Zivilcourage und Rechtsstaat

Ein Gespräch mit dem Rechtsanwalt Christoph Rückel

„Das ganze Drama, das sich zu Lebzeiten Fritz Bauers weithin im Verborgenen abspielte, wird dann erst Jahrzehnte später langsam aufgedeckt. Das ist verblüffend. So viele positive Identifikationsfiguren hat die deutsche Nachkriegsgeschichte nicht aufzuweisen. So viele Beispiele für Zivilcourage hat auch die Juristenschaft nicht.“ (Ronen Steinke, Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht – Mit einem Vorwort von Andreas Voßkuhle, München, Piper, 2014)

Eine der zentralen Figuren der Entführung Eichmanns aus Argentinien nach Israel war der Frankfurter Staatsanwalt Fritz Bauer. Er gab den entscheidenden Hinweis, schwieg jedoch bis zu seinem Tod darüber. Die Geschichte der Ergreifung und Verurteilung Adolf Eichmanns ist auch Gegenstand des bei Netflix verfügbaren Films „Operation Finale“, für den Ben Kingsley die Rolle Eichmanns übernommen hat. Christoph Rückel, Anwalt und Aufsichtsratsvorsitzender der Adolf-Rosenberger gGmbH, hat die Ausstellung „How To Catch A Nazi“ aus den USA nach München gebracht.

Die Ausstellung war der Anlass des hier dokumentierten Gesprächs. Aber wir sprachen nicht nur über die Ausstellung, sondern auch über Fragen der Rechtsanwendung im Rechtsstaat. Christoph Rückel vertrat die Nebenklage für Überlebende der Konzentrationslager in sechs Prozessen gegen NS-Täter, fünf Männer und eine Frau. Er ist oft Gast auf Podiumsdiskussionen über die Wirksamkeit des Rechtsstaates, zuletzt auch im Zusammenhang mit den Ereignissen nach dem 7. Oktober 2023. Brauchen wir schärfere Gesetze oder sollten wir einfach nur die vorhandenen Gesetze konsequent anwenden? Christoph Rückel lebt und arbeitet in München und hat ein Büro auch in Atlanta (Giorgia), seine Kanzlei ist auch in Düsseldorf präsent.

Rechtsanwendung gibt Rechtssicherheit

Norbert Reichel: Im November 2023 haben Sie in der Israelitischen Kultusgemeinde in München mit dem bayerischen Justizminister Georg Eisenreich über die Frage diskutiert, wie die Demonstrationen und anti-israelischen Übergriffe nach dem 7. Oktober 2023 zu bewerten seien und was der Staat tun könne, um Jüdinnen und Juden in Deutschland zu schützen. Es gibt aus den Kreisen der Politik eine Menge an Vorschlägen, die vom Verbot eines als pro-palästinensisch verstandenen Kleidungsstückes, der Kufiye, über das Verbot bestimmter Parolen bis hin zu einem Verbot anti-israelischer beziehungsweise propalästinensischer Demonstrationen reichen.

Christoph Rückel (links) im Gespräch mit David Schaefer aus Ohio, USA, Direktor des Maltz-Museums bei der Eröffnung der Ausstellung „How To Catch A Nazi“. Foto: Alessandra Brunner.

Christoph Rückel: Auf dieser Veranstaltung wurde heftig diskutiert. An der Diskussion hat sich neben Georg Eisenreich auch der Münchner Oberstaatsanwalt Franck beteiligt, Leiter der Antisemitismus-Abteilung beim Generalstaatsanwalt. Beide haben dargelegt, mit welchen Mitteln in Bayern eingeschritten wird und wie stark der Verfolgungseifer ist.

Zwei Positionen standen einander gegenüber. Die eine Position: Wir müssen hier und dort gesetzlich etwas ändern. Die andere Position – ich mache keinen Hehl daraus, dass ich diese auch aus meinen Erfahrungen in NS-Prozessen vertrete: Wir müssen überhaupt nichts ändern, wir müssen keine neuen Gesetze fordern, sondern müssen die bestehenden Gesetze gescheit anwenden. Ich habe immer einen Begriff ins Feld geführt: Die Rechtsanwendung muss besser erfolgen. Wir sollten aufhören, ständig nach neuen Gesetzen zu rufen. Das macht die Politik nicht glaubwürdiger. Das worum es geht, ist mit Gesetzen gut genug ausgestattet.

