Afrotopia
Felwine Sarrs Perspektiven einer afrikanischen Kulturrevolution
„Der Afrotopos ist ein Möglichkeitsraum, der erst noch geschaffen werden muss, dessen Verwirklichung jedoch keinerlei unüberwindbare Hindernisse im Weg stehen. Es besteht eine Kontinuität zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen.“ (Felwine Sarr, Afrotopia, übersetzt von Max Henninger)
Am 17. Februar 2023 titelte die Süddeutsche Zeitung anlässlich der Sicherheitskonferenz in München „Der Westen sucht die Nähe zum globalen Süden“. Im Untertitel wird der Text kurz anmoderiert: „Noch nie kamen so viele hohe Vertreter aus Entwicklungsländern zur Sicherheitskonferenz. Doch die umworbenen Regierungen haben handfeste Forderungen.“ Man liest die Überschrift, und denkt für einen Moment: wäre doch eigentlich logisch, „der Westen“ sucht verstärkt die Nähe zum „globalen Süden“, während – mitgelesen – „der Osten“, gemeint sind in der Regel vor allem Russland und China, seine strategische politische und wirtschaftliche Position brutal ausbaut. Aber wie logisch ist dieses Bild eigentlich wirklich oder handelt es sich nur um ein selbstreferenzielles Weltbild?
Mut zur Utopie
Von welchem Westen ist die Rede, welcher Entwicklung und warum sollten die, die zu einer internationalen Konferenz fahren, nicht eigene Beiträge mitbringen, um darüber mit allen Anwesenden zu debattieren? Das ist doch der eigentliche Sinn von Konferenzen, Positionen zu verhandeln um Perspektiven entwickeln zu können?
Felwine Sarr, senegalesischer Ökonom, Philosoph, Schriftsteller und Musiker, hat gemeinsam mit Achille Mbembe, kamerunischer Historiker und politischer Philosoph, 2016 die ‚Atéliers de la pensée“ ins Leben gerufen, zu denen im letzten Jahr zum vierten Mal die führenden afrikanischen Vertreter*innen aller akademischen Disziplinen, Schriftsteller*innen und Musiker*innen aus Afrika und aus der afrikanischen Diaspora in Europa und den USA und Gäste aus nichtafrikanischen Ländern nach Dakar gekommen sind.
Ziel dieser Arbeitstreffen ist der Austausch über die aktuellen ökologischen, ökonomischen und politischen Herausforderungen angesichts einer sich radikal verändernden Welt(ordnung). Dabei steht der mögliche Beitrag eines neuen, selbstbewussten und seine Verantwortung in der Welt wahrnehmenden Afrikas und die Zukunft der afrikanischen Kulturen im Zentrum der Debatten. Noch werden diese afrikanischen Beiträge und Impulse zu Ökonomie und zukünftiger Ausrichtung geopolitischen Handelns im Kulturteil westlicher Zeitungen verhandelt. Dabei handelt es sich um einen radikalen Perspektivwechsel, wie Jörg Häntzschel der die Ateliers de la pensée für die Süddeutsche Zeitung beobachtete, am 8. November 2019 in seiner Analyse der Konferenz von Dakar mit dem Titel feststellt: „Die konventionellen Ansätze sind gescheitert, jetzt muss neu gedacht werden. Dabei hat niemand in Dakar die empathisch beschworene Neuentdeckung und Revitalisierung von Afrika als Rückzug von der Welt verstanden, im Gegenteil: Afrika macht sich hier bereit, die Verantwortung für die Welt und für die Menschheit zu übernehmen, deren Überleben von hier aus gesehen mehr als fraglich erscheint. Es ist ja auch niemand zu entdecken, der das tun könnte: nicht die zerstrittenen Kolonialnationen, nicht Trumps USA, auch nicht das mit der Totalüberwachung seiner Bürger beschäftigte China.“
Zwischen 2019 und 2023 liegen eine Pandemie, ein europäischer Krieg, die Fortsetzung von Kriegen in der Levante, Arabien und Asien, die Flucht der westlichen Mächte aus Afghanistan, der Aufstand der Menschen im Iran und gewaltige Naturkatastrophen.
