A World of Her Own

Feministische Anarchie und Surrealitäten bei Marlen Haushofer

„Zwei Tage liegen nun vor mir, zwei Tage Zeit, um niederzuschreiben, was ich zu schreiben habe. Aber ich kann mich schlecht sammeln, seit dieser Vogel in der Linde schreit. Es wäre mir lieber, ich hätte ihn heute früh nicht entdeckt. Das verdanke ich meiner schlechten Gewohnheit, stundenlang am Fenster zu stehen und in den Garten zu starren. Hätte ich nur einen flüchtigen Blick hinausgeworfen, wäre er mir nie aufgefallen. Sein Gefieder ist so grüngrau wie die Rinde des Baumes. Erst nach einer halben Stunde bemerkte ich ihn, weil er zu schreien und zu flattern anfing. Er ist noch so jung, dass er nicht fliegen und noch viel weniger Mücken fangen kann.“ (Marlen Haushofer, Wir töten Stella)

Die Erzählerin von „Wir töten Stella“ möchte etwas aufschreiben, sie will ihren Beitrag zum Tod Stellas beichten, ein tödlicher Unfall im Straßenverkehr. Stella wurde von einem LKW überfahren. Für die Erzählerin war der Unfall „Mord“, sodass sich eine Reminiszenz an den letzten Satz in Ingeborg Bachmanns dreizehn Jahre nach „Wir töten Stella“ erschienen Roman „Malina“ geradezu aufdrängt: „Es war Mord.“ Ab wann die Begleitumstände eines Todes und die diversen Kontakte der Überlebenden mit dem beziehungsweise der Toten als „Mord“ oder zumindest als Beihilfe betrachtet werden könnten, wird zu einer völlig subjektiven Emotion, losgelöst von jeder juristischen Würdigung.

Das Geburtshaus von Marlen Haushofer in Molln, Effertsbach 6. Fotograf: Christoph Waghubinger, Creative Commons Attribution Share Alike 4.0, Wikimedia / Commons

Mann und Kinder sind nicht da, aber die Erzählerin von „Wir töten Stella“ wird abgelenkt: Ein junger Vogel ist ihr nicht mehr „gleichgültig“, sie fühlt sich fast schon für ihn verantwortlich, fast so wie sie sich für Stella und nicht zuletzt Stellas Tod verantwortlich fühlt. Andererseits fühlt sie sich durch den Tod Stellas von einer Belastung in der Familie befreit. Sie unterstellte Stella, dass ihr Mann mit ihr ein erotisches Verhältnis hatte, was möglicherweise auch stimmte, obwohl wir nur aus der Perspektive der Erzählerin davon erfahren. Diese Verantwortung sucht sie durch ein Bekenntnis zu bewältigen, letztlich erfolglos. Sie tut letztlich das Gegenteil von dem, was sie selbst fordert: „Aber ich schaue nicht zurück, denn es lohnt sich nicht zurückzuschauen.“ Aber der Mensch hat ja keinen Einfluss auf das, was geschieht, was geschehen wird. So glaubt sie: „Natürlich könnte ich auch an die Zukunft denken, aber das tue ich nie. Sie wird ganz ohne mein Zutun kommen und uns auf unheimliche Weise zu dem machen, was wir nie sein wollten. Jede Minute, jede Sekunde verwandelt uns weiter fort von uns.“ Die Gegenwart ist die eigentliche Last.

Schlechtes Gewissen

„Wir töten Stella“ erschien im Jahr 1958, ein Jahr nach „Die Tapetentür“, sechs Jahre nach „Das fünfte Jahr“. Fünf Jahre nach „Wir töten Stella“ erschien „Die Wand“, sechs weitere Jahre später „Die Mansarde“. In fast allen Erzählungen oder Romanen dreht es sich um eine einsame oder sich zumindest einsam fühlende Frau, die auch gleichzeitig die Erzählerin ist. In den Romanen „Das fünfte Jahr“ und „Himmel, der nirgendwo endet“ sind ein etwa fünf- beziehungsweise zweieinhalbjähriges Mädchen die Hauptpersonen. Ihre Geschichten werden aus ihrer Perspektive in erlebter Rede erzählt, sie sind von einem ähnlichen Unverständnis gegenüber der sie umgebenden Welt gezeichnet wie die Welten der erwachsenen Erzählerinnen bei Marlen Haushofer. In „Die Tapetentür“ gibt es eine Mischform, die Hauptperson Annette als Erzählerin und Tagebuchschreiberin, dazu erzählende Passagen in der dritten Person, aber auch diese in erlebter Rede, ähnlich dem Flaubert’schen „discours indirect libre“.

Wenn die Welt schweigt, was bedeutet dann Gott? Marili, das kleine Mädchen in „Das fünfte Jahr“ denkt: „Der liebe Gott war längst eingeschlafen und hatte sie mit ihm allein gelassen.“ Die Tagebuchschreiberin in „Die Tapetentür“ sieht den in ihrer realen Welt allmächtig gedachten Gott machtlos: „Man könnte sogar annehmen, dass Christus nichts anderes bedeutet als die Aufgabe der Schmerzlosigkeit Gottes. Einem Gott, der leidet und erniedrigt wird, haben die Geschöpfe nichts mehr voraus.“ Ein Hauch von Theodizee? Doch wer sind die Götter, der Gott? Aus soziologischer Sicht ließe sich vermuten, dass möglicherweise internalisierte gesellschaftliche Erwartungen als Ersatz solcher Götter fungieren oder möglicherweise sogar als ihre wahre Essenz?