Also: Rechtsanwendung oder neue Rechte schaffen? Ich bin für Rechtsanwendung. Ich kann das mit Beispielen aus den NS-Prozessen begründen. In den NS-Prozessen der jüngsten Zeit hatten wir immer wieder die Diskussion in der Öffentlichkeit, mit Prozessbeobachtern, mit Prozessteilnehmern: Ist es überhaupt zeitgemäß, das Recht so wie es ist anzuwenden? Ich habe bei Studenten grundsätzlich immer gesagt, es gibt eine ganz einfache Anordnung in der rechtsstaatlichen Ordnung. Nummer Eins: Ist dies ein strafbares Verhalten? Nummer Zwei: Ist dieses strafbare Verhalten verjährt oder nicht? Ist es nicht verjährt, muss ich jemanden, unabhängig vom Alter, als Staatsanwalt anklagen. Wenn er angeklagt ist, das Verfahren eröffnet ist, muss das Gericht die Frage prüfen: Ist diese Person verhandlungsfähig? Bei den NS-Prozessen der letzten Zeit waren diese Personen alle über 90 Jahre alt. Das heißt: Kann diese Person aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation den Prozess durchstehen, ohne gesundheitlichen Schaden zu nehmen. In den sechs Verfahren, die ich als einer der vielen Nebenklägervertreter mitbetreut habe – es waren fünf Männer und eine Frau –, hat der hochqualifizierte Internist festgestellt, sie sind verhandlungsfähig, aber nicht mehr als zwei bis zweieinhalb Stunden pro Tag und nicht an zwei Tagen hintereinander, immer mit einem Tag Pause dazwischen. Daran haben sich die Richter gehalten. Das ist die zweite Stufe.

Erste Stufe: Verjährung. Zweite Stufe: Verhandlungsfähigkeit. Die dritte Stufe ist die Haftfähigkeit. Oskar Gröning wurde zu vier Jahren Haft verurteilt. Das Urteil wurde 2016 vom Bundesgerichtshof in der Revision bestätigt. Dann hat die Staatsanwaltschaft bestätigt, jetzt müssen Sie ihre Strafe verbüßen. Oskar Gröning hat dann über seinen Anwalt aus Hannover vorgetragen: „Ich bin nicht haftfähig.“ Man hat ihn untersucht und geprüft, ob er eingesperrt werden und dies ohne gesundheitlichen Schaden überstehen kann. Dabei muss man wissen, dass alle Justizvollzugsanstalten, die JVA‘s, wie Gefängnisse im eleganten Beamtendeutsch heißen, haben sehr ausgefeilte Krankenabteilungen und bieten eine gute Betreuung für kranke Menschen. Die ärztliche Untersuchung für Herrn Gröning hat ergeben, er ist haftfähig. Dann hat er – das ist aber eine Ebene, die im rechtsstaatlichen Verfahren nicht von Bedeutung ist – einen Gnadenantrag an den zuständigen Ministerpräsidenten gestellt, in dem Fall an Herrn Günther in Schleswig-Holstein. Er bat darum, seine Strafe nachträglich in eine Bewährungsstrafe umzuwandeln, weil er so alt und betagt war und im Wesentlichen – das muss man auch berücksichtigen – geständig war. Das Gnadengesuch wurde abgelehnt. Die rechtsstaatlichen Stufen und die Gnadenstufe sind alle durchgespielt worden. Er hätte einrücken müssen, aber kurz zuvor ist er verstorben. Das ist ein praktischer Fall, der zeigt, wie ein solches Verfahren rechtsstaatlich gelaufen ist.

Norbert Reichel: Dieses rechtsstaatliche Verfahren lässt sich auf alle anderen Tatbestände übertragen. Ich habe den Eindruck, Politik unterscheidet da nicht immer so sauber beziehungsweise sieht Unterschiede wo keine sind. Ich nenne jetzt mehrere Fälle: Die Blockaden durch die Letzte Generation, die Angriffe auf Jüdinnen und Juden nach dem 7. Oktober, die aktuellen Blockaden von Landwirten mit ihren Traktoren.

Christoph Rückel: Ich habe das Beispiel aus den NS-Prozessen genannt, um zu begründen, dass es dort um die Rechtsanwendung ging. Bei den Demonstrationsfällen geht es auch um die Rechtsanwendung. Ich bin auf diese Fälle nicht im Einzelnen spezialisiert, aber ich kann Folgendes sagen. Es betrifft grundsätzlich zwei Rechtssphären. Wir unterscheiden ja zwischen unterschiedlichen Rechtsgebieten, Zivilrecht, Strafrecht, Verwaltungsrecht, Sozialrecht, Steuerrecht und so weiter. Das Verhalten der Letzten Generation betrifft einerseits das Strafrecht, wenn ich auf der Straße sitzen bleibe und nicht gehe, obwohl ich aufgefordert werde. Dann komme ich in den Verdacht des Widerstands gegen die Staatsgewalt. Hausrecht würde ich nicht sagen. Aber die vorgeschaltete Ebene betrifft das Verwaltungsrecht, in diesem Fall das Versammlungsrecht. Das ist eine grundgesetzliche Freiheitsgarantie. Beim Verwaltungsrecht haben die zuständigen Behörden, zum Beispiel die Autobahnbehörde oder die Freie und Hansestadt Hamburg, die Landeshauptstadt München, zu entscheiden, ob der Antrag auf Genehmigung einer Demonstration abgelehnt wird.

Solidaritätsdemonstration für Israel am 9. Oktober 2023 auf dem Münchener Odeonsplatz. Foto: Henning Schlottmann. Wikimedia Commons.