Das Fazit der Konferenz von 2019 hat dennoch nach wie vor Gültigkeit: lange haben „der Westen“, der aus afrikanischer Sicht nicht nur „Westen“, sondern auch „Norden“ ist, die globalen Entwicklungen vorgegeben. Ihr Weltbild fußt auf einem inzwischen sehr prekären Denkkonstrukt, das zwar angesichts der aktuellen Weltläufte zweifelhafte Orientierung geben mag, aber nicht nachhaltig in die Zukunft weisen dürfte. Aus Sicht „des Südens“, in diesem Falle afrikanischer Denker*innen, gilt: Provinz, das ist Europa, „der Westen“ beziehungsweise „der Norden“. Und dabei geht es ganz konkret zu allererst schon einmal um das Wissen und die Erfahrungen, mit denen wir uns alle in der Welt bewegen.
Das fängt bei der Sprachmächtigkeit an, dem die interkulturelle Kompetenz folgt.
Afrikanische Wissenschaftler*innen, Schriftsteller*innen, Politiker*innen, Musiker*innen sprechen und schreiben afrikanische und westliche Sprachen und Schriften und bewegen sich in unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen. Ihre Autorität beziehen sie aus ihrer Lebenserfahrung, die oft Überlebenserfahrung ist. Chimanda Ngozi Adichie, Djaili Amadou Amal, Tsitsi Dengarembga, die Musiker*innen der Tuareg und viele andere, von denen wir in unserem „Westen“ oft nur dann etwas erfahren, wenn mal wieder ein Buchpreis vergeben wird, zeigen Perspektiven auf, die über das nordwestliche Koordinatenkreuz hinaus weisen. Im Prinzip geht es aber nicht darum, wer Recht mit der Weltdeutung hat. Es geht auch nicht darum, die Hybris dominanter Kulturen anzuklagen. Weltbilder taugen nicht für die Ewigkeit. Das müsste der Menschheit inzwischen eigentlich mal klargeworden sein.
Es kann nur darum gehen, mit Mut zur Utopie über das – grausame und furchtbare – Tagesgeschehen hinaus zu denken. Wir brauchen einen Perspektivwechsel.
Felwine Sarr gibt hierzu in seinem 2016 in Frankreich erschienenen und 2019 ins Deutsche übersetzten Essay „Afrotopia“ wichtige Impulse (Die deutsche Ausgabe erschien bei Matthes & Seitz, auch als Lizenzausgabe auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich). Er bezieht sich in seiner Analyse sowohl auf westliche als auch auf afrikanische Quellen, ein Vorgehen – dies muss man leider sagen – schon allein aufgrund fehlender Sprach- und Ortskompetenz bei „westlichen“ Autor*innen die große Ausnahme ist. Ergänzend lohnt sich das Interview, das Felwine Sarr 2021 unter der Überschrift „Afrikas Verhältnis zur Welt ist geprägt von Mitleid“ dem Schweizerischen Fernsehen gab. Er sagte: „Auch in diesem Fall handelt es sich um die Träume anderer inmitten eines nächtlichen Schlummers, bei dem die Hauptbetroffenen nicht zum kollektiven Träumen eingeladen sind.“
Felwine Sarr, 1972 geboren, setzt an derselben Stelle an wie Chimandana Ngozi Adichie: es gibt nicht nur die eine Geschichte. Afrika entspricht nicht den „hartnäckigen Gemeinplätzen, Klischees und Pseudogewissheiten“, die sich „wie ein Dunstschleier über die Realität legen“. Er ist Realist, Afrika hat viele Probleme, es gibt Korruption, es gibt Gewalt. Und ja, die gegenwärtigen politischen und ökonomischen Verhältnisse in den sehr unterschiedlichen afrikanischen Staaten verweisen deutlich auf die Verwundungen, die die Kolonialmächte geschlagen haben. Aber die Zuweisung historischer Verantwortung, die Benennung des Mangels, des kolonialkausalen Handicaps, enthebt die Regierenden nicht der eigenen Verantwortung zum Aufbau resilienter Gesellschaftssysteme. Resilienz besteht zum Beispiel darin, das oktroyierte Image des Katastrophenkontinents zurückzuweisen und nicht weiter zu bedienen.
Gleichzeitig gilt es hellwach zu sein und die bereits bestehenden Fantasien, die den Kontinent aufgrund seiner Ressourcen als Eldorado des Weltkapitalismus sehen, zu unterbinden. Die wirtschaftliche Ausbeutung Afrikas durch extrakontinentale Mächte ist bereits im Gange und muss gestoppt werden. Der Preis für den „Nutzen“ durch (Wieder)herstellung von Infrastrukturen, Nutzung von Hafenanlagen und den Bau von Flughäfen ist die Fortsetzung von ökonomischer und damit politischer Abhängigkeit.