Gedenktafel für Marlen Haushofer an der Fassade des Hauses Berggasse 81 in Steyr (Ecke Berggasse/Pfarrgasse). Graviert von Christian Pramesberger (HTL Steyr), angebracht Ende März 2020 vom Marlen Haushofer Literaturforum (OÖN vom 25. März 2020, Beilage Steyrer Zeitung). Fotograf: Christoph Waghubinger, Creative Commons Attribution Share Alike 4.0, Wikimedia / Commons

Daniela Strigl, Autorin einer umfassenden Marlen-Haushofer-Biographie mit dem Titel: „Wahrscheinlich bin ich verrückt…“ (Erstveröffentlichung 2007 bei Ullstein), zitiert den letzten Brief, den Marlen Haushofer vor ihrem Tod schrieb: „Auch wenn du mit einer Seele behaftet wärest, sie wünscht sich nichts als tiefen, traumlosen Schlaf. Der ungeliebte Körper wird nicht mehr schmerzen. Blut, Fleisch, Knochen und Haut, alles wird ein Häufchen Asche sein und auch das Gehirn wird endlich aufhören zu denken. Dafür sei Gott bedankt, den es nicht gibt.“ Daniela Strigl verweist auch auf die unliebsame Begegnung von Marili in „Das fünfte Jahr“ mit dem Bild des Gekreuzigten. Marili sieht einerseits den „sagenhaft gütigen, Geschichten erzählenden Großvater“ als den „lieben Gott“, anderseits den bösen Gekreuzigten, der „das Kind durch sein vorwurfsvolles Schweigen“ erschreckt, das die Großmutter noch verstärkt, indem sie „Marili erzählt, dass Christus den Tod am Kreuz ‚für unsere Sünden büßt‘“, obwohl Marili keine Ahnung hat, was „Sünden“ sein sollen. Schuld ist letztlich eine Zuschreibung, die Erwachsene als Begründung sie verwirrender oder gar schockierender Ereignisse vornehmen. Zu einer solchen Zuschreibung sind Kinder noch nicht in der Lage, aber die Erzählungen der Erwachsenen sorgen dafür, dass sie es bald sind.

Ein unerwarteter oder zugleich offenbar sehnsüchtig erwarteter Tod in „Wir töten Stella“, die von einem unbekannten physikalischen Phänomen verursachte Isolation von der Außenwelt in „Die Wand“, der Rückzug aus einer „Welt, die rund und ungebrochen war und die es nicht mehr gibt“ in die Einsamkeit eines eigenen Zimmers in „Die Mansarde“, in die hinein die Erzählerin fern von allen alltäglichen Aufgaben – scheinbar ungestört – ihrer Gegenwart entfliegt – das sind Grundsituationen, die vor den Augen der Welt um die Erzählerin herum noch nicht einmal gerechtfertigt zu sein scheinen. In „Die Tapetentür“ sinniert die Erzählerin: „Vielleicht ist das Tagebuch einfach ein Laster wie Rauchen und Trinken.“ Das schlechte Gewissen begleitet alle Träume, alle kreativen Versuche.

Die jeweilige Selbstabwertung des Schreibaktes durch die Erzählerinnen bei Marlen Haushofer haben ihr Gegenstück in der Rezeption. Ein kurzer Dialog aus „Die Tapetentür“ zwischen Annette und dem eigentlich verständnisvoll scheinenden Onkel Eugen: „‚Phantasie‘, sagte sie selbstvergessen, ‚ist es was sehr Übles und Verdächtiges, findest du nicht?‘ / Er lächelte artig und nickte. In diesem Augenblick sah er sehr weise und wissen aus, aber so sah er da jetzt immer aus; es war nicht einmal sicher, dass er ihr zugehört hatte, und sie hoffte, es wäre nicht der Fall gewesen.“

Fragile Ordnung

Marlen Haushofer wurde als Autorin durchaus wertgeschätzt, oft aber wird sie unterschätzt oder sogar abgewertet. Sie wurde immer wieder nicht in der Rolle der kreativen Autorin, sondern als frustrierte Hausfrau, die sie oberflächlich betrachtet vielleicht auch war, gesehen, ihr Werk wurde mitunter als „Hausfrauenprosa“ bezeichnet, selbst – so berichtet Daniela Strigl – von ihrem literarischen Mentor Hans Weigl. Der Gegenstand wurde einfach mit dem Werk verwechselt. Nun präsentierte sich Marlen Haushofer nicht so schrill, polarisierend und politisierend wie Elfriede Jelinek, nicht so schlecht gelaunt wie Thomas Bernhard oder sich selbst bemitleidend wie Peter Handke.