In München ging es am 8. Oktober zunächst um eine Veranstaltung, an der ich auch teilgenommen habe, der – so nenne ich es – Freunde und Sympathisanten Israels. Sie haben sich vor dem denkwürdigen Ort am Odeonsplatz, vor der sogenannten Feldherrenhalle, getroffen und haben Israelfahnen geschwenkt. Der Antisemitismusbeauftragte, Herr Spaenle, hat gesprochen, auch die Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde, Frau Knobloch. Eine Stunde zuvor gab es eine nicht genehmigte Demonstration, die ich teilweise aus meinem Kanzleifenster beobachten konnte. Etwa 100 bis 200 zumeist jüngere Menschen gingen schweigend durch die Kardinal-Faulhaber-Straße in die Brienner Straße, mit Trommeln. Man konnte sehen, dass sie Baklava dabeihatten, die sie verteilten. Das war da schon aus der Berliner Sonnenallee bekannt, dass das ein Zeichen der Hamas- beziehungsweise Palästinenserfreunde war. Es gab aber keine Transparente. Auf der Veranstaltung auf dem Odeonsplatz, gegen 18 Uhr, wurde darüber gesprochen, dass diese Demonstration zum Marienplatz gezogen sei. Oberbürgermeister Reiter hat gesagt, wir werden jetzt diese Palästinenserdemonstrationen verbieten. Damit sind sie jedoch nicht durchgekommen, sie konnten sie nicht verbieten. Darauf gingen sie auf eine andere Schiene, die wiederum mit dem Strafrecht zu tun hat. Werden Symbole gezeigt, deren Zeigen mit Strafe bedroht ist? Im Strafgesetzbuch gibt es einen Katalog. Hakenkreuze gehören dazu, palästinensische Fahnen nicht.

Aber die Mischung von Verwaltungsrecht und Strafrecht ist hier interessant. Politiker sagen auf ihren Feiertagsdemonstrationen immer wieder, wir müssen das Gesetz schärfer machen. Da bleibe ich auf meinem Standpunkt: Wendet das Recht richtig an. Wenn eine Demonstration beantragt wird, können bestimmte Auflagen erlassen werden. Natürlich kann niemandem verboten werden, pro Palästina – auch wenn Palästina kein Staat ist, kann man „pro Palästina“ sagen – zu demonstrieren. Das muss erlaubt sein. Wenn es um Hamas-Zeichen geht – die Hamas ist für mich eine terroristische Vereinigung –, da muss die Juristerei handeln, aber da ist sie schwer zu handhaben, weil sie so feingliedrig ist. Natürlich haben alle diese Organisationen clevere Juristen auf ihrer Seite, die die entsprechenden Anträge stellen, beim Verwaltungsgericht oder Verwaltungsgerichtshof einstweilige Verfügungen beantragen.

Wir müssen aber grundsätzlich feststellen. Wir haben ein brillantes rechtsstaatliches Instrumentarium, ein Tafelbesteck. Die Speisen, die damit zubereitet werden, schmecken nicht immer. Aber wir müssen für unsere Freiheit auch einen gewissen Preis bezahlen und eine gewisse Toleranz zulassen. Dass demonstriert wird, das ist ein Grundrecht, die Versammlungsfreiheit, darf auf gar keinem Fall angegriffen werden. In diesem Rahmen bewegt sich das: Rechtsanwendung oder Rechtsänderung. Die lauthalsigen Schreie der Politiker, um die Wähler ruhigzustellen, stimmen mich immer sehr skeptisch. Man sieht ja landauf, landab, dass der Umgang mit der Letzten Generation in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Natürlich muss man dabei auch sehen, dass das Festkleben auf der Straße nicht meinen Vorstellungen einer Demonstration entspricht. Aber dann sieht man Autofahrer, LKW-Fahrer, die aussteigen und die Leute auf der Straße verprügeln oder wegschubsen. Das geht nicht. Das ist Selbstjustiz. Das ist nicht erlaubt. Der Rechtsstaat muss in jedem Fall bewahrt bleiben. Das ist mein Postulat, Rechtsanwendung, bitte korrekt und das durchgängig.

Norbert Reichel: Im konkreten Verhalten sieht man sicherlich den Unterschied zwischen einigen wenigen Menschen, die sich auf der Straße festkleben, und einer Gruppe von Bauern, die mit ihren Traktoren eine Auffahrt blockieren. In einem Fall wurde berichtet, dass der Fahrer eines Sattelzuges dann über die Autobahnabfahrt auffuhr, damit sich zum Geisterfahrer machte und zumindest gegen das Straßenverkehrsrecht verstieß. Die Polizei muss natürlich auch dafür sorgen, dass jede genehmigte Demonstration ordentlich und unbehelligt durchgeführt werden kann, auch dann, wenn unappetitliche Parolen gerufen oder Transparente getragen werden.

