„Zu wandeln die Zeiten“

Gespräche mit Markus Meckel

„Wer Gott ernst nimmt, weiß, dass es (…) kein heiliges Volkstum (…), keinen heiligen Staat, keinen heiligen Sozialismus, keine heilige Kunst gibt und ebenso keinen heiligen Krieg.“ (Günther Dehm, Pfarrer in Berlin und später Professor in Heidelberg, zitiert nach: Markus Meckel, Zeitansagen – Texte und Reden aus zwei Jahrzehnten, hg. Von Katharina Abels, Stuttgart, ibidem-Verlag, 2019).

Der Satz Günther Dehms, den ich als Motto für die Dokumentation meiner Gespräche mit Markus Meckel gewählt habe, stammt aus der Zeit der Weimarer Republik. 1931 sagte Günter Dehm: „Verzerrter Idealismus ist Dämonie. Es ist ja einfach nicht wahr, dass diese fanatische, meinetwegen religiös gefärbte, tatsächlich aber von Gott gelöste Vaterlandsliebe dem Vaterland wirklich hilft. Im Gegenteil, sie wird das Vaterland ins Verderben führen.“ So geschah es, und in dem östlichen Teil des heutigen Deutschlands, der damaligen Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR, entstand eine andere Art von Fanatismus und Verderben, die es manchem im westlichen, dem trizonesischen Teil, erlaubte, wenigstens in der Verteufelung des Kommunismus nicht umlernen zu müssen. Die Heilslehre des einen war die Vorbotin der Hölle für den anderen.

Zeitzeuge und Analyst der Zeitgeschichte

Markus Meckel (*1952) wuchs in der DDR auf, wurde nach einem Studium am Sprachenkonvikt in Berlin evangelischer Pfarrer und engagierte sich schon sehr früh für eine freiheitliche und demokratische Politik. Gemeinsam mit Martin Gutzeit initiierte er die Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP), die er dann mit einigen anderen zum Teil auch heute noch aktiven Freund*innen und Kolleg*innen am 7. Oktober 1989 vollzog. Im Januar 1990 übernahm diese dann das Kürzel „SPD“. Er war Außenminister der einzigen demokratisch gewählten Regierung der DDR und lange Jahre Mitglied des Deutschen Bundestags. Sein Engagement erfasste und erfasst nicht nur das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten beziehungsweise – wie sie nach dem 3. Oktober 1990 zu bezeichnen sind – Bundesländern, sondern auch die Entwicklung einer europäischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur.

Vorstellung des Buches „Zu wandeln die Zeiten“ in der Bundesstiftung Aufarbeitung

Markus Meckel hat seine kirchliche und politische Arbeit ausführlich dokumentiert. Neben der bereits zitierten Textsammlung „Zeitansagen“, zu der Rita Süssmuth das Vorwort geschrieben hatte, bietet seine Autobiographie „Zu wandeln die Zeiten – Erinnerungen“ (Leipzig, Evangelische Verlagsanstalt, 2020) einen ausgezeichneten und kompakten Überblick über das Leben eines prominenten Akteurs der deutschen und internationalen Politik der vergangenen 50 Jahre, über die Entwicklungen in der DDR, die Rolle der Kirchen in der dortigen Bürgerbewegung, die Transformationszeit der Jahre 1989 und 1990 mit der ersten und einzigen demokratisch gewählten Regierung der DDR sowie den schwierigen und nach wie vor nicht abgeschlossenen Weg der Zeit nach dem 3. Oktober 1990. Kommentierte Texte der kirchlichen Friedensarbeit haben Markus Meckel und Martin Gutzeit in dem Buch „Opposition in der DDR“ zusammengestellt, das 1994 im Kölner Bund-Verlag erschienen ist.

Viel persönliches Material, etwa 700 Mappen, lagert in der Bundesstiftung Aufarbeitung und harrt der wissenschaftlichen Auswertung. Ich möchte gerne Hochschulen und interessierte Forscher*innen außerhalb der Hochschulen ermutigen, diese Schätze zu nutzen, vielleicht für Master- und Doktorarbeiten oder auch zur ein oder anderen Monographie.

In meinen Gesprächen mit Markus Meckel zeigte sich immer wieder, wie eng Innen- und Außenpolitik miteinander verwoben sind und wie wichtig es ist, dass wir die Geschichte der beiden deutschen Staaten zwischen 1945 und 1990 als geteilte deutsche Nachkriegsgeschichte begreifen und deutlich machen, dass beide Staaten ohne den Bezug zum jeweils anderen nicht wirklich zu verstehen sind.

Friedens- und Sicherheitspolitik sind eine ganzheitliche Aufgabe

Norbert Reichel: In der DDR waren Sie Totalverweigerer. Heute befürworten Sie Auslandseinsätze der Bundeswehr. Ihr Buch „Zeitansagen“ enthält den Text „Vom totalen Wehrdienstverweigerer zum Befürworter von Auslandseinsätzen der Bundeswehr“ aus dem Jahr 2014, den Sie im Original als Sonntagsvorlesung unter dem Titel „Luther neu gelesen. Ob Kriegsleute noch in seligem Stand sein können“ vorgetragen haben.

Markus Meckel: Mir war es wichtig, dass wir uns nicht nur auf das Militärische konzentrieren, sondern viel stärker auch die zivile Dimension berücksichtigen und fördern. Während meiner Zeit im Bundestag habe ich gemeinsam mit meinem Kollegen Andreas Weigel MdB eine Enquête-Kommission zur Reform der Sicherheitspolitik vorgeschlagen. Der Aufruf ist in „Zeitansagen“ abgedruckt. Ich wollte die nationalen und internationalen Verflechtungen zum Thema zu machen.

Ich darf aus dem Aufruf zitieren: „Der Handlungsrahmen für deutsche Sicherheitspolitik reicht heute von nationaler Sicherheitsvorsorge, über weltweite Krisenprävention und Krisenbewältigung bis zur Konfliktnachsorge. (…) Alle diese Instrumente müssen besser verzahnt und integriert werden. Sicherheitspolitik erfordert heutzutage ressortübergreifendes Denken und Handeln. Blockaden der Information und Koordination müssen überwunden werden.“

Als Beispiel nenne ich die zivil-militärische Zusammenarbeit beim Aufbau der Polizei in Afghanistan, auch in den Entscheidungsstrukturen. Es reicht nicht aus, die Polizei in polizeilichen Aufgaben aus- und fortzubilden, es geht um das gesamte gesellschaftliche und politische Umfeld, das einbezogen werden muss, den Aufbau einer funktionierenden kommunalen Verwaltung, der Zivilgesellschaft. Das gilt national wie international. 

Bei unserem Aufruf konnten wir uns auf eine Rede des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler vom 10. Oktober 2005 zum fünfzigjährigen Jubiläum der Bundeswehr berufen. Er hatte die Frage der Effizienz der vorhandenen Entscheidungs- und Beratungsstrukturen hinterfragt und eine ganzheitliche Sicherheitspolitik gefordert. Leider scheiterte unser Vorhaben. Es gelang uns nicht einmal, unsere eigene Partei und Fraktion zu überzeugen.

Norbert Reichel: Es erscheint ungewöhnlich, dass jemand, der in der DDR Totalverweigerer war, sich heute sicherheitspolitisch an der NATO orientiert. Ich halte die aktuelle außenpolitische Position der SPD für hoch problematisch. Wer in Deutschland beispielsweise bewaffnete Drohnen ablehnt und den Abzug der in Deutschland gelagerten US-amerikanischen Nuklearwaffen fordert, mag sich sich zwar moralisch im Recht fühlen, verkennt aber das Sicherheitsbedürfnis unserer östlichen Nachbarn, in Polen, in den baltischen Staaten, die sich von Russland äußerst bedroht fühlen.

Markus Meckel: Da kann ich Ihnen zustimmen. Die SPD-Bundestagsfraktion hatte ihre bisherige Position zum Kauf bewaffneter Drohnen zurückgezogen, mit dem Ergebnis, dass ihr verteidigungspolitischer Sprecher, Fritz Felgentreu, im Dezember 2020 zurücktrat und ankündigte, 2021 nicht mehr für den Deutschen Bundestag zu kandidieren. Das halte ich für einen großen Verlust. Bei der Linken erwarte ich nichts anderes, bei den Grünen sieht es auch nicht viel besser aus. Ich vermisse die ganzheitliche Sicht, die Andreas Weigel und ich 2005 eingefordert haben. Dazu gehört, dass wir die sicherheitspolitischen Bedürfnisse unserer östlichen Nachbarn ernst nehmen.

Wir leben heute auch in einer anderen Zeit als Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre. Das haben wir in dem „Manifest 1918-2018“ erklärt, dass von mehr als 120 Verantwortlichen aus Politik, Publizistik, Geschichtswissenschaften und Theologie unterzeichnet wurde. Ich habe in der Vorbereitungsgruppe mitgewirkt. Unter den Unterzeichnenden waren erfahrene Persönlichkeiten wie Bernd Faulenbach, Anna Kaminsky, Norbert Lammert, Andreas Nachama, Nikolaus Schneider, Timothy Garton Ash, Paweł Machcewicz und Adam Michnik. Wir haben vor einer neuen „Welle des Nationalismus“ gewarnt und die Frage gestellt: „Wird es gelingen, dem Gedenken an das Ende des Ersten Weltkrieges dennoch eine – erneuerte – europäische Perspektive zu geben?“

Ich habe in dem von Ihnen angesprochenen Vortrag in Wittenberg gesagt: „Die alte Lehre vom ‚gerechten Krieg‘ ist vielfach als Unterstützung von Krieg und Gewalt missbraucht und missverstanden worden. Dabei ging es letztlich auch bei ihr um Begrenzung einer ihrem Wesen nach sich entgrenzenden Gewalt. (…) Jeder weiß heute, dass mit militärischen Mitteln kein Frieden geschaffen werden kann. Es kann nur darum gehen, Rahmenbedingungen für einen umfassenden Friedensprozess zu sichern.“ Zivile Dimensionen dieser Rahmenbedingungen werden jedoch in der Regel kaum diskutiert. Deshalb trete ich dafür ein, dass militärische und zivile Dimensionen immer im Zusammenhang diskutiert werden.