Das Besondere an Marlen Haushofers Erzählungen und Romanen liegt einfach darin, dass der scheinbar banale Gegenstand immer wieder geradezu surreal gebrochen und dekonstruiert wird, dies aber so dezent geschieht, dass man schon sehr genau hinschauen muss, um es angemessen zu würdigen. „Die Wand“ ist vielleicht der Roman, in dem diese surrealen Brechungen allein durch das Setting, das Aufwachen in einer von einer gläsernen Kuppel abgeschlossenen Welt bei gleichzeitigem Tod alles Lebenden außerhalb dieser Kuppel, offensichtlich werden. Der eigentlich surreale Akt besteht jedoch darin, dass die eingeschlossene Erzählerin beginnt, ein Protokoll des Eingeschlossen-Seins aufzuschreiben. Solange der Vorrat an Papier reicht.

Marlene Krisper, die Marlen Haushofer persönlich kannte, schrieb den Essay „Das ordentliche Leben der Marlen Haushofer“ (im Original kursiv, Ernsthaler Verlag Steyr 2009). Zunächst bietet sie eine psychologische Erklärung: „Um die Spannung zwischen intellektuellem und provinziellem Leben zu verkraften, verschreibt sich Marlen ein Ordnungskorsett: ein selbstgebasteltes Gefängnis aus Vernunft und Disziplin. Wenn sie den Pflichten des Tages nicht nachkommt oder die vermeintlichen Erwartungshaltungen anderer nicht erfüllen kann, greift sie zur Selbstbestrafung.“ Interessant ist die Identifikation der Autorin mit der Erzählerin beziehungsweise Protagonistin der Erzählung, hier in „Die Tapetentür“. Diese Identifikation scheint mir große Teile des Schreibens über Marlen Haushofer zu bestimmen. Aber wie auch immer: Marlene Krisper würdigt diese Ambivalenzen im Denken und Schreiben Marlen Haushofers und der von ihr geschaffenen Erzählerinnen und Protagonistinnen als „Beiträge zur Soziologie ihrer Zeit.“

Vielleicht hängt dieser Wusch nach „Ordnung“, „Vernunft und Disziplin“ auch mit dem Drang zur Verdrängung der Vergangenheit in der österreichischen Nachkriegsgesellschaft zusammen. Marlene Krisper definiert, was sie mit „ihrer Zeit“, der Zeit der Marlen Haushofer, meint: „Entweder wird darüber geschwiegen oder die Erinnerung daran in eine erklärbare Ordnung gebracht. Gutes Benehmen als Ersatz für Vergangenheitsbewältigung – nach den moralischen Verheerungen des Nationalsozialismus – an welchen man unwissend, ahnend, als Mitläufer oder Täter beteiligt war – müssen wieder ordentliche Verhältnisse einkehren.“ So ergeben sich der „Putzzwang“ und schließlich die „Domestizierung weiblicher Kreativität durch ständig sich wiederholende eintönige Tätigkeiten. Eine Art Austreibungsritual.“

Daniela Strigl beschreibt den möglichen Einfluss der NS-affinen Professoren, die Marlen Haushofer nach ihrer Immatrikulation im Jahr 1940 an der Universität Wien erlebte: Josef Nadler und Hans Sedlmayr waren darunter, beide auch nach 1945 mit Einfluss auf die Studierenden einiger Jahrzehnte. Das Buch „Verlust der Mitte“ von Hans Seldmayr wurde geradezu zu einem Kultbuch. all derjenigen, die eine intellektuelle Erklärung für den Zusammenbruch der bisher gepflegten Weltanschauung suchten, sie aber nicht unbedingt in allen Teilen aufgeben wollten. Es ist im Grunde wie das manische Weißeln der Häuser in Max Frischs „Andorra“, das im Jahr 1961 uraufgeführt wurde.

Parallelen sieht Marlen Krisper bei den Beschreibungen ihrer Mütter durch Peter Handke und Thomas Bernhard. In dieser Welt ist es eben schwierig, sich als Schreibende zu behaupten: „Marlen muss sich einreden, dass Schreiben etwas Ordentliches ist und keine – wie sie es nennt – ‚unbürgerliche Ausschweifung‘.“ Marlene Krisper sieht Marlen Haushofer jedoch nicht nur als Opfer ihrer Zeit, sondern auch die Art und Weise, wie es ihr in ihren Texten gelingt, „das Nichtvereinbare in Gegenpolen zu vereinen“. „Die wie ein roter Faden durchgehende Antithese Erinnern und Vergessen ist rettend und bedrohlich zugleich.“ Es ist kein Zufall, dass die Erzählerinnen in „Die Wand“, „Die Tapetentür“, „Die Mansarde“ oder in „Wir töten Stella“ alle mehr oder weniger im Duktus einer Beichte, eines Lebensberichtes, eines Bekenntnisses schreiben, das nicht unbedingt für jemand Dritten bestimmt sein muss, auch wenn diese Möglichkeit nie völlig ausgeschlossen wird.

Räume des Absurden

Wer dem Bild des Werks der Marlen Haushofer weiter auf den Grund gehen möchte, sollte sich zwei Bände anschauen, die im Berliner Verlag Frank & Timme erschienen sind. Es handelt sich um zwei Tagungsberichte, die rund um das Jahr des 100. Geburts- und 50jährigen Todestages der Autorin entstanden sind. Beide Berichte machen Lust darauf, die Texte Marlen Haushofers neu zu entdecken, jenseits des patriarchalischen Verdikts der „Hausfrauenprosa“. Beide Bücher bieten umfangreiche Literaturverzeichnisse, die zeigen, wer wo in welchen Kontexten zu Marlen Haushofer geforscht hat.

