Anarchische Ästhetik
Ein Portrait des Berliner Verbrecher Verlags
„Ein bisschen Unverständlichkeit ist für das Überleben der Literatur unerlässlich. Denn damit die Literatur weiterreden kann, muss sie immer wieder neue, unvorbereitete, nicht nur junge, auch einfach mangelhaft unterrichtete Menschen in ihr Gespräch ziehen. Und das geht nur, wenn sie hin und wieder etwas sagt, das man zwar nicht völlig abwegig findet, aber eben nur teilweise versteht, so dass man sich herausgefordert fühlt, zu erforschen, worum es da geht und was einen das angeht.“ (Dietmar Dath in seiner Laudatio zur Verleihung des Kurt-Wolff-Preises an den Verbrecher Verlag im Jahr 2014)
Verleger*innen im Berliner Verbrecher Verlag sind Jörg Sundermeier, der den Verlag 1995 gemeinsam mit Werner Labisch gegründet hatte, und Kristine Listau. Das erste Buch war der erste Roman von Dietmar Dath mit dem zum Verlagsnamen passenden Titel „Cordula killt dich!“ Der Verlag engagiert sich für Autor*innen, die nicht jede*r kennt, die aber möglichst viele kennen(lernen) sollten. Belletristik gehört ebenso zum Programm wie Sachbücher zu kontroversen Themen, wie sie in einer Demokratie diskutiert werden sollten. Das wichtigste Kriterium für die Aufnahme eines Buches in das Programm ist aber eine gute Sprache. Das zeichnet eine gute engagierte Literatur aus. Bücher aus dem Programm des Verbrecher Verlags werden im Demokratischen Salon immer wieder vorgestellt.
In unserem Gespräch am 24. Januar 2023 haben wir versucht, das außerordentlich vielfältige Programm des Verlags am Beispiel einiger ausgewählter Bücher vorzustellen und bitten dabei alle die Autor*innen um Vergebung, die wir in diesem Gespräch nicht nennen konnten. An einem anderen Tag hätten wir vielleicht auch andere Schwerpunkte gewählt, aber zum Kennenlernen des Verlagsprogramms kann jede*r anfangen wo und wie es gefällt. Ein Blick auf die Internetseite des Verlags lohnt sich, wer offene Augen hat, wird manches finden, das gefällt und sich zu lesen lohnt. Bereichernd ist es allemal.
Bücher-Fans werden Verleger
Norbert Reichel: Wenn Sie mir Ihre Informationen über Ihre Neuerscheinungen schicken, möchte ich am liebsten gleich alle Ihre Bücher bestellen oder sagen wir: fast alle. So viel kann ich aber nun auch nicht lesen, obwohl ich außerordentlich viel Lebenszeit in Eisenbahnen verbracht habe und verbringe, wo Lesen der meines Erachtens schönste und beste Zeitvertreib ist, den man sich vorstellen kann. Ich leite unser Gespräch gerne mit dem Kompliment ein, dass Sie ein ausgesprochen anspruchsvolles und vielseitiges und dabei auch politisch engagiertes Programm geschaffen haben, in der Belletristik ebenso wie bei den sogenannten „Sachbüchern“. Aber wie fing es an, wie kam es zur Veröffentlichung Ihres ersten Buches.
Jörg Sundermeier: Mein Freund Werner Labisch und ich haben den Verlag gegründet. Das war eigentlich gar nicht als Verlagsgründung gedacht. Dass es ein Verlag wurde, war unfreiwillig. Wir wollten uns als Verlag ausgeben, um an Manuskripte heranzukommen, von denen wir gehört oder gelesen hatten und bei denen klar war, dass – so erfahren waren wir damals schon – sie in absehbarer Zeit nicht verlegt werden. Wir hatten die Schnapsidee – fast im Wortsinne – es war eine Bieridee, dass wir uns als Verlag ausgeben, sagen, wir interessieren uns für diese Texte, wir wären ein Verlag in Gründung, man möchte sie uns bitte schicken. Wir wollten sie fotokopieren und dann die Originale wieder zurückschicken, es täte uns leid, aber eine Veröffentlichung käme doch nicht in Frage.
Norbert Reichel: Das ist ja nicht die nette Art.
Jörg Sundermeier: Nicht die nette Art, moralisch ja auch nicht sauber. Das wollten wir dann irgendwie noch kenntlich machen, dass das nicht so korrekt ist. So sind wir auf die Idee gekommen, uns Verbrecher Verlag zu nennen. Aus der Nummer sind wir nicht mehr herausgekommen und so erschien im August 1995 als unser erstes Buch „Cordula killt dich“ von Dietmar Dath.
Norbert Reichel: Das passt ja gut zum Namen des Verlages.
Jörg Sundermeier: Absolut. Es passt zum Verlagsnamen und hat mit Sicherheit den Verlag bis heute geprägt. Was Humor angeht, Politik, auch in dem Sinne von politischen Entscheidungen, schon mit diesem Buch, bei allen Veränderungen, die sich später ergaben, viele Dinge waren in der Anlage damals schon da.
Norbert Reichel: Was wollten Sie denn ursprünglich mit den Manuskripten machen?
Jörg Sundermeier: Lesen. Nur lesen. Es ging um nichts anderes als lesen. Und warum hat man Bücher? Damit man sie auch zwei Mal lesen kann. Deshalb die Fotokopien. Wir haben etwa gelesen, es gibt dieses Manuskript, das zu komplex ist und deshalb und auch aus anderen Gründen von Verlagen abgelehnt worden ist, an dem aber die Autor*innen offenbar noch sehr hängen, da sie es noch öffentlich erwähnt haben. Das wollten wir dann lesen. So aus einer Fan-Haltung heraus.
Norbert Reichel: Dietmar Dath ist ja nun nicht irgendwer.
Jörg Sundermeier: War er schon damals nicht. Es gab zwei kleine Broschüren im Graben-Verlag in Frankfurt, die aber völlig unter Radar liefen. Aber er hatte damals noch keinen Roman veröffentlicht. Es gab noch nicht den Dietmar Dath, den es heute gibt.