Ich berief mich in der Wittenberger Vorlesung auch auf die Heidelberger Thesen von 1959, an denen Carl Friedrich von Weizsäcker entscheidend mitgearbeitet hatte. Die leitende These lautet: „Der Weltfriede wird zur Lebensbedingung des technischen Zeitalters“. Im Folgenden wird über die Beteiligung an einer Abschreckungspolitik mit Massenvernichtungswaffen aus christlicher Sicht nachgedacht. Auf der einen Seite wird der „Waffenverzicht als eine christliche Handlungsweise“ anerkannt, auf der anderen aber auch „die Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern“.

Sie können sich vorstellen, wie schwierig die Auseinandersetzung mit diesen Positionen für mich und viele andere war. Meine heutige Schlussfolgerung: Macht darf nur gewaltmindernd eingesetzt werden, wir dürfen sie nicht scheuen. Das Gewaltmonopol des Staates muss in seiner gewaltmindernden Bedeutung in der Gesellschaft verstanden und angewandt werden. Kriterien für diese Anwendung von Gewalt finde ich bei Martin Luther, der allein den Verteidigungskrieg zum Schutz der Bürger rechtfertigte. Dies kann aber nicht bedeuten, dass Angreifende jederzeit ihre Angriffe als Verteidigungskrieg rechtfertigen.

Ich denke, dass wir von Luthers Schrift „Ob Kriegsleute auch in seligem Stand sein können“ mehr lernen können, als mir früher bewusst war. Es gibt keine einfachen Formeln, auch bei jedem Auslandseinsatz der Bundeswehr muss jeweils neu nachgedacht werden. Es kommt jedoch darauf an, wie es gelingt, militärische und zivile Aspekte miteinander zu verbinden. In meinem Vorwort zum Band „Opposition in der DDR“ habe ich dies in folgende Worte gefasst: „Für die militärische Sicherheitspolitik der 70er und 80er Jahre stellten die Staaten Unsummen bereit. Für eine nichtmilitärische Sicherheitspolitik angesichts der wachsenden ökonomischen, sozialen und politischen Dimension von Sicherheit ist diese Bereitschaft ungleich geringer.“ 

Polen und die baltischen Staaten

Norbert Reichel: Eine der schwierigen politischen Fragen war und ist nach wie vor das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen. Erst 1990 anerkannte Helmut Kohl als Bundeskanzler die polnische Westgrenze, verkaufte dies aber als „Preis der Einheit“. Ähnlich empathiefrei war und ist das deutsche Verhältnis zum Baltikum. Die sowjetische Herrschaft über die drei baltischen Staaten hatte ihren Ursprung im Hitler-Stalin-Pakt und der Molotow-Ribbentrop-Linie, die mit Ausnahme des Baltikums nach wie vor weitgehend die östlichen Grenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union im bestimmt. Ich wage die These, dass wir in Deutschland nicht wahrhaben wollen, was vergangene sowjetische und heutige russische Politik für Polen und die drei baltischen Staaten bedeutet und warum die NATO für Polen, Estland, Lettland und Litauen überlebenswichtig ist. Auch über die Menschenkette in den drei baltischen Staaten vom 23. August 1989, mit der die Menschen für die Unabhängigkeit demonstrierten, wissen viele Menschen in Deutschland nichts.

Markus Meckel: Ich achte jedes Jahr am 23. August darauf, was zu diesem Thema in der deutschen Presse steht. Normalerweise eine durchgehende Fehlanzeige.

Norbert Reichel: Ich darf in diesem Zusammenhang gerne auf „Bloodlands“ von Timothy Snyder verweisen, ein bedrückendes Buch. Ich habe es in Riga gelesen.

Markus Meckel: Das ist ein guter Ort für die Lektüre dieses Buches. Ich war im Deutschen Bundestag über viele Jahre gewissermaßen der „Mister Polen“. Von 1991 bis 2009 war ich in meiner Fraktion für Polen zuständig, 15 Jahre lang Vorsitzender der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe. Zur Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze habe ich mich sehr pointiert in meiner Autobiographie und in zahlreichen Reden geäußert. Seit 1991 war ich regelmäßig im Baltikum. Als Vizepräsident der Parlamentarierversammlung der NATO habe ich eine Unterschriftensammlung von europäischen Parlamentariern an den amerikanischen Senat gestartet, um für die NATO-Mitgliedschaft der baltischen Staaten einzutreten – damals im klaren Widerspruch zur Position der Bundesregierung, auch meiner eigenen Partei.

Ich sah und sehe eine zentrale Verantwortung Deutschlands für die Zukunft der baltischen Staaten, nicht nur wegen des Hitler-Stalin-Paktes. Deshalb war es so wichtig, dass wir als Deutsche den NATO-Beitritt Polens und der baltischen Staaten unterstützt haben. Wir müssen aber auch die Konsequenzen ziehen, die angesichts der aggressiven Politik Putins gezogen werden müssen. Das lehrt nicht nur die Ukraine, das lehrt auch Belarus. Am 29. März 2006 habe ich im Bundestag die europäische Verantwortung für Belarus benannt. Ich bin für die Unterstützung der Zivilgesellschaft, wir müssen uns auf die Seite der Zivilgesellschaft stellen.

Norbert Reichel: Deutsche zeigen gerne mit dem Finger auf Polen, beispielsweise wenn es um das Thema Antisemitismus geht. Das ist jedoch kontraproduktiv, denn damit stärken wir die Linie der aktuellen rechts-konservativen polnischen Regierung, die so weit geht, dass sie jeden Anteil von Pol*innen an der Shoah, jede Kollaboration von Pol*innen mit der nationalsozialistischen Besatzung, die Pogrome in Jedwabne, Kielce und anderswo leugnet. Ich habe einmal über unser Unverständnis für das Trauma der anderen geschrieben. Wir dürfen das Leid nicht leugnen, das Deutsche den Menschen in Polen angetan haben. Und es gab nach 1945 nicht nur deutsche Vertriebene. Die Menschen aus Ostpolen wurden ebenfalls vertrieben und gezwungen, Schlesien und Pommern zu besiedeln.

Markus Meckel: Die aktuelle Geschichtspolitik der PIS-Regierung ist ausgesprochen problematisch. Das zeigte sich schon früh in der Auseinandersetzung um das Danziger Museum des Zweiten Weltkriegs und hat sich inzwischen deutlich verschärft.

Norbert Reichel: Das Deutsche Polen Institut hat die deutsche Ausgabe des Buchs des abgesetzten Direktors dieses Museums veröffentlicht. Das Buch von Paweł Machcewicz: „Der umkämpfte Krieg – Das Museum des Zeiten Weltkriegs in Danzig – Entstehung und Streit“ (Wiesbaden, Harassowitz, 2018) ist ein bedrückendes Zeitdokument. Die polnische Regierung möchte ausschließlich eine Helden-Geschichte erzählen und in den Schulen lehren. In Deutschland reagieren viele darauf, indem sie ausschließlich die Täter-Geschichte Polens erzählen.

Markus Meckel: Die deutsch-polnische Geschichte war und ist ein schwieriges Kapitel. Ich erinnere auch an die Schließung der polnischen Grenze im Jahr 1980 durch die DDR-Regierung, weil man sich vor dem Einfluss der Solidarność auf die DDR-Bevölkerung fürchtete. Ein wichtiges Dokument ist die „Ostdenkschrift“ der Evangelischen Kirchen in Deutschland von 1965, die damals im Westen einen heftigen Streit um die Anerkennung der polnischen Westgrenze auslöste. Leider hielt sich die katholische Kirche zurück, wohl auch in ihrer damaligen Nähe zur Politik Konrad Adenauers und der CDU.

Polen hat in der Vergangenheit viel für die Freiheit in Deutschland bewirkt. Das dürfen wir nicht vergessen. Ich habe mich in einer Rede zum 100jährigen Jahrestag der Unabhängigkeit Polens für die Neugestaltung des polnischen Denkmals ausgesprochen, das die Volksrepublik Polen und die DDR in den 1970er Jahren im Volkspark Friedrichshain in Berlin errichtet hatten. Das Motto des Denkmals lautet „Für eure und für unsere Freiheit“. Der Inhalt ist verlogen. Mein Vorschlag war, das Denkmal in einer gemeinsamen deutsch-polnischen Initiative umzugestalten und den Beitrag darzustellen, den Polen zur deutschen Freiheits- und Demokratiegeschichte geleistet hat.

