Antisemitismus bekämpfen – auch in der Schule

Ein gemeinsamer Auftrag von Schulpsychologie und SABRA

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“ (Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) vom 15. Mai 2016, die auch von der Bundesregierung übernommen worden ist.)

Antisemitismus ist der entscheidende Indikator für den Zustand unserer freiheitlichen Demokratie. Bundesregierung und mehrere Bundesländer haben Antisemitismusbeauftragte bestellt. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen unterstützt und finanziert Einrichtungen, die von Antisemitismus betroffene Menschen beraten und nicht zuletzt Schulen dabei unterstützen, Antisemitismus möglichst zu verhindern oder zumindest angemessen und wirksam zu intervenieren.

  • Die Landesstelle Schulpsychologie und Schulpsychologisches Krisenmanagement (LaSP) ist eine nachgeordnete Einrichtung des Schulministeriums. Sie arbeitet eng mit den 54 schulpsychologischen Diensten in den Kreisen und kreisfreien Städten zusammen, die ihrerseits über eigenes Personal für den Kampf gegen Antisemitismus und jede andere Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit verfügen.
  • Die Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit – Beratung bei Rassismus und Antisemitismus (SABRA) ist eine Einrichtung der Zivilgesellschaft. Träger ist die Jüdische Gemeinde Düsseldorf. SABRA arbeitet landesweit und wird von mehreren Ressorts der Landesregierung, insbesondere den für Schule und Integration zuständigen Ministerien sowie der Landeszentrale für politische Bildung finanziert.

Norbert Reichel: Wie und in welcher Form erreichen Sie antisemitische Vorfälle?

Sophie Brüss: Uns erreichen Vorfälle auf verschiedenen Wegen, hauptsächlich durch unsere Beratungstätigkeit und unsere Meldestelle für antisemitische Vorfälle. Aber auch in unseren Fortbildungen erzählen uns Lehrkräfte und Multiplikator*innen immer wieder von Vorfällen an ihren Schulen. Gelegentlich auch privat, wenn Menschen wissen, dass ich bei SABRA arbeite, erzählen sie mir immer wieder von Vorfällen, die sie selbst erlebt oder bei denen sie Zeug*innen waren.

Nina Laube: Die Landesstelle berät die Schulaufsicht u.a. zu Präventionsmöglichkeiten in Schule gegen Antisemitismus. Wir sind somit auch eine mögliche Ansprechpartnerin für die Dezernent*innen und damit mittelbar für die Schulen, wenn es zu antisemitischen Vorfällen kommt. Vor allem können wir die Verantwortlichen über Netzwerkpartner und spezialisierte Beratungsstellen informieren. SABRA spielt hier natürlich eine besondere Rolle.

Norbert Reichel: Welche konkreten Aufgaben haben Landesstelle und SABRA übernommen und wie arbeiten Sie zusammen?

Sophie Brüss: SABRA ist eine Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit des Landes NRW. Wir arbeiten auf drei Ebenen: wir bieten Einzelfallberatung sowohl in Fällen von Antisemitismus als auch von Rassismus an. Wir begleiten unsere Klient*innen durch den Lösungsprozess und ‚empowern‘ sie. Im Bereich Prävention bieten wir Sensibilisierungsworkshops und Fortbildungen für Lehrkräfte und Multiplikator*innen an, in denen wir alle Formen von Antisemitismus einbeziehen, z.B. veranstalten über Fachtage für Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte zum Thema Antisemitismus an Schulen in den Räumen der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf.

Demnächst wird unser virtueller Methodenkoffer online gehen, in dem wir Materialien zu den Themengebieten Antisemitismus, Jüdische Identitäten und Israel bereitstellen werden. Wir sind in vielen Netzwerken und Gremien vertreten, in denen wir z.B. auch mit der LaSP und mit dem Ministerium für Schule und Bildung zusammenarbeiten, um Konzepte und Handlungsempfehlungen zu entwickeln. Unsere dritte Säule ist die Erfassungsstelle für antisemitische Vorfälle, in der diese dokumentiert werden. Aktuell führen wir im Auftrag der Antisemitismusbeauftragten des Landes NRW eine qualitative Befragung zur Problembeschreibung Antisemitismus in NRW durch.