Im Jahr 2019 erschien der von Sylvie Arlaud, Marc Lacheny, Jacques Lajarrige und Eric Leroy du Cardonnoy herausgegebene Band „Dekonstruktion der symbolischen Ordnung bei Marlen Haushofer“. Er dokumentiert eine Tagung, die 2019 in Paris stattfand. 15 Autor*innen befassen sich in österreichisch-französischer Zusammenarbeit vorwiegend mit den Romanen „Die Wand“ und „Die Mansarde“ aus verschiedenen Perspektiven: einer eher philosophischen Perspektive unter dem Stichwort „Entfremdung“ (fünf Texte), einer feministischen Perspektive unter dem Stichwort „Weibliche Stimmen“ (vier Texte) und einer historisierenden Sicht unter dem Stichwort „Geschichte“ (fünf Texte). Die Texte wurden in deutscher beziehungsweise in französischer Sprache veröffentlicht.

Drei Jahre später, im Jahr 2022, erschien der von Andrea Capovilla herausgegebene Band „Marlen Haushofer: Texte und Kontexte“. Elf Autor*innen verfassten die elf darin dokumentierten Beiträge, die bei einer Konferenz am Ingeborg Bachmann Centre in London anlässlich des 100. Geburtstages und 50. Todestages der Autorin vorgestellt wurden. Diese Texte wurden in englischer beziehungsweise in deutscher Sprache veröffentlicht.

An beiden Bänden beteiligt war Daniela Strigl. Beide Bände sind Teil der wunderbaren Reihe „Forum: Österreich“ des Verlags Frank & Timme, die von Helga Mitterbauer und Jacques Lajarrige herausgegeben wird.

In der Einleitung zu „Dekonstruktion der symbolischen Ordnung“ benennen die Herausgeber*innen den roten Faden des Buches: „Die unsichtbare Wand und die Mansarde sind mehrfach kodierte symbolische Räume, an denen sich die künstlerische Sublimierung und der existentielle Bezug des Menschen zur Welt ausloten und ablesen lassen.“ Das hervorgehobene „und“ signalisiert bereits, dass sich das Werk Marlen Haushofers nicht auf einen einzigen Begriff bringen lässt. Wenige Sätze später betonen die Herausgeber*innen die „Verbindung mit dem spielerischen Formalismus des Absurden“.

Marlen Haushofers Erzählungen wurden in der Zeit geschrieben, in der auch die Romane des Nouveau Roman und die Theaterstücke des „Theaters des Absurden“ (Martin Esslin) erschienen. Samuel Beckett lässt sich beiden literarischen Strömungen zuordnen. „Die Wand“ hat durchaus etwas von einem „Endspiel“, der Duktus folgt durchaus einem Romantitel von Samuel Beckett: „Comment c’est“ (1961) – „Wie es ist“ oder auch der in „Malone meurt“ (1951) erzählten Geschichte eines Sterbens. Die Autor*innen beider Sammelbände thematisieren darüber hinaus Marlen Haushofers Bezüge zur Science Fiction (einschließlich ihrer „Schwäche für Groschenromane“ wie „Perry Rhodan“), zu Märchen, zu utopischer und dystopischer Literatur, zu den „Prinzessinnendramen“ Elfriede Jelineks, zu ökologischen, feministischen wie existentialistischen Ansätzen bis hin zu einer Art von „Zivilisationskritik“ (Ralf Zschachlitz in: Arlaud und andere).

Daniela Strigl verweist auf einen Fragebogen, in dem Marlen Haushofer „als für sie wichtige Schriftsteller“ unter anderen „Laurence Sterne, Iwan Gontscharow und Anton Tschechow“ nennt. Vor allem Tschechow habe sie immer lesen können. Daniela Strigl resümiert (in: Capovilla): „Dass es in jedem Fall einen Zusammenhang zwischen dem Schreiben und der gesellschaftlichen Situation gibt, ob es nun um postapokalyptische Szenarien geht oder um den österreichischen Alltag, darüber besteht überhaupt kein Zweifel.“ Marlen Haushofer ist jedoch nicht nur Zeitzeugin, sie ist Zeugin der Unabweisbarkeit des Schreibwillens und Schreibprozesses, in den Worten Daniela Strigls: „Was die Erzählerin gegen die Gefahr der Ich-Auflösung setzt, ist das Schreiben.“

Marlen Mairhofer (auch in: Capovilla) sieht schon in der Auseinandersetzung zwischen der Erzählerin Annette in „Die Tapetentür“ und ihrem Mann über die Bezeichnung eines Baumes ein grundlegendes Gefühl des Zweifels an der Sinnhaftigkeit der Welt: „Immer wieder verlieren Haushofers Figuren die Fähigkeit, der Welt um sich herum Sinn abzugewinnen.“ Immer wieder sehen die Erzählerinnen Marlen Haushofers Bäume und Vögel, Tiere und Natur, letztlich aber eine „Anti-Idylle“. Elisabeth Kargl und Aurélie Le Née zitieren im Titel ihres Beitrags (in: Arlaud und andere) Marlen Haushofer mit dem Satz „Es stimmt nicht, dass ich nicht idyllisch sein will.“