Norbert Reichel: Und vor Kurzem haben Sie mehr oder weniger zu Ihrem 25jährigen Jubiläum eine Neuauflage von „Cordula killt dich“ gemacht.
Jörg Sundermeier: 2021, nicht mit einem Nachwort, sondern mit einem zusätzlichen Schlusskapitel, in dem die Figuren des Romans Gericht halten über den Autor. Und Cordula Späth, die titelgebende Figur zieht sich ja durch Dietmars Werk. In den nächsten Tagen erscheint bei uns auch ein Buch mit dem Titel „In Verben denken“, der erste wissenschaftliche Sammelband zum Werk von Dietmar Dath. Allein die Bibliographie ist erschlagend.
„Gut denn, in der Strafsache gegen den Schriftsteller Dietmar Dath wegen feigem Formalismus und so weiter lautet der Vorwurf im Einzelnen: Der angeklagte hat ein zerfleddertes Ding geschrieben, weil ein unzerfleddertes Ding seinerzeit da, wo er Aufmerksamkeit zu finden hoffte, nicht gelesen worden wäre. Er hat seine Literatur absichtlich zerstottert und dafür auch noch die Traditionen der New Wave in der Science Fiction verantwortlich machen wollen, das hat er jedenfalls ein Vierteljahrhundert lang überall rumerzählt, daß das Buch deswegen so wäre, wie es ist. Er hat damit den lumpenmodernistischen Abdruckbegriff von Wirklichkeitsgestaltung bedient, demzufolge die Kunst kaputt sein soll, weil sie von einer kaputten Welt handelt. Er hat gelogen, um mitzuspielen. Beantragt wird: Aufhängen, begründet habe ich das schon mit dem Tatbestand, das Strafmaß ist eh bekannt. War mein Plädoyer jetzt. Fertig.“ (aus dem zusätzlichen Kapitel der Neuauflage von „Cordula Killt dich!“)
Ein Verlag in linken Traditionen, aber auf die Sprache kommt es an
Norbert Reichel: Ich bin auf Ihren Verlag über Gisela Elsner aufmerksam geworden, dann über Giwi Margwelaschwili. Beide verdienen meines Erachtens viel mehr Beachtung als sie im Allgemeinen erhalten. Sie haben es sich – so nehme ich es wahr – zur Aufgabe gemacht, Autor*innen zu veröffentlichen, die nicht unbedingt im Mainstream der Feuilletons schreiben. Dazu gehören die beiden, auch Christian Geissler.
Jörg Sundermeier: Ich sage es jetzt etwas verkürzt: Daniel Kehlmann oder Juli Zeh zu verlegen, das schafft jeder. Bestimmte Krimis auch. Das müssen wir nicht auch noch machen. Dietmar Dath war damals kein bekannter Autor, aber er war damals schon ein toller Autor. Den wollten wir noch einmal anders sichtbar machen. Um dieses Sichtbar-Machen geht es. Kristine hat dafür gesorgt, dass wir auch verstärkt Autorinnen veröffentlichen.
Kristine Listau: Gisela Elsner und Christian Geissler sind auch als linke Autor*innen wichtige Personen der Literaturgeschichte. Wir wollen als Verlag, dass diese Autor*innen nicht vergessen werden, sichtbar gehalten werden. Wir wurden gerade wegen solcher Autor*innen als Verlag für das Wiederentdecken „sozialistischer, anarchistischer literarischer Traditionen“ ausgezeichnet.
Jörg Sundermeier Dafür haben wir im Jahr 2014 den Kurt-Wolff-Preis bekommen. Die Laudatio hielt Dietmar Dath. Das Geld für den von der Kurt-Wolff-Stiftung vergebenen Preis kommt von der Bundesregierung. Es war so wie Kristine sagt: linke Traditionen sichtbar halten. Mit all ihren Fehlern, aber wir veröffentlichen auch nur die, von denen wir denken, dass sie uns noch etwas zu sagen haben. Wir haben kein Interesse, Enver Hodxa oder Stalin zu verlegen. (alle drei lachen)
Kristine Listau: Entscheidend ist die literarische Qualität. Jörg ist sehr kunstgläubig, auch ich liebe die Sprache, würde mich allerdings nicht als kunstgläubig bezeichnen. Es ist einfach wichtig, auf welche Art geschrieben wurde. Da sind Gisela Elsner und Christian Geissler sehr wichtige literaturhistorische Personen.
Norbert Reichel: Über Gisela Elsner gibt es einen schönen von Christine Künzel herausgegebenen Essayband im Konkret-Verlag (Hamburg 2009) mit dem Titel „Die letzte Kommunistin“. Ich erlaube mir noch einmal Dietmar Daths Laudatio zu zitieren: „Erich Mühsam, Christian Geissler, Peter O. Chotjewitz, Gisela Elsner, Ronald M. Schernikau oder Max Herrmann-Neiße: Sie alle hat nicht der Verbrecher Verlag erfunden, sie alle gab es vorher und anderswo. Aber schaut man sich das Ensemble an, das diese Autorinnen und Autoren im Verbrecherprogramm bilden, dann kann man sie sich eigentlich nirgendwo sonst vorstellen, weil sie nur dort in Gesellschaft der genannten anderen Ensemblefiguren das Gespräch führen und fortsetzen können, um das es ihnen, wie jeder Blick in ihre Texte belegt, bereits ging, als sie noch lebten.“ Aber was verbinden Sie mit den Etiketten „links“, „sozialistisch“, „anarchistisch“?
Kristine Listau: Es ist nicht das Erste, was uns einfällt, wenn wir an belletristische Texte denken. Es ist nicht so, dass wir uns in erster Linie für Literatur interessieren, die sich mit dem Ziel einer solidarischen Gesellschaft auseinandersetzt. Es ist schön, wenn das passiert. Für uns ist die Sprache, die Kunst das Wichtigste bei einem literarischen Werk. Wir veröffentlichen keine pädagogische Literatur, keine Literatur, die mit dem sprichwörtlichen Zaunpfahl daherkommt. Das ist nicht unser Ding. Die Sprache ist entscheidend. Wenn es dann gegen Sexismus, gegen Rassismus geht, ist das für uns interessant, aber das muss es nicht in erster Linie sein. Die Art, wie es erzählt wird, muss originell sein.