Christoph Rückel: Und wenn unappetitliche Äußerungen da sind, muss man dagegen vorgehen. Da heißt es dann immer, die Gerichte müssten schnell entscheiden. Das Instrumentarium der Strafprozessordnung lässt zu, dass eine Anklage im sogenannten Schnellverfahren am nächsten Tag verhandelt wird. Man braucht einen Richter, einen Staatsanwalt, einen Strafverteidiger, einen Gerichtssaal. Es geht darum, die Strafprozessordnung anzuwenden und nicht ein Jahr zu warten und dann zu sagen, ist jetzt schon so spät, da lassen wir die mal wieder nach Hause zu gehen. Da muss die Justiz ihre Krallen zeigen und das Recht anwenden. Recht bleibt Recht.

Zivilcourage im Alltag

Norbert Reichel: Welche Argumente tragen diejenigen vor, die für gesetzliche Verschärfungen eintreten? Auf der zu Beginn genannten Veranstaltung saßen Sie dem bayerischen Justizminister Eisenreich und Oberstaatsanwalt Frank gegenüber.

Christoph Rückel: Beide haben zart einige Fragmente angesprochen, die einer Vertiefung bedürfen. Sie haben keine radikalen Änderungen verlangt. Ich persönlich bin der Meinung, dass das alles nicht notwendig ist. Sind die Änderungen gemacht, kommen wieder neue Vorschläge. Sie überzeugten auch nicht in der Weise, in dem sie einen Straftatbestand darstellten, der völlig neu und noch nie Gegenstand des Strafgesetzbuchs gewesen wäre. Das, was sie vorschlugen, sind alles Adjustments, kleine Veränderungen. Es ist aber auch von den beiden deutlich gesagt geworden, dass die Anzahl der antisemitischen Straftaten im vergangenen Jahr deutlich gestiegen ist.

Norbert Reichel: Das ist seit einigen Jahren leider Trend.

Christoph Rückel: Die Zahlen haben die beiden geliefert, die sind nicht erfreulich. Ich habe mir auf der anderen Seite einmal die Frage gestellt: Was sagt es uns als Gesellschaft, dass wir in jedem Bundesland einen oder mehrere Antisemitismusbeauftragte haben? Ich habe in einer Veranstaltung am23. November 2023 mit der früheren Bundesjustizministerin Frau Leutheusser-Schnarrenberger, heute Antisemitismusbeauftragte in Nordrhein-Westfalen, und dem bayerischen Staatsminister der Justiz Herrn Eisenreich gefragt: Ist es nicht ein Zeichen unserer Schwäche, dass wir überhaupt Antisemitismusbeauftragte etablieren mussten?

Norbert Reichel: Eine berechtigte Frage, aber das heißt natürlich nicht, dass wir es nicht tun sollten. Der vom ehemaligen Innenminister Horst Seehofer eingesetzte Expertenkreis Muslimfeindlichkeit hat in seinem im Herbst 2023 vorgelegten Bericht beschrieben, dass wir im Bereich der Muslimfeindlichkeit ähnliche Entwicklungen hätten. Zumindest Meldestellen wären erforderlich.

Christoph Rückel: Wir haben Nachholbedarf. Andererseits: Peter Gutmann, ein jüdischer Anwaltsfreund von mir, Mitglied des Vorstands der Israelitischen Kultusgemeinde hat die Frage gestellt: Wer weiß denn hier im Raum, wie viele jüdische Menschen wir in Deutschland haben? Die Frage fand ich schon sehr interessant. Kennen Sie die?

Norbert Reichel: Die Zahl liegt etwa bei 200.000, davon sind etwa 110.000 bis 120.000 Mitglieder örtlicher jüdischer Gemeinden. Etwa 80 bis 85 Prozent haben einen migrantischen Hintergrund, aufgrund der zu Beginn der 1990er Jahre ermöglichten Zuwanderung von Jüdinnen und Juden aus der damaligen Sowjetunion.  

Christoph Rückel: Genau diese Zahlen nannte auch Peter Gutmann. Das ist ein sehr sehr kleiner Teil der Bevölkerung. Die meisten wissen das nicht.

Norbert Reichel: Ich habe schon des Öfteren gefragt, wie viele Jüdinnen und Juden 1933 im damaligen Deutschen Reich gelebt hätten. Es werden immer Zahlen irgendwo zwischen 15 und 25 Prozent genannt. Die Wahrheit lag bei 0,9 Prozent. Interessant ist, dass in solchen Fragen die Zahl der Jüdinnen und Juden immer überschätzt wird. Es ist übrigens bei Musliminnen und Muslimen ähnlich. Auch diese Zahl wird immer überschätzt, weil grundsätzlich alle orientalisch gelesenen Menschen automatisch als Muslime gelesen werden, obwohl viele Christen, Jesiden, Baha’i, Drusen, manche auch Juden sind. Die Bedrohungslage hat natürlich mit der Zahl nicht zu tun. Da wird Juden die Kippa heruntergerissen, einer Muslimin das Kopftuch, es werden Hakenkreuze oder Davidsterne an die Wohnung geschmiert. Das Gefühl der Bedrohung ist inzwischen bei Jüdinnen und Juden sehr verbreitet, bei Musliminnen und Muslimen ist es die Sorge, pauschal als Antisemiten adressiert zu werden.