Auch wenn Marlen Haushofer es nicht explizit ausspricht, würden Bedrohungen der Zeit, beispielsweise ein Nuklearkrieg, die Zerstörung allen Lebens, ein neuer Zweiter Weltkrieg angetriggert, in „Die Wand“ reflektiere die Erzählerin „Für ein unendliches Heer von Toten ist die einzige Möglichkeit des Menschen für immer vertan (….).“ Es ließe sich durchaus auch darüber nachdenken, wie Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“ geschrieben worden wäre, wenn das Motiv der gläsernen Wand, vielleicht um die dortige Pension Alpenrose herum, aufgenommen worden wäre. Nur im Schreibakt gibt es Rettung? Aber ob der Schreibakt geeignet ist, „die Gleichgültigkeit der sie umgebenden Umwelt“ aufzuheben, wie Sylvie Grimm-Hamen in ihrem Beitrag (in: Arlaud und andere, Übersetzung aus dem Französischen NR) zunächst formuliert, bleibt offen. Es bleibt auch die Angst, dass der Akt des Schreibens be- und verhindert wird, ein – so Sylvie Grimm-Hamen – Leitmotiv (im Original deutsch) in der Korrespondenz und im Austausch mit ihren Nächsten wie mit ihren Verlegern.“

Das Gegenbild zum Schreibakt der Erzählerinnen beziehungsweise Tagebuchschreiberinnen in „Die Tapetentür“, „Die Wand“ oder „Die Mansarde“ – alles Bezeichnungen von Grenz- und Schwellenräumen innerhalb eines Hauses, nur „Die Wand“ spielt definitiv außerhalb von Häusern, obwohl die dortigen Häuser und Landschaften Räume in einem großen einschließenden Raum sind – sind die Versuche des Ehemanns Hubert in „Die Mansarde“, der sich mit alten Schlachten oder Museumsbesuchen beschäftigt. Auffällig ist schon, dass dabei die jüngere österreichische Geschichte, schon gar nicht die Zeit des Nationalsozialismus, keine Rolle in dieser solipsistischen Beschäftigung mit der Vergangenheit spielen, durchaus auch lesbar als Parallele zur sich in ihre „Mansarde“ zurückziehenden Ehefrau.

Jacques Lajarrige verfasste für den Band „Dekonstruktion der symbolischen Ordnung“ einen sehr lesenswerten Essay über die Bedeutung des Museums in „Die Mansarde“ (Übersetzung aus dem Französischen NR): „Bei Marlen Haushofer stellt das Museum keinen Ort neutralen Erhalts dar, in dem der Besucher sich damit zufriedengeben könnte, in völliger Sorglosigkeit umherzuschweifen. Im Hinblick auf den Bruch des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs hat es für die Romanautorin notwendig die Unschuld eines Archivs verloren.“ Museen sorgen gleichzeitig für „Orte der Inklusion und der Exklusion“. Es geht letztlich immer um den „Graben der österreichischen Nachkriegsgesellschaft zwischen jüngster Geschichte und der Akkumulation eines instrumentalisierten historischen Wissens.“ Damit sind die Texte Marlen Haushofers – so Jacques Lajarrige – keine apolitischen Texte. Allerdings erscheint das Politische in der Regel erst, wenn sich Leser*innen auf die Tiefenstruktur der Texte einlassen und sich von der scheinbaren Belanglosigkeit des erzählten Alltags lösen, zu dem eben auch ein sonn- oder feiertäglicher Museumsbesuch gehören mag.

Die Mansarde ist der Gegenraum zum Museum. Das Hobby der Erzählerin, das Schreiben, ist die Gegentätigkeit zum Hobby des Ehemanns mit seinen historischen Studien. Und vielleicht auch umgekehrt, denn von den Gefühlen des Ehemannes erfahren wir nur das, was seine Ehefrau vermutet. Schreiben wird zur existenzialistisch lesbaren Befreiung in einer Welt, in die man – auch dies existenzialistisch verstehbar – hineingeworfen wird, sodass man letztlich keine Wahl hat als sich einen Ort des Rückzugs zu schaffen, vielleicht im Sinne des „Room of her own“ Virginia Woolfs, auf den auch mehrfach in den Beiträgen der beiden Sammelbände verwiesen wird. Vielleicht sind die Lektüren und Museumsbesuche der Versuch des Ehemanns, sich seinen „Room of his own“ zu schaffen, wohl weniger als Antiraum zu seiner Ehefrau als zum allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Erbe der österreichischen Verstrickung in Nationalsozialismus und Faschismus. Eine ausführliche Analyse der Männergestalten im Werk Marlen Haushofers wäre als Ergänzung sicherlich interessant.

Daniela Strigl spitzt diese existenzialistisch inspirierte Sichtweise zu (in: Arlaud und andere): „Haushofers existenzialistischer Zeitbegriff ist an die individuelle Existenz geknüpft und mit einer solipsistischen Vorstellung verbunden: Im Dasein der Einsiedlerin wird die Vergesellschaftung der Zeit rückgängig gemacht. Die Zeit der Endzeit ist die Zeit des letzten Menschen.“ In „Die Wand“ kann man – spätestens nach dem Mord an dem Mörder von Hund und Stier – den Gedanken „des letzten Menschen“ wörtlich verstehen. Die in dem Begriff des „Letzten Menschen“ bei Nietzsche gegebene Banalität eines nur noch auf aktualistische Bedürfnisse reduzierten menschlichen Lebens ist darin überwunden, weil es in der Welt der „Wand“ solche Bedürfnisse auch gar nicht mehr geben kann.

