundete Dichterin aus Ostafrika kämpft für Palästina, zwischendurch ‚hinterfragt‘ sie die Absichten der Ukraine.“ Es bleibt die ständige Bedrohung: „Ich sehe mich bedroht. Als Jude, als Ukrainer, als Deutscher, als Mensch, als Person, die demokratische freiheitliche Grundwerte vertritt, als Feminist und als Person, die sich fragt, ob ihr als ‚Mann‘ überhaupt zusteht sich als Feminist zu bezeichnen, während sie ‚Mann‘ lediglich in Anführungsstriche setzen kann. Viel mehr bedroht sehe ich meine Freund:innen, Frauen, diejenigen, die den Mut aufbringen als queere Personen zu leben. Jüdinnen und Juden, Muslime.“ Ein Bedrohungsszenario reiht sich an das andere. Jeder Ausweg kann an der Komplexität der Lage scheitern. Aber was bedeutet eigentlich „Komplexität“?

Die Reduzierung von Komplexität könnte durchaus als menschliches Grundbedürfnis verstanden werden. Die sozialen Medien unterstützen dieses Bedürfnis. Und so schwinden die Möglichkeiten einer Sprache, in der Menschenfeindlichkeiten angeprangert werden könnten. Marina Frenk, die in Chișinău (Moldawien) geboren wurde und in ihrem Debütroman über das Moldawisch-Russisch-Jiddisch-Deutsche in sich nachdachte, denkt in ihrem Beitrag „Ein Versuch, sich zu verabschieden“ über „das Russische in mir“ nach. Kann man überhaupt noch russisch sprechen. „Gibt es eine Sprache auf dieser Welt, die nicht kolonisiert und unterdrückt hat?“ Kann man sich von einer Sprache, mit der man aufgewachsen ist, „verabschieden“? Denkbar ist ein solcher Abschied sicherlich, aber wie nachhaltig ist er lebbar? Irgendwie landet man immer bei Identitätsfragen. Lena Gorelik deutet im Titel ihres Beitrags, „Notizen aus Zeiten“, schon an, dass es keine endgültigen Antworten, Botschaften oder Formeln geben kann. Sie berichtet von einer Anfrage, „ob ich nicht bei einer Tagung sprechen wolle, darüber, wie ich mein Jüdischsein lebe, überhaupt über Jüd:innen.“ Eine andere Frage lautete: „Wie jüdisch fühlen Sie sich im Alltag?“ Wer so angesprochen wird, wird von den Anfragenden essenzialisiert und auf eine einzige von vielen Eigenschaften und Elementen der Persönlichkeit reduziert. Auch dies ist eine gefährliche Reduktion von Komplexität, einzig mit dem Ziel, dass sich die Fragenden, Anfragenden wohl fühlen und in ihren eigenen Vorstellungen bestätigen lassen können.

Keinen Zweifel haben offenbar Menschen, die sich an Gedenktagen wohlfühlen und sich in Gedenkveranstaltungen ihres guten Gefühls vergewissern. Dies ist das Thema von Olga Mannheimer. Wer für jüdisch gehalten, als jüdisch „gelesen“ wird, wie es in identitätsbewussten Texten heißt, ist festgelegt, ein für alle Mal. „Der deutsche Mainstream arbeitet seit einer Weile sehr effektiv daran, die von Rechtsradikalen gleichermaßen bedrohten Minderheiten gegeneinander auszuspielen – im bemerkenswerten Gleichschritt von konservativ bis ganz links.“ Aber warum dann diese Fixierung auf Israel? „Warum müssen ausgerechnet an dieser winzigen Region die Moralstandards der Welt exemplifiziert werden? Warum nicht an Nigeria oder dem Kongo?“ Eine Welt voller Zweifel, in der Menschen dominieren, die diese Zweifel nicht haben, wahrscheinlich sogar die Möglichkeit von Zweifel ignorieren. Lena Gorelik verweigert sich dem Nicht-Zweifeln-Wollen. „Am 200. Tag nach der Zäsur weigere ich mich, mich an diesen Text zu setzen, widersetze mich der Symbolik. Als wäre der Schmerz ein anderer, vorgestern, morgen. Alles ist sagbar, ich weiß nur nicht, wo die Worte sind.“