Bei Sachbüchern wählen wir in erster Linie Bücher aus, die sich gegen Sexismus oder Rassismus einsetzen. Wir haben auch das Glück, dass Autor*innen und Herausgeber*innen bei uns für solche Bücher einen Programmplatz suchen. Das ist uns wichtig, denn wir glauben, dass wir als Verlag zu einer toleranten, solidarischen, freundlicheren Gesellschaft beitragen können.
Kontroverse Allianzen
Norbert Reichel: Eine interessante Sachbuchreihe haben Sie mit der Anne-Frank-Bildungsstätte in Frankfurt am Main aufgelegt. Jetzt ist der dritte Band mit dem Titel „Frenemies“ erschienen. Davor erschienen „Triggerwarnung“ und „Extrem unbrauchbar“. In dieser Reihe zeigen Sie die gesamte Differenzierung, all die Fallstricke, Ambivalenzen und Widersprüche in diesem Feld. Niemand zeigt mit dem Finger auf den anderen, niemand agitiert.
Jörg Sundermeier: Wenn man politische Bildungsarbeit nur unter dem Aspekt des Vermittelns anschaut und Pädagogik vielleicht auch so versteht, dann sind wir sicherlich auch ein pädagogischer Verlag. Es geht aber nicht darum, irgendwelche Leute für eine Partei oder wie auch immer geartete sozialistische oder anarchistische Strömung zu gewinnen. Es geht uns um Aufklärung, Aufklärung mit der Kritischen Theorie gedacht. Uns geht es um Vermittlung. Und gerade bei der Anne-Frank-Bildungsstätte, die ja auch eine Bildungsstätte ist, geht es der Bildungsstätte selbst darum, dass Diskurse möglichst wieder auf das richtige Gleis gesetzt werden. Manchmal sind die Szenen so zersplittert und zerstritten, dass es scheint, dass es gar keine Kommunikation mehr untereinander geben kann. Gerade diese Kommunikation zumindest bei den Einsichtigeren wiederherzustellen, vielleicht auch ein breiteres politisches Agieren herzustellen, das ist weitgehend eine Aufgabe dieser Reihe.
Norbert Reichel: Vielleicht passt hier eine Bemerkung von Robert Menasse in seinem neuen Roman „Die Erweiterung“. Da beschreibt er einen Menschen, einen Trotzkisten, der es geschafft habe, jede trotzkistische Gruppe zu spalten, bis sie nur noch aus einem Menschen bestand und den habe er dann auch noch schizophren gemacht. Ein wenig erinnert mich – unbeschadet dieses von mir durchaus mit einer gewissen polemischen Ironie zitierten Zitates – die aktuelle Entwicklung gerade in den identitätspolitischen Diskursen – so wichtig sie sind – an die 1970er Jahre, als sich eine Vielzahl linker Gruppen gegenseitig das Leben schwer machte, bis sich eine Reihe bei den Grünen fanden, die aber auch einige Zeit brauchten, um ihre Linie zu finden. Letztlich geht es ja in diesen Debatten immer wieder um Bündnisfähigkeit, um Allianzen. Das ist viel mehr als Realpolitik.
Ich habe den Eindruck, dass Ihre mit der Anne-Frank-Bildungsstätte gestalteten Bücher versuchen, eine andere Stimmung zu erzeugen, die Fähigkeit und die Bereitschaft zum Dialog wieder zu beleben. In „Frenemies“ wird die bittere Wahrheit im Vorwort benannt: 15 Autor*innen hätten ihre Beiträge zurückgezogen, als sie erfuhren, wer sonst noch in dem Buch als Autor*in vorgesehen war. Als ich meine Rezension auf meiner Internetseite eingestellt hatte, dauerte es keinen Tag und es meldete sich ein Kollege, der sich und einen weiteren Kollegen als jemanden outete, die sich zurückgezogen hätten. Ich werde mich mit den beiden treffen, aber mir fällt es schon schwer, einen Sinn darin zu sehen, einen eigenen Text in einem Sammelband nicht zu veröffentlichen, weil ein anderer Text die gegenläufige Position vertritt.
Kristine Listau: Das ist eigentlich eine Kindergartenhaltung. Im Grunde ist das ja wie: „Ich möchte nicht neben dem Kind sitzen, das stinkt.“ Ich finde es dumm und auch sehr schade. Es ist doch eine Möglichkeit, verschiedene Positionen aufzuzeigen. Ich finde es auch dumm, weil uns vorgeworfen wurde, wir wären Antisemit*innen oder Rassist*innen, je nachdem von welcher Seite das kam. Wir sind nicht darauf eingegangen, denn dafür gibt es keine Grundlage. Es hat uns aber auch sehr wenig erreicht, so viele Vorwürfe waren das nicht. Daher haben wir es auch gar nicht ernst genommen. Ich finde es schade, dass ein paar Positionen aus dem Buch herausgefallen sind.
Norbert Reichel: Was ist denn herausgefallen?
Kristine Listau: Etwa 12 oder 14 Texte, aus verschiedenen Lagern.
Norbert Reichel: Aber alle unter dem Stichwort Nah-Ost-Konflikt, wenn ich das richtig wahrnehme. Den einen war etwas zu BDS-freundlich, anderen war etwas anderes zu Israel-freundlich?
Kristine Listau: Im Grunde ja. Es gab auch einen Artikel von Ramsis Kilani und Kerem Schamberger, Titel: „Die anwesenden Abwesenden der deutschen Israel-Debatte“. Andere Autor*innen drohten, ihre Texte zurückzuziehen, wenn der erschiene. Kerem Schamberger berichtete darüber auf seiner Internetseite. Der Text wurde jetzt im Freitag veröffentlicht. Es ist ein BDS-freundlicher Text, der aber keinen Satz enthält, der Israel das Existenzrecht abspricht. Das wird man in keinem Buch von uns finden. Wegen dieses Textes wollten andere aussteigen. Die Herausgeber*innen haben den Text dann herausgenommen. Das war nicht unsere Entscheidung, aber wir stehen hinter der Entscheidung unserer Herausgeber*innen. Einige gingen dann heraus, obwohl der Text herausgenommen wurde, andere, weil er herausgenommen worden ist.