Ecriture féminine – ein Widerstandsakt

So wie die Mansarde nach Daniela Strigl so etwas ist wie „ein reduzierter Elfenbeinturm“ ist der Raum innerhalb der gläsernen Wand eben gerade dies nicht, weil es die für einen „Elfenbeinturm“ erforderliche Bezugsgröße einer Außenwelt mit anderen Menschen gar nicht mehr gibt. Evelyne Polt-Heinzl (in: Arlaud und andere) lässt ahnen, wie sich die Scheinwelt des Alltags auflösen ließe: „Haushofers Frauenfiguren reflektieren durchaus, dass die von ihnen geduldig und emsig aufgebauten Eigenheimidyllen nur potemkinsche Wände ergeben. Zur Aufrechterhaltung der idyllischen Familienkulisse gehört die eiserne Disziplin der Hausfrau.“ Die Landschaften, in denen die Erzählungen spielen, die Vögel, die Bäume, die sich vor den Häusern zeigen, in denen die Erzählerinnen leben, verweisen immer wieder auf die Unabweisbarkeit einer Selbst-Isolation. Régine Battiston schreibt (in: Arlaud und andere): „Dieser Bildkomplex der Isolierung, der vorwiegend weibliche Figuren betriff, durchzieht das ganze Werk wie ein roter Faden.“ Darin sieht sie die feministische Dimension des Schreibens der Marlen Haushofer. In „Die Tapetentür“ lässt Marlen Haushofer Annette über Bücher reflektieren, in denen Männer über Frauen schreiben: „Auch jede Frau in den von Männern geschriebenen Romanen war ein Unding, und das hatte sie beim Lesen noch immer geärgert und verstimmt; derartige Romane waren anmaßend und unwahr.“ Frauen brauchen ihre eigene Sprache und diese Sprache bräuchte eine eigene Öffentlichkeit, die sie aber – zumindest in den Erzählungen von Marlen Haushofer – nicht hat.

Régine Battiston sieht in der Alm aus „Die Wand“ aber auch eine „kosmische Dimension“, die nach dem Mord an dem Mörder des Hundes und des Tiers vom Locus amoenus zu einem Locus terribilis mutiert, der nicht mehr, nie wieder mehr besucht werden kann. „Marlen Haushofers Werk macht Frauen zu Gefangenen und zu Überlebenden.“ Der Ort, an dem das Überleben möglich wird, wird einem Gefängnis immer ähnlicher, weil es kaum noch Ausweichmöglichkeiten gibt, nur in der Fantasie. In „Die Wand“ schreibt die Erzählerin: „Manchmal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich den großen Auszug aus dem Wald. Aber das sind nur Träume. Offenbar hört ein Mensch nie auf, bei Tag zu träumen.“

Sylvie Grimm-Hamen, Sarah Neelsen und Ulrike Tanzer beschreiben ausdrücklich feministische Elemente im Werk Marlen Haushofers (alle in: Arlaud und andere). Aber auch in anderen Texten des Bandes spielt diese feministische Dimension eine wichtige Rolle. Evelyne Polt-Heinzl beginnt ihren Essay mit den Sätzen: „Marlen Haushofers Frauenfiguren haben meist viel zu beschweigen. Am lautesten schweigen sie über jene Abgründe, die ihr Leben in ein radikales Davor und Danach geteilt haben.“ Eben dies ist die Frage: sind die Bekenntnisse der Erzählerinnen Marlen Haushofers eine Fortsetzung des Schweigens, weil das Publikum, das Schreibende eigentlich bräuchten, fehlt oder womöglich gar nicht (mehr) gesucht wird?

Evelyne Polt-Heinzl weist allerdings auch darauf hin, dass der Ehemann der Erzählerin in „Die Mansarde“ nicht möchte, dass seine Frau mit ihrer Kunst Geld verdient, und damit den Rückzug in die Mansarde maßgeblich bedingt: „Ihrer künstlerischen Tätigkeit Öffentlichkeit zu verwehren, ist Huberts Anteil an seiner Errichtung.“ Evelyne Polt-Heinzl bezieht diese Einstellung auch auf die Nicht-Aufarbeitung der NS-Zeit. Während Hubert sich in Büchern und Museen vergangener Großartigkeit entsinnt, ähnlich dem, wie viele Männer dies in Ehemaligen-Verbänden und -Bünden taten, haben Frauen diese Rückzugsmöglichkeiten in ein scheinbar immer gleiches Österreich nicht.

