Zeitlose Ignoranz

Oder warum wir gegenüber Antisemitismus so hilflos erscheinen

„Antisemitismus ist eine Größe, die sich in Gesellschaft, Geschichte und im einzelnen Menschen konkretisiert.“ (Yael Kupferberg, Antisemitismus in Deutschland – Kontinuität oder Zeitenwende? in: Zentralrat der Juden, Hg., „Du Jude“ – Antisemitismus-Studien und ihre Konsequenzen, Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2020)

Ein gängiges Stereotyp in Gesprächen, Studien und Debatten zum Antisemitismus ist der Verweis auf seine vielhundert-, vieltausendjährige Geschichte. Auf der einen Seite sprechen wir über Traditionen, die nach wie vor wirken und bekämpft werden könnten, weil wir ihre Strukturen kennen, auf der anderen Seite jedoch verzweifeln wir, weil es uns nach wie vor nicht zu gelingen scheint, Antisemitismus auf Dauer zu ächten und Jüdinnen*Juden, gleichviel wo sie leben, zu schützen.

Konjunkturen des Antisemitismus

Antisemitismus hat seine Konjunkturen, aktuell in der sogenannten „Corona-Krise“. Heike Kleffner und Matthias Meisner haben im April 2021 das Buch „Fehlender Mindestabstand“ (Herder-Verlag) herausgegeben, zu dem Josef Schuster ein Geleitwort geschrieben hat. Es geht um den „fehlenden Mindestabstand nach rechts“. Josef Schuster beschreibt, dass und wie „Rechtsradikale diese Bühne (der Corona-Krise, NR) nutzen, um den aus ihrer Sicht notwendigen Sturz ‚des Systems‘, also des demokratischen und liberalen Rechtsstaats, herbeizuführen.“ Sie eint das „Narrativ der jüdischen Weltverschwörung“ und gleichzeitig inszenieren sie sich als Opfer, die denen der Shoah vergleichbar wären. Sie verkünden „eine weitere gemeinsame Überzeugung: den Glauben, dass eine geheime Elite das Virus in die Welt gesetzt habe, dass die Bürger zu Marionetten wurden etc. Das alte antisemitische Narrativ der jüdischen Weltverschwörung wurde der aktuellen Situation angepasst. Zugleich entstand die paradoxe Situation, dass die Coronaleugner einerseits Juden als Täter identifizierten und andererseits sich selbst mit Holocaustopfern verglichen.“ (Ein Vorabdruck des Geleitworts erschien im Berliner Tagesspiegel am 4.4.2021.)

Antisemitische Stereotype erscheinen jedoch nicht nur aus jeweils gegebenem Anlass. Antisemit*innen hatten und haben offenbar zu allen Zeiten ein Gespür dafür, mit welchem Thema und zu welcher Zeit ihre kruden Thesen Gehör finden könnten. Ronen Steinke belegt dies in seinem Buch „Terror gegen Juden – Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt – Eine Anklage“ (Berlin / München, Berlin Verlag, 2020) für die deutsche Geschichte in Ost und West nach 1945. Sein Buch enthält eine 100 Seiten umfassende Dokumentation antisemitischer An- und Übergriffe in Deutschland. Und dies sind noch nicht alle An- und Übergriffe der vergangenen 75 Jahre, denn eine staatliche Dokumentation gibt es nach wie vor nicht, zumal auch viele Anzeigen, die eigentlich geboten wären, gar nicht erfolgen.

Die Anschlussfähigkeit und die verschiedenen Erscheinungsformen des Antisemitismus der vergangenen Jahre und Jahrzehnte dokumentieren weitere Studien, die beispielsweise Julia Bernstein, Monika Schwarz-Friesel und Samuel Salzborn vorgelegt haben. Der Leipziger Verlag Henrich & Hentrich veröffentlicht regelmäßig Studien aus Vergangenheit und Gegenwart, in Wieder- und Neuauflagen sowie Sammelbände zur Zusammenfassung diverser Forschungen und Bewertungen zum Kampf gegen Antisemitismus. Eine solche Zusammenfassung bietet der 2020 im Verlag Hentrich & Hentrich erschienene und vom Zentralrat der Juden herausgegebene Sammelband „Du Jude“. Ein weiterer wichtiger Akteur in der aktuellen Forschungsszene ist das Berliner Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment, das im Herbst und Winter 2020/2021 mehrere Studien veröffentlicht hat, die sich mit dem Problembewusstsein von Lehrer*innen befassen.

Lehrer*innen: schockiert, doch distanziert

Das Berliner Kompetenzzentrum veröffentlichte am 10. November 2020 den Forschungsbericht zur Studie „Antisemitismus im Kontext Schule – Deutungen und Umgangsweisen von Lehrer*innen an Berliner Schulen“, drei Monate später, am 10. Februar 2021, eine weitere Studie mit dem Titel „Antisemitismus im (Schul-)Alltag – Erfahrungen und Umgangsweisen jüdischer Familien und Erwachsener“. Autorinnen sind Marina Chernivsky, Friederike Lorenz und Johanna Schweitzer. Beide Studien sind auf der Internetseite des Kompetenzzentrums zugänglich (www.zwst-kompetenzzentrum.de/studien).

In Vorbereitung sind weitere Studien zum Antisemitismus an Schulen in Thüringen und in Baden-Württemberg sowie eine Studie zum Antisemitismus beziehungsweise zum Umgang mit Antisemitismus in Gedenkstätten. Interviewt wurden für die Schulstudien in Berlin, Baden-Württemberg und Thüringen Lehrer*innen, in der Gedenkstättenstudie dort tätige pädagogische Mitarbeiter*innen, in der Familienstudie vor allem junge Erwachsene. Die Studien sind als qualitative Studien angelegt. Befragt wurde eine niedrige bis mittlere zweistellige Zahl von Personen, individuell sowie in Gruppendiskussionen.