Ich darf aus meiner Rede zitieren: „Der Bogen könnte vom Hambacher Fest 1830 über die polnische Beteiligung an der Befreiung vom Nationalsozialismus bis zu Solidarność und dem gemeinsamen Sieg von Freiheit und Demokratie 1989 sowie der heutigen Partnerschaft in der EU gespannt werden. Die Opfer Polens sind zumindest in der Fachwelt bekannt und anerkannt. Die in Deutschland wenig bekannte Rolle Polens als Akteur und Partner der Freiheit zur Botschaft dieses Denkmals zu machen, würde einerseits die gemeinsame Geschichte in den Blick nehmen und gleichzeitig die gemeinsamen Herausforderungen der Zukunft beschreiben. Es wäre ein versöhnter Blick und eine Freiheitsgeschichte, die weitergeht.“

Willy Brandt und Markus Meckel 1990, rechts hinter Markus Meckel Manfred „Ibrahim“ Böhme, tragischer Akteur einer anderen Geschichte

In diesem Rahmen möchte ich die Bedeutung Willy Brandts nennen. Sein Beitrag zu einer deutsch-polnischen Versöhnung kann nicht überschätzt werden. Er riskierte mit seinem Kniefall seine politische Existenz. Seine Ostpolitik gab uns auch in der DDR Mut und Zuversicht. Diese Ostpolitik führte in Westdeutschland zu vielfältigen Veränderungen, zur Gründung deutsch-polnischer Gesellschaften, zu Städtepartnerschaften, zu einer deutsch-polnischen Schulbuchkommission.

„So steht nun fest in der Freiheit …“

Norbert Reichel: Sie sind in einem Pfarrhaus aufgewachsen, das Sie an einer Stelle Ihrer Autobiographie einen „abgeschirmten sozialen Raum“ nennen.

Markus Meckel: Das war ganz wichtig. Bei mir kam die besondere Erfahrung des Lebens im Missionshaus in Berlin hinzu. Heute ist in diesem Haus der Bischofssitz und das Konsistorium der Evangelischen Kirche, unweit vom Alexanderplatz. Das Leben im Missionshaus – das war zentral – ermöglichte eine christliche Gemeinschaftserfahrung, die für die DDR ungewöhnlich war. Dort bin ich aufgewachsen. In diesem Haus waren wir eine ganze Reihe von Familien, die sich auch in der Schule als Christen bekannten. Das war später bei meinen Kindern anders. Sie waren oft die einzigen Christen in ihrer Klasse. Die zweite Besonderheit im Missionshaus war die Internationalität, die Überwindung der Provinzialität der DDR. Bei uns wurde am Abendbrottisch etwa die Ostdenkschrift der EKD diskutiert, auch über Fragen der Apartheid, weil mein Vater für Südafrika zuständig war. Mein väterlicher Freund war ein Missionar, der aus Südafrika rausgeflogen ist, weil er dort gegen die Apartheid auftrat. Dieser weite, internationale Horizont war nicht typisch für die DDR.

Norbert Reichel: Ich nehme an, dass auch die berühmte Barmer Theologische Erklärung von 1934 Gegenstand der Diskussionen im Missionshaus war. Sie schreiben in Ihrer Autobiographie, dass diese Erklärung Sie geprägt habe, und „auch der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR gründete sich darauf, in der sich als ‚Zeugnis- und Dienstgemeinschaft‘ und als ‚Kirche für andere‘ definierte. Damit konnte ich mich identifizieren.“ Dies ist meines Erachtens auch eine treffende Beschreibung für den wichtigen Begriff der „politischen Seelsorge“ als Kern der systemkritischen Arbeit in den Kirchen. Steffen Reiche machte mich auf diesen Begriff aufmerksam. Sie erinnern sich an Ihre erste Predigt in Ihrer Gemeinde in Vipperow, Ihre „Freiheitspredigt“.

Markus Meckel: Für diese Predigt hatte ich mir einen Satz aus dem Galaterbrief des Apostels Paulus ausgesucht: „So stehet nun fest in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat, und lasset euch nicht wieder in das knechtische Joch einfangen“ (Gal 5,1). Diese Predigt muss den nicht gerade in großer Zahl erschienenen Gottesdienstbesuchern sehr fremd in den Ohren geklungen haben. Für mich war der erste Gottesdienst ein Schock, denn die Gemeinde beteiligte sich nicht, sang nicht einmal. In der Mecklenburger Kirchenzeitung habe ich diese Erfahrung in einem Artikel verarbeitet, der den Titel trug „Gottesdienst als Einmannshow“.

West und Ost – eine Geschichte, nicht zwei

Norbert Reichel: Nach einer Revolution verändern sich die Machtverhältnisse. Bei allem Pluralismus entsteht oft eine neue Dominanzkultur. So nehmen viele es heute und nahmen es viele vielleicht auch schon damals wahr. Ich möchte als Beispiel das Verhältnis zwischen Ostkirche und Westkirche vor 1989 und nach 1989 ansprechen. Es sollte eigentlich eine gesamtdeutsche Kirchengeschichte geben, aber Sie notieren in Ihrer Autobiographie, dass die Westkirche sich – vorsichtig gesprochen – weniger für die Ostkirche interessierte als das erforderlich gewesen wäre. Ich zitiere: „Mit der Vereinigung Deutschlands war jede Kirche mit sich selbst, mit der Vereinigung mit ihren jeweiligen Partnern beschäftigt, was angesichts der westlichen Dominanz oft nicht einfach war. Diese aber waren weitgehend an den in der DDR gemachten Erfahrungen nicht interessiert.“

Markus Meckel: Das gilt heute noch. Für die meisten Westdeutschen geht die deutsche Geschichte bis 1945, zwischen 1945 und 1990 geht sie in der Bundesrepublik weiter und dann wieder in ganz Deutschland. Die Geschichte der SBZ und DDR wird so zu einer Sondergeschichte, die eigentlich nur für die Betroffenen und ein paar Spezialisten interessant ist. So gerät völlig aus dem Blick, dass die deutsche Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine geteilte Nachkriegsgeschichte ist, in der JEDE Seite nur in ihren Bezügen auf die andere Seite wirklich verstanden werden kann. Das gilt eben auch für die Bundesrepublik!

Norbert Reichel: Sie haben in Ihrer Autobiographie geschrieben: „Keiner der beiden deutschen Staaten, in die Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zerteilt war, kann ohne den Bezug auf den anderen wirklich verstanden werden.“

Markus Meckel: Genau das ist meine These.

Norbert Reichel: Ich kann das aus meiner westdeutschen Sozialisation bestätigen. Es gab im Westen auf der konservativen Seite eine klare Frontstellung gegen die DDR, auf der linken Seite auch Verklärungen der DDR. Beides ergänzte sich wundersam, sodass Mythen entstanden.

Markus Meckel: Und das setzt sich auf europäischer Ebene fort. Am 16. März 2014 habe ich gemeinsam mit Basil Kerski, Danzig, Ulrich Mählert, Berlin, Stefan Troebst, Leipzig, Krzystof Ruchniewicz, Breslau, und Anna Kaminsky, Berlin eine Presseerklärung veröffentlicht. Der Titel: 1914, 1989 und das Zeitalter der Extreme – Ein Manifest“. Dort haben wir geschrieben: „So kann es nicht verwundern, dass bei dem unverhofften Anschluss Ostmitteleuropas an die westeuropäische Integrationsgeschichte in der Nachkriegszeit im Westen des Kontinents kaum Wissen über die Folgen der kommunistischen Diktaturen sowie über den friedlichen Freiheitskampf östlich des Eisernen Vorhangs vorhanden war – und bis heute kaum vorhanden ist.“ Wir haben „einen europäischen Geschichtsdiskurs“ gefordert, der ein „Bewusstsein für die Geschichte der Diktaturen wie auch der Demokratie in Europa im 20. Jahrhundert“ umfasst.

Dialogfähigkeit und Kooperation

Norbert Reichel: Zentral für einen solchen „europäischen Geschichtsdiskurs“ ist der Begriff der „Freiheit“, ein allerdings sehr vielschichtiger Begriff. In einer Diktatur ist es kaum möglich, sich kurzfristig von der Diktatur und ihren Zwangssystemen zu befreien. Was das bedeutet, können sich im „Westen“ nur wenige Menschen vorstellen. Wie haben Sie sich die Freiheit erarbeitet, die Sie für Ihr Engagement brauchten?

Markus Meckel: Am 8. März 2017 habe ich beim Evangelischen Bildungswerk Regensburg im Rahmen einer Vortragsreihe zu den Grundbegriffen der Reformation gesprochen. Ich habe unter anderem Folgendes gesagt: „Freiheit (…) ist nicht allein die Freiheit von etwas, das Fehlen von Druck, von Repression und Zwang. Vielmehr handelt es sich vor allem um eine Freiheit zu etwas, zur Hingabe an einen Menschen, an eine gesellschaftliche Aufgabe, um Gestaltung unserer Wirklichkeit. In revolutionären Situationen, das war auch unsere Erfahrung von 1989/90, ist es allemal leichter, sich mit anderen darin einig zu sein, was man ablehnt (das herrschende System, die Diktatur), als sich auf Vorstellungen darüber zu einigen, was man will, wie gesellschaftliche und staatliche Strukturen und Ziele konkret aussehen sollen.“

Norbert Reichel: Diese Freiheit zur Freiheit haben Sie sich unter schwierigen Bedingungen erkämpft. Es ist aber leider das Schicksal vieler erfolgreicher Oppositionsbewegungen, dass die zur Bekämpfung der Diktatur geschaffenen Bündnisse und Allianzen mit dem Erfolg zerfallen und möglicherweise die errungene Freiheit wieder bedrohen. Eine gewisse Streitkultur wäre daher schon in Oppositionszeiten für die politische und gesellschaftliche Zukunft unabdingbar.

Markus Meckel: Das war Martin Gutzeit und mir bei der Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR wichtig. Wir verstanden die Gründung auch als Aufruf an diejenigen, die sich uns inhaltlich nicht anschließen konnten, dann selbst demokratische politische Parteien zu gründen, um auf der Grundlage von programmatischen Gemeinsamkeiten mit ihnen kooperieren zu können.