Schreiben wird zum Widerstandsakt, zum Schritt in eine Gegenwelt. So Sylvie Grimm-Hansen (Übersetzung aus dem Französischen NR): Marlen Haushofer „unterstreicht, dass Schreiben bedeutet, die Gleichgültigkeit ihrer Umwelt zu überwinden und sich einer manchmal tyrannischen Feindseligkeit entgegenzustellen.“ Schreiben sei immer „eine ambivalente Tätigkeit“, ein „Akt des Widerstands“ („acte de résistance“), „ein machtvolles Gegengift angesichts einer Welt, die mal als ein in stürmischer, mal in einer versteinerten und versteinernden Bewegung gefangen ist.“ Auf diese Weise erschließe sich eine Möglichkeit, die Welt zu verstehen und zu bewältigen, es entstehe ein „Möglichkeitsraum, in den das Ich seine Widersprüche hineinprojizieren kann ohne jemals das Trauma und den Riss zu leugnen, die sie heimsuchen.“

Feministische und existenzialistische Diskurselemente bedingen und verstärken sich bei Marlen Haushofer gegenseitig. In diesem Kontext erscheinen die Erzählerinnen und Frauengestalten Marlen Haushofers als in eine im traditionellen Sinne männlich genannte Welt Hineingeworfene, die wie der Sisyphus des Albert Camus letztlich „ein glücklicher Mensch“ werden könnten. Wenn sie nur schreiben, wenn sie nur ihrer Kunst nachgehen. So entsteht Ordnung, eine feministische Ordnung. Sie verändert die männliche Ordnung nicht, entwickelt sich aber in sich kohärent und zumindest temporär unabhängig.

In diesem Sinne stimmt die These von Sylvie Grimm-Hansen: „Die Erzählerin versteht sich auch als eine ordnende Kraft.“ So schwer dies sein mag. In „Die Tapetentür“ ist die Befreiung aus dem Alltag durch Sichtung der Manuskripte oder das Schreiben selbst ebenso schwer wie der Alltag selbst. Das Geheimnis des Schreibens muss gewahrt und offenbar vor der Entdeckung in der männlich dominierten Welt geschützt werden: „Den Schlüssel immer wieder aus dem Versteck holen zu müssen, war ihr an der ganzen Tagebuchschreiberei das Lästigste. Immer waren es diese Kleinigkeiten, die ihr am ärgsten zusetzten, den Briefkasten täglich aufzusperren, die Zeitung jeden Morgen auf dieselbe Weise zu falten, drei Stück Zucker in den Kaffee zu geben und jeden Abend die Armbanduhr aufzuziehen. Es war ermüdend und zermürbte sie mehr als ein richtiger großer Ärger. Aber wollte man eines Tages diesen Zwang abschütteln, so wäre, laut Tante Johanne, der Unordnung Tür und Tor geöffnet.“

Nachkriegsgesellschaft

Daniela Strigl zitiert im Titel ihres Essays (in: Capovilla) eines der berühmtesten Dramen von Edward Albee, das vor allem durch die Verfilmung mit Richard Burton und Elizabeth Taylor in den Hauptrollen Furore machte, weil man nie wusste, ob die beiden nicht auch sich selbst spielten: „Wer hat Angst vor Marlen Haushofer?“ Deutlicher kann man sich auf die österreichische Vergangenheit und deren Aufarbeitung nicht beziehen, weil hier die Parallelen zu Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“ oder Ingeborg Bachmanns „Unter Mördern und Irren“ unmittelbar ins Auge fallen. Der Tod Stellas erhält die historisch-politische Dimension des Wegschauens und Zulassens. Auch wenn niemand Stella umgebracht hat, waren alle irgendwie an ihrem Tod beteiligt: „Der ungesühnte Massenmord ist die Wunde, an der alle, bewusst oder unbewusst, leiden. Dabei machen Haushofers weibliche Figuren sich mit den Tätern gemein. In Wir töten Stella deckt Anna die Machenschaften ihres Ehemanns, indem sie dazu schweigt. In Die Mansarde ist die Erzählerin sogar drauf und daran mit jenem X, den sie für einen Mörder hält und dessen Hände sich ‚immer neugieriger benehmen‘, ein neues Leben zu beginnen.“

Ich weiß nicht, ob ich Daniela Strigl folgen soll, wenn sie „Sarkasmus“ als das Stilmittel Marlen Haushofers benennt, mit dem sie der männlich verfassten, post-nazistischen Welt der österreichischen Gesellschaft der 1950er und 1960er Jahre begegnet. Man mag es so lesen. Eine andere Lesart wäre die surreale. Die Welten der Erzählungen Marlen Haushofers wirken – abgesehen von der Grundsituation in „Die Wand“ – alle ausgesprochen banal, aber sie sind es nicht, denn überall entstehen Fluchten. Selbst Huberts Beschäftigung mit alten Schlachten, selbst seine Museumsbesuche sind solche Fluchten. Sie unterscheiden sich von denen seiner Ehefrau dadurch, dass sie gesellschaftlich akzeptiert sind was offenbar das Schreiben von Romanen dies offenbar nicht ist, vor allem dann, wenn es durch eine Frau geschieht.

Eine Frau muss sich sagen lassen, sie verfasse „Hausfrauenprosa“, sie kann sich kaum dagegen wehren, wie die Rezeptionsgeschichte Marlen Haushofers immer wieder zeigt. Ein Mann muss nichts begründen, nichts rechtfertigen, unabhängig davon, ob er in dem, was er tut, eine besondere Fantasie oder Kreativität an den Tag legt. In diesem Sinne ließen sich die Romane und Erzählungen Marlen Haushofers durchaus auch als verzögerte „Coming-of-Age“-Romane verstehen. Justyna Górny legt diesen Verdacht in ihrem Essay „Bilder aus der Schulzeit“ (in: Capovilla) nahe. In diesem Sinne sind Marlen Haushofers Erzählungen über eine Hausfrauenwelt Fortsetzungen von Internatsromanen wie sie Christa Winsloe oder Grete von Urbanitzky – diese beiden Autorinnen nennt Justyna Górny – geschrieben haben: „Der Aufenthalt im Internat kann dabei als Metapher für das Leben einer durchregulierten und oppressiven Gesellschaft gelesen werden.“ „Regeln und Vorstellungen“ sind der äußere Rahmen, nicht mehr und nicht weniger, sie sind aber nicht der Kern eines Lebens im umbauten bürgerlich regulierten Raum. Die Befreiung liegt nicht im Ausbruch, sondern in der weiteren Verengung des äußeren Raums, surreal überhöht in „Die Wand“.