Entwicklung
Und damit sind wir beim Begriff „Entwicklung“, der beim Lesen des Artikels zur Münchener Sicherheitskonferenz so stutzen ließ.
Felwine Sarr entlarvt den Begriff als eines der „Leitworte der vorherrschenden Episteme der Epoche“, zu denen auch „wirtschaftlicher Durchbruch“, „Wachstum“ und „Bekämpfung der Armut“ gehören. Ausgangspunkt ist der westliche Traum vom Fortschritt durch Technik, die Idee des unaufhaltsamen wissenschaftlichen und ökonomischen Fortschritts, die Utopie einer deterministischen und vorhersagbaren, weil messbar gemachten Welt. Als „Projekt zur Rationalisierung und Uniformisierung von Gesellschaften“ exportierte „der Westen“ diese Erfindung in die restliche Welt. Scheinbar objektive Kriterien bestimmen, wie die Dominanzkultur (Birgit Rommelspacher prägte den Begriff, ausführlich nachlesbar in dem 2015 bei Orlanda erschienen Band „Dominanzkultur – Texte zu Fremdheit und Macht“) den „Entwicklungsgrad“ von Gesellschaft qua Bruttosozialprodukt und Industrialisierungsleistung „ermitteln“. Fortschritt, Vernunft, Wachstum und Ordnung, Leitbilder der westlichen Neuzeit – der Glaube an den unbegrenzten gesellschaftlichen und ökonomischen Fortschritt, teleologisches Denken, die Vorstellung des unbegrenzten Himmelreiches ins Profane und Irdische übertragen. Alles strebt auf den Schienen der technischen Machbarkeit und mit Kanonendonner zur Vollendung, zur absoluten Reife.
Auch eine Utopie, ein „Exportschlager“ westlicher Hybris, der uns jetzt allen auf die Füße fällt: „Man hat den Afrikanern eine Art soziale Konfektion angeboten. Um Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu organisieren, sollten sie sich in institutionelle Formen kleiden, die aus einer mehrtausendjährigen Geschichte eines anderen Erdteils hervorgegangen sind und deren aktuelle Erscheinungsform nicht einmal die Urheber dieser Formen hätten voraussagen können. Anstelle der Stärkung des Originellen, der charakteristischen Besonderheiten der Völker ist es zur Verordnung eines einheitlichen Modells gekommen. Zunächst sollte eine Kultur sein wie, dann sollte sie mehr sein und im Ergebnis war sie stets weniger.“
„Entwicklung“ ist mit dem westlichen Fortschrittsmythos verbunden, ein Mythos, der den Erhalt der industriellen Gesellschaftsordnung garantieren soll.
Gesellschaften schaffen sich ihre Mythen und Symbole, eine gemeinsame Sprache, eine bestimmte Art der Deutung von Realität, wenn man so will, eine einheitliche Vereinbarung, wie Welt zu deuten ist. „Entwicklung“ wurde so zu einer Ideologie, „einem Geflecht von Ideen, das die Realität nicht etwa erhellt, sondern verschleiert.“
Entwicklung wird hier als Ideologie verstanden, die Subjekte als dazugehörig, tauglich oder untauglich einsortierte und die Befriedigung hegemonialer Bedürfnisse zum Ziel hatte. Für afrikanische Gesellschaftsentwürfe, ökonomische Traditionen und Kultur war innerhalb dieser Ideologie kein Ort vorgesehen. Nirgends. „Die Kolonialbibliothek hat die afrikanischen Traditionen in die Schublade gesteckt.“
Wirtschaft
Die externe Begutachtung und Darstellung der ökonomischen Verhältnisse auf dem afrikanischen Kontinent vollzieht sich – symptomatisch – „im Modus des Vergleichs“ und damit unter der westlich geprägten, im Grunde paternalistischen Perspektive „Entwicklung“. Fazit: Entwicklungshilfe ist keine Alternative für faire Handelsabkommen.