Norbert Reichel: Der Kollege, der sich bei mir gemeldet hatte, gehörte wohl zur ersten Gruppe. Ihm war offenbar etwas an dem Buch zu BDS-freundlich. Ich fand eigentlich in mehreren Artikeln, dass das Verhältnis durchaus ausgewogen war, beispielsweise in den unterschiedlichen Auffassungen, die in den Texten von Hanno Loewy und Saba-Nur Cheema zum Thema formuliert wurden.
Kristine Listau: Niemand hatte verlangt, den Text, den ich eben nannte, zu lesen! Man kannte ihn nicht! Hier fehlt eine Kultur der Auseinandersetzung, des Verstehen-Wollens. Die Ablehnung erfolgt, bevor man sich überhaupt mit dem Text beschäftigt hat. Das ist krass: wir sind ja auch in linken Kontexten. Ich sage ja nicht: lest Nazis oder lest Israel die Existenz verweigernde Texte. Auf keinen Fall. Aber darum geht es nicht. Ich verstehe nicht, warum man verschiedene Positionen nicht nebeneinander lesen kann. Alle Texte setzen sich gegen Antisemitismus, gegen Rassismus ein und sind im Grunde alle auf derselben Seite. Dann verstehe ich noch viel weniger, warum Leute ihre Texte herausnehmen. Wir sind aber gelassen, denn es ist ein sehr gutes Buch.
Norbert Reichel: Es ist ein sehr gutes und – das soll jetzt nicht altväterlich verstanden werden – sehr wichtiges Buch! Ich habe meiner Rezension nicht ohne Grund den Titel „Fragile Allianzen“ gegeben.
Kristine Listau: Ich finde es schade für die Autor*innen, deren Texte herausgenommen wurden, weil niemand diese Texte jetzt im Kontext dieses Buches lesen kann. Für uns als Verlag ist es kein Verlust, denn wir haben ein gutes Buch. Oder was meinst du, Jörg?
Jörg Sundermeier: Das sehe ich genauso. Im Vorfeld gab es auch schon ein Vorwort, das verändert werden musste und nicht mehr so gedruckt werden konnte wie vorgesehen. Jetzt heißt das Vorwort „Warum dieses Buch ein Fehler war“.
Norbert Reichel: Wunderbar ironisch.
Jörg Sundermeier: Zunächst hieß es sinngemäß „Warum dieses Buch schwierig war“. Damals war aber noch nicht klar, wie das dann eskaliert. Sicherlich auch durch Kommunikationsfehler der Herausgeber*innen und auch von uns. Das war vielleicht auch der Hektik bei der Produktion geschuldet. Vielleicht spielten auch äußere Einflüsse wie die Debatte um die documenta eine Rolle. Im Vorfeld war durchaus schon klar, dass es zu Reiberein kommen würde, als die Reibereien intern noch gar nicht losgingen. Aber dass Menschen, die mit dem Buch gar nichts zu tun haben, als Rezensent*innen Bescheid wissen sollten, das wäre wichtig, auch wenn manche das Vorwort offenbar gar nicht gelesen haben. Manche wollen es eben hart in Begriffe wie „antisemitismus-kritisch“ und „rassismus-kritisch“ spalten, in so dumme Begriffe, und dann gibt es immer wieder Rezensionen oder Twitter-Beiträge mit einem Verriss des ganzen Buches. Auch das machen wir – wenn es jetzt nicht billigste Polemik ist – mal gerne publik, indem wir die Rezensionen teilen. Wir wollen ja nicht nur Lobhudeleien. Selbst dann kommen alle wieder, nach dem Motto: „Schon wieder wird darüber nicht geredet, dass…..“. Ich bin mir manchmal nicht sicher, ob es nicht reicht, einfach die beiden Wörter „Antisemitismus“ und „Rassismus“ zu nennen, dass alle durchdrehen.
Norbert Reichel: Den Job könnte man künstlicher Intelligenz überlassen. Gute Redenschreiber*innen können das auch. Die können ganze Debatten aus dem FF schreiben, mit allen Positionen, und sich wunderbar selbst widersprechen. Ein Parlament bräuchte man dann gar nicht mehr. KI wäre natürlich weniger aufwändig. Aber vielleicht kann Aufregung auch zu Klärung führen?
Kristine Listau: Wenn es diskutiert wird, ist Aufregung gut, aber wenn es nur Aufregung ist um des Aufregens willen, dann nicht. Bei „Extrem unbrauchbar“ war es anders. Das Buch wurde eher zur Analyse herangezogen. Das Buch analysiert die dumme Theorie, dass es in Deutschland eine „Mitte“ gäbe und dann die „Ränder“ rechts und links, die sich wie bei einem Hufeisen einander annähern. Das Buch analysiert, woher diese Theorie kommt.
Norbert Reichel: Das Buch erschien, als nach den Ergebnissen der Thüringer Landtagswahl wieder einmal die sogenannte „Hufeisentheorie“ bemüht wurde.
Kristine Listau: Es ist ja auch sehr interessant, wenn manche meinen, dass die Mitte gar keinen Rassismus kennt. Das ist doch Quatsch. Es ist ein gutes Buch zur Analyse, es gab keine Kritik. Bei „Triggerwarnung“ war es schon etwas anders. Da gab es auch kritische Debatten.
Norbert Reichel: Es fällt bei „Frenemies“ schon auf, dass es eine interne Debatte unter den Herausgeber*innen und Autor*innen gab, zu einer Zeit, als noch kein*e Rezensent*in das Buch kannte. Und es ist schon etwas anderes, ob sich die Autor*innen untereinander anfeinden oder Rezensent*innen sich über ein Buch hermachen.