Nina Laube: Die Landesstelle (LaSP) unterstützt die Qualitätsentwicklung der Schulpsychologie und des Schulpsychologischen Krisenmanagements in Nordrhein-Westfalen. Sie erarbeitet im Bereich der Prävention von Gewalt Module und Materialien gegen Extremismen aller Couleur und gegen sexualisierte Gewalt. Die Materialien und Fortbildungsangebote richten sich an die Schulpsychologischen Beratungseinrichtungen in NRW, die wiederum im Auftrag der Fortbildungsdezernate der Bezirksregierungen Zertifikatskurse für Beratungslehrkräfte und lokal auch die Ausbildung von Schulischen Teams für Beratung, Gewaltprävention und Krisenintervention durchführen.

Die Schulpsychologischen Beratungsstellen können unsere Module verwenden oder auch Mitarbeitende der Landesstelle als Referent*innen buchen, z.B. für den Bereich Extremismusprävention. Antisemitismus ist eines der Schwerpunktthemen. Materialien zum Thema wurden in enger Kooperation mit SABRA, der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf und weiteren Expert*innen erarbeitet. Ziel ist es, dass – ergänzend zu den genannten Qualifizierungsangeboten jede Lehrkraft über unsere Homepage Materialien downloaden und sich somit selbstständig weiterbilden kann.

Norbert Reichel: Wir haben heute ein vielschichtiges Bild von Antisemitismus. Der klassische rechtsextremistische Antisemitismus ist nur eine der Spielarten. Wir erleben muslimischen Antisemitismus und linken Antisemitismus. Ein gemeinsamer Feind muslimischer und linker Gruppen ist Israel.

Nina Laube: Der israelbezogene Antisemitismus ist in der Tat ein großes Problem, denn er wird oft nicht als solcher wahrgenommen. Viele Menschen benutzen überzogene und dämonisierende Kritik am Staat Israel und seinen Bewohner*innen bewusst oder unbewusst als „antisemitische Umwegkommunikation“, auch in gebildeten Kreisen, die eigentlich wissen müssten, dass man gerade in Deutschland mit offen antisemitischen Aussagen negativ auffallen würde.

Da dient der Themenkomplex Israel oft als „Deckmantel“, um sich negativ über Jüdinnen und Juden zu äußern. Die Medien spielen da in nicht wenigen Fällen leider ebenfalls eine unrühmliche Rolle, wie es z.B. die Studie von Anatol Stefanowitsch von der Freien Universität Berlin belegt: Israel wird, wie seine Studie eindrucksvoll nachweist, in fast allen Schlagzeilen, die über israelische Aktionen im Nahostkonflikt berichten, als Akteur, als „Aggressor“ benannt. Nur die Hälfte der Schlagzeilen, die über palästinensische Angriffe berichten, nennt überhaupt einen Akteur, in 50% der Fälle wird nur das Ereignis benannt, ohne einen Verantwortlichen deutlich zu machen.

Gerade an Schulen muss daher verstärkt eine kritische Medienkompetenz vermittelt werden. Auch viele sogenannte „Qualitätsmedien“ haben in den letzten Jahren antisemitische Karikaturen (z.B. die Süddeutsche Zeitung anlässlich des vorletzten Grand Prix d‘Eurovision) oder Schlagzeilen verbreitet. Exemplarisch möchte ich hier einige schon vor der Sprache her in sich widersprüchliche Schlagzeilen nennen: „Weiter Raketen auf Israel – aber Waffenruhe hält bislang“ sowie „Israel droht mit Selbstverteidigung“ (beides Focus Online).