Norbert Reichel: So konnte vorbereitet werden, dass das sozialistische Mehrparteiensystem mit Führungsanspruch der SED in ein pluralistisches Mehrparteiensystem überführt werden konnte. Aber was hieß das dann für die Perspektive einer Übernahme der Regierungsverantwortung?

Markus Meckel: Darüber habe ich damals beispielsweise mit einem ungarischen Freund gesprochen. Er sagte, dass er nach einem Wahlerfolg wieder aus dem von ihm mit gegründeten „Ungarisch Demokratischen Forum“ austreten wolle, denn er lehne die Teilhabe an der Macht ab. Ich habe mit ihm darüber gestritten und gesagt, er solle in meinen Augen sogar bereit sein, das Innenministerium zu übernehmen und eine bewaffnete Polizei in seine Verantwortung zu übernehmen, um das Gewaltmonopol des Staates zum Schutz der Menschen durchzusetzen. Es sei natürlich deeskalierend zu gebrauchen. Wir wurden uns nicht einig.

Norbert Reichel: In Ihrer Autobiographie erwähnen sie eine Auseinandersetzung mit Martin Gutzeit über den Umgang mit der SED. Ich hatte den Eindruck, dass Sie zur Zusammenarbeit mit der SED unterschiedliche Positionen vertraten.

Markus Meckel: Nicht wirklich. Da ging es um die Frage einer Erklärung im September 1989, zu der es auch einen kurzen Briefwechsel gibt. Da hieß es: keinerlei Kooperation mit der SED. Ich habe das relativiert, weil es mir zu pauschal war und weil man in dem Sinne eines friedlichen Übergangs auch mit dem Gegner reden muss und habe diese Position öffentlich gemacht. Das kritisierte er. Ich habe ihm zugestanden, dass er insofern recht hatte, dass wir das klarer miteinander besprechen sollen, bevor ich es öffentlich verkünde. In dem Punkt stimme ich Martin Gutzeit zu. Das war aber mehr eine Frage des Verfahrens.

In der Sache hat sich meine Position durchgesetzt, denn der Zentrale Runde Tisch war schließlich genau das, was ich meinte. Es ging darum, dass man durch eine Verständigung miteinander zu einer freien Wahl kommt. In der Sache gibt es keinen Unterschied. Ich habe eben nicht pauschal formuliert, sondern betont, dass wer den Übergang friedlich gestalten will, auch mit dem anderen reden muss. Das ist keine Zusammenarbeit in Form von gemeinsamen Aktionen. Es ging um die Fähigkeit der Absprache zum Verfahren. Das Wahl- wie das Parteiengesetz mussten ausgehandelt und auf den Weg gebracht werden.

Norbert Reichel: Eine kritische Rolle spielte damals Oskar Lafontaine.

Markus Meckel: Ich erinnere mich an Oskar Lafontaine, der versuchte, die SPD in der DDR davon zu überzeugen, dem Einigungsvertrag nicht zuzustimmen. Einige Jahre später sprach er dann im Bundestag davon, dass die Menschen in der DDR durch die Einheit die Freiheit erhalten hätten. In meinen Augen ist das eine völlige Umkehrung der Geschichte, regelrecht Geschichtsklitterung. Die Freiheit wurde in der Friedlichen Revolution errungen – und gerade dies ermöglichte die Einheit!

Bis heute haben wir für das, was 1989/90 geschah, keine gemeinsame Sprache gefunden. Als ich in den 1990er Jahren in Süddeutschland einen Vortrag hielt, sprach ein Student über den Einigungsprozess mit den Worten: „Als die DDR zu Deutschland kam“. Wir müssen wohl noch viel miteinander reden, um das Selbstverständnis des anderen kennenzulernen und in das eigene einzubeziehen!

Norbert Reichel: Wie schätzen Sie heute nach 30 Jahren die Situation in der SPD ein. Sind Koalitionen mit der Linken, die ja Nachfolgepartei von SED und PDS ist, machbar?

Markus Meckel: Die heutige Debatte hat mit der damaligen Situation überhaupt nichts zu tun. Ich war in den 1990er Jahren und um die Jahrtausendwende strikt gegen solche Koalitionen. Ich gehörte mit Richard Schröder, Martin Gutzeit und anderen auch zu den Kritikern von Reinhard Höppner, der seine Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt von der PDS tolerieren ließ. Nach 1998 war ich dann ebenso gegen die Koalitionen mit der PDS in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin. Grund dafür war die Analyse, dass es machtpolitisch für die SPD viel schwieriger sein wird, eine Regierung zu führen, wenn das Parteienspektrum links der Mitte sich erweitert durch eine Partei links der SPD. Meine These war, dass eine Koalition mit der PDS diese stärkt. Aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass ich nicht unbedingt recht hatte. Ich hatte unrecht in Mecklenburg-Vorpommern, aber recht in Bezug auf Berlin. Beides sind unterschiedliche Erfahrungen, denn in Mecklenburg-Vorpommern hat die PDS beziehungsweise die Linke an Bedeutung verloren, in Berlin nicht.

„Ostkompetenz“

Norbert Reichel: Im „Westen“ legitimierten manche Politiker*innen und Journalist*innen die Annäherungen der SPD und anderer Parteien an die PDS beziehungsweise die Linke mit deren vermuteter „Ostkompetenz“.

Markus Meckel: So dachten Franz Müntefering und Gerhard Schröder. Sie meinten, wir müssten uns mit den Linken, damals der PDS zusammentun, um den Osten besser zu verstehen. Es gab Anfang der 2000er Jahre eine öffentliche Meldung, dass Franz Müntefering sich mit Gregor Gysi getroffen habe. Ich habe ihn daraufhin nach dem strategischen Interesse des Gesprächs gefragt. Da hat er mir zu meinem Erschrecken geantwortet, dass eine Zusammenarbeit wichtig wäre wegen der „Ostkompetenz“. Das hat mich total schockiert, weil Müntefering damit voll dem Selbstverständnis und der Propaganda der PDS gefolgt ist, sich als die kompetente Stimme für den Osten darzustellen, und gleichzeitig die Ost-SPD abwertete, nicht ernst nahm und sogar beschädigte, denn es gab doch ostdeutsche Landesverbände, ostdeutsche sozialdemokratische Ministerpräsidenten, die er aber offenbar als nicht kompetent für den Osten wahrnahm. Insofern war seine damalige Begründung ein großes Armutszeugnis für die „Ostkompetenz“ der SPD-Führung.

Norbert Reichel: Und das sagte er zu einem prominenten Ost-Sozialdemokraten. Das war doch ein Affront.

Markus Meckel: Genau das ist es. Ich habe 2003 zu Ostern einen Brief an Gerhard Schröder geschrieben, den auch einige Kollegen unterschrieben. Das war unmittelbar nach seiner Verkündigung der „Agenda 2010“. Wir kritisierten, dass Ostdeutschland in diesem Konzept überhaupt keine Rolle spiele. Gerhard Schröder nahm wohl an, dass sich durch Sickereffekte aus dem Westen die Probleme in Ostdeutschland lösten, wenn sich die Probleme der Sozialsysteme insgesamt gelöst hätten.

Norbert Reichel: Das klingt nach dem neoliberalen Trickle-Down-Effekt der Reagan- und Thatcher-Politik. Das hat beides nicht funktioniert.

Markus Meckel: Ja, das hielt ich für eine grundlegend falsche Ausgangsthese, und meine Forderung war, es brauche eine Bundespolitik, eine vom Bund konzipierte und vorangetriebene Strukturpolitik für den Osten. Später hatte ich ein Gespräch mit Gerhard Schröder im Kanzleramt und ich sehe ihn noch vor mir, wie er mir mit seinen blauen Augen sagte: „Markus, du bist nicht mehr der Außenminister Ostdeutschlands.“ Das war eine deutliche Missachtung, dazu kam, dass er auch das Problem nicht anerkannte. Es gab damals schon Studien zum Thema, u.a. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, aber all das war nicht relevant für ihn. Das Fehlen einer strategisch angelegten Politik für Ostdeutschland werfe ich ihm bis heute vor. Er hat zwar behauptet, der Osten würde „Chefsache“, doch das blieb Wahlkampfgetöse. Bis auf den Solidarpakt II zu Beginn seiner Amtszeit kam dann nicht mehr viel. Und später – unter Merkel – dann auch nicht.

Ich habe am 25. Januar 2013 in Schwerin bei einem Festvortrag zur 18. Domtafel über das Desinteresse gefragt, ob eine selbsttragende Wirtschaft in Ostdeutschland möglich wäre und eingestanden, dass ich große Zweifel hätte. Ich habe auf die Widerstände gegen Programme für die wirtschaftliche Entwicklung des Ostens verwiesen, nicht nur aus Nordrhein-Westfalen, nicht nur angesichts der damaligen Krise des Euro. Mein Fazit im Jahr 2013: „Schon während der letzten zehn Jahre gab es kaum noch eine strategische Bundespolitik, die den Aufbau Ost in den Blick nahm.“ Vorschläge von Klaus von Dohnanyi zu Beginn der 2000er Jahre blieben ungehört, außer in Sachsen. Die Föderalismusreform verhinderte schließlich eine strategisch ausgerichtete Politik. Ich musste damals als SPD-Abgeordneter gegen meine eigene Fraktion stimmen, die auf Drängen der CDU den Rückzug des Bundes aus zentralen Politikbereichen mit vereinbart hatte. Andererseits sollten wir auch nicht vergessen, welche „Entwicklungshilfe“ von Ost nach Süd- und Westdeutschland kam: Etwa eine Million gut ausgebildeter Fachkräfte aus Ostdeutschland wanderte dorthin ab!