Thema der Lehrer*innenstudien ist das Problembewusstsein von Lehrkräften und Schulleitungen. Es geht um „die Frage, wie Antisemitismus an Schulen der Gegenwartsgesellschaft in Erscheinung tritt und durch Lehrer*innen und Schulleitungen wahrgenommen, eingeordnet und bearbeitet wird.“ Grundlegend ist der „Begriff des antisemitischen Vorfalls“. Der Begriff sollte der „Verdeutlichung antisemitischer Gewaltdynamiken und zur statistischen Erfassung des Ausmaßes antisemitischer Exzesse“ dienen. Parallel werden Begriffe wie „Situationen, Strukturen und Übergriffe“ verwendet. Der Gewaltbegriff wird umfassend verstanden, er umfasst auch Diskriminierungsvorgänge, die nicht mit unmittelbarer körperlicher Gewalt verbunden sind, bis hin zu sogenannten Mikroaggressionen. Die dokumentierten Vorgänge und Einlassungen der Lehrkräfte belegen, dass „das Ausmaß antisemitischer Bedrohung im Bildungswesen“ im Alltag „weitgehend unterschätzt wurde“ und wird. Ein Indiz ist der Antisemitismus in der „Alltagssprache“. Die Autor*innen der Studie mussten feststellen, dass Schüler*innen anfingen zu lachen, wenn das Wort „Jude“ als „Schimpfwort“ im Unterricht erwähnt wurde.

Im Ergebnis bieten die Studien Anlass und Hintergrundwissen für eine psychologische Einordnung des Phänomens Antisemitismus in den verschiedenen Phasen der Lehrer*innenbildung. Es wäre aus meiner Sicht viel gewonnen, wenn sich Lehrer*innen schon in ihrer Ausbildung damit auseinandersetzen könnten und würden, warum und wie antisemitische Ereignisse und Übergriffe – oft verharmlosend als „Vorfälle“ charakterisiert – und ihr jeweiliges eigenes Bild von Judentum und Antisemitismus sich gegenseitig prägen und letztlich verfälschen. Dies ließe sich auch auf den Umgang mit Rassismus gegen Schwarze, Sinti und Roma oder asiatisch gelesene Menschen, mit Bodyismus und Sexismus übertragen, durchaus in Erweiterung der Formel von Bernd Faulenbach, der forderte, die Einzigartigkeit der Verbrechen des Nationalsozialismus zu thematisieren, ohne die des Kommunismus zu bagatellisieren.

Die psychologischen Abläufe von Bagatellisierung, Täter-Opfer-Umkehr und Schuldabwehr, die Verschiebung der antisemitischen Ansichten auf eine scheinbar berechtigte Kritik an Israel als Staat und als Repräsentant des Judentums an sich, wie sie beispielsweise Samuel Salzborn in „Kollektive Unschuld“ (Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2020) beschrieb, ähneln sich durchaus und haben auch viel damit zu tun, dass es eine gewisse Scheu zu geben scheint, sich einer intensiven Beschäftigung zu entziehen und lediglich pflichtgemäß schockiert auf Äußerungen von Schüler*innen zu reagieren, die dann viel zu oft als „Einzeltaten“ interpretiert werden, analog zur Neigung, Attentate und Morde als Taten sogenannter „Einzeltäter“ zu beschreiben. Dies geschieht beispielsweise, indem antisemitische Äußerungen ausschließlich „als pubertäres Verhalten“ interpretiert werden. Junge Leute wären eben so, dass sie sich gegenseitig beschimpfen.

Aus diesem defizitären Problembewusstsein ergeben sich die pädagogischen Strategien der Lehrkräfte, die sich aber selbst – ganz unpädagogisch – aus der Verantwortung herausdefinieren. Die Studie verwendet die Begriffe der „Historisierung“, „Distanzierung“, „Perspektivendivergenz“ und „Objektivierung“. Antisemitismus wird als etwas wahrgenommen, das Menschen aus einer fernen Vergangenheit betrifft, so gut wie keinen Gegenwartsbezug hat, auch nicht zu den heute in Deutschland lebenden Jüdinnen*Juden, die als „historische Objekte“ gelesen werden. Der folgende Satz darf durchaus als Hinweis auf eine tragische Endlosschleife im Alltags vieler Jüdinnen*Juden gelesen werden: Die historische Tradierung der Entwürdigung und Entmenschlichung von jüdischen Minderheiten in Nationalstaaten spielt hier eine zentrale Rolle.“

Jüdische Kinder spielen in den Äußerungen der Lehrkräfte und Schulleiter*innen so gut wie keine Rolle. Dies mag angesichts der Größe der vor allem durch Einwanderung aus der untergegangenen Sowjetunion gewachsenen jüdischen Gemeinde in Berlin verwundern, ist jedoch gängige Praxis. Vielmehr macht der Umstand, dass jüdische Schüler*innen nicht selbstverständlich mitgedacht werden auch eine Kontinuität aus den Biografien vieler Lehrer*innen deutlich, in denen Juden*Jüdinnen in oftmals entpersonalisierter Weise als Opfer der Shoah auftauchen, während keine Begegnungen mit realen Juden*Jüdinnen aus Kindheit und Jugend erinnert werden (…). Dies zeigt sich unter anderem in der Annahme, jüdische Schüler*innen seien in Schule nicht greifbar. Es erklärt auch mit, warum (ehemalige) jüdische Schüler*innen die Reaktionen auf ihre Anwesenheit durch Lehrer*innen oftmals als exponierend erlebten, etwa wenn sie im Unterricht primär mit den Themen der Shoah und des Nahost-Konflikts adressiert werden.“ Julia Bernstein hat dieses Einstellungscluster in ihren Schulstudien mit vielen Beispielen ebenfalls thematisiert.