Afrika hatte seine eigenen Ökonomien, eigenen Handelsformen, eigenen Handelswege. Diese über Jahrhunderte bestehende Infrastruktur wurde erfolgreich durch Sklavenhandel und Kolonialismus zerstört. Zwischen 1600 und 1900 sank der Anteil Afrikas an der globalen Gesamtbevölkerung von 30 auf 10 Prozent. Zwischen 12 und 24 Millionen Menschen wurden verschleppt. Das sind nur die Zahlen.
Die Kolonialmächte haben ihre eigene Vorstelllug von Infrastruktur implantiert und implementiert und sicherten sich auch nach der Entkolonialisierung den Zugriff auf die Ressourcen der ehemaligen „Kolonien“. Nigeria mit seinen 220 Millionen Menschen ist hier ein gutes Beispiel. Das Land ist reich an Erdöl und leidet trotzdem unter Mangel an Treibstoff. Die Ölvorkommen werden seit Jahrzehnten von externen Konzernen gefördert, Raffinerien im Land gibt es so gut wie gar nicht mehr, das benötigte Benzin wird importiert. Welche Bedeutung die Wahlen vom 25. und 26. Februar 2023 für die Zukunft haben, werden wir sehen.
Es wäre schon einmal sehr hilfreich, wenn die ehemaligen Kolonialmächte die Schuld am wirtschaftlichen Versagen der ehemaligen Kolonien nicht allein der Unfähigkeit der dort Regierenden anlasteten. Es wäre genauso gut und wichtig, wenn sich die Regierenden nicht vom schnellen Devisenfluss blenden ließen und die Ausbeutung der Rohstoffe nicht den multinationalen Konzernen, sondern der Bevölkerung vor Ort zugute käme.
Haupteigenschaft der Wirtschaftsansätze auf dem afrikanischen Kontinent ist derzeit, so Felwine Sarr, deren außerafrikanischer Ursprung. Die Kurskorrektur in eine selbstbestimmte Zukunft der afrikanischen Länder muss also logischerweise eine Besinnung auf die ehemals gesellschaftliche, kulturelle und zivilisatorische Einbettung Ökonomischen Handelns enthalten.
Eine Möglichkeit, der afrikanischen Wirtschaft den entscheidenden Kick zu verleihen, ist der Rückgriff auf die Rückbesinnung und der Rückgriff auf die ehemals – also vor der Kolonisation – bestehende gesellschaftliche, kulturelle und zivilisatorische Einbettung afrikanischer Ökonomien.
Hintergrund: der Eindruck, ökonomische Regeln wären neutral und objektiv, täuscht: Ökonomie ist kein objektiver Begriff, sondern bildet im Verständnis dessen, was als Ökonomie gilt, ein bestimmtes Werte- und Menschenbild ab. Sarr stellt fest: „Die traditionellen afrikanischen Gesellschaften zeichneten sich dadurch aus, dass Produktion, Verteilung und Güterbesitz von einer Sozialethik bestimmt waren, deren Ziel darin bestand, allen die Grundlagen des Lebens zu garantieren. Diese Garantie erfolgte zum einen über die Ressourcenallokation, zum anderen über das Recht eines jeden Einzelnen, bei Bedarf die Unterstützung der gesamten Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen.“
Dahinter steht das Konzept einer relativen Ökonomie, die auf dem Prinzip der Stärkung von individuellen Beziehungen beruht: „Die gesamte Palette positiver oder negativer Beziehungen, die Individuen untereinander aufbauen, produzieren, austauschen, verstetigen können, unabhängig jeglicher materiellen Erwägung und jeglichem materiellen Interesse, konstituiert das Substrat der relationalen Ökonomie. Das derart geschaffene Geflecht interner und externer Beziehungen nimmt eine derartige Qualität und eine derartige Macht an, dass es zu einem Wert an sich wird und nicht länger auf Materielles angewiesen ist, um fortzubestehen.“
Als Beispiel nennt Sarr die Sufi Gemeinschaft der Muriden in Senegal, die einer Arbeits- und Leistungskultur folgen und den Anweisungen eines spirituellen Oberhaupts unterstehen. Die Mitglieder wissen sich einem gemeinsamen Ideal und einer ausgesprochenen Solidarität verpflichtet. Die senegalesische Stadt Touba, Sitz der Bruderschaft ist aufgrund der wirtschaftlichen Leistung der Gemeinschaft die zweitwichtigste des Landes.