Norbert Reichel: Seit 2005 haben wir eine Bundeskanzlerin mit Ostbiographie.

Markus Meckel: Ich werfe Angela Merkel vor, dass sie zur Zeit der Kanzlerschaft Gerhard Schröders dies Thema als Oppositionsführerin hätte aufgreifen müssen. Sie hat es aber nicht getan. Für sie hatte ihre künftige Kanzlerkandidatur Vorrang. Sie war sich wohl bewusst, dass ein besonderes Engagement für den Osten ihre Aussichten auf die Kandidatur in der – klar west-dominierten CDU – deutlich verringert hätte. Aber auch während dieser folgenden Jahre gab es dann wenig mehr Initiativen.

Norbert Reichel: Ich stimme Ihrer Analyse zu. Angela Merkel verhielt sich meines Erachtens opportunistisch.

Markus Meckel: Ich sage einfach machtstrategisch. Opportunismus trifft dies als Begriff aus meiner Sicht nicht, machtstrategisch sehr wohl. Schauen sie sich die verschiedenen Umschwünge an, beispielsweise zur Atomenergie, zur plötzlichen Abschaffung der Wehrpflicht, alles Punkte, die nichts mit programmatischen Einstellungen zu tun haben, sondern klar machtstrategisch ausgerichtet waren.

Verhandelte Einheit versus Übernahme

Norbert Reichel: Der Begriff der „Übernahme“ wird für den Weg und den Vollzug der Deutschen Einheit immer häufiger verwandt. Ich erlaube mir den Verweis auf das Buch von Ilko-Sascha Kowalczuk, das ausdrücklich mit „Die Übernahme“ betitelt ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das Buch von Detlef Pollack mit dem Titel „Das unzufriedene Volk“. Detlef Pollack hat die These formuliert, dass die Wahlergebnisse für die AfD, das Auftreten von Pegida viel damit zu tun haben, dass viele „Unzufriedene“ in Ostdeutschland glauben, dass sie Gehör finden, wenn sie immer wieder auf ihre Benachteiligungen hinweisen und dies mit entsprechendem Krawall, nicht nur auf Demonstrationen, auch an den Wahlurnen. Ich nenne in diesem Zusammenhang einige Begriffe, die Sie in Ihren Texten verwenden. Sie sprechen von „Augenhöhe“ und „aufrechtem Gang in die deutsche Einheit“, dokumentieren die Forderung nach „einer Solidarität, die unsere Selbstbestimmung anerkennt“. All diese Forderungen wären nicht erfüllt worden. Halten sie den Begriff der „Übernahme“ für gerechtfertigt?

Im Parteibüro 1989

Markus Meckel: Ergänzen müssten Sie den Begriff der „verhandelten Einheit“. Am 3. Dezember 1989 verabschiedete der Vorstand der SDP eine Erklärung, in welcher er sich zur Einheit bekannte, zugleich aber deutlich machte, dass diese von beiden deutschen Staaten gestaltet werden müsse, und zwar so, dass niemand sie fürchten muss, weder die sozial Schwachen noch die europäischen Nachbarn. Noch klarer war dann am 14. Januar 1990 der Beschluss der Delegiertenkonferenz, bei der auch das Kürzel der Partei in „SPD“ geändert wurde. Damit war das Programm vorgegeben: Ziel war die staatliche deutsche Einheit, aber als eine verhandelte. Meine These ist ja, dass die deutsche Einheit das Ergebnis der Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten und auf internationaler Ebene ist. Dies ist bis heute nicht Teil der deutschen Erinnerungskultur. Das ist auch schon wieder ein Versuch von „Übernahme“.

Ich will auch den folgenden Punkt einmal nennen, der in der öffentlichen Diskussion nicht wahrgenommen wird: es geht um den Rechtsort, der der demokratischen DDR-Regierung im Gefüge der Bundesrepublik Deutschland zugewiesen wird. Vor etwa 15 Jahren gab es ein Gesetz, dass die Ministerinnen und Minister der demokratischen DDR-Regierung eine „Ehrenpension“ erhalten. Ich bekomme für die Zeit als Außenminister der DDR eine solche „Ehrenpension“. Ich halte das schon fast für eine Beleidigung. Was soll das heißen? Es war doch keine besondere Ehre, dieser Regierung anzugehören. Das war das Ergebnis einer freien Wahl. Man könnte natürlich sagen, für alle Minister ist es eine Ehre und so bekommen alle eine Ehrenpension. Nein: wir haben unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit getan, weil wir dafür gewählt wurden. Dies gehört auch demokratisch anerkannt. Schon der Begriff der Ehrenpension stört mich. Der andere Fehler dieses Gesetzes ist, dass im Unterschied zu allen anderen demokratisch gewählten Regierungen hier die Staatssekretäre nicht einbezogen wurden. Dabei waren auch sie Teil der Regierung und haben auch an den Verhandlungen zur deutschen Einheit teilgenommen. Ich halte das heute noch für einen Skandal.

Norbert Reichel: Manche vertreten die Auffassung, auch im „Westen“, dass schon der 10-Punkte-Plan Kohls als autokratischer Akt verstanden werden müsse.

Markus Meckel: Das würde ich jetzt nicht so sehen, da würde ich ihn verteidigen, aber ein wichtiger Punkt ist das Fehlen einer Erklärung zur deutsch-polnischen Grenze in dieser Rede. Ich habe mich dazu in der Friedrich-Ebert-Stiftung am 30. November 1989 geäußert. Es zeichnete sich damals schon sein Habitus im Sinne eines „wir machen das“ ab. Der Osten war in diesem Habitus mehr Objekt als Subjekt. Meine Position hat mit meinem Beharren darauf zu tun, dass die deutsche Einheit ein Ergebnis von Verhandlungen sein müsse. Das war die Gegenlinie zu dem Herangehen von Kohl. Und diese hat wieder mit dem Begriff der „Übernahme“ zu tun.

Ich zitiere aus meiner damaligen Rede: „Die Bevölkerung der DDR muss erst selbst zum Subjekt politischen Handelns werden und das braucht demokratische Institutionen und Öffentlichkeit. Beides haben wir bisher nicht. (…) Hier wird ein Programm gemacht, bevor ein Partner da ist (…). Die wirklichen Interessen in der DDR können nur von einer demokratisch legitimierten Regierung der DDR vertreten werden, und die brauchen wir, um auf solche Vorschläge zu reagieren.“

Norbert Reichel: Helmut Kohl hat ja nicht gesagt, wir übernehmen jetzt einfach mal die DDR. Viele Dinge haben sich mehr und weniger entwickelt. Vieles hat auch niemand vorhergesehen.

Markus Meckel: Naja, das trifft für den Zeitpunkt des 10-Punkte-Plans zu. Es trifft weniger zu für die Wochen nach dem 19. Dezember 1989. Kohl besuchte Dresden auf Einladung von Modrow. Horst Teltschik erzählte mir später, dass sie im Bundeskanzleramt beim 10-Punkte-Plan noch an eine Zeitperspektive von fünf bis zehn Jahren gedacht hatten. Kohl hat dann in Dresden schlagartig erkannt, dass das alles viel schneller geschehen müsse. Es folgte seine Entscheidung, diesen Prozess zu seiner Sache zu machen und auch wahlstrategisch zu nutzen. Deshalb hat er Hans-Jochen Vogels Angebot abgelehnt, die Gestaltung der Deutschen Einheit als nationale und parteiübergreifende Aufgabe zu verstehen. Er hatte machtstrategisch den richtigen Riecher, denn er hat so die Bundestagswahl gewonnen. So war die Deutsche Einheit für Helmut Kohl nicht zuletzt eine große wahlstrategische Veranstaltung.

Norbert Reichel: Helmut Kohl hätte ohne die deutsche Einheit die Wahl verloren. Im September / Oktober 1989 gab es noch den legendären Versprecher, als er – auf den Zustand der Koalition der CDU / CSU mit der FDP angesprochen – sagte, dass sie in der Koalition „pfleglich miteinander untergehen“.

Markus Meckel: Die Erkenntnis, die strategische Perspektive einer schnell herzustellenden Deutschen Einheit hatte Kohl im klaren Gegensatz zur SPD, die Konsequenz war die Ablehnung des Kooperationsverbots von Vogel. Man kann vieles in der Zeit von 1989/1990 nicht verstehen, wenn man nicht versteht, dass für Kohl die Vereinigung auch und nicht zuletzt eine wahlstrategische Veranstaltung war, zumindest, dass die Wahlperspektive immer im Blick war. Dazu gehört auch die Frage der deutsch-polnischen Grenze.

Norbert Reichel: Da hatte er die Vertriebenenverbände im Nacken?

Markus Meckel: Das bezweifele ich. So wie die Situation im Frühjahr 1990 war, war er eigentlich schon auf der Siegerstrecke, sodass er, wenn er etwas mehr sittliche Verantwortung gegenüber Polen gefühlt hätte, die deutsch-polnische Grenze schon frühzeitig und öffentlich hätte anerkennen können. Er hatte auch so die Mehrheit hinter sich.

Norbert Reichel: So mutig war er dann doch nicht.

Markus Meckel: Richtig. Hier war ihm der eigene Wahlkampf wichtiger. Aber ich behaupte, er wäre so stark gewesen, dass er die Vorbehalte gegen die Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze in seiner Partei und Klientel hätte beiseiteschieben können, wenn ihm nicht anderes wichtiger gewesen wäre. Aber das Bekenntnis zur deutsch-polnischen Grenze und damit die Solidarität mit Polen war ihm eben nicht wirklich wichtig.  