Um die Ergebnisse der Studien des Kompetenzzentrums richtig einschätzen zu können, ist es hilfreich zu wissen, dass die an der Studie teilnehmenden Lehrkräfte und Schulleiter*innen sich freiwillig melden konnten und dies auch taten. Es besteht somit eine Grundsensibilität für das Thema. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Tragweite erfasst wäre. Außer der Erwähnung von Schockiertsein oder auch Empörung bleiben die Emotionen zu Antisemitismus seitens der Lehrer*innen überwiegend unthematisiert. Angesprochen werden Gefühle im Interviewmaterial aber anhand von Schüler*innen. So wird unter anderem beschrieben, dass einzelne Schüler*innen ‚sehr starke Emotionen‘ einbringen würden, wenn das Wort Israel im Unterricht ausgesprochen werde (…)“. Lehrkräfte reagieren in der Regel, indem sie das Thema rationalisieren, objektivieren und sich selbst zu entlasten.

Rückdelegation als Alltagspraxis

Antisemitismus ist als Unterrichtsgegenstand „etwas Abstraktes“. Er „wird hier als universalistischer Lerngegenstand und Motivation zur Meinungsbildung begriffen, an dem sich im Unterricht das Thema der Multiperspektivität erarbeiten lasse (…)“. Der Auffassung, dass gerade beim Thema „Israel“ unterschiedliche Sichtweisen angesprochen werden, um im Sinne des Beutelsbacher Konsenses Schüler*innen nicht eine bestimmte Sichtweise aufzuzwingen, sondern sie zu befähigen, ihre Meinung sachgerecht zu begründen, wird nicht widersprochen, doch kommt hinzu, dass Lehrkräfte gerade bei diesem Thema, und nicht nur bei diesem, nur selten über das Hintergrundwissen verfügen, das erforderlich wäre, um den angestrebten multiperspektivischen Ansatz auch umzusetzen. Dem entspricht eine Neigung zur Rückdelegation des Themas auf Schüler*innen mit Migrationsgeschichte, vor allem aus dem arabischen Raum oder – wenn in der Klasse identifiziert – auf jüdische Schüler*innen. Migrantischen Schüler*innen wird beispielsweise durchweg unterstellt, dass sie zu wenig oder nichts über die Shoah wüssten, Juden*Jüdinnen, dass sie als Expert*innen und Verantwortliche sich umfassend zur Shoah, zur israelischen Politik und zu allem, was in irgendeiner Weise mit jüdischen Themen zu tun hat, äußern könnten.

Diese Rückdelegation verbindet sich folgerichtig mit der Art und Weise der Thematisierung der Shoah im Unterricht: „Die Shoah wird auch (…) abstrakt und entpersonalisiert vermittelt anhand der Darstellung eines Ortes aus der Perspektive eines*einer Nicht-Betroffenen, die*der als Kind kein*e Täter*in sein kann. Die involvierten Menschen, die Opfer und Täter*innen, bleiben in dem Bild, der geschilderten Erinnerung zufolge, nur angedeutet. Dies deckt sich mit dem oben erwähnten Aspekt der fehlenden familialen sowie emotionalen Rückbindung als Orientierungsrahmen und eines eher unkonkreten und ungeordneten – wenn auch moralisch aufgeladenen oder „zündende(n)“ Lerngegenstandes.“

Die Hoffnung, dass der Besuch von Gedenkstätten, die Begegnung mit Jüdinnen*Juden präventiv gegen Antisemitismus helfen könne, sollte nicht aufgegeben werden, aber sie kann trügen, wenn eine psychologisch fundierte didaktische Aufarbeitung fehlt. Begegnungen können auch zur Exotisierung beitragen und damit – kontraproduktiv – antisemitische Stereotype verstärken, die „Emotionserwartungen“ der Lehrkräfte beim Besuch einer Gedenkstätte können trügen: „Die von Jugendlichen erwartete Betroffenheit und Empathie für die Opfer und Überlebenden der Shoah kann dabei nicht nur ausbleiben, sondern durch diffuse Aversionen und reaktive Abwehrimpulse ins Gegenteil umgekehrt werden.“. Die Autor*innen des Kompetenzzentrums beziehen sich mit dieser Einschätzung auf Elke Gryglewski (u.a. „Historische Bildung zum Nationalsozialismus und der Shoah – Entwicklungslinien, Herausforderungen und Chancen“, in Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart: Gegenwartsbewältigung, Heft 2/2018), die lesenswerte Texte zur Einbeziehung und Einbeziehbarkeit von Jugendlichen mit Migrationshintergrund verfasst hat.

Das Fazit der Studie des Kompetenzzentrums: „Antisemitismus an Schulen zeigt sich somit als ein Thema, dass zunächst die Lehrer*innen selbst betrifft. Sie sind gleichzeitig nicht die einzigen Akteur*innen und tragen nicht die Gesamtverantwortung für die Lösung des Problems. Sie sind jedoch Teil der Machtverhältnisse im Mikrokosmos Schule und wichtige Bezugspersonen in der Lehrer*innen-Schüler**innen-Kommunikation.“ Dies heißt natürlich nicht, dass Lehrer*innen Antisemit*innen wären, wohl aber, dass ihr Wissen um die Erscheinungsformen von Antisemitismus sowie die damit verbundenen Prozesse nicht ausreicht, um wirksam gegen als „Vorfälle“ bezeichnete Ereignisse vorzugehen. Letztlich aber sind Lehrer*innen Teil der Gesamtgesellschaft, ihr vorhandenes beziehungsweise nicht vorhandenes Problembewusstsein entspricht durchaus auch dem Bewusstsein der deutschen Gesellschaft im Allgemeinen.