Solche einseitig gegen Israel gerichteten Diskurse werden der Komplexität des Nahostkonfliktes in keiner Weise gerecht. Sie vergiften und verfälschen. Ich wünsche mir eine klare und deutliche Verurteilung des antiisraelischen Antisemitismus in der Öffentlichkeit und in den Sozialen Medien, ebenso wie es bei rechtsextremistischen Taten geschieht. Die Verurteilung der BDS Bewegung („Boycott, Divestment and Sanctions“, eine Bewegung, die zum Boykott von Waren, Dienstleistungen und Künstlern aus Israel aufruft und an den alten NS-Slogan: „Kauft nicht bei Juden“ anknüpft) durch den Deutschen Bundestag), diverse Landtage, u.a. den Landtag NRW und verschiedene Stadträte, ist ein wichtiger Schritt zur Sensibilisierung der Menschen. Wichtig ist es, Antisemitismus zu erkennen und zu bekämpfen, unabhängig davon, von welcher Seite er kommt.

Sophie Brüss: Sie müssen bedenken, dass diese Schlagzeilen und Karikaturen eine direkte Auswirkung auf Jüdinnen und Juden haben: wir stellen immer wieder fest, dass sobald die Lage in Israel eskaliert und entsprechende Schlagzeilen uns erreichen, die Aggressionen gegenüber Jüdischen Menschen und Einrichtungen rapide zunehmen. Einer der prominentesten Fälle war der Anschlag auf die Synagoge in Wuppertal, aber auch an Schulen werden jüdische Schülerinnen und Schüler drangsaliert und für vermeintliche „Verbrechen“ Israels verantwortlich gemacht. Umso schlimmer, dass in Wuppertal ein Gericht den Anschlag auf die Synagoge nicht als antisemitisch anerkannte, weil er ja „nur“ gegen Israel gerichtet gewesen wäre.

Norbert Reichel: Antisemitismus ist für viele Menschen offenbar schwer erkennbar. Wie können Sie mit Ihrer Arbeit Bildungsinstitutionen sensibilisieren, Antisemitismus zu identifizieren und angemessen zu reagieren?

Nina Laube: Grundsätzlich gilt das Ziel, in und im Umfeld von Schulen ausdrücklich und nachhaltig für die Werte unseres demokratischen und freiheitlichen Rechtsstaats und gegen jede Form von Gewalt einzutreten. Unsere Stelle und die lokale Schulpsychologie unterstützen Schule dabei. Im Bereich des Antisemitismus versuchen wir mit unseren Materialien und Fortbildungen aufzuzeigen, welche Motive und Formen des Antisemitismus es gibt, nämlich neben dem rechten auch einen linken, einen islamisch motivierten sowie einen Antisemitismus in der „Mitte“ der Gesellschaft, der dann oftmals hinter antiisraelischen Aussagen „versteckt“ wird.

Wir weisen zudem auf die rechtlichen Vorgaben für Schulen hin, politisch motivierte Straftaten, zu denen antisemitische Vorfälle ja in der Regel zählen, zu melden. Hierzu gibt es Erlasse, die den Schulleitungen konkrete Verfahrenswege aufzeigen. Grob fahrlässig ist es, wenn antisemitische Aussagen und Taten nicht ernstgenommen und damit unkommentiert und ohne jede Konsequenz bleiben. Solche Vorfälle verbreiten sich ohnehin unter der Schüler*innen- und Elternschaft.

Eine Schule könnte sich gerade durch ein professionelles Vorgehen sowie durch die Bemühung um ein umfassendes Präventionskonzept positiv hervortun. Die Bildung schulinterner Teams für Beratung, Gewaltprävention und Krisenintervention wäre ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, nachhaltige Strukturen zu schaffen.

Sophie Brüss: Als Einrichtung in Trägerschaft der Jüdischen Gemeinde möchten wir, neben den o.g. Aspekten, auch auf die jüdische Perspektive auf Antisemitismus aufmerksam machen und zeigen, welche Auswirkungen die Vorfälle auf die Betroffenen haben können. Dies kann so weit gehen, dass Schülerinnen und Schüler die Schule wechseln müssen, weil sie keine Unterstützung finden und weil antisemitische Vorfälle keine Konsequenzen nach sich ziehen.

Antisemitismus beeinflusst die schulische Laufbahn fast aller jüdischen Schüler*innen. Während z.B. nicht-jüdische Eltern Schulen nach der Nähe zum Wohnort oder der pädagogischen Ausrichtung aussuchen, ist das Haupt- und fast einzige Kriterium für jüdische Eltern, ob es an dieser Schule antisemitische Vorfälle gab und wenn ja, wie die Schule mit diesen umgegangen ist. Antisemitismus reißt auch Familien auseinander: ich kenne nicht wenige Eltern, die nach dem zweiten oder spätestens dem dritten Schulwechsel aus antisemitischen Gründen ihre Kinder schweren Herzens nach Israel in ein Internat schicken, um sie zu schützen.