Moderne und Tradition
Der Weg zur Utopie führt über die Analyse dessen, was der Fall ist. Sarr knüpft unter anderem an Frantz Fanon, Oscar Bimwenyi-Kweshi, Paul Gilroy, Dilip Gaonkar, Jürgen Habermas und Shmuel Noah Eisenstadt an.
Die Zeitläufte lassen sich nicht zurückdrehen. Die Hegemonialmächte haben ihr Erbe hinterlassen. Afrikanische Nationen bewegen sich zwischen den Kulturen und unterschiedlichen Konzepten von Zeit, Raum, Gemeinschaft, Gesellschaft, Austausch und Handel. Die imperial kontaminierten Errungenschaften der europäischen Aufklärung – Wissenschaft, Technologie, demokratische Institutionen, das Individuum als Rechtssubjekt und Träger von Freiheiten, Gewaltenteilung – treffen auf vorimperiale Konzepte von Gemeinwohl, Gemeinwillen und Autonomie des Individuums. Sarr beschreibt eindrücklich die Gleichzeitigkeit verschiedener Welten als ein Grundphänomen afrikanischer Gesellschaften: „Diese Gesellschaften zeichnen sich durch einen Prozess politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandels aus, durch den Übergang vom Alten zu einem noch unerreichten Neuen, durch das nebeneinander unterschiedlicher Zeitlichkeiten und Episteme innerhalb ein und derselben Gesellschaft, manchmal sogar ein und desselben Menschen, so dass verschiedene Referenzsysteme koexistieren, miteinander verhandeln, miteinander in Konflikt geraten oder sich gegenseitig befruchten. (…) Die kulturellen Werte einer Gesellschaft werden fortlaufend neu bestimmt, und die im Wandel begriffenen afrikanischen Gesellschaften sind symptomatisch für dieses ständige Neuverhandeln der eigenen kulturellen Bezugspunkte, für die Gleichzeitigkeit (Transversalität) mehrerer Welten.“
Allen voran spiegelt die Literatur die Suche nach der eigenen Individualität, die Auseinandersetzung mit traditionellen Gesellschaftsorganisation und individueller Freiheit, die Hybridität eines Lebens zwischen den unterschiedlichen Weltentwürfen in den Werken von beispielsweise Chimananda Ngozi Adichie, Kossi Efoui, Nafissatou Dia Diouf und Célestine Monga.
Felwine Sarrs klare Botschaft: Um Modernität und Wohlstand zu erreichen bedarf es der Fähigkeit, sich selbst zu verändern – unter Einbeziehung westlicher Technik, „aber ohne Preisgabe des lebendigen Herzens der eigenen Tradition. / Afrika verdankt einen Großteil seiner ausgeprägten gesellschaftlichen Resilienz seinen Traditionen. Die Afrikaner haben im Laufe der Zeit Werte wie Ausdauer, Mut und Geduld kultiviert, um verschiedene Schocks ihrer jüngeren Geschichte zu verkraften. Sie haben auch Werte des Zusammenlebens kultiviert, und das mittels origineller Verfahren, einer erweiterten Auffassung von Abstammung und Familie, der interethnischen Mobilität, der Fähigkeit, Differenz zu integrieren, dem pausenlosen und nochmaligen Knüpfen des gesellschaftlichen Bandes / Jede Tradition birgt in sich ein symbolisches und geistiges Kapital, das mobilisiert und neuerlich zum Einsatz gebracht werden muss, will man die eigenen Potentiale zur Gänze verwirklichen. Mit dem eigenen Erbe Tabula rasa zu machen wäre fatal. Dieses Erbe muss gleichsam entstaubt werden.“
Afrika kann auf ein reichhaltiges kulturelles Erbe zurückgreifen, das Kräfte für neue gesellschaftliche Aufgaben mobilisieren kann. Felwine Sarr ist hier realistischer Utopist: Afrika muss sich diese Räume freischaffen. Konkret: Afrika muss sich seine Ressourcen zurückerobern, das gilt für die Rohstoffe, das gilt für Wirtschaftsformen ebenso wie die institutionellen Formen, die aus der hegemonialen Fassung gelöst und wieder den jeweiligen Soziokulturen angepasst werden müssen. In erster Linie muss sich Afrika seine Autonomie und seine Souveränität zurückerobern.