Jörg Sundermeier: Man muss vielleicht sagen, dass in diesem Bereich die Lagerbildung besonders stark ausgeprägt ist. Ganz einfach. Und dann gibt es Diskussionen, die wir nicht für Diskussionen halten. Ich nenne ein Buch, das demnächst erscheint und das wir noch gar nicht angekündigt haben. Es heißt „Rechte Ränder“, gewidmet dem Faschismusforscher Volkmar Wölk, auch Übersetzer von Zeev Sternhell, dessen Buch „Faschistische Ideologie“ wir jetzt in einer zweiten Auflage veröffentlicht haben.
Friedrich Burschel, der Herausgeber von „Rechte Ränder“, hatte vorher bei uns das Buch „Das faschistische Jahrhundert“ gemacht. Da geht es um die Neue Rechte. Die Neue Rechte regt sich dann immer wahnsinnig auf und schreibt dann in ihren eigenen Publikationen immer, solche Bücher wären gar nicht satisfaktionsfähig. Seitenlang, wie sinnlos das Buch ist. Das sind keine Debatten, das ist Abwehr. Interessant ist, in welcher Länge das dann geschieht. Das zeigt uns, dass wir da wohl etwas Richtiges und die Richtigen getroffen haben. Solche Formen der Abwehr – Kritik kann ich das nicht nennen – oder der Verhöhnung sind dann auch nicht so gut geschrieben, dass sie das, was sie schreiben, auch durchsetzen könnten. Solche Versuche gibt es mehr oder weniger aber seit der Verlagsgründung.
Kristine Listau: Noch einmal zu Frenemies: Meron Mendel hat es mal so schön ausgedrückt, dass es im Grunde zwei Themen gibt, in denen hierarchisiert wird. Das eine ist der Antisemitismus, damit verbunden auch die Einzigartigkeit des Holocaust. Das andere ist die Welt als Kolonialismus-Projekt, als kolonisierte Welt, deren Spuren und Einflüsse bis heute wirken, dass Menschen als minderwertiger angesehen werden, woher auch der Rassismus in unserer Gesellschaft herrührt. Aber warum sollen wir diese beiden Sichten miteinander konkurrieren lassen? Vergleiche zwischen Genoziden finden wir abstrus. In „Frenemies“ gibt es einen Text von Claudius Seidl. Er sagt, eine Analyse, dass ein Genozid nur in der Abfolge und im Vergleich verschiedener Genozide in der Geschichte gilt, brauchen wir nicht.
„Natürlich gibt es diese Konkurrenz, und das ist erst einmal kein Grund zur Klage. Womöglich hat diese Konkurrenz sogar produktive Effekte, weil sie die Erinnerung in Bewegung hält. Denn jenes rituelle Erinnern, in dem die Deutschen sich für die Weltmeister halten, die tausendfache Beschwörung des ‚Nie wieder!‘, all jene feierlichen Zeremonien, bei welchen sich die nichtjüdischen Repräsentant*innen der deutschen Politik und Gesellschaft eine Kippa aufsetzen, ein ernstes Gesicht machen und beteuern, dass sie erstens, aus der Geschichte gelernt hätten, und dass sie, zweitens, die Ernnerung an die deutschen Verbrechen weitergeben und wachhalten würden: All das hat die Tendenz, innerlich hohl zu werden, zum Selbstgespräch unter Deutschen, in welchem sie sich und einander versichern, wie gut sie das doch machten. Ein Gespräch, bei dem man kaum das Interesse spürt, sich noch einmal zu veranschaulichen, wie ungeheuer, unfassbar, undenkbar war, was gerade mal ein Dreivierteljahrhundert entfernt von uns ist.
Und schon deshalb kann es nicht ganz verkehrt sein, wenn dieses Erinnern und Gedenken vom Postkolonialismus in Frage gestellt wird – auch, ja vielleicht gerade dann, wenn man seinerseits das Paradigma des Postkolonialismus, wonach man auch die Verbrechen der Nazis mit ihrer kolonialen Vorgeschichte und im kolonialen Kontext betrachten müsse, entschieden zurückweisen möchte.“
(Claudius Seidl, Gibt es Konkurrenz in der Erinnerung an den Holocaust und Kolonialismus?, in: Frenemies)
Vielfalt – keine Hierarchien
Norbert Reichel: Problematisch ist meines Erachtens die Sicht von Aleida Assmann, die in einer Kontroverse, die die Monatszeitschrift Merkur abdruckte, meinte, in „Erinnerung 1“ und „Erinnerung 2“ unterscheiden zu könnten. Allein mit den Zahlen suggeriert sie eine Hierarchisierbarkeit, die es weder geben kann noch sollte. Mord ist Mord, Völkermord ist Völkermord. Ich darf zu diesem Thema vielleicht meinen Essay „Umstrittene Erinnerung“ empfehlen. Ich habe auch Kira Auer interviewt, die mit einer Arbeit über die Aufarbeitung der Genozide in Ruanda, Kambodscha und Guatemala promoviert wurde. Und oft habe ich erfahren, dass beispielsweise Geflüchtete aus Kriegsgebieten, aus Ländern, in denen Folter und Mord an Oppositionellen an der Tagesordnung sind, in denen ganze Gruppen von Menschen unter Generalverdacht gestellt, verfolgt, vertrieben oder ermordet werden, die Shoah besser verstehen, wenn auch ihre Erfahrungen ernst genommen, gehört und zur Geltung gebracht werden. Das hat mir beispielsweise Julia Bernstein berichtet, die in Frankfurt am Main Sozialpädagog*innen ausbildet.
Kristine Listau: Genau das hilft zu begreifen. Es geht eben nicht um eine Hierarchisierung des Opfertums. Wir können Überlebenden der Shoah oder Überlebenden von Kolonialverbrechen nicht sagen, dass die eine Erfahrung wichtiger wäre als die andere. Wir müssen allen zuhören und dafür sorgen, dass diese Grausamkeiten nie wieder geschehen. Dies tun wir in Buchform.