Übrigens bringt eine Vermeidungsstrategie auch wenig. Selbst wenn die Schüler*innen als konfessionslos in der Schule eingeschrieben sind und ihre jüdische Identität verstecken, werden sie durch die ungerichteten antisemitischen Äußerungen verletzt. In einem Fall lief der Geschichtsunterricht an einem Elitegymnasium zum Thema Judentum völlig aus dem Ruder, die Schüler*innen wiederholten einen antisemitischen Mythos nach dem anderen, von Jesusmörder bis zur Weltherrschaft, was die Lehrerin völlig unkommentiert ließ. Der jüdische Schüler, der sich aber nicht „geoutet“ hatte, bat die Lehrerin um Klärung. Nachdem dies nicht erfolgte, bat er darum, in der nächsten Stunde ein Referat über das Judentum zu halten, was ihm erlaubt wurde. Leider wurde die Lehrerin krank und die Stunde fiel aus. Wegen des Unterrichtsausfalls weigerte sich die Lehrerin, den Schüler das Referat halten zu lassen, trotz dessen gewissenhafter Vorbereitung. Die Eltern beschwerten sich, die Schulleitung stellte sich aber hinter die Lehrerin.

Norbert Reichel: Mitunter versuchen Schulleitungen oder auch Leitungen von Jugendhäusern Antisemitismus zu ignorieren, um nicht unter Verruf zu kommen. Andere spielen Antisemitismus herunter, weil sie das Problem für unbedeutend halten. Und wiederum andere vertreten zu Israel Meinungen, die zumindest sehr nahe an Antisemitismus heranreichen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass es ausreicht, etwas als antisemitisch zu benennen, wenn diejenigen, die zuhören sollten, nicht verstehen, warum das, was sie sagen, antisemitisch ist. Was kann man tun, diese Mischung von Ablehnung, Unwissen und Ignoranz zu bekämpfen?

Nina Laube: Es muss einfach ein breiter Konsens entstehen, dass an einer Schule und auch im Kollegium, im Freundeskreis, in der Gesellschaft auftretender Antisemitismus laut und deutlich benannt und geächtet wird. Auch und gerade wenn der Antisemitismus sich hinter Verschwörungstheorien oder „Israelkritik“ versteckt. Hier haben wir noch ein gutes Stück Weg vor uns. Das Thema gehört auf Schulleitungsdienstbesprechungen und da wird es auch behandelt. Schulleitungen müssen wissen, dass Antisemitismus nie unbedeutend ist, dass antisemitische Äußerungen und Vorfälle Konsequenzen nach sich ziehen müssen. Wer schweigt und unter den Teppich kehrt, macht sich mitschuldig an einer Zunahme antisemitischer Vorfälle.

Sophie Brüss: Menschen mit einem geschlossenen antisemitischen oder „antiisraelischen“ Weltbild können wir nicht mehr erreichen, aber durch unsere Fortbildungen sensibilisieren wir nicht nur, wir bestärken auch die Menschen, die tatsächlich Antisemitismus bekämpfen wollen. Z.B. kann ich mich an eine Fortbildung erinnern, bei der mich eine teilnehmende Lehrerin in der ersten Pause zur Seite nahm und mir zuflüsterte, sie sei ja selber in Israel gewesen und würde den israelbezogenen Antisemitismus unerträglich finden, auch an ihrer eigenen Schule. Am Ende der Fortbildung traute sie sich auf einmal laut und deutlich das Problem anzusprechen.

Norbert Reichel: Antisemitismus unterscheidet sich von anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Aber wie gehen Sie auf andere dieser Formen ein, beispielsweise Islamfeindlichkeit oder die Abwertung von Sinti und Roma? Gibt es nicht auch die Gefahr der Relativierung oder Opferkonkurrenz?