Die deutsche Einheit – eine europäische Friedensaufgabe

Norbert Reichel: Der SPD wurde vorgeworfen, sie habe zu lange an der Zweistaatlichkeit festgehalten.

Markus Meckel: Auch über „Anerkennung der Zweistaatlichkeit“ habe ich am 30. November 1989 in der Friedrich-Ebert-Stiftung gesprochen. Ich habe den Gedanken der deutschen Einheit einerseits an die gleichberechtigte Partnerschaft beider deutschen Staaten gebunden. Andererseits habe ich sie als Element auf dem Weg zur Einheit Europas beschrieben. Ich habe einen Prozess beschrieben, keinen Endzustand.

1990 – Parteitagsfoto

Ich zitiere zwei kurze Passagen aus der Rede: „Es geht also von Anfang an nicht um Festschreibung der Zweistaatlichkeit, sondern um besondere Beziehungen zur Bundesregierung aufgrund der Gemeinsamkeit in einem deutschen Volk, der gemeinsamen Nation, der gemeinsamen Geschichte und der daraus erwachsenen Verantwortung.“ Zum Verhältnis der Einheit Deutschlands und der Einheit Europas habe ich gesagt: „Wichtig ist aber, dass das eine das andere fördert und man versuchen muss, das eine durch das andere voranzutreiben. Es kann gut sein und vermutlich ist es auch so, dass die konkrete Gestaltung der Einheit des deutschen Volkes durch die beiden deutschen Staaten sehr friedensfördernd in Europa sein kann, wenn es mit der entsprechenden Verantwortung getan wird.“

Norbert Reichel: Ein Streitpunkt in diesem Rahmen war die Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands in der NATO.

Markus Meckel: Auch das war eine Frage des Umgangs der beiden deutschen Staaten miteinander. In der bereits zitierten Rede in der Friedrich-Ebert-Stiftung habe ich die offenen Fragen benannt. Eine davon war die Frage nach dem Verhältnis zur NATO. Ich fragte: „Wie ist das Verhältnis zu den Blöcken, wie ist das Verhältnis zur NATO? Wenn für die Bundesrepublik die NATO zur Staatsraison erklärt wird, was bedeutet das für das Verhältnis zur DDR? In diesem Horizont ist eine konkrete und schnelle Wiedervereinigung friedenshindernd und – gefährdend für Europa.“

All das gehörte von Anfang an zur Programmatik der Sozialdemokratischen Partei in der DDR, der SDP, und fand sich wieder in der Delegiertenkonferenz vom 12. bis 14. Januar 1990 in der Kongresshalle am Alexanderplatz, als wir das Kürzel „SDP“ durch das Kürzel „SPD“ ersetzten. Richard Schröder hatte die Erklärung zur deutschen Frage entworfen. Jeder Satz dieser Erklärung wurde mit großem Beifall bedacht. Ich denke, wir sollten die Erklärung komplett zitieren. So lässt sich jeder Legendenbildung entgegentreten: „Wir Sozialdemokraten bekennen uns zur Einheit der deutschen Nation. Ziel unserer Politik ist ein geeintes Deutschland. Eine sozialdemokratisch geführte Regierung der DDR wird die notwendigen Schritte auf dem Weg zur deutschen Einheit in Abstimmung mit der Regierung der Bundesrepublik Deutschland gehen. Was sofort möglich ist, soll sofort geschehen. Eine sozialdemokratische Regierung wird einen Wirtschafts- und Währungsverbund als vorrangige Aufgabe in Angriff nehmen. Alle Schritte des deutschen Einigungsprozesses müssen in den gesamteuropäischen Einigungsprozess eingeordnet sein. Denn wir wollen die deutsche Einheit nur mit der Zustimmung all unserer Nachbarn. Ihre Grenzen sind für uns unantastbar. Wir erstreben eine europäische Sicherheits- und Friedensverantwortung. Wir sehen dabei für uns die besondere Verantwortung, den Demokratisierungsprozess und die wirtschaftliche Erneuerung in Ost-Europa zu fördern.“

Streitpunkt jüdische Zuwanderung

Norbert Reichel: Es gab im Jahr 1990 einige Streitpunkte mit der westdeutschen Bundesregierung. Einer davon war der Streit über die Einwanderung sowjetischer Juden*Jüdinnen, die dann unter dem Begriff „Kontingentflüchtlinge“ firmierte.

Markus Meckel: Hier Kontingente zu schaffen, war die Regelung der Bundesregierung nach der Vereinigung, als man unsere Entscheidung nicht einfach rückgängig machen konnte. Dazu war es außenpolitisch zu sensibel. Unser Beschluss – erstmalig am Runden Tisch im Februar 1990 und dann durch die gewählte DDR-Regierung – war die Einladung an die in der Sowjetunion unter Druck stehenden Juden, in die DDR zu kommen. 1989 hatte es schon mehr als 200 000 Ausreisen von Juden aus der SU gegeben. Viele wollten nicht nach Israel, sie waren oft nicht sehr religiös – und so wurde die DDR nach der Friedlichen Revolution für sie interessant. Wir hatten uns in der Volkskammer in der Erklärung vom 12. April 1990 zu der Verantwortung aus unserer Geschichte bekannt und sahen diese Einladung als eine Konsequenz aus dieser Haltung. Es stellte sich dann jedoch heraus, dass die Bundesregierung dagegen war und diese Einwanderung verhindern wollte. Es ist nachweisbar, dass es sogar den Versuch von Hans Neusel gab, dem damaligen Staatssekretär von Wolfgang Schäuble, diese Asylgesetzgebung und den Vollzug auszusetzen.

Wir ließen uns jedoch nicht beirren und so begann dieser Einwanderungsprozess im Sommer 1990. Ein paar Tausend sowjetische Juden sind dann noch vor dem 3. Oktober 1990 nach Deutschland eingereist. Durch unsere Entscheidung damals hat sich das jüdische Leben in Deutschland grundlegend geändert – es ist lebendig und vielfältig geworden. Heute nimmt Wolfgang Schäuble, der unsere Politik damals verhindern wollte, diese Entscheidung zur Einwanderung von Juden aus der Sowjetunion für sich in Anspruch. In seiner Rede zum Holocaust-Gedenktag 2021 schreibt er es der Bundesregierung zu, diese Einwanderung durch die Regelung der „Kontingentflüchtlinge“ ermöglicht zu haben – ohne zu erwähnen, dass die Grundsatzentscheidung von der DDR-Regierung getroffen wurde – zum Unwillen der damaligen Bundesregierung. Aber so ist das mit der Vaterschaft von Erfolgsgeschichten.

Erinnerung und Aufarbeitung

Norbert Reichel: Erinnerungskultur im Kontext der Shoah ist in Deutschland Staatsraison. Allerdings verblasst die Erinnerung an die DDR, die kommunistische SED-Diktatur, die Bürgerbewegung gegen die SED-Diktatur. Ich habe den Eindruck, dass sich nur wenige Menschen im „Westen“ dafür interessieren. Sie zitieren in Ihren Texten mehrfach Bernd Faulenbach: „Er hat darauf hingewiesen, dass dadurch der Nationalsozialismus nicht relativiert, der Kommunismus aber auch nicht bagatellisiert wird.“ Sie haben ferner darauf hingewiesen, dass leider vielfach genau dies geschieht.

Markus Meckel: Man kann und darf das nicht trennen. Ich erinnere an das Bekenntnis der am 18. März 1990 gewählten Volkskammer in ihrer ersten Sitzung am 12. April 1990 zur deutschen Schuld und Verantwortung. Dieses Bekenntnis enthält ein Schuldeingeständnis gegenüber den Juden, den Völkern der Sowjetunion, den Polen und den Sinti und Roma. Die SED hatte diese Verantwortung aus der Geschichte abgelehnt. Das war unsere zentrale Richtungsveränderung. Das hatte Folgen zu unserem Verhältnis zu Polen, zur Tschechoslowakei. Wir gingen damals ja noch davon aus, dass die DDR 1968 in der Tschechoslowakei einmarschiert ist. Es stellte sich dann heraus, dass das gar nicht der Fall war und im letzten Augenblick abgesagt worden war. Das habe ich aber erst nach 1990 erfahren.

In der Erklärung der Volkskammer lesen wir: „Wir haben die furchtbaren Leiden nicht vergessen, die Deutsche im Zweiten Weltkrieg den Menschen in der SU zugefügt haben. Diese von Deutschland ausgegangene Gewalt hat schließlich auch unser Volk selbst getroffen. Wir wollen den Prozess der Versöhnung unserer Völker intensiv fortführen.“ Zu Polen: „Insbesondere das polnische Volk soll wissen, dass sein Recht, in sicheren Grenzen zu leben, von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft durch Gebietsansprüche in Frage gestellt wird.“

In diesen Rahmen gehört dann auch mein Engagement für ein Dokumentationszentrum für den Vernichtungskrieg im Osten. Der Deutsche Bundestag hat am 9. Oktober 2020 beschlossen, dass ein Dokumentationszentrum über die deutsche Besatzung in Europa geschaffen werden sollte. So zieht sich für mich von der Erklärung der Volkskammer im April 1990 über die Anerkennung der polnischen Westgrenze bis zur heutigen Diskussion ein großer Bogen.