Kunst und Kultur
Felwine Sarr schreibt: „Die Welt von morgen existiert im Keim bereits heute, und ihre Zeichen lassen sich in der Gegenwart entziffern.“ Der Weg zum „Afrotopos“ führe über Selbstheilung und Selbsterkenntnis.
Neben Ökonomie, Politik und Kultur gehört folgerichtig auch die Psychologie für Sarr zu den Säulen des „Gesellschaftsgebäudes, das es zu renovieren gilt.“ Er weiß um die langfristige Dynamik von Verletzungen, wie sie Frantz Fanon als „entfremdetes Bewusstsein“ beschrieben hat. Afrika muss seine durch Entfremdung und Knechtung geschlagenen Wunden heilen, um agieren zu können. Ein Symptom der alten Wunden ist die Neigung, alles, was an Expertise aus dem „Westen“ beziehungsweise dem „Norden“ kommt, für adäquater zu halten als die Expertise im eigenen Land, der eigenen Kultur, der eigenen Tradition: „Um anerkannt zu werden müssen sie (die afrikanischen Experten) erste einen Umweg über die Himmelsrichtung machen, in der die Sonne untergeht.“
Die These: „Kunst, Kultur, Musik, sind Mittel zur Heilung“. Inzwischen ist auch hier eine Jugend herangewachsen, die gebildet und sowohl im westlichen als auch im afrikanischen Wissen kundig sich allen Möglichkeiten digitaler Kommunikation bedient. Diese Jugend beobachtet die Weltläufte und bildet sich ihre eigene Meinung. Sie hat keinen Minderwertigkeitskomplex, sie fordert Respekt und einen angemessenen Platz auf der weltpolitischen Bühne, „nicht mehr Opfer, sondern als Subjekt der eigenen Geschichte.“ Diese Jugend fordert die eigenen Regierungen und ihre Satrapen heraus.
Sarr verweist auf die Bedeutung der Musik als Ausdruck eines freien und selbstsicheren afrikanischen Bewusstseins. Seine Exponenten: Tiken Jah Fakoly, Didier Awadi, man möchte Fatoumata Diawara hinzufügen.
Die Musik wie die Literatur erreicht ein breites Publikum in ganz Afrika und erzählt die eigene Geschichte. Schließlich muss die Kolonialbibliothek ersetzt werden.
Bildung
Der westliche Einfluss auf die afrikanischen Nationen lässt sich nicht zurückdrehen, aber er kann und muss genau analysiert werden. Und es gilt, nicht auszuweichen, sondern den eigenen Fußabdruck in den wissenschaftlichen Disziplinen und in den kolonial etablierten Universitäten und Bildungseinrichtungen nachhaltig hinterlassen. „Dieses Projekt der Neugründung erfordert eine neuerliche Auseinandersetzung mit den Sozialwissenschaften, die über eine erkenntnistheoretische Infragestellung ihrer Gegenstände, Methoden und Ereignisse verläuft, wie sie sich in der afrikanischen Realität praktisch niederschlagen. Die Dekonstruktion der kolonialen (ethnologischen) Vernunft vollzieht sich mittels einer radikalen Kritik der von dieser Vernunft produzierten Diskurse, ihrer Begriffsraster, ihres ideologischen Unterbaus sowie jener Logik, die dazu gedient hat, die „Afrikaner“ zu pathologisieren und zu beherrschen.“
Und es geht darum, im wahren Wortsinn die eigenen Sprachen zu aktivieren. Die Sprache bestimmt das Bewusstsein, die Sprachen eröffnen am besten den Kontinent afrikanischen Denkens. (Man führe sich die Bedeutung von Mythen und Erzählungen vor Augen, die in mündlicher Tradition weitergegeben wurden und Gesellschaften konstituierten. Man mag sich nicht vorstellen, wieviel – nicht aufgeschrieben oder zerstört – verloren gegangen ist.)
Letztliches Ziel aller Bildung muss es sein, dass die afrikanischen Länder die Modalitäten ihrer Eingliederung in die Globalisierung selbst wählen können.