Sophie Brüss: Wenn wir Antisemitismus nicht nur oberflächlich als Judenfeindschaft, sondern als Ideologie, als Welterklärungsmodell oder, wie Samuel Salzborn treffend formuliert, als „negative Leitidee der Moderne“ bekämpfen, impliziert es auch eine Befürwortung von Diversität, in jeder Hinsicht.

Nina Laube: Wir unterstützen Schulen dabei, wie sie die Achtsamkeit gegenüber allen Formen von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und auch gegen alle Formen von Extremismus und Gewalt erhöhen kann. Im Kern geht es darum, Kinder stark zu machen, ihnen demokratische Werte und Respekt allen Menschen gegenüber zu vermitteln. Dazu muss dann aber noch das Besondere am Antisemitismus herausgestellt werden, das ist Auschwitz“.

Antisemitismus ist der Indikator schlechthin für den Zustand unserer freiheitlichen Demokratie. Diese Besonderheit des Antisemitismus, dessen furchtbarer „Höhepunkt“ die industriell geplante Vernichtung eines ganzen Volkes im Nationalsozialismus war, muss in der Bildungsarbeit ebenso deutlich werden wie die daraus entstandene Solidarität Deutschlands mit dem Staate Israel. Unabhängig davon gilt es selbstverständlich, dass der Völkermord an den Sinti und Roma, der Völkermord an den Ovo-Herero und den Nama ebenso in der Schule thematisiert werden sollten. Das hat nichts mit Opferkonkurrenz zu tun, sondern mit der Ächtung jeder Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit

Norbert Reichel: Wie gehen Sie mit Meldungen um? Welche Rolle spielen dabei die Polizei, die örtlichen schulpsychologischen Dienste oder andere örtliche Einrichtungen? Und welche Rolle spielt die Recherche- und Informationsstelle in Berlin (RIAS)?

Nina Laube: Schulen sind durch den Erlass zur „Zusammenarbeit bei der Verhütung und Bekämpfung der Jugendkriminalität“ (ein gemeinsamer Erlass u.a. des Innen-, Jugend- und Schulministeriums) aufgefordert, politisch motivierte Straftaten in der Regel zu melden. Diese Meldung muss an die Schulaufsicht und auch an die Polizei, gehen. Überdies ist SABRA ja Meldestelle für antisemitische Vorfälle in NRW, so dass jegliche Vorfälle, auch jene unterhalb der Straffälligkeitsgrenze, auf deren Homepage gemeldet werden sollen. Die Schulpsychologie als von Schulaufsicht unabhängige Beratungsinstitution kann nicht gleichzeitig Meldestelle sein.

Sophie Brüss: SABRA gehört der Bundesarbeitsgemeinschaft des Bundesverbandes RIAS an, der 2018 unter der Schirmherrschaft von Dr. Felix Klein gegründet wurde und 2019 seine Arbeit aufgenommen hat. Es finden regelmäßige Arbeitstreffen statt. In der Stadt Düsseldorf gibt es auch einen Arbeitskreis gegen Antisemitismus, dem wir auch angehören. Wir haben z.B. gemeinsam eine Handreichung für Düsseldorfer Schulleitungen und Lehrkräfte „Was tun bei Antisemitismus an Schulen“ herausgegeben. 

Eines der Probleme, das wir oft beobachten, ist, dass der Antisemitismusvorwurf oft schwerer wiegt als der antisemitische Vorfall selbst und die Schulleitungen diesen Vorwurf von sich und seinen Lehrkräften weisen, mit dem Hinweis, dass sie keine Antisemiten seien, sie hätten ja schließlich auch mal Urlaub in Israel gemacht oder eine Exkursion nach Auschwitz begleitet und dass sie der Vorwurf stark belasten würde. So vollzieht sich eine Täter-Opfer-Umkehr.

Norbert Reichel: Wie sieht eine Beratung aus, wenn eine Schule wegen eines antisemitischen Übergriffs die Schulpsychologie um Unterstützung bittet?