Norbert Reichel: Zur Aufarbeitung der SED-Diktatur richtete der Deutsche Bundestag zwei Enquête-Kommissionen ein, deren Berichte auf der Internetseite des Deutschen Bundestages verfügbar sind. Es entstand die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Markus Meckel: Ich habe die Einrichtung einer Enquête-Kommission zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte im November 1991 in einer Presseerklärung vorgeschlagen. Damals war ich Abgeordneter der Opposition – und regelrecht erstaunt, dass dieser Vorschlag dann wirklich Erfolg hatte. In der darauffolgenden Legislaturperiode wurde die Arbeit fortgesetzt. Dies hatte dann weitreichende Konsequenzen für den Aufarbeitungsprozess in Deutschland. Eine wesentliche Folge war die Gedenkstättenkonzeption, welche dann von der Bundesregierung nach 1998 weitgehend umgesetzt wurde. Und dann die Bundesstiftung Aufarbeitung. 1994 hatte ich sie schon vorgeschlagen, doch taucht sie damals nur als Minderheitsvotum der SPD auf. In der zweiten Enquete-Kommission ist es jedoch gelungen, dafür eine Konzeption zu erarbeiten und eine breite Mehrheit zu finden. Sie konnte dann sogar noch im Wahlkampf 1998 im parteipolitischen Konsens durch ein Bundesgesetz gegründet werden. Ich halte das bis heute für einen meiner großen politischen Erfolge als Abgeordneter.

Norbert Reichel: Bei Debatten um die Erinnerung an die DDR kursiert immer wieder der Begriff Unrechtsstaat, den ich als sehr problematisch betrachte. Meines Erachtens wäre es besser, wir bezeichneten die DDR als das, was sie war, als „Diktatur“. Das ist ein Begriff, der immer in den Hintergrund gerät, und dann entsteht Streit, ob die DDR ein „Unrechtsstaat“ gewesen wäre oder nicht. Eigentlich müsste man sagen: in jeder Diktatur geschieht Unrecht und müsste dann dieses Unrecht konkret benennen. Diese präzisierende Ableitung vermisse ich oft.

Markus Meckel: Das ist ja ein Kampfbegriff geworden. Er wird gerne von der CDU benutzt, aber auch von anderen, beispielsweise von Marianne Birthler. Das spielte vor Jahren bei der Wahl zum Bundespräsidenten eine Rolle. Gesine Schwan hatte den Begriff – wie ich finde, zu Recht – problematisiert. Das wurde dann gegen sie verwendet. Gesine Schwan hätte sagen sollen und hätte damit das Problem gelöst, dass sie die DDR nicht Unrechtstaat nenne, weil der Begriff unpräzise ist und man besser von einer Diktatur reden sollte. Das war nämlich ihre Position, wie die meine auch. Das hat sie aber leider nicht gesagt. Der Begriff des Unrechtsstaats muss erst einmal definiert werden. Für mich ist ein Begriff, dem man erst eine Definition hinzufügen muss, um zu sagen, was man meint, für den öffentlichen Gebrauch nicht geeignet – und schon gar nicht, wenn man ihn wie eine Bekenntnisfrage behandelt.

Zum zehnten Jahrestag der Einrichtung der Enquête-Kommission habe ich am 12. März 2002 im Abgeordnetenhaus von Berlin gesprochen. Ich habe betont, dass die Kommission kein Tribunal sein darf. Das war in der Diskussion, aber aus meiner Sicht kein angemessenes Instrument der Aufarbeitung in einer pluralistischen Gesellschaft. Ich habe auch darauf hingewiesen, dass nach einer Diktatur die Vergangenheit leicht zu einem Knüppel im politischen Kampf wird.

Wir müssen darauf hinwirken, die Dinge im Zusammenhang zu betrachten. Am 2. April 1998 habe ich im Deutschen Bundestag gesagt: „Dabei gehörte es zum System, dass, da es keine Öffentlichkeit und keine öffentliche Debatte gab, jeder nur seinen Ausschnitt kannte. Ich muss sagen: In den letzten Jahren, in denen wir uns mit unserer Geschichte befasst haben, habe ich selbst, der ich die ganze Zeit in der DDR gelebt habe, über dieses Land, seine Bezüge und ganz andere gesellschaftliche Bereiche sehr viel gelernt. Ich denke, das ist eine Aufgabe, der wir uns im Miteinander, im gegenseitigen Erzählen, durch Förderung von Wissenschaft und politischer Bildung sowie im Zur-Sprache-Bringen und Zur-Sprache-bringen-Lassen der Menschen, die ihre jeweiligen besonderen Erfahrungen gemacht haben, stellen müssen. Dies wird wichtig sein. Dies ist die Aufgabe der Stiftung.“ Auf diese Weise leistet die Stiftung einen wesentlichen Beitrag zu einer gesamtdeutschen Erinnerungskultur.

Die Aufgabe der Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur in Deutschland ist jedoch nicht allein eine nationale Aufgabe. Man kann die DDR nicht verstehen, ohne den ständigen Bezug zur Bundesrepublik, aber ganz besonders auch nicht ohne den Blick auf die Sowjetunion und den kommunistischen Osten Europas. Nicht nur Deutschland war geteilt, sondern Europa. So muss diese Teilung auch in ihrer europäischen und globalen Dimension in den Blick kommen, was in Deutschland bis heute nicht ausreichend geschieht.

Deshalb habe ich 2008 mit dem deutsch-amerikanischen Historiker Konrad Jarausch in einem Aufruf die Schaffung eines Museums des Kalten Krieges am Checkpoint Charlie in Berlin gefordert. Die bisherigen Orte der Erinnerung an die Teilung sind stark auf die Berliner Mauer und die deutsche Teilung konzentriert. Wir brauchen jedoch diese internationale Perspektive, die Ost und West gleichermaßen in den Blick nimmt.

Debatten im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge

Norbert Reichel: Einen Beitrag zur gesamtdeutschen Erinnerungskultur und vielleicht auch zu einer gesamteuropäischen Erinnerungskultur haben Sie als Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge geleistet. Dieses Amt haben Sie 2013 bis 2016 ausgeübt. Wir haben uns in dieser Zeit einmal in Berlin getroffen, als über Aspekte der von Ihnen vorgeschlagenen Neuausrichtung debattiert wurde, u.a. über die Bildungsarbeit des Volksbundes. Ich nahm an dieser Sitzung als Vertreter der Kultusministerkonferenz teil, die im Dezember 2014 unter der Präsidentinnenschaft von Sylvia Löhrmann eine Empfehlung zur Erinnerungskultur beschlossen hatte.

Markus Meckel: Der Volksbund hat wichtige Verdienste. Es war wichtig für die Menschen, dass sie wissen, wo ihre Väter, ihre Großväter gestorben und begraben sind. Noch heute identifizieren wir Tote des Ersten Weltkrieges. Der Volksbund hat über Jahrzehnte einen öffentlichen Raum für individuelles Trauern geschaffen und damit für viele Menschen einen wichtigen humanitären Dienst getan. Doch sind heute die Kriegsgräberstätten immer weniger Orte persönlicher Trauer, immer mehr werden sie Orte öffentlichen Gedenkens und der Jugend- und Bildungsarbeit.

Ich habe daher versucht, dem Volksbund eine neue, erweiterte Ausrichtung zu geben. Ich wollte, dass Kriegsgräber als authentische Orte der Geschichte Orte des Lernens und der grenzüberschreitenden Begegnung werden. Wir müssen uns zu Schuld und Verantwortung bekennen. Meilensteine waren der Kniefall Willy Brandts und die Rede Richard von Weizsäckers vom 8. Mai 1985. Eigentlich müssten diese Botschaften Konsens sein, doch ist mir diese Erweiterung der Ausrichtung des Volksbundes leider nicht gelungen. Ich musste dann feststellen, dass der Volksbund mich aus seiner Geschichte gestrichen hat. Sie finden auf seiner Internetseite nichts mehr über meine Zeit als Präsident. Daher habe ich eine eigene Internetseite erstellt. Ein entscheidender Streitpunkt war die Bezeichnung des Zweiten Weltkriegs als „Angriffs- und rassistisch motivierter Vernichtungskrieg“. Am 22. September 2016 bin ich dann von meinem Amt zurückgetreten. Die von mir geplanten Reformen und neuen Ausrichtungen sind seitdem leider auch nicht weitergeführt worden.

Auf meiner Internetseite sind die unterschiedlichen Fassungen des kontroversen Textes dokumentiert, ebenso meine Denkschrift vom 20. März 2016 und die Begründung meines Rücktritts. Ich nenne nur einige wenige Punkte, die aus meiner Sicht eine Rolle spielen müssten: Nicht nur die gefallenen Soldaten, auch die Kriegsgefangenen müssen namentlich genannt werden, die im Krieg getöteten Zivilisten haben ebenso „ein dauerhaftes Ruherecht“ wie die Soldaten. Wir brauchen eine Konzeption für die Kriegsgräberstätten des Ersten Weltkriegs im Osten Europas, bisher konzentrieren sich die Aktivitäten des Volksbundes für den Ersten Weltkrieg auf den Westen Europas.

Mir war es ein zentrales Anliegen, die Erinnerung und das Gedenken an die Kriegsopfer in die deutsche Erinnerungskultur zu integrieren und in Europa an einer dialogischen Erinnerungskultur zu arbeiten. So gründeten wir damals auf europäischer Ebene eine Arbeitsgruppe der verschiedenen Kriegsgräberdienste. Leider ist auch das dann versandet.