Christoph Rückel: Wenn ich mit Studenten in Bonn an der Juristischen Fakultät über die Nazi-Prozesse spreche, sprechen sie regelmäßig ein Diskussionsthema an: Was soll man tun? Ich gehöre zu denjenigen, die lieber sagen, lass uns etwas tun, statt zu sagen, das darf nicht wieder passieren.

Ich erinnere mich daran, dass ich – etwa um 2019 – im Internet ein Video sah, einen Vorfall in einer Trambahn in Jena oder in Erfurt, aufgenommen mit einem Handy. Da saß ein junger Mann mit dunklen Haaren, der eben nicht – um es mal so auszudrücken – wie ein blonder Deutscher aussah. Herein kam ein schrecklicher Mensch mit der Attitüde eines Neo-Nazis, schlägt grundlos auf den jungen Mann ein, sagt etwas, das man nicht verstehen konnte, nimmt das Handy des jungen Mannes, wirft es auf den Boden und zertrümmert es. Dieser Vorfall wurde mit einem Handy gefilmt. Aufgrund des Videos konnte der Täter ermittelt und einer strafrechtlichen Verfolgung zugeführt werden, um es einmal Amtsdeutsch auszudrücken.  

Ich sage, dieses Video ist symptomatisch für unsere Gesellschaft. Da wird ein Video aufgenommen, aber da ist niemand in der Bahn aufgestanden und dem jungen Mann zur Hilfe gekommen. Das zeigt das Video genau so deutlich. Mein Lieblingswort ist Zivilcourage. Wo ist sie?

Da ist jeder einzelne gefragt. Es gibt immer tolle Beispiele. Ein Fall, nach meiner Erinnerung in Würzburg. Ein junger Mann, Asylbewerber in Deutschland, hat mit einer Latte oder einem Stuhl einen Angriff abgewehrt und sich dazwischengeworfen. Das gibt es immer mal wieder. Das ist ja durchaus auch riskant. Zivilcourage heißt aber auch, dass ich einen Standpunkt beziehe, auch in der privaten Unterhaltung.

Ich vergesse nie, wie vor über 30 Jahren eine Mandantin von mir, eine vermögende, gut gestellte Dame, mit dem Flugzeug nach München kam. Wir waren zu einer Besprechung in meiner Anwaltskanzlei verabredet. Sie hatte sich etwa eineinhalb Stunden verspätet, sie hatte nicht angerufen, aber ich wusste, sie würde kommen. Ich habe gefragt, was da los war. Sie sagte, sie sei mit einem Taxi vom Flughafen gefahren. Während der Fahrt erzählt der Fahrer ihr saublöde Türkenwitze. Ich frage, was sie gemacht habe. Sie sagte, sie habe dem Taxifahrer gesagt, er solle sofort anhalten, sie würde aussteigen, er bekäme keinen Pfennig von ihr, sie halte die Hand hoch und hole sich auf der Straße ein anderes Taxi. Die Aktion hat mir so gut gefallen. Daran kann man sich ein Beispiel nehmen. Eine Frau, die ich von ihrer Eleganz und von ihrem privaten Vermögen nie so eingeordnet hätte. Sie hat es einfach gemacht, ohne jede Öffentlichkeit. Das ist es, was ich fordere, dass die Menschen mehr Zivilcourage zeigen und das auch umsetzen.

Norbert Reichel: Sie sprachen eben an, dass Zivilcourage auch riskant sein könne. In der Tat besteht die Gefahr, dass ich, wenn ich einschreite, ein Messer im Bauch habe. Wenn es so wäre, dass man in einer Gruppe reagieren könnte, wäre das möglicherweise anders, aber Gruppe gegen Gruppe kann auch sehr unangenehm werden. Das antworten mir Menschen oft genug, wenn ich sie so anspreche wie Sie das gegenüber Ihren Studenten getan haben.

Christoph Rückel: Es gibt den Satz: Wehret den Anfängen. Wie oft werden Dinge nur im Stammtischgespräch erwähnt und niemand sagt etwas? Da wird ein Türkenwitz, ein Judenwitz, ein Araberwitz erzählt. Diese Worte sind diskriminierend und ausgrenzend. Da ist kein Messer im Raum.

The Nazis couldn’t destroy their names

Während der Eröffnung der Ausstellung „How To Catch A Nazi“. Gespräch mit der Shoah-Überlebenden Eva Erben. Ihr Gesprächspartner ist Marcel Reif. Foto: Alessandra Brunner.

Norbert Reichel: Sie haben recht, da fängt das an. Wenn bestimmte Worte akzeptiert zu werden scheinen, folgen irgendwann auch die Taten. Als Vertreter der Nebenklage in NS-Prozessen haben Sie Menschen vertreten, die unter den Taten, die den Worten folgten, litten, Taten, die als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bewertet werden müssen.