Nina Laube: Das kann im Einzelfall unterschiedlich sein. Zunächst klärt die Schulpsychologie gemeinsam mit der Schule, mit welchem Anliegen die Anfrage verbunden ist. Geht es um den konkreten Einzelfall? Gibt es bereits weitergehende Anliegen, die eher präventiven Charakter haben?

Antisemitische Vorfälle implizieren im Grunde ein Vorgehen, wie es in der Mobbingintervention und -Prävention Standard ist, aber es kommt noch etwas hinzu. Zunächst geht es in der Beratung um Fragen des Opferschutzes, das ist am Anfang das Allerwichtigste. Ist dieser bereits gewährleistet bzw. wie kann er gesichert werden? Dazu gehören dann auch Fragen, wie Einfluss auf den Täter oder die Tätergruppe genommen werden muss. Dies hängt weitgehend davon ab, welche Motive hinter dem Übergriff stecken. Ist es das kritiklose Nachplappern von antisemitischen Ressentiments, wie reagierte die Peer-Group darauf? Ist es Ausdruck von Mobbing im Sinne des Versuchs, Macht in der Gruppe zu erlangen oder gibt es einen handfesten politisch motivierten Hintergrund, im schlimmsten Fall mitgetragen von einer ganzen Gruppe?

Dabei ist für die Schule wichtig zu wissen, dass antisemitische Übergriffe immer mehr sind als andere Gewaltvorfälle. Sie sind ein Tabubruch. Wo sich jemand traut, offen diesen Tabubruch zu begehen, sind andere Gewaltvorfälle nicht weit. Antisemitische Vorfälle sind somit wie ein Seismograph immer Anlass, die schuleigenen Strukturen und Konzepte im Bereich Gewaltprävention auf den Prüfstand zu stellen.

Schulpsychologie berät Schulen daher immer lösungsorientiert bzgl. des aktuellen Einzelfalls, aber sie regt auch an, sich mit der Vermeidung zukünftiger Vorfälle zu beschäftigen. Dabei geht es dann auch darum, Schule durchaus auch aufzuklären über die Dynamiken und das systematische Dunkelfeld und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für eine sinnvolle Prävention. Hier gibt es vielfältige erfolgversprechende Ansätze, insbesondere ist die Förderung von Zivilcourage eine effiziente Lösung, wie wissenschaftliche Studien zeigen. Antisemitische Vorfälle können aber auch immer Anlass sein, sich als Schule zu fragen, an welcher Stelle Demokratiebildung im schulischen Alltag weiter gestärkt werden kann. Wenn ein demokratisches Bewusstsein mit Mut und Zivilcourage gepaart ist, haben menschenfeindliche Aktivitäten keinen Nährboden.

Wichtig für Schulen ist es dabei zu wissen, dass Schulpsychologie am jeweiligen Anliegen orientiert arbeitet, aber durchaus als „critical friend“ berät. Sonst wäre Beratung ja sinnlos. Gleichzeitig kann eine Schule aber sicher sein, dass keinerlei Informationen weitergegeben werden, z. B. an die Schulaufsicht, da jegliches Handeln der Schulpsychologie unter der besonderen strafbewehrten Schweigepflicht des §203 StGB steht.

Norbert Reichel: Ist es auch möglich, dass Schulpsychologie sich an jemanden wendet, von dem bekannt geworden ist, dass er oder sie sich um einen Vorfall nicht gekümmert hat? Und wie sieht das in einer Schulleitungsdienstbesprechung aus? Wie reagieren die dort? Offen, angemacht, unwillig? Welche Diskussionen laufen da? Wen muss man von was überzeugen? Und was tun die dann in ihren Schulen?

Nina Laube: Schulpsychologie arbeitet orientiert an dem jeweiligen Anliegen, allparteilich und es besteht Schweigepflicht. Sie kann nur freiwillig in Anspruch genommen werden. Nur so kann sie das Vertrauen der Ratsuchenden gewinnen und behalten. Ein aktives Zugehen auf jemanden, der ggf. Versäumnisse begangen hat, ist ausdrücklich weder Rolle noch Aufgabe von Schulpsychologie, sondern von Leitungs- bzw. Aufsichtsstrukturen.