Die zwischenmenschlichen Beziehungen von Frauen in diesen Räumen versucht Justyna Górny mit Adrienne Richs „Idee des ‚lesbian continuum‘ als eine fließende Vielfalt von weiblichen Interaktionen“ zu beschreiben. Dies ließe sich beispielsweise durchaus über die unausgesprochene, aber in ihrer gegenseitigen Anziehungskraft kontinuierliche Beziehung zwischen der Erzählerin in „Die Mansarde“ und der sie regelmäßig besuchenden „lieben Dame“, die keinen Namen hat, sich immer genau so verhält, wie man denkt, dass sich eine Dame verhalten sollte, aber letztlich ebenso wie die Erzählerin in den regelmäßigen Treffen vielleicht doch ganz andere Träume haben könnte. Wir erfahren es angesichts der Erzählperspektive nicht. Die „liebe Dame“ lebt in den Augen der Erzählerin in einer Art „Paradies auf Erden“. Aber wer weiß? Die surreale Wahrheit liegt vielleicht gerade im Gegenteil. „Warum sollte ich eigentlich nicht fliegen können?“ Ein Traum in „Die Mansarde“. In „Die Wand“: „Manchmal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich den großen Auszug aus dem Wald. Aber das sind nur Träume. Offenbar hört ein Mensch nie auf, bei Tag zu träumen.“

Sisyphus

Grab Marlen Haushofers am Steyrer Taborfriedhof. Fotograf: Christoph Waghubinger, Creative Commons Attribution Share Alike 4.0, Wikimedia / Commons

Der Schreibakt in „Die Wand“ ist ein „Selbstgespräch“, in „Die Mansarde“ und in „Die Tapetentür“ erscheinen nicht nur die Tagebücher, auch alle anderen Gespräche als eben solche Selbstgespräche. Wir erleben – so die Erzählerin in „Die Mansarde“: „eine Welt, die rund und ungebrochen war und die es nicht mehr gibt“ und damit eine Hoffnung auf die Wiederherstellung einer Vergangenheit, die sich jedoch als Illusion erweisen muss: „Deshalb haben wir auch immerzu Angst, die Dinge könnten ihre unendliche Geduld ablegen, den Bann brechen und ihrer wahren, schrecklichen Gestalt auf uns einstürzen. Jede Gestalt wäre schrecklich, weil sie uns ganz fremd wäre. Die Dinge könnten uns unter ihrer Fremdheit begraben, wir vergäßen ihre Namen und würden selber zu namenlosen Dingen.“ Diese Tagebuchnotiz in „Die Mansarde“ beginnt mit dem Lösen von Kreuzworträtseln, mit einem Schmetterling, der natürlich nicht weiß, warum er so heißt, wie die Menschen ihn nennen. Die Tagebuchschreiberin und Erzählerin stellt lapidar fest: „Unser Mut ist bewundernswert, wenn er auch vielleicht nur aus Angst und Starrsinn besteht, aber wozu ist es gut? Wenn ich will, kann ich am Tag zwanzig Kreuzworträtsel lösen, und je mehr ich löse, desto weniger verstehe ich von der Welt.“ Es folgt eine Bemerkung zum aufgeblühten Seidelbast: „Der Seidelbast ist aufgeblüht. Ich schneide ihn nicht ab, er könnte ja schreien, und ich wüsste es gar nicht.“

In „Die Wand“ sieht die Erzählerin eine „weiße Krähe“, vielleicht eine Reminiszenz an die Todeswünsche, von denen sie berichtet. Die Erzählerin kann nichts mehr aufschreiben, denn sie hat kein Papier mehr. Es sind die Vögel, die bleiben: „Die Krähen haben sich erhoben und kreisen schreiend über dem Wald. Wenn sie nicht mehr zu sehen sind, werde ich auf die Lichtung gehen und die weiße Krähe füttern. Sie wartet schon auf mich.“

Auch die Gespräche zwischen der „lieben Dame“ und der Erzählerin in „Die Mansarde“ haben etwas ebenso Solipsistisches, etwas Rituelles. Die immerwährende Wiederholung solcher Rituale, zu denen eben auch die Träume und Selbstgespräche gehören – das sind die Überlebenshilfen eines Sisyphus, im Falle Marlen Haushofers eines weiblichen Sisyphus. Darüber nachzudenken, ob sie so glücklich ist, wie Albert Camus dies bei seinem männlichen Sisyphus vermutet, bleibt uns Leser*innen überlassen, aber immerhin: A World of Her Own.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im März 2023, Internetzugriffe zuletzt am 28. Februar 2023. Titelbild: pixabay.)