Christoph Rückel: Das Faszinierende und Berührende an den Geschichten, die die Überlebenden, die Survivors, erzählen, gleichviel ob sie Auschwitz, Stutthof, Theresienstadt überlebten, welches Konzentrationslager auch immer, ist, dass jede Geschichte eine andere ist, aber dass allen gemeinsam ist, dass immer dann eine große Aufregung entstand, wenn es darum ging, dass sie eine Woche später an einem bestimmten Tag im Gerichtssaal auftreten und dass sie so betroffen sind, auch wenn das Erlebnis 70 Jahre und mehr her ist. Wenn sie dann ausgesagt hatten und einem Tatverdächtigen gegenübersitzen, das waren in den letzten Prozessen in der Regel einfache Wachtmeister, empfanden sie ein befriedigendes Gefühl. Das ist die große Gemeinsamkeit, aber wie gesagt: Jede Geschichte ist eine einzelne besondere Geschichte.

Ich erinnere mich an die Geschichte einer Mandantin, die leider vor Gericht nicht mehr auftreten konnte, weil sie gesundheitlich nicht mehr fit genug war. Sie ist mittlerweile verstorben, sie lebte in Atlanta in Georgia. In Vorbereitung des Hamburger Stutthof-Prozesses habe ich mit ihr gesprochen, um ihre Geschichte im Gerichtssaal wiedergeben zu können. Ich habe sie in Anwesenheit ihrer Tochter und ihrer Enkelin gefragt: Channa, warum hast du überlebt? Sie grinste, diese Leute haben einen unbeschreiblichen Charme und eine Leichtigkeit nach dem, was sie alles durchgemacht haben, sodass man fassungslos dasteht und fragt, wie geht das? Sie sagte: Da waren zwei Punkte. Das eine: „Ich war eine Näherin und hatte die Socken der SS-Männer zu stopfen.“ „I had to repair the socks of the SS-guys.” Und das zweite? „Ich habe mir geschworen, dass ich den Hitler überlebe und nicht der Hitler mich.“

Ich will es so sagen: Diese Selbstermutigung, diese selbstermutigende Willenskraft hat diese Menschen durch das Leben getragen und – so glaube ich – auch so alt werden lassen. Sie haben eine innere Kraft entwickelt, die unvorstellbar ist. Jeder Tag im Konzentrationslager, von dem sie berichtet haben, war so grausam, dass wir es uns nicht vorstellen können.

Norbert Reichel: Ich denke, das, was Sie sagen, charakterisiert viele Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, von denen viele in Schulen gegangen sind. Zuletzt wurde viel über Margot Friedländer geschrieben, die 102 Jahre alt ist und jetzt eine Stiftung gegründet hat. Es ist wohl eine ungeheure Selbstwirksamkeit, ein ungeheuer großes: Ich schaffe es trotzdem!

Christoph Rückel: Mit dieser Mandantin, von der ich eben sprach, habe ich noch etwas anderes erlebt. Ich kannte sie aus der Jüdischen Gemeinde in Atlanta, wo auch mein zweites Zuhause ist. Sie sagte mir in einem Nebensatz: „Die Nazis haben mir meinen Namen genommen und mir eine Nummer eintätowiert.“ Das blieb in meinem Kopf. Dann haben mich Journalisten, die eine Dokumentation machten, Journalisten von Spielberg, gefragt, ob ich mit ihnen in das Konzentrationslager Stutthof fahre. Sie haben auch teilweise mit meinen Mandanten gesprochen, um sich ein Bild zu machen. Wir fuhren nach Stutthof. Sie wissen, in den Konzentrationslagern wurden dicke Bücher geführt, Einlieferungsbücher. Die Menschen wurden wie eine Postsendung behandelt.

Norbert Reichel: Menschen wurden zu Gegenständen gemacht. Sie wurden in den NS-Dokumenten als „Stück“ bezeichnet.

Die Angeklagte im Prozess gegen weibliches Wachpersonal im Konzentrationslager Stutthof in Gdánsk vom 25. April bis zum 31. Mai 1946. Wikimedia Commons.

Christoph Rückel: Genau so. Sie wurden auch so gezählt. Ich sagte zu der Historikerin in Stutthof, eine Polin, Frau Dr. Danuta Drywa, die auch über Stutthof promoviert hatte und auch immer wieder dazu veröffentlicht hatte: „Könnte ich bitte einmal das Einlieferungsbuch sehen, ich kenne die Nummer meiner Mandantin und weiß den Tag der Einlieferung im August 1944.“ Sie sagte ja, zieht weiße Handschuhe an, holt das Buch aus dem Regal, blättert, August 1944, und zeigt mir die Nummer meiner Mandantin und neben der Nummer stand der volle Name meiner Mandantin. Ich fragte, ob ich ein Handyfoto machen dürfe. „Sie können auch gerne eine Kopie haben.“ „Ein Handyfoto langt mir.“ Dieses Handyfoto habe ich Hilda, der Tochter meiner Mandantin, Amerikanerin, noch am gleichen Tag von Polen aus geschickt und dazu geschrieben: „Tell your mom she was not a number only, she also was registered with her full name. The Nazis couldn’t destroy her name.“ Einige Wochen später war ich wieder in Atlanta, habe sie besucht. Sie umarmte mich und sagte: „This was one of the best days of my life that you showed me that the Nazis couldn’t extinguish my name.” Das werde ich nie vergessen. Als ich das erste Mal bei einem Vortrag in der Jüdischen Gemeinde in Atlanta war, kam jemand auf mich zu und sagte: „Christoph, du musst diese Dame treffen, sie ist eine Überlebende von Stutthof.“ Ich sagte, oh, sie dürfte die Eleganteste hier im Raum sein. Sie ging wie eine Grande Dame durch den Raum. Sie hat mir das Leben eher schwer als leicht gemacht, weil ich nicht verstanden habe, wie sie so leicht durch das Leben gehen konnte. Sie ist vor ein paar Jahren im Alter von 94 oder 95 Jahren gestorben.