Schulpsychologie unterstützt die Schulaufsicht bei ihren Dienstbesprechungen mit den Schulleiter*innen. Diese Besprechungen finden regelmäßig statt. Man muss immer bedenken, dass Schulen unter großem Druck der Öffentlichkeit stehen, alles richtig zu machen. Gewaltvorfälle, insbesondere tabubrechende antisemitische Vorfälle führen – ähnlich wie Krisensituationen – auch immer zu innerschulischen Dynamiken. Daher ist es wichtig, in diesen Veranstaltungen nicht nur fachliche Informationen zu vermitteln, sondern Schulleitungen auch Gehör zu schenken und gemeinsam handhabbare Lösungen zu finden, die Mut machen, die Herausforderung antisemitischer Vorfälle gut zu bewältigen. Dass das nicht einfach ist, wissen wir. Daher gehören Einzelcoaching, Supervision und schulinterne Fortbildungen zum Portfolio der Unterstützung.

Norbert Reichel: Welche Rolle spielen in Ihrer Arbeit andere Initiativen, beispielsweise das Netzwerk von „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“, das Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit NRW (IDA), das Berliner Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment oder die von der ZEIT-Stiftung auf den Weg gebrachte Initiative Stop Antisemitismus?

Sophie Brüss: Wir arbeiten mit der Kompetenzzentrum Prävention und Empowerment der ZWST zusammen und haben bereits einige Kooperationsprojekte, vor allem im Bereich Empowerment, durchgeführt, auch waren wir als Fachreferent*innen bei mehreren Veranstaltungen von Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage NRW eingeladen. Auf dem Internetportal stopantisemitismus.de sind wir als regionale Anlaufstelle genannt.

Nina Laube: Wir ermutigen und befähigen (Beratungs-)Lehrkräfte und die Schulischen Teams für Beratung, Gewaltprävention und Krisenintervention, ein Netzwerk von Kontakt- und Beratungsstellen aufzubauen, das ihnen sowohl bei der Prävention als auch im Akutfall der Intervention helfend und beratend zur Seite stehen kann. Dies sind neben der jeweils zuständigen Schulpsychologischen Beratungsstelle auch spezialisierte Fachstellen wie im Bereich Antisemitismus SABRA oder die Zentrale Wohlfahrtsstelle. Das Wissen um die Netzwerkpartner zu den einzelnen Extremismen ist für die Schulen sehr hilfreich.

Norbert Reichel: Sind eine antisemitismusfreie und diskriminierungsfreie Schule oder sogar eine antisemitismusfreie und diskriminierungsfreie Gesellschaft möglich?

Sophie Brüss: Eine schöne Utopie. Leider glaube ich nicht daran. Aber wir müssen eine starke und wehrhafte Zivilgesellschaft aufbauen, die keine Angst davor hat, unsere demokratischen Werte zu verteidigen.

Nina Laube: Vermutlich ist das völlige Verschwinden von Antisemitismus und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit leider eine Illusion oder ein Ideal. Dennoch müssen wir als Schule und als Gesellschaft alles tun, um diesem Ideal möglichst nahe zu kommen. Gerade im Bereich des Antisemitismus müssen Menschen dazu befähigt werden, sich in der immer komplexer werdenden Welt zurecht zu finden, damit sie nicht dem auf Verschwörungstheorien aufbauenden Konzept des Antisemitismus erliegen, der ihnen die moderne Welt auf vermeintlich simple und reduzierte Art und Weise erklärt. Wir haben zuletzt am höchsten jüdischen Feiertag in Halle gesehen, zu was Antisemiten fähig und wes Geistes Kind sie sind. Ich zitiere Adorno: „Antisemitismus ist das Virus, das mutiert.“ Es führt immer zu Gewalt und Mord. Da müssen wir als präventiv tätige Stelle auch eng mit Polizei und Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten.

Norbert Reichel: Michael Szentei-Heise, der Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, wies in einer Veranstaltung des Grünen Salons Bonn am 25.6.2019 darauf hin, dass er sich vor etwa 30 Jahren, als er seine Aufgabe übernahm, nicht habe vorstellen können, in welchem Maße heute Antisemitismus unsere freiheitliche Demokratie bedrohe. Was muss nach Ihren Erfahrungen geschehen, damit Antisemitismus so bald wie möglich der Vergangenheit angehört?