Gewalt und Macht

Die am 10. Februar 2021 veröffentlichte Studie des Kompetenzzentrums verändert die Perspektive. Es gab in den letzten Jahren mehrere Studien, die eine sogenannte „Jüdische Perspektive“ einnahmen. Marina Chernivsky hat mir in einem Gespräch gesagt, dass dieser Begriff polarisieren könne und daher nur begrenzt nutzbar wäre, letztlich geht es um die Frage, wie jüdische Eltern und ihre Kinder mit der Bedrohungslage umgehen. Die Studie fasst ihre Ergebnisse kurz und drastisch zusammen: „Aus Elternsicht stellt Schule einen sozialen Ort dar, der in Bezug auf antisemitische Erfahrungen als eher unsicher und belastet gilt.“ Die Studie hält fest, „dass alle interviewten Jüdinnen*Juden potenziell gewaltförmige Situationen antizipieren und viele von ihnen Antisemitismus erlebt haben, diesen jedoch unterschiedlich einordnen und verarbeiten.“

Es geht um „machtvolle Identitätsordnungen, die mitten im sozialen Gefüge entstehen und die Adressierten mit existenziellen Fragen bedrohen.“ Die Befragten lassen „Antisemitismus als graduelle Erfahrungskategorie“ erscheinen, stets steigerungsfähig, stets langfristig wirkend. Und offenbar fehlt Hilfe: „Externe Unterstützungssysteme, wie beispielsweise Schulsozialarbeit oder Beratungsstellen, werden in der Be- und Verarbeitung antisemitischer Erfahrungen nicht benannt.“ Dies bedeutet nicht, dass es diese nicht gäbe, ihre Reichweite lässt jedoch zu wünschen übrig, und vor allem gelten Zweifel an ihrer Kompetenz, wenn sie nicht von jüdischen Gemeinden, sondern von nicht-jüdischen Akteur*innen betrieben werden. Im Grunde verwundert dies nicht. Lehrer*innen neigen ohnehin dazu, Schulsozialarbeiter*innen die Aufgabe zuzuweisen, all die gesellschaftlichen Probleme, mit denen sie in der Schule konfrontiert werden, nicht nur besser als sie zu verstehen, sondern auch nachhaltig zu lösen. Das entlastet vielleicht kurzfristig, trägt aber zur Problemlösung nicht bei. Gefährlich wird es, wenn Lehrer*innen sich auf diese Weise für dauerhaft unzuständig erklären.

Antisemitismus wird von den befragten Juden*Jüdinnen in der Regel „erst retrospektiv eindeutig als Unrechtserfahrung“ eingeordnet, sodass möglicherweise der Augenblick, in dem eine Reaktion, eine Meldung, eine Anzeige erforderlich gewesen wäre, verpasst wird. Dem Bild, dass die Autor*innen von Lehrer*innen zeichnen, entspricht auch das Bild der jüdischen Gesprächspartner*innen. Es drängt sich der Eindruck auf, als wollten viele einfach nicht wahrhaben, was und wie ihnen geschieht. Eines der Strukturmerkmale des Erlebens von Antisemitismus ist daher die „Trivialisierung und Relativierung von antisemitischen (Sprach-)Handlungen, beispielsweise durch deren Einordnung als vermeintliche Witze: Dies begünstigt eine Normalisierung im Alltag und erschwert Betroffenen die Einordnung antisemitischer Übergriffe in ihrer Gewaltförmigkeit.“

Ein weiteres „Strukturmerkmal“ ist jedoch die „Antizipation der Möglichkeit antisemitischer Übergriffe und das Nachdenken darüber, ob Personen im Umfeld, wie beispielsweise Lehrer*innen, sie schützen könnten.“ Die befragten Jüdinnen*Juden vermissen Solidarität und Empathie, sie erleben stattdessen „Victim-Blaming“ als Spielart der „Täter-Opfer-Umkehr“. „Dadurch wird die Täterschaft relativiert, die Betroffenheit negiert und die Verantwortungsübernahme verunmöglicht. Außer im Feld der sexualisierten Gewalt, insbesondere in der Zuweisung der Schuld an Vergewaltigungsopfer, finden sich solche Mechanismen der Täter-Opfer-Umkehr auch im Kontext rassistischer und antisemitischer Gewalt.“ Eine „sekundäre Viktimisierung“ entsteht aus den banalisierenden, bagatellisierenden Reaktionen des nicht-jüdischen Umfelds.

Eine Gesprächspartnerin der Autor*innen vergleicht die „Wirkung von Sexismus und Antisemitismus“, durchweg erscheint die „Fragilität des Sicherheitsgefühls“. Für diejenigen, die in den 1990er Jahren aus der damaligen Sowjetunion nach Deutschland einwanderten, ergibt sich in der Rückschau, dass das zunächst gegebene Gefühl der Sicherheit inzwischen schwer beeinträchtigt wurde und vor allem der „Bereich Schule als zentral für die Artikulation von und die Konfrontation mit Antisemitismus“ erlebt wird. Das Gefühl der jederzeitigen „Möglichkeit“ antisemitischer An- und Übergriffe hat eine reale Grundlage, doch finden viele Jüdinnen*Juden keine erfolgversprechende Gegenstrategie. Sie sind letztlich hilflos und vermissen jede Unterstützung. Eben dies kennzeichnet die „Gewalt“ des Antisemitismus im Alltag als ein Zeichen der „Macht“ der Mehrheitsgesellschaft, der Minderheiten mehr oder weniger ausgeliefert sind. Die Relevanz des von den Angehörigen der Minderheit vorgetragenen Problems wird schlichtweg geleugnet.

Das Thema, über das niemand gerne spricht

Wer einen Überblick über aktuelle Forschungen zum Antisemitismus erhalten und damit neu erscheinende Studien wie die eben beschriebenen des Kompetenzzentrums einordnen möchte, sollte den vom Zentralrat der Juden beim Leipziger Verlag Hentrich & Hentrich im Jahr 2020 herausgegebenen Sammelband „Du Jude“ lesen. Der Band enthält Beiträge von 31 Autor*innen. Er gehört meines Erachtens in jede Handbibliothek zum Thema. Er enthält Positionen und Problembestimmungen, Beiträge zu Kontinuität und Metamorphosen des Antisemitismus, Ergebnisse von diversen Studien sowie eine engagierte Bestandsaufnahme der Angebote und Wirkungen antisemitismuskritischer Bildung.