Die Geschichte von Hedi ganz kurz, eine Zeugin im Gröning-Prozess, Mandantin von Rechtsanwalt Walther. Sie lebt meines Wissens noch, in Kanada. Sie dürfte etwa 100 Jahre alt sein. Eine sehr elegante Lady. An einem Prozesstag habe ich mich mit ihr im Gerichtssaal unterhalten, weil ich auch immer Leute suche, mit denen ich etwas Englisch sprechen kann, und sie gefragt: „Wie war das für dich, jetzt von Kanada nach Deutschland zu fliegen?“ Sie sagte: „Das war das erste Mal nach dem Zweiten Weltkrieg, dass ich überhaupt nach Deutschland kam. Ich habe Angst gehabt. In mir steckt die Erfahrung des Konzentrationslagers.“ Das habe ich von vielen Mandanten so gehört. Anyway. Aber sie sagte: „Ich bin froh, dass ich gekommen bin und meine Geschichte erzählt habe, und ein Gericht mit jungen Richtern hat mir zugehört. Das fand ich gut.“ Ein paar Wochen später war die Urteilsverkündung. Sie war wieder im Gerichtssaal. Sie sagte: „Now it was easy to come to Germany. I see that you are still working on the Nazi-trials.” Die Tatsache, dass diese Prozesse noch heute zwar 70 Jahre zu spät durchgeführt werden – es werden wohl die letzten sein –, hatte für diese Dame eine ganz extraordinäre Bedeutung.    

Der Mut des Fritz Bauer

Norbert Reichel: In München haben Sie dafür gesorgt, dass eine Ausstellung über die Entführung Adolf Eichmanns aus den USA nach Deutschland geholt wurde. Diese Aktion ist nicht zuletzt mit dem Namen Fritz Bauer verbunden, der den israelischen Behörden bei der Identifikation des Ortes, an dem sich Eichmann aufhielt, einen entscheidenden Hinweis gegeben hatte.

Christoph Rückel: Das hat letztlich mit meinen Mandaten in den jüngsten Nazi-Prozessen zu tun, eine der Geschichten, die das Leben schreibt. In Atlanta gibt es einen Professor, der mir erzählte, seine Tante habe Stutthof überlebt und lebe in Cleveland (Ohio). Wir haben mit der Jüdischen Gemeinde in Cleveland (Ohio) Kontakt aufgenommen. Dort haben mein Kollege Stefan Lode und ich zu den Nazi-Prozessen in Deutschland gesprochen. Die Gemeinde war sehr interessiert. Im Gemeindesaal saßen etwa 200 Menschen, von denen etwa 30 oder 35 Überlebende des Holocaust waren. Das war für uns als Deutsche schon eine ganz besondere Situation. Wir hatten keine Scheu, aber das hat einen schon berührt. Wir wurden wie gute Freunde empfangen, es gab Kaffee und Kuchen nach deutscher Art. Im Zuge dieses Gesprächs habe ich das nebenliegende Maltzmuseum besucht, ein Museum, das die jüdische Familie Maltz, eine Verlegerfamilie, gesponsort hatte. Dort wurde gerade die Eichmann-Ausstellung eingepackt, um zum nächsten Ausstellungsort in den USA transportiert zu werden. Der Museumsdirektor, David Schafer, sagte zu mir: „Christoph, can you bring this to Germany.“ Ich: „Oh yes, no problem.“ Und damit fing mein Problem an.

Das war keine einfache Aktion. Darüber könnte ich stundenlang reden, aber dazu habe ich jetzt keine Lust mehr. Wir haben es schließlich geschafft und zeigen derzeit die Ausstellung in München. Wir mussten eine Menge verändern. Das war eine amerikanische Ausstellung. Alle Texte mussten ins Deutsche übersetzt werden. Wir mussten die Ausstellung mit einer Einführung und einem Nachwort rahmen, weil wir jetzt im Land der Täter waren, und haben großen Wert daraufgelegt, Fritz Bauer und auch Hannah Arendt, die Eichmann als „Hanswurst“ bezeichnet hat, in der Ausstellung mit einer Figur darzustellen. Die haben wir mit einer Agentur aus Nürnberg gebaut, die uns auch historisch beraten hat. Beraten hat uns auch Professor Frank Bajohr vom Institut für Zeitgeschichte. Die Ausstellung ist zweisprachig, wir glauben, dass wir die Ausstellung für ein deutsches Publikum verständlich gemacht haben.