Jörg Sundermeier: Ich versuche mal wieder, aus dieser einen Debatte herauszukommen. Es ist immer noch eine very German Debatte. Deshalb machen wir auch Bücher wie die von Milo Rau, zum Kongo, zu Ruanda. So sehr uns die deutsche Geschichte ein wichtiges Thema ist, dass „Nie wieder!“ für uns ein wichtiges Thema ist, wollen und müssen wir auch woanders hinschauen, nach Russland, in die USA, nach Asien, nach Afrika. Manchmal steckt man dann doch zu sehr in einer allzu deutschen Debatte. Darin wollen wir nicht stecken bleiben, auch wenn unsere Mittel im Hinblick auf die Kosten von Übersetzungen beschränkt sind. Leider. Deshalb ist uns der Blick nach Georgien so wichtig. Dort haben Sie viele Konflikte, die uns zurzeit auch beschäftigen sollten, aber zurzeit ist Georgien nicht so sehr im Fokus, in der Regel offenbar erst und nur dann, wenn dort russische Panzer rollen.
Auch wenn wir jetzt über Umweltdinge reden, sollten wir nicht nur über den deutschen Bergbau und unsere Biobauerei in Brandenburg reden. Mit unserer slowenischen Autorin Nataša Kramberger haben die Übersetzerin Liza Linde und Kristine, die die Übersetzung von „Verfluchte Misteln“ lektoriert hat, die slowenische und die deutsche Bauern-Verordnung abgeglichen. Ich habe Kristine bei einem Lektorat noch nie so viel lachen gehört. Der Irrsinn war der gleiche, bis in die Formulierungen hinein. Wie war das noch mit den Brombeeren, Kristine?
Kristine Listau: Das war eine „untolerierbare Pflanze“. Ich war mir nicht sicher, ob die Übersetzerin das richtig übersetzt hatte. Sie hatte. Bei der Recherche fand ich im Internet die baden-württembergische Förderordnung. Da gab es den Begriff auch. Es geht um Folgendes: wenn man eine bestimmte Menge Boden hat, kann man bei der EU Geld für diese Fläche beantragen, aber wenn darauf ein Brombeerstrauch oder eine Schlehe steht, wird dieser Teil von der förderfähigen Fläche abgezogen, weil das eine „untolerierbare Pflanze“ ist. Man könnte ja denken, diese Pflanze wäre gut für die Biodiversität, aber so ist es nicht. Eine Brombeerplantage wäre hingegen förderfähig. Wir haben über dieses eigentlich poetische Werk von Nataša Kramberger viel über die Landwirtschaft gelernt.
Norbert Reichel: Sie haben einige internationale Autor*innen im Programm.
Kristine Listau: Unser Schwerpunkt ist dennoch die deutsche Belletristik. Das können wir einfach besser. Aber es gibt oft auch Literatur, die an uns von Übersetzer*innen herangetragen wird. Manche werden auch durch die Gastländer bei den Buchmessen inspiriert. Wir konzentrieren uns zurzeit eher auf die osteuropäische Literatur. Meine Muttersprache ist russisch. Ich verstehe zwar nicht beispielsweise Slowenisch, aber ich weiß, was die einzelnen Morpheme bedeuten. Da gibt es eben Verwandtschaften in den slawischen Sprachen. Für ein gutes Lektorat sollte man die Ursprungssprache ein wenig verstehen. Auch für „kleine“ Sprachen gibt es inzwischen gute Übersetzer*innen. Es ist nur einfach viel schwieriger, die Kosten hereinzuholen.
„Auf einen Schlag kommt die Kälte das Tal heruntergekrochen. Die Dunkelheit schluckt alle Geräusche. Es gibt keine Landschaft. Keine Arme und Beine. Keine Pflaumen, geschweige denn Alleen. Nur mich und den Sternenhimmel, oh, kein Sternenhimmel: Stille. Der Herbst ist schon fast Winter. Ich strecke die Arme aus. Er ist da. Der Schmerz ist da. Hinterlistig kriecht er aus den schweren schlammigen Stiefeln in die ungelenken schlammigen Hüften, in die kraftlosen schlammigen Arme und von dort in die Strähnen, die am Morgen noch Haare waren, die jetzt nicht mehr von den schlammigen Grasbüscheln zu lösen sind. Im Oktober ist die Erde kalt, wenn man auf ihr liegt. Dann beißt der Wolf dir in den Po. Wer? Der Wolf. Dann bist du selbst schuld, wenn sich alles entzündet, mindestens die Eierstöcke und die Blase. Die Dunkelheit ist dicht. Der Mond ist schwach. Jimi! Jimi ist schwarz wie die Nacht. Jimi, oh, du Rumtreiber. Ich kann ihn in der Dunkelheit hören, wie er zwischen den jungen Pflaumen nach Mäusen sucht. Wo ist jetzt das Feuer? Wo ist mein Bruder? Der schwere, brennende Schmerz zieht aus den Waden in die Oberschenkel, durchs Becken in die Rippen, ach, komm, steh schon auf! Wenn wir fertig sind, essen wir Kastanien. Jimi! Jimi, der Arme, springt auf seinen Posten. Er legt sich mir in den Schoß und fängt sofort an zu schnurren.“ (Nataša Kramberger, Verfluchte Misteln)
Von der Freundlichkeit der Autor*innen
Norbert Reichel: Einer ihrer internationalen Autoren ist Giwi Margwelaschwili. Da haben Sie, Herr Sundermeier, einige Verdienste, dass seine Bücher verlegt, gekauft und gelesen werden können. Ich erinnere mich aber auch an eine Mail, in der Sie darauf hinwiesen, dass seine Bücher aus dem Buchhandel zu verschwinden drohten, dass ein zweites Verstummen drohte.
Jörg Sundermeier: Man muss trommeln. Wenn ein Buch bei uns lieferbar ist, heißt das nicht, dass es noch im Zwischenhandel lieferbar ist. Gerade bei älteren Titeln. Dann sagen viele Buchhandlungen aus Unkenntnis der Lage, ein Buch wäre nicht mehr lieferbar. Giwi Margwelaschiwli ist ein deutschsprachiger Autor mit georgischem Hintergrund. Ein hochkomplexes theoretisches Werk, das unglaublich zugänglich erzählt wird. Er nimmt einen geradezu an der Hand und führt die Leser*innen in einen auch für ganz naive Blickweisen offenen Themenpark, der aber auch – wenn man sich darauf einlässt – sehr viel Tiefe hat. Das ist wunderbar gemacht und wie die Werke miteinander verbunden sind, ist schon unique. Das ist eben ein Autor, der in der deutschen Wahrnehmung untergegangen ist, unter anderem auch weil manche Leute behaupten, sie könnten den Namen nicht aussprechen. Irgendwo ist auch Sundermeier für manche Leute vielleicht schwierig, aber man muss sich die Aussprache eben einfach angewöhnen. So ist das bei vielen anderen Namen auch. Das ist manchmal etwas hinderlich, auch ein wenig traurig.