Leider fehlt dem Band jeder Hinweis auf die im Jahr 2016 vom Zentralrat der Juden und der Kultusministerkonferenz (KMK) beschlossene Gemeinsame Erklärung zur Vermittlung jüdischer Geschichte, Religion und Kultur in der Schule. Ebenso wenig erwähnt wird die in Arbeit befindliche und voraussichtlich im Jahr 2021 zu beschließende zweite gemeinsame Erklärung, die sich vorrangig mit dem Antisemitismus in der Schule, nicht zuletzt mit dem traurigsten Kapitel der Bildungspolitik, der Lehrer*innenbildung, befasst. Dies ist leider ein Manko, zumal es durchaus auch Studien gibt, die sich damit befassen, beispielsweise von Samuel Salzborn und Alexandra Kurth in ihrer Studie „Antisemitismus in der Schule – Erkenntnisstand und Handlungsperspektiven“. Diese Studie lobte die Erklärung des Jahres 2016 und benannte die Defizite in der Lehrer*innenausbildung an Hochschulen. Geändert hat sich seit dieser Analyse nichts.

Doron Kiesel und Thomas Eppenstein beginnen ihre „Einleitung“ mit dem Text einer Autorin, die man*frau in einem Buch über Antisemitismus nicht unbedingt erwarten würde. Susanne Kerckhoff schrieb in „Berliner Briefe“ (1947, neu aufgelegt von Peter Grafim Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2020): „Ich kann nur noch an die Dinge heran, wenn ich um sie herum gehe. Ich schleiche wie eine Katze um den heißen Brei, mit einem verbrannten Geschmack auf der Zunge. Aber niemand hat mich gebrannt oder auf den Mund geschlagen, außer meine eigene Einsicht.“

In der Tat geht es beim Antisemitismus um ein Thema, über das niemand gerne spricht, weder Täter*innen noch Opfer. „Du Jude“ gehört inzwischen zum gängigen Schimpfwortrepertoire in deutschen Schulen und jede*r versteht, was gemeint ist. „Jude“ braucht offenbar keinerlei Attribute, sondern erklärt sich bei denen, die jemanden als „Jude“ beschimpfen beziehungsweise als Umstehende sich dieser Beschimpfung mehr oder weniger aktiv anschließen, von selbst. Niemand hingegen käme auf die Idee, „Du Christ“, „Du Muslim“ oder „Du Atheist“ als Schimpfwort zu verwenden. „Sachliche Wortbedeutung und diskriminierende Zuschreibung verbinden sich mit ein und derselben Vokabel.“ Ob überhaupt Jüdinnen*Juden als Beschimpfte an der jeweiligen Situation beteiligt sind, spielt keine Rolle. „In Deutschland hat sich die Ansprache ‚Du Jude‘ von der realen Existenz von Jüdinnen und Juden abgekoppelt und nimmt Züge einer allgemeinen Verunglimpfung an.“ Der Boden für die Verbreitung von Verschwörungstheorien, in denen Jüdinnen*Juden pauschal als Agent*innen einer umfassenden Verschwörung erscheinen, ist bereitet.

Trügerische Hoffnungen?

Salomon Korn schreibt: „Das Phänomen des Antisemitismus ist so schwer zu fassen, weil es einem Chamäleon gleich seine Erscheinungsform ändert und unterschiedlichen Gegebenheiten anpasst.“ Jede*r, der*die sie verwendet, kann in der Formel „Du Jude“ seine*ihre persönlichen Ansichten spiegeln, sodass es unabhängig von der gängigen Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), der sich die deutsche Bundesregierung angeschlossen hat, schwer ist, Antisemitismus konkret zu definieren. Dies belegt beispielsweise die gängige Rücknahme der Beschimpfung mit den Worten, habe man*frau ja nicht so gemeint, die natürlich alles andere ist als die eigentlich erforderliche Entschuldigung.

Die gängigen Maßnahmen, von denen offiziell und offiziös behauptet wird, sie wirkten präventiv gegen die weitere Verbreitung von Antisemitismus, werden in dem Sammelband eine nach der anderen dekonstruiert. Dies bedeutet nicht, dass all diese Maßnahmen – vom Besuch einer Gedenkstätte bis hin zu Begegnungen einer Schulklasse mit Jüdinnen*Juden im Unterricht – sinnlos und in toto wirkungslos wären, lässt aber die Schlussfolgerung zu, dass vieles, was getan wird, nur halbherzig geschieht. Harry Schnabel: „Es reicht nicht, wenn sich die Politik im Rahmen alljährlicher Gedenkveranstaltungen bei jüdischen Gemeinden dafür bedankt, dass es in Deutschland wieder aktives jüdisches Leben gibt und dass dies als Geschenk empfunden wird.“ Wer ist denn hier für was verantwortlich? Eine weitere Rückdelegation: die Juden*Jüdinnen sind auch noch dafür zuständig, Antisemitismus zu bekämpfen.

Die Tatsache, dass in den 1990er Jahren viele Jüdinnen*Juden aus der damaligen Sowjetunion nach Deutschland einwandern konnten, hat in der Tat jüdisches Leben in Deutschland belebt. Ich erlaube mir den kleinen Exkurs, dass wir dies – wie in der Autobiographie von Markus Meckel („Zu wandeln die Zeiten – Erinnerungen“, Leipzig, Evangelische Verlagsanstalt, 2020) nachzulesen – einer Entscheidung der nur kurze Zeit amtierenden demokratischen DDR-Regierung aus dem Jahr 1990 verdanken, deren Umsetzung die damalige westdeutsche Bundesregierung unter Helmut Kohl massiv behinderte, aber letztlich nach dem 3. Oktober 1990 nicht rückgängig machen konnte.