Nina Laube: Es muss einen deutlichen Aufschrei geben, wenn antisemitische Parolen offen oder subtil verbreitet werden. Auch die besondere Verbundenheit Deutschlands mit dem Staat Israel sollte viel stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt und auch positiv vermittelt werden.

Schulen können mit spiralcurricular angelegten Präventionskonzepten, die Werte wie Respekt und Demokratieliebe vermitteln, sowohl Antisemitismus als auch anderen Formen des Extremismus aktiv vorbeugen. Wichtig ist es, nicht erst zu warten, bis ein Vorfall geschieht. Schule muss die Kinder über ihre Schullaufbahn hinweg immer wieder dazu befähigen, ein kritisches Urteilsvermögen und Medienkompetenzen zu entwickeln. Ferner muss Schule den Kindern und Jugendlichen die Werte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vermitteln.

Sophie Brüss: Leider lässt die Entwicklung in Frankreich oder auch Großbritannien nichts Gutes verheißen. Junge französische Jüdinnen und Juden verlassen das Land Richtung Israel. Diese Tendenz zeigt sich auch hier. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Shoah für uns noch sehr nah und real ist. Um dieses zu verhindern, müssen sich Jüdinnen und Juden sicher und geschützt fühlen, als Teil der Gesellschaft angesehen werden. Dafür ist ein Umdenken in der Gesellschaft und der Politik notwendig statt Lippenbekenntnisse. Denn, um Charlotte Knobloch zu zitieren: Wir müssen uns eingestehen, dass es nicht gelungen ist, den Anfängen zu wehren.“

Sophie Brüss ist ausgebildete Theaterpädagogin. Seit 2017 arbeitet sie bei SABRA.

Nina Laube ist ausgebildete Beratungslehrerin und arbeitet seit 2017 in der Landesstelle Schulpsychologie und Schulpsychologisches Krisenmanagement in Arnsberg.

Zum Weiterlesen:

  • Deutscher Bundestag: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, Drucksache 18/11970 vom 7.4.2017.
  • Kultusministerkonferenz und Zentralrat der Juden: Gemeinsame Erklärung zur Vermittlung jüdischer Geschichte, Religion und Kultur in der Schule, Beschluss des Präsidiums des Zentralrats der Juden in Deutschland vom 01.09.2016 und Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 08.12.2016 (auch in englischer Sprache verfügbar).
  • Erster Bericht des Beauftragten der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus mit einem Überblick über den Sachstand und Empfehlungen zur Bekämpfung des Antisemitismus, 2018.
  • Julia Bernstein: Mach mal keine Judenaktion – Herausforderungen und Lösungsansätze in der Bildungs- und Sozialarbeit gegen Antisemitismus, Frankfurt am Main 2018.
  •  Walter Laqueur, Gesichter des Antisemitismus – Von den Anfängen bis heute, Berlin 2006.
  •  Samuel Salzborn, Globaler Antisemitismus – Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne, Weinheim / Basel 2018.
  •  Samuel Salzborn / Alexandra Kurth: Antisemitismus in der Schule – Erkenntnisstand und Handlungsperspektiven“, Berlin / Gießen 2019.
  • Monika Schwarz-Friesel: „Juden sind zum Töten da“ (studivz.net, 2008). Hass via Internet – Zugänglichkeit und Verbreitung von Antisemitismen im World Wide Web. In: Konstanze MARX, Monika Schwarz-Friesel (Hg.), Sprache und Kommunikation im technischen Zeitalter. Wieviel Internet (v)erträgt unsere Gesellschaft? Berlin / New York 2013.
  • Monika Schwarz-Friesel / Jehuda Reinharz: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, Berlin / Boston 2013.
  • Monika Schwarz-Friesel, (Hrsg.): Gebildeter Antisemitismus – Eine Herausforderung für Politik und Zivilgesellschaft, Baden-Baden 2015.
  • Monika Schwarz-Friesel: Judenhass im Internet – Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl, Berlin / Leipzig 2019.

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Dezember 2019, Internetlinks wurden am 17. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)