Wir werden es immer wieder versuchen

Die Jüdische Allgemeine veröffentlichte am 17. Oktober 2024 ein Interview von Anat Feinberg mit Agi (Agnes) Mishol, die 1846 in Siebenbürgen geboren wurde und als Vierjährige nach Israel kam. Sie lebt in einem Moschaw in der Nähe des Gazastreifens. Sie hat in Israel 20 Gedichtbände veröffentlicht und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Ihre Gedichte wurden ins Englische und Französische übersetzt. Jetzt erschien bei Hanser erstmals eine deutsche Auswahl in der Übersetzung von Anne Birkenhauer: „Gedicht für den unvollkommenen Menschen“. Darin enthalten ist ein Gedicht über den Überfall der Hamas. Der Titel: „Schutzraum“. Auf dieses Gedicht angesprochen sagt Agi Mishol: „Eines Morgens stand ich auf dem Feld, schaute nach oben, der Himmel war wunderschön. Freilich, die Natur hört keine Nachrichten. Ich hatte das Gefühl, dass sich mein Schutzraum in der hebräischen Sprache befindet, zwischen den Konsonanten. Als könnte ich mich unter den Buchstaben verstecken.“

Friedenspreisträgerin Anne Applebaum formulierte in einem Gespräch mit Jens-Christian Rabe, das die Süddeutsche Zeitung am 17. Oktober 2024 veröffentlichte, eine eben solche Perspektive, die schon Grund genug ist, überhaupt über das Thema 7. Oktober zu schreiben, sich zu diesem Thema in welcher Form auch immer zu äußern, öffentlich, im Privaten, in kurzen oder in längeren Texten, in künstlerischen Akten oder Performances. Sie antwortete auf die Frage, was geschehe, wenn Trump die Wahl am 5. November 2024 gewänne: „Jetzt passen Sie mal auf: Sie und ich gehören zu den privilegiertesten Menschen auf diesem Planeten. Wir haben Zugang zu Informationen. Wir haben nicht nur das Recht auf freie Meinungsäußerung, wir können es sogar wahrnehmen. Wir können politisch engagierte Bürger sein in unseren Gesellschaften. Es ist absurd, wenn Leute wie wir darüber nachdenken zu verzweifeln oder aufzugeben.“

Diese Sätze ließen sich auf die Erscheinungsformen jeder Form von Extremismus und Autoritarismus anwenden, die wir zurzeit in der Welt erleben. Eva Illouz schließt ihren Beitrag „Unter Opfern“ in „7. Oktober – Stimmen aus Israel“ mit einer Utopie: „Im Gegensatz zum neuen selbstmörderischen Nihilismus eines Großteils der Linken weltweit wären Juden und Araber in einer privilegierten Position, gemeinsam das wiederaufleben zu lassen, was die Linke früher am besten konnte. Hoffnung in der Dunkelheit zu spenden. Brüderlichkeit durch faire Institutionen zu verheißen und die immer noch revolutionäre Kraft des Universalismus zu demonstrieren.“

Den „Empathy Gap“, den Ksenia Svetolova diagnostizierte, die „Empathiesperre“, von der Meltem Kulaçatan sprach, müssen wir auch im Hinblick auf uns selbst beseitigen. Empathie mit uns selbst! Humanistisch begründet! Von dieser Empathie und diesem Humanismus zeugen die hier vorgestellten Bücher. Denn zwischen Zweifeln und Verzweifeln liegen Welten.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2024, Internetzugriffe zuletzt am 27. Oktober 2024. Das Titelbild zeigt ein Gemälde von Benzi Brofman, Foto: Hanay. Wikimedia Commons.)