Sinn dieser Ausstellung ist eigentlich der folgende Satz: Niemand, der in der NS-Zeit ein schwerer Nazi-Verbrecher war oder – das könnte auch in die aktuelle Zeit hinausstrahlen – ein sonstiger Kriegsverbrecher ist, soll glauben, dass er nicht eines Tages vor Gericht Rede und Antwort stehen muss. So wie Eichmann. Er wurde von Israel – so sage ich es jetzt einmal – sanft entführt. Er hat selbst ein Dokument unterschrieben, dass er bereit sei, sich der israelischen Justiz zu stellen. Ob das ganz freiwillig war, lasse ich mal dahingestellt. Meines Erachtens hätte er, wenn er sich den deutschen Behörden gestellt hätte, ein ganz anderes Schicksal gehabt. Die damals beginnenden Nazi Verfahren wären deutlich beeinflusst worden. Niemals wäre er zur Todesstrafe verurteilt worden, denn die Todesstrafe wurde in Westdeutschland mit dem Grundgesetz am 23. Mai 1949 abgeschafft.

Gideon Hausner. Das Foto stammt aus seiner Zeit als Mitglied der Knesset. Foto: Wikimedia Commons.

Das Interessante an der Eichmann-Geschichte ist allerdings etwas anderes. In dem Prozess, in Jerusalem, im Jahr 1961 wird eines deutlich: Ankläger war Gideon Hausner, er trug die Anklageschrift vor und sagte: „Mit mir stehen sechs Millionen Ankläger.“ Die sechs Millionen ermordeten Juden. Eichmann hat sich in Buenos Aires, wo er unter dem Namen Ricardo Klement gelebt hatte, in einem Zirkel getroffen, mit Altnazis bei Kaffee, Kuchen, Wein und Bier. Darunter soll eine gewisse Zeit auch Mengele gewesen sein, der dann rechtzeitig abgehauen ist, weil er wusste, dass man auf seiner Spur war. Einer in diesem Nazi-Zirkel war Willem Sassen. Ein Niederländer, im Zweiten Weltkrieg SS-Mann und wie Eichmann nach Argentinien geflüchtet. Der hat Interviews mit Eichmann gemacht, Tonbandaufnahmen, die verfügbar sind. Man schätzt etwa 800 bis 900 Seiten. Eichmann hat geredet wie ein Wasserfall. Willem Sassen hat ihn gefragt, wann er am Ende des Zweiten Weltkriegs ein glücklicher Mensch gewesen wäre. Eichmann antwortete, das ist wörtlich so überliefert: „Glücklich wäre ich gewesen, wenn es uns gelungen wäre, alle 10,3 Millionen Juden zu töten.“

Dieser Satz wurde veröffentlicht. Sassen hat die Interviews mit all den Zitaten verkauft. In den USA an das Life Magazine. In Deutschland veröffentlichte Henri Nannens Stern. Beide Zeitschriften haben zeitgleich während der Vorbereitung des Eichmann-Prozesses veröffentlicht.

Der Entscheidende am Eichmann-Prozess ist für mich als Jurist Fritz Bauer. Fritz Bauer war ein mutiger Mann – und hier kommt der Bezug zur Zivilcourage. Er hat nach einem Gespräch mit dem hessischen Ministerpräsidenten Georg-August Zinn (SPD) genau gewusst, eine Auslieferung Eichmanns war nicht machbar, weil Adenauer daran kein Interesse hatte. Adenauer hielt die Sozialdemokraten alle für Kommunisten und hatte stattdessen eine Reihe von ehemaligen Nazis an seiner Seite, nicht nur Hans Globke. Fritz Bauer hat dann in Kenntnis seines strafrechtlichen Risikos die Israelis, zuerst die Verbindungsstelle in Köln, denn eine Botschaft gab es damals noch nicht, über den Aufenthalt von Eichmann in Buenos Aires informiert. Die waren auch erst einmal skeptisch, haben es erst einmal nicht geglaubt, dann aber zugeschlagen und Eichmann maskiert als Stewart in einem El-Al-Flieger nach Israel gebracht. Aber das Zitat aus den Sassen-Interviews – „Glücklich wäre ich gewesen, wenn es uns gelungen wäre, alle 10,3 Millionen Juden zu töten.“ – zeigt die Einstellung. Und man ist fassungslos.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Januar 2024, Internetzugriff zuletzt am 23. Januar 2024. Für die Vermittlung des Kontakts zu Christoph Rückel und den Hinweis auf die Ausstellung danke ich Sylvia Löhrmann. Das Titelbild zeigt ein Foto von Alessandra Brunner aus der Ausstellung „How To Catch A Nazi“.)