Auch mit dem Festjahr „2021 – Jüdisches Leben in Deutschland“ verbinden sich viele Hoffnungen, doch zeigen die 1700 Jahre wechselvoller Geschichte in ihrem Wechsel von Phasen der Akzeptanz jüdischen Lebens und Phasen der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung in der europäischen Region, die heute als Deutschland bezeichnet wird, dass es kaum ausreichen dürfte, sich auf die Wirkung von Festtagen zu verlassen, selbst wenn sie ein ganzes Jahr dauern. Antisemit*innen schlafen nicht, und so weist Harry Schnabel mit Recht auf die neuerlich wieder populären Verschwörungstheorien hin, die durchaus an das Muster der „Protokolle der Weisen von Sion“ erinnern, auch wenn inzwischen nicht mehr Rabbiner, sondern Finanz- und Wirtschaftsmagnaten wie George Soros und Bill Gates (der kein Jude ist, aber von Anhänger*innen aktueller Verschwörungstheorien als solcher gelesen wird) als Haupttreiber betrachtet werden.

Doch was wissen wir wirklich, was tun wir? Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter auf Bundesebene, fordert im Sinne von Ignaz Bubis, „Vergangenheit und Zukunft zu verbinden“ und sieht das Festjahr als Chance, stellt aber auch die berechtigte Frage, warum in der Schule neben den Buddenbrooks nicht auch Gabriele Tergits „Die Effingers“ gelesen werde. Dieses Buch sei 1946 als “Jahrhundertroman“ bezeichnet worden und wurde 2019 wieder aufgelegt. Es ließen sich viele weitere Beispiele finden, die die Präsenz und Wirkung jüdischer Kultur in Deutschland belegten. Doch reicht es aus, diese anlassbezogen mehr oder weniger kenntnisreich und enthusiastisch zu zitieren?

Antisemitismus ist keine Meinung

Greta Zelener, zurzeit Doktorandin an der Humboldt Universität zu Berlin, ist 1996 aus der Ukraine nach Deutschland eingewandert. Sie wurde von Sharon Adler, Fotografin, Journalistin und Herausgeberin von AVIVA Berlin interviewt. Ihr Statement: „Nie wieder? Es war nie weg“. Sie sagt: „Nach diesem Satz müssen Handlungen folgen, jeder und jede muss sich Antisemitismus entgegenstellen, jeder und jede, wo er oder sie kann.“ Sie thematisiert das Gefühl der ständigen Bedrohung, das Jüdinnen*Juden (nicht erst) seit dem Mordanschlag vom 9. Oktober 2019 in Halle an der Saale verunsichert. Einmalige Veranstaltungen helfen wenig, erforderlich ist „Routine“: „Wiederholungen sind das, was unser Leben letzten Endes am meisten prägen. Wie sollten diese Wiederholungen angelegt sein, um langfristig zu wirken? Diese müssen mit wahrnehmbaren Emotionen gekoppelt werden. Längst ist wissenschaftlich bewiesen, dass Erfahrungen, die mit starken Emotionen geknüpft werden, langfristig auf uns wirken.“

Doch wie kann dies gelingen? Thomas Krüger und Simon Lengemann benennen die Defizite in der politischen Bildung und fordern, „das Spezifische des Antisemitismus gegenüber anderen Formen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit heraus(zu)arbeiten. (…) Anstatt durch vermeintliche Integrationsangebote an einzelne Gruppen Opferkonkurrenzen zu befeuern, sollte politische Bildung daher Verflechtungen thematisieren sowie die Potenziale intersektionaler Ansätze, gegenseitiger Solidarität und gemeinsamer Emanzipation der Marginalisierten – und Privilegierten! – als Individuen in ihrer multidimensionalen Vielfalt aufzeigen.“ Thomas Eppenstein verweist auf ein gängiges Missverständnis des Beutelsbacher Konsenses, der keineswegs „Neutralität“ gebiete, sondern Kontroversen einfordere, diese selbstverständlich – obwohl das leider nicht so selbstverständlich ist – im Geiste der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Antisemitismus ist keine Meinung, die gleichberechtigt neben anderen stünde, wohl aber muss Antisemitismus definiert, diskutiert, in seinen verschiedenen Ausprägungen analysiert und vor allem müssen Lehrende – und nicht nur diese – gegen antisemitische Einlassungen intervenieren.

Dazu bedarf es aber auch eines entsprechenden Bewusstseins bei Lehrenden. Marina Chernivsky und Friederike Lorenz haben in ihren Studien die Grenzen, die sich bei Gesprächen mit Lehrenden zeigten, dokumentiert. Deborah Krieg, Referentin an der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main zitiert eine Lehrkraft, die gegenüber einem libanesischen Schüler, der sich zur israelischen Besatzung im Westjordanland äußerte, sagte: „Als Libanese darfst du das so sagen. Wir Deutschen müssen da vorsichtiger formulieren.“ Geht es wirklich nur um Formulierungen? Im Grunde hat diese Lehrkraft den Schüler, und die Klassenkamerad*innen gleich mit, in seiner Auffassung bestätigt. Ohne es zu merken.