Norbert Reichel: Mich begeistern seine Texte, die kurzen wie die langen. Eine schöne Vorstellung ist die vom „Leselebenstintensee“, zu dem Autor, Leser*innen und Figuren des Romans gleichermaßen aufsteigen, um die Essenz des Lebens und der Literatur zu erkunden. Wären wir Lebewesen mit Kiemen, ließe uns Giwi Margwelaschwili wahrscheinlich in die Tiefe der Meere tauchen, letztlich geht es um den Weg zu Erkenntnis, auf dem mitunter geradezu humoristische Episoden erlebt werden, Streitereien, Unmut über die Umstände, Ermutigungen, Lösungen und nicht zuletzt immer wieder philosophische Erörterungen. Manches bei Giwi Margwelaschwili erinnert mich gerade wegen der diversen Meta-Ebenen, über eine Geschichte eine Geschichte zu erzählen, auch an Dietmar Dath, gerade auch im Vergleich mit dem Schlusskapitel in der Neuauflage von „Cordula Killt dich!“ „Der Leselebenstintensee“, ein wunderbares Wort, ein wunderbares Buch. Sie haben zu Giwi Margwelaschwili ein – so darf ich das vielleicht sagen – persönliches Verhältnis entwickelt.
Jörg Sundermeier: Ja, wir beide. Kristine hatte noch das Glück, ihn ganz knapp noch in Berlin kennenzulernen. Dann haben wir uns mehrmals in Georgien getroffen. Er war ein wahnsinnig herzlicher Mensch. Man kann es nicht Freundschaft nennen, das ginge zu weit. Es war eine sehr enge Verbindung, eine Verbindung zwischen Verlag und Autor, wie wir es uns erhoffen und wie wir es auch oft zu Autor*innen haben. Das geht dann schon manchmal bis zu einer engen Freundschaft. Auch das Persönliche muss stimmen. Wenn jemand toll schreibt, aber als Person ein ausgesprochener Stinkstiefel ist, das können wir nicht so gut. (alle drei lachen in sich hinein)
Norbert Reichel: Das erinnert mich an die Begegnung, die die sechzehnjährige Susan Sontag mit Thomas Mann in Pacific Palisades hatte. Der war nun in diesem konkreten Treffen nicht unbedingt ein Stinkstiefel, aber eingebildet und gleichzeitig langweilig war er schon. Das ist vielleicht noch viel schlimmer.
Jörg Sundermeier: Zurzeit gibt es jemanden, der auf Twitter jeden Tag einen Auszug aus den Tagebüchern von Thomas Mann veröffentlicht. Selbstbezüglicher Mist! Er hat wohl sehr um sich selbst gekreist.
„Da zogen sich einmal mehrere Buchweltpersonen – das sind jene Personen, die in Büchern leben und durch ihre Leser lesend belebt werden – wetterfeste Kleidung an, nahmen Rucksäcke auf und wanderten den Fluß ihres Leselebens immer höher und höher hinauf. Solch eine gewagte Expedition war in der ganzen Buchwelt bis dahin noch nie unternommen worden. Aber diese waren wagemutige Burschen, und zudem brannten sie auch vor Neugier, an die Quelle ihres Daseins zu kommen, ihren Ursprungsort zu erschauen.
Das Steigen ging zuerst, ganz entgegen ihrer Vermutung, immer leichter, je weiter sie gelangten. Die Quelle, von der sie wußten, daß sie auf dem Gipfel des Gebirges gelegen war, in dem sie kletterten, schien alle in der Gruppe magnetisiert zu haben. Von einer bestimmten Höhe ihres Weges an setzten sie ihre Füße nämlich immer unbeschwerter auf das lesestoffliche Gestein und kamen immer schneller voran.
‚Vielleicht sollten wir umkehren‘, dachte der Bergführer beklommen. Doch das war wohl schon unmöglich. Denn alle anderen, die da mit ihm kletterten, waren von der Idee, an die Quelle ihres Daseins zu kommen, wie besessen. Es gab kein Zurück.“ (Giwi Margwelaschwili, Der Leselebenstintensee)
Die Unnötigen
Norbert Reichel: „Der Leselebenstintensee“ beginnt irgendwie wie ein Märchen. Das Buch ist meines Erachtens ähnlich anarchisch wie die Bücher von Gisela Elsner oder Dietmar Dath, über die wir bereits gesprochen haben. Ein weiteres in diese Reihe passendes Buch aus Ihrem Programm möchte ich etwas hervorheben. Es ist ein Buch, das die Grenzen zwischen Belletristik und Sachbuch überschreitet, wie das eigentlich gute Essays auch tun sollten. Der Titel: „Ozeanisch schreiben – Drei Ensembles zu einer Poetik des Nicht-Binären“. Dieses Buch zeigt, dass Queerness eben nicht etwas ist, um die Welt in Lager einzuteilen, sondern eine Methode, sich der Welt zu nähern und sie vielleicht ein bisschen besser zu verstehen. Passt vielleicht auch zu den „Frenemies“.
Jörg Sundermeier: Dem kann man nur rundweg zustimmen. Wir hatten schon ein Buch mit Thomas Meinecke, Titel „Analog“, gemacht. Dann hat er sich bei uns gemeldet und von den Mitschnitten erzählt. Er hat gefragt, ob wir uns so etwas als Buch vorstellen könnten. Wir haben uns mit den vieren zusammengezoomt, mit ihm, mit Carolin Bohn, Regina Toepfer und Bettina Wahrig. Schnell stand fest, wir heben die Gesprächssituation gar nicht auf, wir redigieren das, verdichten was, versetzen da mal einen Satz nach da, so wie Sie das beim Redigieren dieses Interviews ja auch machen. Es wird so flüssiger, erhält aber auch seinen mündlichen Charakter und lässt in die Methode von Thomas Meinecke eintauchen, die von seinen drei Gesprächspartnerinnen* kritisiert, einsortiert und diskutiert wird. Das hat uns sehr viel Freude gemacht.