Afrotopos
Felwine Sarr: „Der Afrotopos ist der Atopos Afrikas: jener Ort, der erst noch zu bewohnen sein wird von einem kommenden Afrika. Es geht darum, ihn mit Gedanken und Vorstellungen anzureichern. Von allen Strukturmomenten der Zeitlichkeit menschlicher Gesellschaften zeichnet sich jener der Zukunft dadurch aus, dass man ihn vollständig bearbeiten, ihn konzipieren und ihm Gestalt verleihen kann. Von einer historischen Fatalität der die Gesellschaften unterworfen wären, kann keine Rede sein.“
Der Afrotopos als Möglichkeitsraum lädt zum Denken ein. Darüber, wie menschliche Gesellschaften zukünftig mit den vorhandenen Ressourcen leben können. Das allein scheint schon utopisch. Ist das aber nicht das Wesen von Visionen, dass sie immer zuerst utopisch daherkommen, bevor sie sich in Erfindungen, Entdeckungen und Erkenntnissen manifestieren. Visionen sind das Gegenteil von Fatalismus.
Es ist Felwine Sarrs Verdienst, in diesem Essay sowie in seinen Vorträgen eine andere Geschichte Afrikas zu erzählen, eines Kontinents, der sich neu erfindet, allen Schwierigkeiten zum Trotz. Eines Kontinents, der gerade eine Kulturrevolution erlebt. Afrika erkennt seine Potentiale und seine Verantwortung, die eigenen Erkenntnisse und Ansätze für andere Zivilisationen nutzbar zu machen: die afrikanische Expertise in Fragen der Resilienz, die Wiederentdeckung der Bedeutung der eigenen Geschichte und die Notwendigkeit, radikaler Selbstreflexion, um die eigenen Kräfte zu mobilisieren, die Fähigkeit afrikanischer sozialer Strukturen diverse Bedarfe auffangen zu können – unter Beachtung des nachhaltigen Nutzens der vorhandenen Ressourcen.
Noch eine Utopie: dass die Menschen gemeinsam über ihre Zukunftsmöglichkeiten diskutieren. Haben wir andere überzeugende Alternativen, die Menschheit halbwegs sicher durch die sich abzeichnenden Krisen zu bringen, als den internationalen Diskurs ernst zunehmen?
Felwine Sarr hat während der Pandemie die Bewegungen und Gedankengänge hier in Europa genau beobachtet und in Essays in vielen Zeitschriften und Zeitungen kommentiert, in Deutschland vor allem in der Süddeutschen Zeitung. Seine Schlussfolgerung in einem Artikel vom 21. April 2020, Titel „Das Wirkliche ist dabei sich aufzulösen“ (übersetzt von Fritz Göttler): „Wie Seiltänzer balancieren wir über den Abgrund des Möglichen. Eine Bresche hat sich aufgetan in der Zeit und hat uns historisches Potenzial eröffnet. Die Krise allein aber wird nichts beseitigen. Sie muss uns anzeigen, was nicht mehr haltbar ist und was sich ändern muss.“
Und mit Blick auf den afrikanischen Kontinent und die Impulse, die von dort aus global wirksam werden können, schreibt er weiter: „Die Resilienzkonzepte, die hier und da auf dem Kontinent ersonnen werden, müssen Keimzellen werden für eine Politik, die auf die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse der Bevölkerung ausgerichtet ist, die Leben fordert und breite Fürsorge bietet.“
Zu den Eckpfeilern einer solchen Politik zählt Felwine Sarr die Lebensmittelversorgung, eine unabhängige Energieproduktion, die Schaffung kontinentaler (afrikanischer) Wertschöpfungsketten, ökologische Industrialisierung, bessere Vernetzung im internationalen Handel, Beendigung der (afrikanischen) Spezialisierung, Verarbeitung der Rohstoffe Afrikas in den Ländern Afrikas und die Diversifizierung der afrikanischen Wirtschaft: „In der Welt geht es darum, diese strukturellen Transformationen durchzuführen, die Wirtschaft als Teil ihres soziokulturellen Umfelds zu verstehen, in ihrer Symbiose mit dem Leben. Dafür sind kulturelle, soziale, politische Revolutionen notwendig. Und daran müssen wir arbeiten.“
Felwine Sarr, der utopisch denkende Realist, weiß aber auch: „Es ist noch ein langer Weg zu einem gemeinsamen menschlichen Bewusstsein.“ (Süddeutsche Zeitung vom 28. April 2020, übersetzt von Fritz Göttler.)
Wie war das noch? „Auch der weiteste Weg beginnt mit dem ersten Schritt.“ (Konfuzius)
Beate Blatz, Köln
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im März 2023, Internetzugriffe zuletzt am 26. Februar 2023, Titelbild: Beate Blatz.)