Weitere Hinweise vergleichbarer Art ließen sich zitieren. Ich zitiere ein nicht im Buch aufgeführtes Beispiel, das belegt, dass auch bei Verantwortlichen für Forschungsförderung und Schulbuchmacher*innen jedes Bewusstsein für antisemitische Texte zu fehlen scheint. Der Berliner Tagesspiegel dokumentierte im Oktober 2020 die Aufdeckung der Förderung von palästinensischen Schulbüchern durch die EU, u.a. mit deutschen Steuergeldern, ungeachtet der darin enthaltenen antisemitischen Inhalte, sowie deren positive Begutachtung durch das renommierte Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung (www.gei.de). Eine kleine „Kostprobe“: „Fand man in früheren Auflagen noch Hinweise auf vergangene Friedensbemühungen und diplomatische Annäherungen, fehlen diese in den aktuell gültigen Bänden. Dafür ziehen sich die vermeintliche Boshaftigkeit der Juden und die Notwendigkeit, sie aus der gesamten Region zu vertreiben, wie ein roter Faden durch sämtliche Jahrgänge. Dabei werden auch historische Fakten verdreht. / Die Klagemauer in Jerusalem wird als rein islamische Stätte präsentiert (‚ausschließlich die Gläubigen Allahs haben ein Anrecht darauf‘), die Vorstellung, sie habe irgendeine Bedeutung für das Judentum, gründe auf einem Täuschungsmanöver der Juden. Diese hätten nach 1967 zum Schein ein paar Steine der Mauer geraubt und diese durch Fälschungen ersetzt, damit es aussehe, als habe es hier bereits früher jüdisches Leben gegeben.“ 

Durchgängig gefährlich: Gelegenheitsantisemitismus

Der Sammelband enthält Erfahrungsberichte aus Religions- und Geschichtsunterricht, aus dem Besuch von Gedenkstätten. Thema sind „Sprachgebrauchsmuster“ (Monika Schwarz-Friesel), „Diskursverschiebungen“ (Matthias J. Becker), „Tradition, Mythen und Emotionen“ (Michael Blume), der Zusammenhang von „Erziehung zur Mündigkeit und Kritik des Autoritären“ im Sinne Theodor W. Adornos sowie die „Verwechslung von Konservativismus und Autoritarismus“ von Carl Schmitt bis Bernhard Bueb (Micha Brumlik), die christlichen Traditionen der Vergangenheit sowie die Distanzierungen der Kirchen in den 2010er Jahren (Christian Staffa). Vorgestellt wird von Deviş Hısarci, Antidiskriminierungsbeauftragter in Berlin, die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus mit ihrem Methodenkatalog.

Stefanie Schüler-Springorum gibt einen Überblick über den Stand der Antisemitismusforschung, ihr Fazit: „Insgesamt lässt sich feststellen, dass seit 1945 so furchtbar viel Neues nicht hinzugekommen ist, sieht man einmal von der Kritischen Theorie ab, deren Zusammendenken von Gesellschafts- und Psychoanalyse sich nicht umsonst gerade in den letzten Jahren einer gewissen Renaissance erfreut.“ Dennoch bedürfe es weiterer Forschung, denn wir wissen nicht, welche Maßnahmen gegen Antisemitismus funktionieren und welche nicht, denn „entgegen aller Fortschritts- und Bildungsgläubigkeit haben die letzten Jahre bewiesen, dass der Antisemitismus – und nicht nur er – durchaus wieder virulent werden kann.“ Im Anschluss an Abraham Lehrer fragt sie, warum wir uns nicht um die „20 % Gelegenheitsantisemiten“ kümmern.

Andreas Zick und Beate Küpper konkretisieren dies am Beispiel der Ergebnisse ihrer Bielefelder Mitte-Studien, die in der Tat die relativ stabile Präsenz von „Gelegenheitsantisemiten“ belegen, und sprechen vom „Mythos der Aufarbeitung“. Eines der grundlegenden Defizite der Aufarbeitung ist das Schweigen „über die Vergangenheit in der eigenen Familie“. Täter*innen gab es offenbar dort nicht, nur Opfer. Julia Bernstein, Florian Diddens, Marina Chernivsky und Friederike Lorenz stellen ihre jeweiligen Schulstudien vor, Monika Schwarz-Friesel die Ergebnisse ihrer Untersuchungen zum Antisemitismus im Internet.

Christiane Thompson, Andreas Eberhardt und Luisa Maria Schweitzer verschiedener die Rezeption verschiedener Antisemitismus-Studien in Bildungsprozessen aus. Christiane Thompsons Fazit: „Wenn Adorno in seinem Radiovortrag eine Autoritätsgebundenheit in Kultur und Gesellschaft kritisiert, so lässt sich diese Kritik gerade auch auf den pädagogischen Umgang mit Antisemitismus und Autoritarismus in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft beziehen.“ Andreas Eberhardt und Luisa Maria Schweizer kritisieren, auch im Anschluss an die MEMO-Studien, „dass das Problem des Antisemitismus oftmals nur situativ und nicht als Kontinuum wahrgenommen wird.“ Ein durchgängiges Thema ist die Frage nach der Rolle von Emotionen und der „Technik“ als „Träger der organisierten Handlung“. Christiane Thompson: „Die Menschen legen ihren Subjekt-Status ab, um sich in den technischen Apparat einzufügen.“ (Zur Rolle der Emotionen zu empfehlen wäre ein Blick in das von Stefanie Schüler-Springorum und Jan Süselbeck herausgegebene Buch „Emotionen und Antisemitismus – Geschichte – Literatur – Theorie“ (Göttingen, Wallstein, 2021), hierzu auch meinen Text „Cluster des Ressentiments“. Monika Schwarz-Friesel bietet in ihrem Lehrbuch „Sprache und Emotion“ (Erstauflage 2007, zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage 2013, Tübingen, Narr Francke Attempto Verlag) darüber hinaus viele konkrete Vorschläge für Bildungsprozesse in Schule, Hochschule und Weiterbildung, die sich einfach in Unterrichtsreihen und Arbeitsblätter verwenden ließen.)