Eine Kernaussage: „Die Erinnerungskultur in Deutschland ist in der Gesellschaft recht gespalten und vielfach wenig integrativ. Die einen beschäftigen sich mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, die anderen mit der des Kommunismus, wieder andere mit Flucht und Vertreibung. Erst durch die letzten Jahrestage kommt auch das Gedenken an die Weltkriege wieder in den Blick. Hier aber muss sich der Volksbund einbringen und Profil gewinnen. Dies sollte durch einen integrativen Ansatz geschehen, wodurch die verschiedenen Dimensionen der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts – Weltkriege und totalitäre Diktaturen – miteinander in Beziehung gesetzt werden.“

„…das 20. Jahrhundert als Ganzes zusammenzubringen“

Norbert Reichel: Zentral ist für mich die Shoah in ihrer Einzigartigkeit, eine Dimension, die allen, die sich damit beschäftigen, aber auch vielen Betroffenen, im wahrsten Sinne des Wortes, die Sprache verschlägt.

Markus Meckel: Joachim Gauck hat es als Bundespräsident am 27. Januar 2015 so formuliert: „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“. Mir geht es aber auch darum, das 20. Jahrhundert als Ganzes zusammenzubringen. Meine These lautet, dass wir zurzeit eine auseinanderfallende Erinnerungskultur erleben. Es gibt unterschiedliche Konfliktlinien, zwischen den Themen Kommunismus und Nationalsozialismus, den Themen Krieg und Diktaturen, um Flucht und Vertreibung, alles Dinge, die nebeneinanderstehen und nicht integriert werden, aber verbunden werden müssen. Auf der einen Seite gilt das Diktum von Bernd Faulenbach, das Sie zitierten, auf der anderen Seite müssen wir immer wieder klarstellen, dass es ohne den nationalsozialistischen Angriffs- und Vernichtungskrieg keine kommunistischen Diktaturen in den osteuropäischen Ländern zwischen der Sowjetunion und Deutschland gegeben hätte.

Über diesen Kontext habe ich mehrfach gesprochen, beispielsweise in einem Friedrich-Ebert-Gedächtnisvortrag im Friedrich-Ebert-Haus Heidelberg am 4. Februar 2015. Ich darf aus dieser Rede zitieren: „Die Pflege von Kriegsgräber- und Gedenkstätten ist gleichzeitig Ausgangspunkt und Ziel internationaler Jugendbegegnungen. Hier geht es um Friedensbildung, es geht unter anderem um die Bildung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins miteuropäischem, interkulturellen und zunehmend auch globalem Horizont. Durch Begegnungen mit den Menschen des Gastlandes wird erfahren, welches Schicksal die Menschen in dieser Landschaft in der Vergangenheit erleiden mussten.“

Norbert Reichel: Friedrich Ebert ist nicht unumstritten. Sebastian Haffner hat ihn in seinem Buch über „Die deutsche Revolution 1918/1919“ heftig kritisiert. Er habe gemeinsame Sache mit Rechtsterroristen gemacht, um konkurrierende sozialistische und kommunistische Parteien auszuschalten. Sebastian Haffner hat das später selbst relativiert.

Markus Meckel: Lassen Sie mich als Antwort aus meiner Heidelberger Rede zitieren: „Erst Jahre später, 1917, wurden Friedrich Ebert und die deutschen Mehrheits-Sozialdemokraten gemeinsam mit den Kräften, die später die Weimarer Republik tragen sollten, für den Frieden aktiv und brachten im Reichstag die ‚Friedensresolution‘ durch, mit welcher sie sich – wenngleich erfolglos – für einen ‚Verständigungsfrieden ohne Annexionen‘ einsetzten. Ich gestehe, dass für mich in den 1980er Jahren die Haltung der deutschen Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg sowie die Position Helmut Schmidts in der Nachrüstungsfrage eine schwere Anfechtung waren. Sie wurde nur durch den Widerstand Willy Brandts, Erhard Epplers und großer Teile der SPD gegen die Nachrüstung gewissermaßen ausgeglichen. Heute frage ich mich, ob die Mehrheit der Sozialdemokraten damals wirklich eine andere Wahl hatte. Zugleich ist nicht zu leugnen, dass damit die letzte Chance vertan war, dem Krieg entgegenzutreten. Dazu kommt die Frage, ob ohne diese Zustimmung die spätere Kooperation der SPD mit der katholischen Zentrumspartei und der liberalen Fortschrittspartei zustande gekommen wäre, welche die politische Grundlage für die Friedensresolution von 1917 und besonders für die ‚Weimarer Koalition‘ geworden ist.“

„Gedenken ohne zu ehren“

Norbert Reichel: Vielleicht sollten wir das Wort beherzigen, nicht zu richten (Mt. 7,1). Vielleicht ist das die wahre Botschaft des „Wandels durch Annäherung“. Entscheidend ist vielleicht der Mut zum Dialog. Sie sagten in Heidelberg: „So hat selbst das Gedenken nationaler Ereignisse eine europäische Dimension.“ Und als Deutsche müssen wir über die Täter sprechen! Das wollen viele Menschen nach meiner Erfahrung nicht, sie flüchten sich lieber in die Ansicht, dass ihre Eltern und Großeltern zu den Opfern gehörten. Daher kommt vielleicht auch die Hoffnung, dass gefallene Väter und Großväter Ehre verdienen. Ich erinnere mich noch gut an das Aufsehen, das der Besuchs des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof von Bitburg (Rheinland-Pfalz) auslöste, auf dem auch SS-Angehörige begraben sind.

Markus Meckel: Ich habe für die Formel geworben: Gedenken ohne zu ehren“. Bisher hat die deutsche Politik und Erinnerungskultur keine Antwort auf die Frage, wie wir angesichts der furchtbaren Verbrechen der deutschen Soldaten gedenken wollen. Die private Trauer hat oft die Verbrechen beiseitegeschoben und die Gefallenen allein als Opfer betrachtet. Das öffentliche Gedenken wiederum hat wenig zum Ausdruck gebracht, dass es unsere Väter und Großväter waren. Gleichzeitig darf man nicht pauschal jedem – oft noch sehr jungen Soldaten – die ganze Last der deutschen Verbrechen auf die Schultern legen. Wir sollten dieser Toten gedenken – und ihr Verhalten und Schicksal uns nahe gehen lassen, sie aber nicht ehren, denn dieser Vernichtungskrieg war nun wirklich kein „Feld der Ehre“. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die europäischen Partner durchaus an einem Dialog zu diesen Fragen interessiert waren, eben der schwierigen Herausforderung, auch mit den dunklen Seiten der eigenen Geschichte umzugehen.

Ich habe 2014 Angela Merkel eingeladen, bei den Gedenkfeiern zur Landung in der Normandie auch eine deutsche Kriegsgräberstätte zu besuchen. Sie tat dies nicht, sie besuchte einen britischen Friedhof, auf dem aber auch 350 deutsche Soldaten lagen. Ich habe recherchieren lassen, dass auch dort nicht wenige SS-Leute lagen. Das ist auf allen Friedhöfen so. Dort liegen eben auch Täter, Menschen, die Kriegsverbrechen begangen haben. Wir finden auf den Friedhöfen des Zweiten Weltkriegs SS-Angehörige und Soldaten der Wehrmacht, Deserteure, Geflüchtete und Vertriebene, Opfer der Besatzung sowie Zwangsarbeiter. Damit müssen wir offen umgehen. Als ich das mit der französischen Partnerin besprach, war das Interesse groß. Sie meinte, das wäre auch für Frankreich eine noch ungenügend bewältigte Herausforderung, z.B. wenn es um Vietnam und Algerien geht. Wie gehen wir mit den dunklen Kapiteln der eigenen Nation um? Das ist eine Frage, die der Volksbund in Deutschland heute leider nicht mehr stellt.

Wir müssen uns die Debatten im Volksbund vor Augen halten. Als ich den Zweiten Weltkrieg als Angriffs- und Vernichtungskrieg bezeichnete, da gingen im Volksbund die Wellen hoch, obwohl das ein Zitat aus einer Erklärung des Deutschen Bundestags von 1997 ist. Es gab einen Aufstand. Ich wurde in der „Jungen Freiheit“ angegriffen, ich wollte doch wohl nicht den Volksbund zur Aktion Sühnezeichen machen. Es gab auch einen Bundeswehrgeneral im Ruhestand aus dem Reservistenverband, der mich massiv angriff und im Reservistenverband großen Einfluss ausübte.

Norbert Reichel: Wer das Thema der möglichen Täterschaften meidet, bereitet aus meiner Sicht einer Glorifizierung auch der Verbrechen deutscher Soldaten den Weg, wie sie der Fraktionsvorsitzende der AfD im Deutschen Bundestag aussprach. Ich frage mich aber manchmal auch, ob solche Kontroversen Rückzugsgefechte der ewig Gestrigen sind oder ob uns neues Unheil droht.

Markus Meckel: Umso wichtiger ist ein umfassender Blick auf die Geschichte. Die nach 1989 geborene Generation hat keine persönliche Erinnerung mehr an die Weltkriege, an die totalen Diktaturen, an Repression und Unterdrückung und Teilung des Kontinents.

Ich habe in meiner Autobiographie geschrieben: „Viel stärker, als dies bisher geschieht, müssen wir m.E. die Schrecken des 20. Jahrhunderts in ihren Zusammenhängen in den Blick nehmen und darstellen. In der Wissenschaft werden die europäischen Zusammenhänge dargestellt, doch in unserer Erinnerungskultur kommt der Dialog mit den europäischen Nachbarn noch immer zu kurz. Die ersten Schritte auf diesem Wege werden getan, doch braucht es mehr konzeptionelles Nachdenken und angemessene Strukturen.“

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im August 2021, Internetzugriffe zuletzt am 26. Juli 2021)