„Auf diese Weise führt Cixous das ein, und ich finde das legitim, obwohl ich auch erst bedauert habe, dass sie von Gegebenheiten ausgeht, die bei Butler bereits suspendiert sind. Aber mittlerweile sehe ich darin keinen Widerspruch mehr. Ich erkenne an, dass sie auf andere Weise als Butler schon in den 1970er Jahren positiv konstruktiv entwickelt, was sie eben weibliches Schreiben nennt: etwas eher Fließendes; also letztlich etwas, was wir mittlerweile beschreiben als fluid, non-binary, und was ich selbst gerne ozeanisch nenne. Etwas, das nicht männlich, aggressiv, invasiv ist, sondern vielmehr mit dem eher weiblich codierten Rezipieren als Tat zusammenhängt und dabei witzigerweise durchaus auch Männer mit einbezieht, die das auch können. Cixous befindet beispielsweise, dass Joyce so schreiben kann, und ich glaube, sie sagt sogar, dass D.H. Lawrence in der Literaturgeschichte den ersten richtigen weiblichen Organismus schildert. Sie erkennt dieses Vermögen also auch Männern zu. Es ist letztlich eine andere Ästhetik, eine, die nicht aggressiv ist.“ (Thomas Meinecke in: Ozeanisch schreiben)
Norbert Reichel: Last not least: Ein weiteres aus meiner Sicht ebenso anarchisch-ironisch gefasstes Highlight in Ihrem Programm sind die frühen Geschichten von Georg Stefan Troller, benannt nach einer der darin enthaltenen Geschichten: „Der Unnötige“. Dieser Autor ist ja nun einmal ein ganz Großer.
Jörg Sundermeier: Das kann man wohl sagen. Hier ist der Herausgeber, Wolfgang Jacobsen, an uns herangetreten. Es hat sich dann wunderbar gefügt, Jacobsen und Troller hatten schnell einen Draht zueinander, wir fanden die Geschichten gut, manche sehr gut. Das ist auch nicht nur ein Frühwerk. Das hat uns heute immer noch etwas zu sagen. Georg Stefan Troller war hocherfreut und hat dann noch ein paar Gedichte dazugegeben. Ein schönes, rundes Buch, für uns sicherlich eine schöne Sache, dass wir diesen Menschen auch noch einmal ehren können. Und es sind tolle literarische Texte.
Norbert Reichel: Mir haben vor allem die beiden Texte „Der Unnötige“ und „Unter Existenzialisten“ besonders gut gefallen. Das bestätigt was sie sagen: sie sind hochaktuell, gerade in der Frage, was es eigentlich heißt, etwas zu tun oder es nicht zu tun oder was Menschen meinen, wenn sie von jemand anderem meinen, er täte nichts oder zumindest das Falsche. Offenbar gibt es doch so etwas wie „ein richtiges Leben im falschen“ oder sollten wir den berüchtigten Adorno-Satz einfach umdrehen und es gibt doch ein „falsches Leben im richtigen“?
Jörg Sundermeier: Die Texte sind 70 Jahre alt. Georg Stefan Troller sagt im Vorwort, die Texte sind ihm fremd und auch er selbst ist sich gegenüber dem damals 30jährigen fremd. Dieses Dasein als Lost Person – das erleben wir drei vielleicht gerade nicht, aber sehr viele Menschen in Europa erleben das jetzt wieder, Menschen auf anderen Kontinenten ohnehin, in Mali, in Syrien, ein versprengtes Dasein. Diese Erfahrungen sind heute immer noch oder wieder – je nach Standort – da und immer noch aktuell.
Norbert Reichel: Für ein Displacement braucht man vielleicht noch nicht einmal einen Ortswechsel. Ich habe letztens einen Film über Stadtteile auf den Philippinen gesehen, in denen die Menschen in ihren Häusern ihren Hütten wegen des angestiegenen Meeresspiegels mit den Füßen immer im Wasser stehen. Auch das ist eine Form des Displacement ohne Ortswechsel.
„Wir saßen im Café des Deux Magots, vier junge Männer und ich. Die jungen Männer trugen alle Bärte, weil man im Viertel Saint-Germain-des-Prés einen Bart tragen muss, um nicht für einen Kleinbürger angesehen zu werden. Mein Freund Gaston trug den längsten Bart und er sprach auch am längsten.
‚Sehen Sie den Mauerspalt dort drüben an der Ecke?‘, fragte er mich.
‚Dass es so zerspaltene Mauern gibt, dafür bin ich gesellschaftlich verantwortlich. Für die Ratten, die in dem Spalt unterkriechen, bin ich auch verantwortlich. Weiters bin ich verantwortlich für den Abfall, an dem sich die Ratten mästen. Schließlich –‘
‚Hören Sie, Gaston‘, sagte ich. ‚Sie sind ein ausgezeichneter Redner, sie sollten öffentlich reden.‘
Er senkte bescheiden die Augenlider unter den schwarzgerahmten Brillen. ‚Ich nehme einen Kurs in Rhetorik an der Sorbonne‘, sagte er. ‚Ich bin auch für mich verantwortlich.‘
In dem Augenblick ging der ehemalige britische Pionieroberst vorüber, der jetzt für die französische Regierung die Lothringschen Gruben überwacht. Und ich hörte, wie er zu seiner Frau sagte: ‚Da sitzen sie und reden in ihre Bärte, anstatt etwas Vernünftiges zu tun.“
(Georg Stefan Troller, Unter Existenzialisten, in: Der Unnötige)
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Februar 2023, Internetzugriffe zuletzt am 27. Januar 2023, Titelbild: Hans Peter Schaefer.)