Christian Staffa, EKD-Beauftragter für den Kampf gegen Antisemitismus, beschreibt die Ambivalenz kirchlicher Aufarbeitung. Auf der einen Seite gibt es die Erklärung der EKD 2015 zum Antisemitismus Martin Luthers im Rahmen des Reformationsjubiläums sowie die 2011 verkündete Abwehr der Judenmission, auf der anderen Seite sagen die Kirchen nichts dazu, „warum denn in der Kirchengeschichte es zu dieser gewaltförmigen Negativsicht auf das Judentum gekommen ist.“ Eine solche Aufarbeitung wäre sicherlich (auch im Religionsunterricht!) hilfreich, um die gängigen Sprachbilder zu dekonstruieren. „Die schiere Existenz des Judentums war den Kirchen in ihrer Geschichte – und auch das gilt nicht selten bis heute – eine narzisstische Kränkung. Die eigene Unsicherheit, der eigene Unglaube, in christlicher Sprache auch Sünde genannt, wird der fortwährenden Existenz des Judentums in gewaltförmiger Umkehrung zugewiesen. Deshalb ist das Judentum immer das je phantasierte machtvolle und falsche Andere. Das übrigens unterscheidet Antisemitismus von Rassismus, bei dem auch phantasiert und projiziert wird, aber nicht als das machtvolle Andere, sondern als das schwache Andere, an dem sich die eigene Überlegenheit beweist.“

Nathan Sznaider schreibt ausführlich über die Komplexität der Debatten um Legitimität und Handeln Israels. Er spricht von der „Falle der Kritiklegitimationsdebatte“ und bezieht sich auf die Konkurrenz der beiden „große(n) moralische(n) Narrative des 20. Jahrhunderts“, den Holocaust und den Kolonialismus, die auch die Debatte um Achille Mbembe erkläre: „Das sind keine wissenschaftlichen, sondern interessengeleitete politische Debatten (…)“. Sein Fazit: „Die Konsequenzen, die die Juden für Israel aus dem Versagen des nationalstaatlichen Völkerrechts zogen, zielen aber nicht auf eine Delegitimierung des Nationalstaates, sondern auf Souveränität und die militärische Fähigkeit, sich zu wehren. (….) Das kompliziert die Debatten über Israel und Antisemitismus.“ Möglicherweise ließe sich diese Komplexität leichter erfassen, wenn die Konferenz von Evian im Jahr 1938 regelmäßiges Thema im Unterricht würde. Es ist erschütternd, wie sich die dort teilnehmenden Staaten, aus der Verantwortung stahlen. Ich empfehle die Lektüre des Buches von Jochen Thies „Evian 1938 – Als die Welt die Juden verriet“ (Essen, Klartext Verlag, 2017). Der andauernde Streit um die Aufnahme Geflüchteter in der Europäischen Union erscheint in diesem Licht durchaus als Déjà-Vu.

Die Hoffnung des Regenbogens und die Corona-Pandemie

Eine Hoffnung formuliert Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter des Landes Baden-Württemberg. Er fordert eine „reflektierte ‚semitische‘ Bildung gegen Antisemitismus“: „So komme ich also zum Gesamtergebnis, dass nicht jede Form formaler Bildung vor Antisemitismus schützen kann, sondern dass wir einen Bildungsbegriff brauchen, der sich seiner im besten Sinne semitischen, biblischen und jüdischen Wurzeln bewusst ist. (…) / Der Semitismus betont die Verknüpfung kognitiver und emotionaler Bildung, wie sie in Fortschrittsorientierung, Zukunftshoffnung und schon im linearen Kalender ihren Niederschlag findet: Am Ende wird es gut – und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende. Der Antisemitismus behauptet dagegen ein historisch unhaltbares, mythisch verklärtes ‚Früher‘, das es gegen eine von den Juden ausgehende Modernisierung, Verschwörung und Bedrohung zu verteidigen gelte. / Der Semitismus avisiert – im Bundessymbol des Regenbogens und im Buch, das Moses direkt vor dem Empfang der Thora auf dem Sinai verliest – eine Welt, in der Menschen auf rechtsstaatlicher Basis friedvoll, gleichberechtigt und vielfältig miteinander leben und forschen können.“

Ob dieser Optimismus gerechtfertigt ist? Eine von RIAS Berlin herausgegebene Studie dokumentiert Erfahrungen von Jüdinnen*Juden während der COVID-19-Pandemie. Der Bericht enthält Hinweise auf die Entwicklung in sechs Bundesländern. Drei beispielhafte Einschätzungen: „So gab der Rapper und Buchautor Ben Salomo gegenüber RIAS Berlin zu Protokoll, er halte die Coronapandemie in Bezug auf Antisemitismus für einen ‚Brandbeschleuniger‘. Ähnliches beobachtete Alexandra Poljak, Vorstandsmitglied im Verband jüdischer Studenten Bayern (VJSB). Sie sagte gegenüber RIAS Bayern: ‚Ich finde das gruselig, gleichzeitig wundert es mich nicht. Sobald etwas auftaucht, was den Menschen Angst macht, weil es unklare Folgen hat, suchen sie nach Erklärungen und Schuldigen. Unabhängig davon, ob es diese gibt oder nicht. Als jüdische Person wusste ich bereits von Anfang an, dass Corona antisemitische Verschwörungsmythen mit sich bringen wird.‘ Judith Neuwald-Tasbach, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, sprach mit SABRA über alte, antisemitische Muster, die sie auch in Zeiten der Covid-19-Pandemie erkenne: ‚Juden werden zu Sündenböcken gemacht, es gibt doch tatsächlich die Aussage, dass Juden den Coronavirus in die Welt gebracht haben, um davon wirtschaftlich zu profitieren! Und ich musste mir schon zweimal anhören, dass angeblich Israelis am Flughafen in China oder in den Lagern der Hersteller von anderen Ländern bestellte und dringend benötigte Mundschutzmasken etc. einfach nach Israel ‚umleiten‘, also stehlen.‘“

In der Tat: das Virus Antisemitismus mutiert schnell und vielleicht schneller als jedes SARS-Virus mutieren könnte.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im April 2021, alle Internetlinks wurden am 15. September 2022 auf ihre Richtigkeit überprüft.)